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Kein Königsweg: Die erweiterte EU und - Deutsche-Aussenpolitik.de

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„<strong>Kein</strong> <strong>Königsweg</strong>: <strong>Die</strong> <strong>erweiterte</strong> <strong>EU</strong> <strong>und</strong> die Ambivalenzen <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>utschen Außenpolitik“<br />

Essay für die Sen<strong>de</strong>reihe „Für eine bessere Außenpolitik“ <strong>de</strong>s Deutschlandfunks<br />

Ausstrahlungstermin: Sonntag, 15. August 2004, 9:00-9:30<br />

Von Klaus-<strong>Die</strong>ter Frankenberger <strong>und</strong> Dr. Günther Nonnenmacher<br />

<strong>Die</strong> Erweiterung <strong>de</strong>r Europäischen Union war ein historischer Moment. Der am 1.<br />

Mai formal vollzogene Beitritt zehn neuer Mitglie<strong>de</strong>r brachte ein schmerzhaftes<br />

Kapitel im Buch <strong>de</strong>r europäischen Geschichte zu seinem <strong>de</strong>finitiven En<strong>de</strong>: Es trug<br />

<strong>de</strong>n Titel „Der geteilte Kontinent“. <strong>Die</strong> geographisch verkürzt, politisch aber treffend<br />

Ost-Erweiterung genannte Aus<strong>de</strong>hnung <strong>de</strong>r <strong>EU</strong> ist die Konsequenz aus <strong>de</strong>r<br />

Beendigung <strong>de</strong>s weltpolitischen Konfliktes, <strong>de</strong>r die zweite Hälfte <strong>de</strong>s 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts beherrscht hat: <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung zwischen Kommunismus <strong>und</strong><br />

Demokratie. Sie ist aber noch mehr als das: <strong>Die</strong> große Union als eine Gemeinschaft<br />

von Demokratien ist das Ergebnis freiwilliger Entscheidung, nicht das Resultat von<br />

Zwang, Eroberung, Unterwerfung o<strong>de</strong>r hegemonialer Aus<strong>de</strong>hnung. Insofern ist sie<br />

beispiellos, einmalig.<br />

Rückblickend, vom 1. Mai 2004 her gesehen, war es ein langwieriger Prozeß, <strong>de</strong>r die<br />

Beitrittskandidaten in die <strong>EU</strong> geführt hat. (In vermutlich drei bis vier Jahren wer<strong>de</strong>n<br />

mit Rumänien <strong>und</strong> Bulgarien, vielleicht auch Kroatien, weitere dazukommen.) Denn<br />

15 Jahre sind inzwischen vergangen seit <strong>de</strong>r großen Zeitenwen<strong>de</strong>, welche die<br />

Auflösung <strong>de</strong>s Warschauer Paktes, die <strong>de</strong>utsche Vereinigung, <strong>de</strong>n Zusammenbruch<br />

<strong>de</strong>s Kommunismus <strong>und</strong> das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Sowjetunion gebracht hat.<br />

Daß die Beitrittsverhandlungen so lange dauerten, hat im Gr<strong>und</strong>e aber nur gezeigt,<br />

wie schwierig es ist, sich einem integrierten Wirtschaftsblock anzuschließen, <strong>de</strong>r sich<br />

zu<strong>de</strong>m noch das Ziel gesetzt hat, eine Politische Union zu wer<strong>de</strong>n – was immer das<br />

im einzelnen be<strong>de</strong>uten mag. <strong>Kein</strong>e Frage: <strong>Die</strong> Einbeziehung <strong>de</strong>s ehemals sowjetisch<br />

kontrollierten Teiles <strong>de</strong>s alten Kontinents in das ursprünglich, wegen <strong>de</strong>r spezifischen<br />

historischen <strong>und</strong> geopolitischen Konstellationen nach <strong>de</strong>m Zweiten Weltkrieg ganz


2<br />

<strong>und</strong> gar westeuropäisch geprägte Projekt <strong>de</strong>r europäischen Integration ist die größte<br />

Herausfor<strong>de</strong>rung seit <strong>de</strong>r Gründung <strong>de</strong>r Montanunion <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Europäischen<br />

Wirtschaftsgemeinschaft EWG.<br />

Das hat viele Grün<strong>de</strong>. Einer davon sind gr<strong>und</strong>legend verän<strong>de</strong>rte Umstän<strong>de</strong>. Es ist gar<br />

keine Frage, daß die Gründung von Montanunion <strong>und</strong> EWG auch Schutz vor <strong>de</strong>r<br />

Bedrohung <strong>de</strong>s Kommunismus bieten sollte. Und es steht auch außer Zweifel, daß die<br />

oft großzügige <strong>und</strong> meistens geduldige För<strong>de</strong>rung dieses Projektes durch ein<br />

Amerika, das seinen Sicherheitsschirm über die europäischen Ambitionen spannte,<br />

ihren Gr<strong>und</strong> im Ost-West-Konflikt, in <strong>de</strong>r Zweiteilung <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>s Kalten Krieges<br />

hatte. An<strong>de</strong>rs gesagt: Der Druck aus <strong>de</strong>m Osten <strong>und</strong> die Hilfe aus <strong>de</strong>m Westen<br />

för<strong>de</strong>rten, neben <strong>de</strong>n eigenen historischen Erfahrungen, die Integrationswilligkeit <strong>de</strong>r<br />

westeuropäischen Staaten nachhaltig. Und es ist auch keine Frage, daß das<br />

Nachlassen <strong>de</strong>s äußeren Druckes <strong>und</strong>, damit verb<strong>und</strong>en, auch das Nachlassen<br />

amerikanischer För<strong>de</strong>rung die Lage erschwert haben, auch <strong>und</strong> gera<strong>de</strong> was die<br />

Integration <strong>de</strong>r neuen Mitglie<strong>de</strong>r angeht. Wie sagte vor kurzem ein führen<strong>de</strong>r<br />

Politiker: Es geht nichts über einen zuverlässigen Feind.<br />

<strong>Die</strong> größte strukturelle Herausfor<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r <strong>EU</strong> ist <strong>de</strong>r sprunghafte Anstieg ihrer<br />

inneren Heterogenität durch die Aufnahme <strong>de</strong>r zehn Neuen. Nach Fläche <strong>und</strong><br />

Bevölkerungszahl wächst die <strong>EU</strong> zwar um ein knappes Viertel, aber die<br />

Wirtschaftskraft nimmt kumuliert nur um gera<strong>de</strong> einmal fünf Prozent zu. Nur zwei<br />

<strong>de</strong>r neuen Län<strong>de</strong>r haben in dieser Hinsicht Anschluß an Westeuropa: Slowenien, das<br />

sich etwa auf gleichem Niveau mit Portugal bewegt, <strong>und</strong> Zypern. Mit dieser<br />

Erweiterung wird zu <strong>de</strong>m traditionellen Wohlstandsgefälle von Nord nach Süd in <strong>de</strong>r<br />

<strong>EU</strong> ein noch drastischeres Gefälle von Westen nach Osten kommen. <strong>Die</strong> Probleme,<br />

die materiell damit verb<strong>und</strong>en sind, kann man sich leicht vorstellen, die politischen<br />

(Verteilungs-)Konflikte, die darüber ausbrechen wer<strong>de</strong>n, auch.<br />

Heterogener wird die <strong>EU</strong> auch wer<strong>de</strong>n, was ihre je nationalen <strong>und</strong> die gemeinsamen<br />

Traditionsbestän<strong>de</strong> angeht. Zu <strong>de</strong>n Unterschie<strong>de</strong>n, die bis in die Tiefen <strong>de</strong>r geistigen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen einer Gesellschaft reichen – Stellung <strong>de</strong>s Individuums, Verhältnis von<br />

2


3<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> Kirche, Vorstellungen von <strong>de</strong>n Aufgaben <strong>de</strong>s Staates wären etwa<br />

hier zu nennen - gehört auch ein aus teilweise bitteren Erfahrungen <strong>de</strong>stilliertes<br />

an<strong>de</strong>res Verständnis von staatlicher Selbständigkeit <strong>und</strong> Souveränität. Da geht es<br />

nicht nur um ein halbes Jahrh<strong>und</strong>ert Entmündigung durch Warschauer Pakt, RGW<br />

<strong>und</strong> Sowjetunion. Viele in Deutschland haben ja aus <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>s 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts die Lehre gezogen, daß <strong>de</strong>r Nationalstaat ein überholtes Mo<strong>de</strong>ll sei, daß<br />

Frie<strong>de</strong>n, Wohlstand <strong>und</strong> Fortschritt durch das Abgeben von Souveränität an<br />

supranationale Institutionen zu wahren <strong>und</strong> zu mehren seien, daß also die<br />

supranationale Organisation die eigentliche politische Innovation sei: gewissermaßen<br />

<strong>de</strong>r Masterplan zur Rettung eines Europa, das Jahrh<strong>und</strong>erte lang zerstritten war <strong>und</strong><br />

sich schließlich in weltumspannen<strong>de</strong>n Kriegen nahezu selbst zerstört hätte.<br />

Das wird schon in einigen westeuropäischen Staaten, die ihre Geschichte als weniger<br />

gescheitert empfin<strong>de</strong>n, an<strong>de</strong>rs gesehen. In <strong>de</strong>n meisten Staaten Osteuropas gilt es<br />

noch weniger. Der Historiker Heinrich August Winkler hat dafür ein Beispiel<br />

genannt: „In Polen, <strong>de</strong>m Hauptopfer <strong>de</strong>s Zweiten Weltkrieges unter <strong>de</strong>n neuen<br />

Beitrittsstaaten, kommt dazu (das heißt zur Erfahrung <strong>de</strong>r kommunistischen<br />

Unterjochung) noch die allgegenwärtige Erinnerung an die lange, über ein<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert währen<strong>de</strong> Zeit, in <strong>de</strong>r das Land seiner Staatlichkeit <strong>und</strong> nationalen<br />

Selbstbestimmung durch die drei Teilungsmächte Rußland, Österreich <strong>und</strong> Preußen<br />

beraubt war.“ An<strong>de</strong>rs gesagt: <strong>Die</strong> Frage <strong>de</strong>r Souveränität wird von vielen Polen nicht<br />

als ein Problem <strong>de</strong>r Abgabe o<strong>de</strong>r Übertragung von Rechten angesehen, son<strong>de</strong>rn als<br />

eine Existenzfrage, als die Frage nach „Sein o<strong>de</strong>r Nichtsein“. Nur so ist zu erklären,<br />

daß in <strong>de</strong>r polnischen Innenpolitik in <strong>de</strong>r Diskussion über die Stimmengewichtung im<br />

Ministerrat <strong>de</strong>r <strong>EU</strong> ein vornehmlich <strong>de</strong>utsch-französischer Vorschlag mit <strong>de</strong>r in<br />

unseren Augen irrwitzig klingen<strong>de</strong>n Parole „Nizza o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Tod“ verworfen wur<strong>de</strong>.<br />

<strong>Die</strong>ser Nationalismus bekommt mit <strong>de</strong>m Beitritt gewissermaßen eine europäische<br />

Bühne. Wie tief in die historisch-zivilisatorischen Gr<strong>und</strong>lagen die Differenzen<br />

reichen, war neulich auf <strong>de</strong>r Leipziger Buchmesse zu beobachten. Da stellte die<br />

frühere lettische Außenministerin <strong>und</strong> jetzige <strong>EU</strong>-Kommissarin Sandra Kalniete die<br />

kommunistische Diktatur, unter <strong>de</strong>r ihr Land – <strong>und</strong> ganz persönlich auch ihre Familie<br />

– zu lei<strong>de</strong>n hatte, in eine Kontinuitätslinie mit <strong>de</strong>r Diktatur <strong>de</strong>s Nationalsozialismus,<br />

3


4<br />

was Salomon Korn, <strong>de</strong>n stellvertreten<strong>de</strong>n Vorsitzen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Zentralrats <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n in<br />

Deutschland, zu einem Protest veranlaßte. Es ist nun einmal so: <strong>Die</strong> neuen<br />

Mitglie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m mittleren <strong>und</strong> östlichen Europa stoßen nicht nur mit an<strong>de</strong>ren<br />

Geschichtserfahrungen zur <strong>EU</strong>, daraus ergeben sich für sie auch an<strong>de</strong>re<br />

Geschichtslehren. Das hat tiefgreifen<strong>de</strong> Auswirkungen, auch auf die Außenpolitik.<br />

Ein weiterer tiefgreifen<strong>de</strong>r Unterschied betrifft die Rolle Deutschlands: Es war über<br />

Jahrzehnte <strong>de</strong>r Hauptfinanzier <strong>de</strong>r <strong>EU</strong> <strong>und</strong> hat damit das Entwicklungsgefälle in <strong>de</strong>r<br />

Union dank seiner Wirtschaftskraft teilweise ausgleichen können. <strong>Die</strong>se Zeiten sind<br />

vorerst vorbei: Über die ökonomischen <strong>und</strong> finanziellen Lasten <strong>de</strong>r<br />

Wie<strong>de</strong>rvereinigung (im Jahr 2003 ein Nettotransfer von West nach Ost in Höhe von<br />

mehr als 90 Milliar<strong>de</strong>n Euro) braucht man nicht lange zu re<strong>de</strong>n; sie sind allerdings<br />

auch keine Entschuldigung für die hausgemachten Schwächen, die das vormalige<br />

<strong>de</strong>utsche Mo<strong>de</strong>ll zurückgeworfen haben. Ein k<strong>und</strong>iger Mensch hat vor kurzem<br />

ausgerechnet, daß auch ohne die Vereinigungskosten Deutschland nur auf einem<br />

Mittelplatz in <strong>de</strong>r <strong>EU</strong>-Rangliste läge. Das ist nicht nur ein Problem für die <strong>Deutsche</strong>n;<br />

es ist in einem wirtschaftlich so weitgehend integrierten Raum auch ein großes<br />

Problem für ihre Nachbarn <strong>und</strong> Partner. Denn es be<strong>de</strong>utet, daß Deutschland, über<br />

Jahrzehnte die Wachstumslokomotive Europas, heute nicht mehr fähig ist, <strong>de</strong>r<br />

europäischen Volkswirtschaft, <strong>und</strong> damit indirekt auch <strong>de</strong>r politischen Integration,<br />

Dynamik zu verleihen.<br />

Wenn die sogenannten Nettozahler <strong>de</strong>r Union vor kurzem gegenüber <strong>de</strong>r Kommission<br />

bekräftigt haben, daß sie trotz <strong>de</strong>s Beitritts <strong>de</strong>r zehn neuen Staaten nicht bereit seien,<br />

die inoffizielle Begrenzung <strong>de</strong>s <strong>EU</strong>-Budgets auf ein Prozent <strong>de</strong>s Inlandsprodukts <strong>de</strong>r<br />

Union aufzuheben, so zeigt das, worauf wir uns einzustellen haben: Es ist vorbei mit<br />

<strong>de</strong>r alten Großzügigkeit, das heißt, es wird ein sich verschärfen<strong>de</strong>r Wettbewerb um<br />

die Mittel aus <strong>de</strong>n europäischen Kassen einsetzen. Das wird beson<strong>de</strong>rs die<br />

Agrarpolitik betreffen, aber auch die Strukturfonds als eigentliches Instrument <strong>de</strong>r<br />

Umverteilung. Wirtschaftlich grob vereinfachend <strong>und</strong> politisch grob unkorrekt<br />

ausgedrückt: Was einem neuen Land wie Polen zusteht – <strong>und</strong> das wird weniger sein,<br />

als Neuankömmlinge zu früheren Zeiten an Hilfen erwarten durften -, das wird bei<br />

4


5<br />

einem Altmitglied wie Spanien, <strong>de</strong>m es inzwischen viel besser geht, abgezwackt<br />

wer<strong>de</strong>n müssen.<br />

Was be<strong>de</strong>utet die wachsen<strong>de</strong> Heterogenität für die Europäische Union? Unserer<br />

Meinung nach be<strong>de</strong>utet sie vor allem eines: In <strong>de</strong>n nächsten Jahren, vielleicht sogar<br />

Jahrzehnten, wird die Union hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt sein – damit,<br />

ihre inneren Spannungen aufzulösen, ihre Probleme mangeln<strong>de</strong>r politischer<br />

Verfaßtheit zu regeln, ihre Volkswirtschaften wettbewerbsfähig zu machen <strong>und</strong><br />

wie<strong>de</strong>r auf einen Kurs dauerhaften Wachstums zu bringen. <strong>Die</strong> Kehrseite davon ist,<br />

daß die Europäische Union, aller Rhetorik vom globalen Akteur zum Trotz, nach<br />

außen wenig Kraft ausstrahlen kann, daß sie also wenig weltpolitischen Einfluß<br />

ausüben wird. <strong>Die</strong> Ausnahme von dieser Regel ist, wie schon bisher, die<br />

Außenhan<strong>de</strong>lspolitik.<br />

Es geht aber nicht nur um Geld <strong>und</strong> Finanzen, es geht auch um Führung <strong>und</strong><br />

Führungsfähigkeit. <strong>Kein</strong> Zweifel, daß die alte <strong>EU</strong> – nicht nur die <strong>de</strong>r Sechs, im<br />

Gr<strong>und</strong>e auch noch die <strong>de</strong>r Fünfzehn, min<strong>de</strong>stens aber bis zum Vertrag von Maastricht<br />

– um das <strong>de</strong>utsch-französische Paar herumgebaut war: Paris <strong>und</strong> Bonn waren die<br />

Führungsmächte. Dabei hatte insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r B<strong>und</strong>eskanzler Kohl eine grandiose<br />

Fertigkeit entwickelt, dies nicht als Bevorm<strong>und</strong>ung o<strong>de</strong>r gar Entmündigung <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren, vor allem <strong>de</strong>r kleineren Mitgliedsstaaten wirken zu lassen. Weil alle – o<strong>de</strong>r<br />

fast alle – eingeb<strong>und</strong>en wur<strong>de</strong>n, weil je<strong>de</strong>m – o<strong>de</strong>r fast je<strong>de</strong>m – geduldig zugehört<br />

wur<strong>de</strong>, entstand nie <strong>de</strong>r Eindruck, Paris <strong>und</strong> Bonn gerierten sich als europäisches<br />

Direktorium. <strong>Die</strong>se Rücksichtnahme <strong>und</strong> taktische Kunstfertigkeit haben die<br />

Nachfolger Mitterrands <strong>und</strong> Kohls vermissen lassen. Nach einem überaus holprigen,<br />

konfliktgela<strong>de</strong>nen Anfang – wegen <strong>de</strong>r Unstimmigkeiten mußten sogar außerhalb <strong>de</strong>r<br />

traditionellen Konsultationen regelmäßige Zusatzessen vereinbart wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />

sogenannte Blaesheim-Prozeß – wur<strong>de</strong> die neu gef<strong>und</strong>ene Übereinstimmung<br />

anläßlich <strong>de</strong>s vierzigjährigen Jubiläums <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsch-französischen Vertrags gera<strong>de</strong>zu<br />

überschwenglich zelebriert.<br />

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6<br />

Trotz <strong>de</strong>utsch-französischer Führung waren die Schwierigkeiten, eine Gemeinsame<br />

Außen- <strong>und</strong> Sicherheitspolitik (GASP) zu formulieren, schon in <strong>de</strong>r <strong>EU</strong> <strong>de</strong>r Zwölf<br />

<strong>und</strong> dann <strong>de</strong>r Fünfzehn unübersehbar – man <strong>de</strong>nke nur an die jugoslawischen<br />

Erbfolgekriege Anfang <strong>de</strong>r neunziger Jahre, <strong>de</strong>ren Ausmaß <strong>und</strong> Wildheit die<br />

Europäer erst total unterschätzten, über die sie sich dann heillos zerstritten. Auch die<br />

damals von hohen Erwartungen begleitete Einrichtung <strong>de</strong>s Amtes eines „Hohen<br />

Beauftragten“ für die GASP hat an <strong>de</strong>n Schwierigkeiten, gemeinsame außenpolitische<br />

Positionen zu beziehen, nichts Wesentliches geän<strong>de</strong>rt.<br />

<strong>Die</strong> Ost-Erweiterung fügt <strong>de</strong>r Problematik, daß die <strong>EU</strong> nicht in <strong>de</strong>r Lage ist, in <strong>de</strong>n<br />

großen Fragen <strong>de</strong>r Weltpolitik mit einer Stimme zu sprechen, <strong>und</strong> schon gar nicht<br />

fähig, gemeinsam zu han<strong>de</strong>ln, eine weitere Dimension hinzu. Das hat sich in <strong>de</strong>r<br />

Irak-Krise gezeigt, in <strong>de</strong>r die Beitrittskandidaten aus <strong>de</strong>m Osten erstmals eine zentrale<br />

Rolle spielten. Erinnern wir uns noch einmal an die Vorgeschichte: die bereits<br />

erwähnten Feiern zum 40. Jahrestag <strong>de</strong>s Elysée-Vertrages, dazu die weitreichen<strong>de</strong>n<br />

Vorschläge für die künftige <strong>EU</strong>-Verfassung, die so vorgetragen wur<strong>de</strong>n, als ob sie,<br />

weil Deutschland <strong>und</strong> Frankreich entschie<strong>de</strong>n hatten, schon beschlossene Sache<br />

seien. Das weckte bereits Unwillen <strong>und</strong> Ablehnung bei an<strong>de</strong>ren Mitglie<strong>de</strong>rn.<br />

Am schädlichsten jedoch wirkte dann <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-französische Schulterschluß in<br />

Sachen Irak. Dabei geht es zunächst einmal gar nicht um <strong>de</strong>n Inhalt, son<strong>de</strong>rn um die<br />

Form: ein k<strong>und</strong>iger Beobachter (Wolfgang Vogel vom Deutsch-Französischen<br />

Institut) hat diesen Versuch, <strong>de</strong>r <strong>EU</strong> die Richtung vorzugeben, mit <strong>de</strong>m Begriff<br />

„bilateraler Unilateralismus“ gekennzeichnet <strong>und</strong> die Frage aufgeworfen, „ob die<br />

zunehmen<strong>de</strong> Präsenz <strong>de</strong>s Duos sowie seine ostentative Festlegung auf gemeinsame<br />

Positionen nicht vielmehr darauf hin<strong>de</strong>utet, daß es ihm nur noch darum geht, <strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>utsch-französischen Führungsanspruch in die <strong>erweiterte</strong> <strong>EU</strong> hinüberzuretten (...)<br />

Entwe<strong>de</strong>r trachteten bei<strong>de</strong> Län<strong>de</strong>r danach, ihre Position als die einzig mögliche<br />

aufzuzwingen (...) o<strong>de</strong>r sie benutzten ihr politisches Gewicht dazu, um sich gegen die<br />

Gemeinschaftsinstitutionen zu stemmen, sowohl offen (Stabilitäts- <strong>und</strong><br />

Wachstumspakt), als auch versteckt (industriepolitische Initiativen).“ <strong>Die</strong> Antwort<br />

auf <strong>de</strong>n Versuch, die Position <strong>de</strong>r <strong>EU</strong> durch eine <strong>de</strong>utsch-französische Festlegung in<br />

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7<br />

Sachen Irak zu präjudizieren, war dann <strong>de</strong>r inzwischen berühmte Brief <strong>de</strong>r Acht, in<br />

<strong>de</strong>m sich unter Führung Britanniens <strong>und</strong> Spaniens sowohl alte als auch drei künftige<br />

Mitglie<strong>de</strong>r aus Mitteleuropa hinter die amerikanische Irak-Politik stellten – eine<br />

offene Spaltung <strong>de</strong>r <strong>EU</strong> in <strong>de</strong>r wichtigsten außenpolitischen Frage seit Jahren. (Zehn<br />

weitere mittel- <strong>und</strong> osteuropäische Staaten, allesamt damals Kandidaten eines<br />

Beitritts zur <strong>EU</strong> <strong>und</strong> zur Nato – fünf sind mittlerweile Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gemeinschaft -,<br />

ließen <strong>de</strong>m Brief <strong>de</strong>r Acht einen Brief <strong>de</strong>r Zehn folgen.) Der gescheiterte Gipfel zur<br />

Verfassungsreform in Brüssel – auch da waren die Spitzen <strong>de</strong>r einen Kompromiß<br />

ablehnen<strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>r wie Spanien <strong>und</strong> Polen ein<strong>de</strong>utig gegen Paris <strong>und</strong> Berlin<br />

gerichtet – war gewissermaßen die Apotheose dieser Spaltung.<br />

Selbst wenn <strong>de</strong>r europäische Verfassungsvertrag von <strong>de</strong>m zur Regierungskonferenz<br />

versammelten Europäischen Rat doch noch akzeptiert wür<strong>de</strong>, wäre eine Lösung <strong>de</strong>r<br />

europäischen Schwierigkeiten nicht in Sicht. Wie immer man die Verdienste dieses<br />

Vertrages charakterisieren kann: Eine durchgreifen<strong>de</strong> Reform <strong>de</strong>r <strong>EU</strong> bringt er nicht,<br />

ein <strong>EU</strong>-Kommissar hat ihn im vertraulichen Gespräch als „Win<strong>de</strong>i“ bezeichnet.<br />

We<strong>de</strong>r gibt es die vor allem von <strong>de</strong>utscher Seite gefor<strong>de</strong>rte klare<br />

Kompetenzabgrenzung zwischen <strong>de</strong>r Union <strong>und</strong> ihren Mitgliedstaaten, noch ist es<br />

gelungen, die Institutionen so zu reformieren, daß sie mit <strong>de</strong>n Problemen <strong>de</strong>s<br />

Größenwachstums Schritt halten. Vor allem aber ist es im Laufe <strong>de</strong>r Konventsarbeit<br />

nicht gelungen, eine wirklich tiefschürfen<strong>de</strong> Debatte darüber zu führen, was aus<br />

dieser <strong>EU</strong> eigentlich wer<strong>de</strong>n soll. <strong>Kein</strong> W<strong>und</strong>er: <strong>Die</strong>se Frage stellen, heißt eine<br />

Pandorabüchse öffnen. Über diese Frage schlechterdings gar nicht zu re<strong>de</strong>n, ist aber<br />

auch <strong>de</strong>r sichere Weg in die Handlungsunfähigkeit. „Es fehlt uns ein Fahrplan, ein<br />

klar <strong>de</strong>finiertes Projekt“, hat <strong>de</strong>r für <strong>de</strong>n Außenhan<strong>de</strong>l zuständige französische<br />

Kommissar Pascal Lamy, einst <strong>de</strong>r Kabinettschef von Präsi<strong>de</strong>nt Delors, also ein alter<br />

Fachmann, vor kurzem geklagt.<br />

Wenn die „Finalitäts<strong>de</strong>batte“ offen geführt wür<strong>de</strong>, wür<strong>de</strong> allerdings auch das<br />

eigentliche Dilemma <strong>de</strong>r <strong>EU</strong> <strong>de</strong>utlich, das sich mit ihrer Erweiterung noch<br />

verschärfen wird: Da gibt es ein paar Staaten (<strong>und</strong> viele Europa-Abgeordnete sowie<br />

Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kommission), die hängen immer noch <strong>de</strong>r Vision an, aus dieser Union<br />

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8<br />

wer<strong>de</strong> eines Tages eine Art B<strong>und</strong>esstaat wer<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>r daraus folgen<strong>de</strong>n<br />

Gr<strong>und</strong>ausstattung in Sachen Demokratie (also beispielsweise mit einer gewählten<br />

Regierung, die <strong>de</strong>m Parlament verantwortlich wäre), mit einer wirklich gemeinsamen<br />

Außenpolitik sowie einer gemeinsamen Verteidigung. Am an<strong>de</strong>ren Extrem stehen<br />

jene Staaten – <strong>und</strong> das ist vermutlich die Mehrheit <strong>de</strong>r neuen Mitglie<strong>de</strong>r aus Mittel-<br />

<strong>und</strong> Osteuropa -, die in <strong>de</strong>r <strong>EU</strong> nicht viel mehr sehen als eine Freihan<strong>de</strong>lszone <strong>de</strong> luxe<br />

o<strong>de</strong>r einen Wirtschaftsblock, die weiterhin eine durchaus eigenständige Außenpolitik<br />

betreiben wollen <strong>und</strong> die für ihre Sicherheit <strong>und</strong> die Verteidigung zu 150 Prozent auf<br />

die Nato <strong>und</strong> somit Amerika setzen. Es ist offensichtlich, daß es zwischen solchen<br />

Positionen wenig Kompromißmöglichkeiten gibt, <strong>und</strong> <strong>de</strong>m entspricht auch <strong>de</strong>r<br />

Fortgang <strong>de</strong>r Integration. Auch an <strong>de</strong>n Formulierungen <strong>de</strong>s Verfassungsvertrags läßt<br />

sich erkennen, daß die Europäer in einer Kutsche sitzen, die von verschie<strong>de</strong>nen<br />

Pfer<strong>de</strong>n in ganz verschie<strong>de</strong>ne Richtungen gezogen wird.<br />

Das läßt sich gera<strong>de</strong> an <strong>de</strong>m Beispiel zeigen, das als großer Erfolg <strong>de</strong>r Reform<strong>de</strong>batte<br />

gefeiert wur<strong>de</strong>: die im Verfassungsvertrag vorgesehene Ernennung eines<br />

europäischen Außenministers, <strong>de</strong>r auch über einen eigenen diplomatischen Stab<br />

verfügen soll. Kann man ernsthaft daran glauben, daß das, was <strong>de</strong>r sogenannte Hohe<br />

Repräsentant <strong>de</strong>r GASP, <strong>de</strong>r ehemalige spanische Außenminister <strong>und</strong> Nato-<br />

Generalsekretär Javier Solana, nicht fertig gebracht hat, nun auf einmal funktionieren<br />

sollte, nur weil ein neuer Titel o<strong>de</strong>r eine an<strong>de</strong>re Institution geschaffen wur<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r<br />

wer<strong>de</strong>n soll? Der Irak-Krieg wie auch die divergieren<strong>de</strong>n Reaktionen auf <strong>de</strong>n Nahost-<br />

Konflikt zeigen ziemlich <strong>de</strong>utlich, daß die gemeinsame Außenpolitik <strong>de</strong>r <strong>EU</strong> nicht<br />

daran krankt - je<strong>de</strong>nfalls nicht vor allem daran -, daß ein Außenminister fehlte o<strong>de</strong>r<br />

die Institutionen zu schwach wären, son<strong>de</strong>rn daran, daß es keine hinreichend breite<br />

Basis gemeinsamer Interessen <strong>und</strong> gemeinsamer politischer Ziele innerhalb <strong>de</strong>r <strong>EU</strong><br />

gibt, <strong>de</strong>shalb auch keinen einheitlichen Gestaltungswillen, keine gemeinsamen Mittel<br />

– zum Beispiel militärische – <strong>und</strong> daher auch keine autonome europäische<br />

Handlungsfähigkeit. Aus <strong>de</strong>m von Solana ausgearbeiteten <strong>und</strong> vom Europäischen Rat<br />

verabschie<strong>de</strong>ten Papier zur Europäischen Sicherheitsstrategie spricht zwar <strong>de</strong>r Wille<br />

zur Analyse <strong>und</strong> zur Entwicklung einer strategischen Kultur; ein Handlungswille,<br />

<strong>de</strong>m auch die Mittel zum Han<strong>de</strong>ln zur Verfügung stün<strong>de</strong>n, wird daraus (noch) nicht.<br />

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9<br />

An dieser Lage wird auf absehbare Zeit we<strong>de</strong>r eine Person etwas än<strong>de</strong>rn noch ein<br />

Amt. Zwar wird immer wie<strong>de</strong>r, <strong>und</strong> mit Recht, gesagt, daß kein <strong>EU</strong>-Staat auf sich<br />

allein gestellt genug Autorität <strong>und</strong> Macht hat, um außenpolitisch in <strong>de</strong>r Welt Spuren<br />

zu hinterlassen. Nur wenn die Europäer sich zusammentäten, könnten sie wirklich<br />

Einfluß auf die Geschehnisse gewinnen. Das mag richtig sein, doch was theoretisch<br />

unbestreitbar ist, braucht noch lange nicht wirklich zu wer<strong>de</strong>n – wir sehen das gera<strong>de</strong><br />

in an<strong>de</strong>rer Form bei <strong>de</strong>m Versuch, Reformen in <strong>de</strong>n Sozialsystemen in <strong>de</strong>n<br />

europäischen Staaten durchzuführen. Auch in <strong>de</strong>r <strong>EU</strong> gilt: Es gibt kein<br />

Erkenntnisproblem, son<strong>de</strong>rn eines <strong>de</strong>r Umsetzung. Auf absehbare Zeit sieht es<br />

je<strong>de</strong>nfalls eher so aus, als ob die <strong>EU</strong> mit ihren Ansätzen einer gemeinsamen<br />

Außenpolitik ringen wer<strong>de</strong> <strong>und</strong> wie die Echternacher Springprozession ein paar<br />

Schritte vor, ein paar Schritte zurück macht: im Gr<strong>und</strong>e jedoch wird Außenpolitik,<br />

wenigstens was die großen Fragen angeht, nach wie vor von <strong>de</strong>n nationalen<br />

Kanzleien bestimmt. Pascal Lamy hat dazu in <strong>de</strong>m bereits zitierten Interview mit <strong>de</strong>r<br />

Zeitung „Le Figaro“ gesagt: „Tun wir bitteschön nicht so, als ob Europa eine Außen-<br />

<strong>und</strong> Sicherheitspolitik habe! (...) <strong>Die</strong> Außenpolitik, das ist das Allerabstrakteste: Man<br />

bewegt sich in <strong>de</strong>r Domäne <strong>de</strong>r Träume <strong>und</strong> Albträume. Einen Kompromiß über<br />

Träume o<strong>de</strong>r Albträume zu fin<strong>de</strong>n, das ist aber in <strong>de</strong>r Tat das Schwierigste in <strong>de</strong>r<br />

Politik.“<br />

Daß <strong>de</strong>r wegen Irak ausgebrochene Streit nicht nur eine Art politischer<br />

Verkehrsunfall war, zeigt sich auch bei an<strong>de</strong>ren strategischen Fragen, etwa bei <strong>de</strong>r<br />

Überlegung, wie sich die 25 <strong>EU</strong>-Staaten wohl künftig gegenüber <strong>de</strong>r Weltmacht<br />

Amerika <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Großmacht Rußland positionieren. Was das Verhältnis zu Amerika<br />

angeht, scheint uns offensichtlich zu sein, daß einige Regierungen auf <strong>de</strong>m<br />

europäischen Kontinent – Frankreich <strong>und</strong> Deutschland voran -, <strong>de</strong>r Meinung sind,<br />

nach <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r sowjetischen Bedrohung brauche man Amerika als Schutzmacht<br />

nicht mehr, zumin<strong>de</strong>st nicht mehr mit <strong>de</strong>n Mitsprache- <strong>und</strong> Mitbestimmungsrechten,<br />

die sich Washington als Gegenleistung für seinen Schutz genommen hatte <strong>und</strong> die<br />

seine hegemoniale Stellung politisch ausfüllten. Das sieht aus <strong>de</strong>m mittleren <strong>und</strong><br />

östlichen Europa betrachtet, mit einer nochmaligen Steigerung im Baltikum, ganz<br />

9


10<br />

an<strong>de</strong>rs aus. Für die ehemaligen Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Warschauer Paktes ist, je näher sie<br />

Rußland geographisch sind, das Wort Sicherheit i<strong>de</strong>ntisch mit <strong>de</strong>m Namen Amerika.<br />

Mit Recht nehmen sie an, daß die Europäische Union – was immer sonst ihre<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> Leistungen sein mögen – nicht in <strong>de</strong>r Lage ist, ihnen Schutz vor<br />

russischen Bedrängungen zu geben, von militärischer Sicherheit ganz zu schweigen.<br />

Daß die <strong>EU</strong> <strong>de</strong>r Nato – die wie<strong>de</strong>rum als weitgehend i<strong>de</strong>ntisch mit <strong>de</strong>n Vereinigten<br />

Staaten gesehen wird – auf absehbare Zeit auf diesem Gebiet keinerlei Konkurrenz<br />

machen kann <strong>und</strong> ihre Anstrengungen zur sicherheitspolitischen Profilierung dürftig<br />

sind, dürfte <strong>de</strong>r Überzeugung aller Regierungen im mittleren <strong>und</strong> östlichen Europa<br />

entsprechen, gleichgültig welcher politischen Couleur. <strong>Die</strong> Mittel- <strong>und</strong> Osteuropäer<br />

mögen bei vielen Themen, die kontrovers über <strong>de</strong>n Atlantik hinweg diskutiert<br />

wer<strong>de</strong>n, auf einer „europäischen“ Linie liegen – doch ihre Sicherheit vertrauen sie<br />

lieber Amerika an.<br />

Damit ist auch schon das Verhältnis zu Rußland angesprochen. Für die Westeuropäer,<br />

die unter amerikanischem Schutz <strong>und</strong> durchaus erfolgreich Entspannungspolitik<br />

betrieben haben, gilt diese Maxime: Gute, wenigstens entspannte Beziehungen zu<br />

Rußland sind wichtig; auch wenn Rußland keine militärische Gefahr darstellt, könnte<br />

Moskau doch als diplomatischer wie wirtschaftlicher Störfaktor die Kreise <strong>de</strong>r <strong>EU</strong><br />

stören. Ganz offensichtlich ist die Haltung <strong>de</strong>r ehemals kommunistisch beherrschten<br />

Staaten in Europa ganz an<strong>de</strong>rs, selbst dort <strong>und</strong> selbst dann, wenn sie heute von<br />

Wen<strong>de</strong>-Kommunisten regiert wer<strong>de</strong>n: Da haben 50 Jahre Unterdrückung <strong>und</strong><br />

Fremdbestimmung ihre Spuren hinterlassen. An<strong>de</strong>rs gesagt: <strong>Die</strong> westeuropäische<br />

Ten<strong>de</strong>nz, Moskau nicht zu verprellen, trotz <strong>de</strong>r Rückkehr zum autoritären<br />

Regierungsstil als „Partner“ zu sehen <strong>und</strong> zu hofieren, manchmal sogar – wie in<br />

Sachen Irak-Krieg – als Verbün<strong>de</strong>ten gegen Amerika ins Feld zu führen, dürfte im<br />

mittleren <strong>und</strong> östlichen Europa auf keinerlei Gegenliebe stoßen. Nicht nur das: Im<br />

Verhältnis <strong>de</strong>r neuen Mitglie<strong>de</strong>r zu Westeuropa nisten sich so Mißtrauen <strong>und</strong> Zweifel<br />

ein. Unter diesen Auspizien wird es weiterhin schwerfallen, eine „europäische<br />

Außenpolitik“ zu entwickeln, die mehr wäre als eine fallweise Kooperation von<br />

Willigen o<strong>de</strong>r Interessierten <strong>und</strong> die sich erst recht nicht im Motiv <strong>de</strong>r<br />

Gegenmachtbildung erschöpft.<br />

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Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: <strong>Die</strong> Unwahrscheinlichkeit, daß es in<br />

<strong>de</strong>n nächsten Jahren zu einer gemeinsamen Europäischen Außenpolitik kommen<br />

könnte, kann für Deutschland - <strong>und</strong> gera<strong>de</strong> für Deutschland - nicht heißen, daß man<br />

<strong>de</strong>n Versuch dazu aufgeben sollte (seit Albert Camus wissen wir schließlich, daß man<br />

sich Sisyphus glücklich vorzustellen hat). Denn die <strong>EU</strong> als rechtlich verfaßte <strong>und</strong><br />

wirtschaftlich-politisch integrierte Zone von Frie<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Wohlstand bleibt nicht nur<br />

die größte Errungenschaft <strong>de</strong>utscher Außenpolitik nach <strong>de</strong>m Zweiten Weltkrieg; sie<br />

bleibt auch <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> <strong>und</strong> stabile Rahmen für das vereinigte Deutschland als<br />

„Zentralmacht Europas“ (Hans-Peter Schwarz). <strong>Die</strong> immer noch von historischen<br />

Hypotheken belasteten Beziehungen zwischen Berlin <strong>und</strong> Warschau o<strong>de</strong>r Prag<br />

wer<strong>de</strong>n sich leichter entkrampfen <strong>und</strong> entspannen lassen, wenn die bilateralen<br />

Bemühungen in <strong>EU</strong>-interne Prozesse eingebettet wer<strong>de</strong>n. Darum dürfen unsere<br />

Zweifel am schnellen Zustan<strong>de</strong>kommen <strong>und</strong> an <strong>de</strong>r Wirkungsmächtigkeit einer<br />

künftigen europäischen Außenpolitik nicht mißverstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n: Darauf<br />

hinzuarbeiten, alles zu för<strong>de</strong>rn, was dazu beiträgt, bleibt eine Priorität <strong>de</strong>utscher<br />

Außenpolitik.<br />

Wie begrenzt die Möglichkeiten einer gemeinsamen Außenpolitik sind - <strong>und</strong> daß<br />

dies auch in Berlin so gesehen wird -, beweist allerdings die erneuerte Bewerbung um<br />

einen ständigen Sitz für Deutschland im Sicherheitsrat <strong>de</strong>r Vereinten Nationen. Denn<br />

das be<strong>de</strong>utet ja zumin<strong>de</strong>st, daß man nicht daran glaubt, daß in entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Fragen<br />

eine „europäische Position“ bei <strong>de</strong>n UN mit einer Stimme vertreten wer<strong>de</strong>n könnte.<br />

<strong>Die</strong> <strong>de</strong>utsche UN-Ambition - ob realistisch o<strong>de</strong>r nicht, sei dahingestellt - zeigt<br />

darüber hinaus, wie wichtig Statusfragen in <strong>de</strong>r internationalen Politik nach wie vor<br />

sind <strong>und</strong> wie groß die Beharrungskraft nationaler Selbstdarstellung weiterhin ist. Das<br />

gilt für die ehemaligen Großmächte <strong>und</strong> Sicherheitsratsmitglie<strong>de</strong>r Britannien <strong>und</strong><br />

Frankreich; es gilt aber auch – seien wir ehrlich – für Deutschland.<br />

An<strong>de</strong>rs gesagt: <strong>Die</strong> Bemühungen um eine gemeinsame Außenpolitik <strong>de</strong>r<br />

Europäischen Union wer<strong>de</strong>n uns bis auf weiteres nicht davon entbin<strong>de</strong>n, eine<br />

nationale Außenpolitik zu formulieren. Und diese wird ein Management von<br />

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Ambivalenzen bleiben, Ambivalenzen, die sich im Einzelfall bis zum Wi<strong>de</strong>rspruch<br />

steigern können. Um nur einige Probleme zu erwähnen: <strong>Die</strong> <strong>de</strong>utsch-französische<br />

Partnerschaft kann in Konflikt geraten mit <strong>de</strong>r Partnerschaft mit Amerika; Berlin <strong>und</strong><br />

Paris müssen, wenn möglich zusammen mit London, eine Führungsrolle in <strong>de</strong>r <strong>EU</strong><br />

spielen, ohne daß damit <strong>de</strong>r Verdacht von Direktoriumsambitionen verb<strong>und</strong>en wer<strong>de</strong>n<br />

kann. <strong>Die</strong> atlantische Verteidigung in <strong>de</strong>r Nato sollte nicht auf <strong>de</strong>m Altar<br />

europäischer Sicherheits- <strong>und</strong> Verteidigungsambitionen geopfert wer<strong>de</strong>n, für die auf<br />

absehbare Zeit keine Mittel bereitstehen. Und Deutschland bleibt zwar <strong>de</strong>r erste <strong>und</strong><br />

wichtigste europäische Ansprechpartner <strong>de</strong>r neuen <strong>EU</strong>-Mitglie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m mittleren<br />

<strong>und</strong> östlichen Europa; doch die bilateralen Beziehungen mit diesen Staaten wer<strong>de</strong>n<br />

noch auf lange Zeit krisenanfällig, wenigstens aber kompliziert bleiben.<br />

Den Hauptteil seiner selbstgewählten <strong>und</strong> <strong>de</strong>r neu hinzugekommenen internationalen<br />

Verantwortung wird Deutschland im europäischen Kontext zu leisten haben. Das gilt<br />

für die Außen-, Sicherheits- <strong>und</strong> Verteidigungspolitik. Es muß jedoch vor allem klar<br />

sein, daß dies auch in wirtschaftlichen Dingen gilt. Ohne eine wie<strong>de</strong>rerstarkte<br />

<strong>de</strong>utsche Volkswirtschaft, die in <strong>de</strong>r Lage ist, einen Teil <strong>de</strong>r eingangs geschil<strong>de</strong>rten<br />

Spannungen in <strong>de</strong>r <strong>erweiterte</strong>n <strong>EU</strong> finanziell abzufe<strong>de</strong>rn, wird Europa an Stabilität<br />

<strong>und</strong> an Integrationsdichte verlieren. <strong>Die</strong>s zu verhin<strong>de</strong>rn bleibt das wichtigste Ziel<br />

<strong>de</strong>utscher Außenpolitik.<br />

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