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Die äußeren Aspekte der deutschen Einheit

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DFG-Projekt ‘Zivilmächte’<br />

Fallstudie<br />

<strong>Die</strong> äusseren <strong>Aspekte</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong><br />

Autor: Knut Kirste<br />

Fassung: 7. Januar 1998<br />

Geschäftszeichen: MA 687/4-1 und 2<br />

Laufzeit: April 1994 - Oktober 1997<br />

Projektleiter: Prof. Dr. Hanns W. Maull<br />

Lehrstuhl für Außenpolitik und Internationale Beziehungen<br />

Universität Trier, FB III Politikwissenschaft<br />

54286 Trier


Glie<strong>der</strong>ung<br />

1 Einführung<br />

2 Hypothesen und Verhaltenserwartungen<br />

3 Situationswahrnehmung, Rolle und Rollenerwartung<br />

3.1 USA<br />

3.1.1 Lagebeurteilung und Position<br />

3.1.2 Grundsätze und Ziele<br />

3.1.3 Strategien und Instrumente<br />

3.1.4 Perzeption <strong>der</strong> eigenen Gestaltungsmöglichkeiten<br />

3.1.5 Das Rollenkonzept <strong>der</strong> USA<br />

3.1.6 Rollenerwartungen <strong>der</strong> USA an den Partner<br />

3.2 Bundesrepublik<br />

3.2.1 Lagebeurteilung und Position<br />

3.2.2 Grundsätze und Ziele<br />

3.2.3 Strategien und Instrumente<br />

3.2.4 Perzeption <strong>der</strong> eigenen Gestaltungsmöglichkeiten<br />

3.2.5 Das Rollenkonzept <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

3.2.6 Rollenerwartungen <strong>der</strong> Bundesrepublik an den Partner USA<br />

4 Bewertung <strong>der</strong> bilateralen Beziehungen<br />

4.1 Transparenz und Homogenität amerikanischer und deutscher Politik<br />

4.2 Unterschiedliche Definitionen <strong>der</strong> Beziehungen<br />

4.3 Interaktionsmuster aus Konflikt und Kooperation<br />

5 Zum Zivilmachtcharakter <strong>der</strong> Verhaltensmuster, Strategien und Instrumente<br />

5.1 Außenpolitische Konfliktkultur/Verhandlungsrahmen<br />

5.2 Fragen <strong>der</strong> Sicherheit/Bündniszugehörigkeit<br />

5.3 Territorialfragen<br />

5.4 Formen <strong>der</strong> Souveränitätsausübung<br />

6 Ergebnis <strong>der</strong> Hypothesenüberprüfung<br />

7 Gestaltungsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen<br />

7.1 <strong>Die</strong> Bundesrepublik<br />

7.2 <strong>Die</strong> USA


1 Einführung<br />

<strong>Die</strong> „Deutsche Frage“ stellte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Dauerproblem <strong>der</strong><br />

internationalen Politik dar. 1 Unterschiedliche deutschlandpolitische Konzeptionen und Ziele <strong>der</strong><br />

Siegermächte haben einerseits zur Genese des Ost-West-Gegensatzes entscheidend beigetragen<br />

und an<strong>der</strong>erseits auch zur Teilung Deutschlands in zwei Staaten geführt. 2 Aufgrund <strong>der</strong><br />

beson<strong>der</strong>en Rechte und Verantwortlichkeiten <strong>der</strong> vier Siegermächte über Berlin und<br />

Deutschland als Ganzes, <strong>der</strong> Zugehörigkeit <strong>der</strong> beiden <strong>deutschen</strong> Staaten zu gegensätzlichen<br />

Militärbündnissen und <strong>der</strong> offengelassenen Regelung territorialer Fragen besaß eine Lösung<br />

des Deutschlandproblems zwangsläufig internationale Implikationen großen Ausmaßes. Wie<br />

die deutsche <strong>Einheit</strong> als Ordnungsproblem <strong>der</strong> internationalen Politik im Zeitraum von 1989 bis<br />

1990 geregelt wurde 3 , soll in dieser Fallstudie unter <strong>der</strong> Perspektive des Zivilmachtansatzes<br />

untersucht werden. Dabei behandelt die Fallstudie bewußt nur die <strong>äußeren</strong>/internationalen<br />

<strong>Aspekte</strong> des Einigungsprozesses, nicht aber die Verhandlungen zwischen den beiden <strong>deutschen</strong><br />

Staaten zur Herstellung nationaler <strong>Einheit</strong>.<br />

Mit einer Betrachtung des Akteursverhaltens und <strong>der</strong> deutsch-amerikanischen Beziehungen im<br />

Kontext <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Vereinigung 1989/90 kann nicht nur <strong>der</strong> Zivilmachtcharakter <strong>der</strong> beiden<br />

Akteure überprüft werden, son<strong>der</strong>n auch die Rollenbeziehungen innerhalb <strong>der</strong> bilateralen<br />

Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

(1) Zunächst vollzog sich die Vereinigung unter <strong>der</strong> Führung <strong>der</strong> Regierungen in Bonn und<br />

Washington. <strong>Die</strong> bilateralen Beziehungen zwischen <strong>der</strong> Bundesrepublik und den Vereinigten<br />

Staaten haben im Prozeß <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> eine bedeutende Rolle gespielt. In <strong>der</strong><br />

rückschauenden Betrachtung wird deutlich, daß nur die enge Partnerschaft und<br />

Politikkoordination zwischen Bonn und Washington die <strong>Einheit</strong> so überhaupt möglich werden<br />

ließ. Ähnlich wie in <strong>der</strong> Fallstudie „Golfkonflikt“ können die Qualität <strong>der</strong> Beziehungen, <strong>der</strong><br />

gegenseitige Einfluß <strong>der</strong> Akteure auf die Politik des Partners und die Rollenverteilung<br />

zwischen den Akteuren untersucht werden.<br />

(2) Zweitens bietet die Fallstudie spezifische Ansatzpunkte, um zivilmachtorientiertes<br />

Verhalten systematisch anhand des Idealtyps zu überprüfen. Aus zivilmachttheoretischer<br />

Perspektive ergibt sich zum einen die Frage, welche inhaltlichen Konzepte und normativen<br />

Vorstellungen die Akteure in den wesentlichen Politikfel<strong>der</strong>n im Kontext <strong>der</strong> Fallstudie geleitet<br />

haben:<br />

Fragen <strong>der</strong> Sicherheit und Bündniszugehörigkeit: Inwieweit entsprachen amerikanische und<br />

bundesdeutsche Konzepte von Sicherheit und das tatsächliche Verhalten den Kriterien <strong>der</strong><br />

Zivilmacht? Welche Vorstellungen haben die Bundesrepublik hinsichtlich <strong>der</strong> eigenen<br />

Sicherheit und <strong>der</strong> Sicherheitsinteressen <strong>der</strong> Partner geleitet und inwieweit waren Bonn und<br />

Washington bereit, das Gut Sicherheit zwischen den Verhandlungspartnern im Sinne eines<br />

akzeptablen Ausgleichs aufzuteilen?<br />

1 Für eine Darstellung <strong>der</strong> ‘Deutschen Frage’ in <strong>der</strong> jüngeren Geschichte vgl. Jill Robinson, Anniversaries,<br />

Memory and the Neighbours: The ‘German Question’ in Recent History, in: German Politics, Vol. 5,<br />

No. 1, April 1996, S. 43-57.<br />

2 Für eine gute Zusammenfassung <strong>der</strong> Entwicklungen <strong>der</strong> internationalen <strong>Aspekte</strong> des Deutschlandproblems<br />

seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vgl. Hans-Jürgen Schrö<strong>der</strong> (Hrsg.), <strong>Die</strong> deutsche Frage als<br />

internationales Problem. Veröffentlichungen des Studienkreises Internationale Beziehungen, Bd. 2,<br />

Stuttgart 1990.<br />

3 Vgl. für eine umfassende neuere Studie Elke Bruck/Peter M. Wagner (Hrsg.), Wege zum „2+4“-Vertrag. <strong>Die</strong><br />

Äußeren <strong>Aspekte</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong>. Schriftenreihe <strong>der</strong> Forschungsgruppe Deutschland 6, München<br />

1996.


Territorialfragen: Strebte die Bundesrepublik nach territorialen Gewinnen, bzw. hat sie sich<br />

eine territoriale Verän<strong>der</strong>ung für die Zukunft vorbehalten wollen? Wie vertrauenswürdig im<br />

Sinne <strong>der</strong> vom Zivilmachtkonzept gefor<strong>der</strong>ten Rolle als verläßlicher und berechenbarer Partner<br />

war die Bundesrepublik für ihre Nachbarn, speziell für Polen, im Kontext <strong>der</strong> Fallstudie?<br />

Formen <strong>der</strong> Souveränitätsausübung: <strong>Die</strong> Herstellung <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> eröffnete <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik zumindest theoretisch die Möglichkeit, zu traditionellen Formen <strong>der</strong><br />

Souveränitätsausübung zurückzukehren. Hat die Bundesrepublik in den Verhandlungen zur<br />

<strong>Einheit</strong> versucht, Instrumente traditioneller Machtausübung zu erwerben, zu erweitern und sich<br />

institutionalisierten Formen <strong>der</strong> Einbindung bzw. internationalen Kontrollmechanismen<br />

staatlicher Souveränität zu entziehen? Haben sich diese Befürchtungen <strong>der</strong> Nachbarn und<br />

Partner im Prozeß <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> o<strong>der</strong> für das vereinte Deutschland bewahrheitet?<br />

Inwieweit war die Bundesrepublik bereit, ihren Weg als Zivilmacht fortzusetzen?<br />

Zum an<strong>der</strong>en ist im Zusammenhang des Zivilmachtkonzepts von Bedeutung, welche<br />

Koordinations- und Konfliktlösungsmechanismen die Akteure zur Lösung eines anstehenden<br />

Problems internationaler Ordnung mit vielfältigen Implikationen in Fragen <strong>der</strong> Sicherheit und<br />

Bündniszugehörigkeit, <strong>der</strong> territorialen Ordnung und <strong>der</strong> Aufgabe bzw. dem Erhalt von<br />

Souveränitätsrechten, gewählt haben. Hier geht es also primär um Fragen nach dem<br />

präferierten Verhandlungsmodus, dem außenpolitischen Stil und <strong>der</strong> Konfliktkultur <strong>der</strong><br />

Akteure.<br />

Schließlich können Gestaltungsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen <strong>der</strong> jeweiligen Strategien<br />

im Kontext <strong>der</strong> Fallstudie verglichen und bewertet werden.<br />

<strong>Die</strong> Akteure<br />

Rahmen und Inhalt <strong>der</strong> 2+4-Verhandlungen wurden konzipiert und später auch durchgeführt<br />

von einem jeweils kleinen und exklusiven Stab aus Mitarbeitern <strong>der</strong> Außenministerien und <strong>der</strong><br />

Exekutivbürokratien <strong>der</strong> drei Hauptakteure USA, Bundesrepublik und bedingt auch <strong>der</strong><br />

Sowjetunion. Von bemerkenswert untergeordneter Bedeutung waren sowohl die nationalen<br />

Verteidigungsministerien als auch nationale Parlamente und politische Parteien. 4 Dabei ließ das<br />

Regierungsmanagement unter Bush und Kohl deutliche Gemeinsamkeiten erkennen. Beide<br />

setzten auf Vertrauenspersonen und schalteten sich persönlich nur in heikle<br />

Verhandlungssituationen ein. 5 Das Ergebnis <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> war sehr stark bestimmt<br />

durch die wenigen Hauptakteure und den Prozeßcharakter <strong>der</strong> 2+4-Verhandlungen.<br />

Für die USA sind neben Präsident Bush, Außenminister Baker uns Sicherheitsberater<br />

Scowcroft vor allem zu nennen: Robert Blackwill, <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Europaabteilung im NSC und<br />

Stellvertreter von Sicherheitsberater Scowcroft; Dennis Ross, <strong>der</strong> Planungschef im State<br />

Department; Robert Zoellick, <strong>der</strong> Chefberater Außenminister Bakers und Robert Kimmitt, <strong>der</strong><br />

Unterstaatssekretär im State Department.<br />

Für die Bundesrepublik waren neben Bundeskanzler Kohl, Außenminister Genscher und<br />

Verteidigungsminister Stoltenberg maßgeblich beteiligt: Kanzleramtsberater Horst Teltschik;<br />

<strong>der</strong> politische Direktor des Auswärtigen Amts und Leiter <strong>der</strong> bundes<strong>deutschen</strong> „2+4“-<br />

Delegation <strong>Die</strong>ter Kastrup; Frank Elbe, Leiter <strong>der</strong> Ministerialbürokratie im Auswärtigen Amt<br />

und Berater Außenminister Genschers; Peter Hartmann, Leiter <strong>der</strong> Auslandsabteilung des<br />

Bundeskanzleramts; Hans Werner Lautenschlager, Staatssekretär im Auswärtigen Amt; sowie<br />

verschiedene Experten, die zu entsprechenden 2+4-Verhandlungen hinzugezogen wurden, wie<br />

4 Stephen Szabo, The Diplomacy of German Unification, New York 1992, S. 22.<br />

5 Karl-Rudolf Korte, Deutsch-amerikanische Beziehungen und deutsche <strong>Einheit</strong>, in: Internationale Politik, Heft<br />

8/1995, S. 64-65.


eispielsweise <strong>der</strong> damalige Leiter <strong>der</strong> Amerikaabteilung im Auswärtigen Amt, Gebhardt von<br />

Moltke.<br />

2 Hypothesen und Verhaltenserwartungen<br />

Für die zentralen Politikfel<strong>der</strong> und Herausfor<strong>der</strong>ungen im Kontext <strong>der</strong> Fallstudie zur <strong>deutschen</strong><br />

<strong>Einheit</strong> ergeben sich spezifische Verhaltenserwartungen an eine idealtypische Zivilmacht:<br />

1. Eine Zivilmachtorientierung würden die Akteure beispielsweise durch die Bereitschaft<br />

demonstrieren, einzelne Teilaspekte des Einigungsprozesses auf <strong>der</strong> Grundlage international<br />

anerkannter Prinzipien und Normen zu lösen (promoter of the rule of law, 3.3). Weiterhin<br />

würden sich Zivilmächte idealtypisch zur rechtlich verbindlichen Anerkennung zentraler<br />

Verhandlungsergebnisse bereit erklären.<br />

2. Im Politikfeld ‘außenpolitische Konfliktkultur’ müßte eine Zivilmacht die Lösung<br />

anstehen<strong>der</strong> Probleme innerhalb eines institutionellen Rahmens anstreben (regime user, 5.4).<br />

Ad-hoc-Lösungen, informelle bzw. ad-hoc-Kooperation erfüllen dagegen unter bestimmten<br />

Voraussetzungen die Kriterien <strong>der</strong> Gegenkategorien. Weiterhin sehen Zivilmächte<br />

Interessenkonflikte und Verteilungsprobleme als positive-sum games, die im Idealfall durch<br />

Kompromißbereitschaft und Ausgleich für alle Seiten vorteilhaft gelöst werden sollen<br />

(promoter of bargaining, compromise and mediation, 5.3). <strong>Die</strong> Gegenkategorie schießt hier<br />

zero-sum games und eine auf Maximalfor<strong>der</strong>ungen beharrende Verhandlungsstrategie mit<br />

ein.<br />

3. Im Politikfeld ‘Sicherheit/Bündniszugehörigkeit’ müßte eine Zivilmacht kurz- bis<br />

mittelfristig Strukturen kooperativer Sicherheit, langfristig auch Strukturen kollektiver<br />

Sicherheit propagieren und stärken bzw. <strong>der</strong>en Evolution för<strong>der</strong>n (cooperative bzw.<br />

collective security, 6.2, 6.1). Zivilmächte unterstützen Rüstungskontrolle und Abrüstung<br />

und befürworten das Nichtverbreitungsregime als Versuch zur Herstellung eines<br />

internationalen Gewaltmonopols.<br />

4. Politikfeld ‘Formen <strong>der</strong> Souveränitätsausübung’: Zivilmächte streben nicht nach einer<br />

Erweiterung <strong>der</strong> Instrumente traditioneller Machtausübung, son<strong>der</strong>n befürworten<br />

supranationale Bindung und Einbindung und demonstrieren ihre Bereitschaft, sich<br />

internationalen Kontrollmechanismen unterzuordnen.<br />

3 Situationswahrnehmung, Rolle und Rollenerwartung<br />

3.1 USA<br />

Im folgenden Kapitel werden Positionen, Ziele, außenpolitische Strategien und Instrumente<br />

sowie Rollenverhalten und Rollenerwartungen <strong>der</strong> Bush-Administration im Kontext <strong>der</strong><br />

Fallstudie analysiert.<br />

3.1.1 Lagebeurteilung und Position<br />

Nachkriegszeit<br />

Zwar führten nach 1945 die unterschiedlichen deutschlandpolitischen Konzeptionen und<br />

Zielvorstellungen <strong>der</strong> Siegermächte letztlich zu zwei <strong>deutschen</strong> Staaten. <strong>Die</strong> deutsche Teilung<br />

war von den USA allerdings nie beabsichtigt, son<strong>der</strong>n nur toleriert worden. 6 An<br />

deklaratorischer Unterstützung für eine Lösung <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Frage hat es Washington im<br />

Verlauf <strong>der</strong> Nachkriegszeit nie fehlen lassen. Allerdings muß das tatsächliche Engagement <strong>der</strong><br />

6 Szabo, 1992, S. 2.


USA für die deutsche <strong>Einheit</strong> aus bundesdeutscher Sicht bis in die 80er Jahre hinein als<br />

halbherzig bezeichnet werden. 7 Während <strong>der</strong> 40er und 50er Jahre standen die Administrationen<br />

in Washington <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> Deutschlands eher skeptisch bis ablehnend gegenüber. <strong>Die</strong><br />

Westintegration <strong>der</strong> Bundesrepublik erschien zunächst wichtiger als eine mögliche <strong>Einheit</strong> <strong>der</strong><br />

beiden <strong>deutschen</strong> Staaten. Mit Artikel 7 des Deutschlandvertrages aus dem Jahr 1954, mit dem<br />

offiziell das Besatzungsregime <strong>der</strong> drei Westalliierten über die Bundesrepublik beendet wurde,<br />

bestand zwar eine historische Verpflichtung <strong>der</strong> Alliierten, auf eine Vereinigung <strong>der</strong> beiden<br />

<strong>deutschen</strong> Staaten hinzuarbeiten. Auch besaß die Weltmacht USA aufgrund ihrer räumlichen<br />

Distanz und ihrer relativen Macht eine weitaus unbefangenere Position gegenüber einem<br />

geeinten Deutschland als dessen europäische Nachbarn. 8 Dennoch setzten die USA das Thema<br />

nie ernstlich auf die weltpolitische Tagesordnung, die Unterstützung blieb ein<br />

„Lippenbekenntnis.“ 9 Unter <strong>der</strong> Regierung Kennedy hatten deutschland- und europapolitische<br />

Fragen keine Priorität. Während <strong>der</strong> Détente-Phasen in den 70er und 80er Jahren erschien<br />

Deutschlands Situation dann erträglich geworden, jedenfalls nicht drängend. <strong>Die</strong><br />

Zweistaatlichkeit wurde von Washington akzeptiert. Wichtiger als staatliche <strong>Einheit</strong> schien eine<br />

Normalisierung <strong>der</strong> Beziehungen sowohl zwischen den beiden <strong>deutschen</strong> Staaten als auch<br />

zwischen den Supermächten. <strong>Die</strong> deutsche Teilung stellte in einer bipolaren Welt einen von den<br />

USA akzeptierten Faktor des Kräftegleichgewichts dar. Beide Supermächte betrachteten sich<br />

als Garanten des status quo ihrer jeweiligen Einflußsphären. Das Resultat war ein<br />

Machtkompromiß, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Teilung Deutschlands und Europas beruhte. 10 Eine aktivere<br />

Haltung zur <strong>deutschen</strong> Frage nahmen erst die Regierungen Reagan und Bush ein. Ronald<br />

Reagan hatte im Juni 1987 in seiner Berlininitiative angeregt, die Stadt zum Ort vielfältiger<br />

internationaler Begegnungen zu machen und den russischen Präsidenten aufgefor<strong>der</strong>t: „Herr<br />

Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor! Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nie<strong>der</strong>!“ 11<br />

Damit wurde die Grundlage geschaffen, um später die deutsche Frage erneut auf die<br />

internationale Tagesordnung zu setzten.<br />

Ende <strong>der</strong> 80er Jahre<br />

Präsident Bush zeigte ein größeres Interesse an den europäisch-amerikanischen Beziehungen<br />

und war den <strong>deutschen</strong> Eliten zudem willkommener als Reagan. <strong>Die</strong> Bush-Administration<br />

stand am Ende <strong>der</strong> 80er Jahre ganz im Zeichen einer europapolitischen Neuorientierung und<br />

7 Für eine Übersicht zur amerikanischen Haltung zur <strong>deutschen</strong> Frage seit 1945 vgl. Frank A. Ninkovitch,<br />

Germany and the United States: The Transformation of the German Question Since 1945, Boston 1988;<br />

Szabo, 1992, S. 2-13; Heinrich Bortfeldt, Washington, Bonn, Berlin. <strong>Die</strong> USA und die deutsche <strong>Einheit</strong>,<br />

Bonn 1993, S. 6-13; Philip Zelikow/Condoleezza Rice, Germany Unified and Europe Transformed. A<br />

Study in Statecraft, Cambridge 1995, S. 42ff. Zelikow und Rice arbeiteten damals als leitende Beamte<br />

im NSC. Ihr Buch ist das Ergebnis einer internen Studie, die ursprünglich für das State Department<br />

angefertigt wurde und basiert auf „all relevant documents at both the State Department and the White<br />

House, as well as access to relevant intelligence documents“ (S. IXf.).<br />

8 Karl Kaiser, Deutschlands Vereinigung. <strong>Die</strong> internationalen <strong>Aspekte</strong>, Bergisch Gladbach 1991, S. 49.<br />

9 Gerald R. Kleinfeld, <strong>Die</strong> Verwirklichung des Unwahrscheinlichen: Amerikanische Außenpolitik und deutsche<br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung, in: Wolfgang-Uwe Friedrich (Hrsg.), <strong>Die</strong> USA und die Deutsche Frage 1945-1990,<br />

Frankfurt 1991, S. 369-390, hier S. 369.<br />

10 Wolfram F. Hanrie<strong>der</strong>, Vom Doppelcontainment zum Umbruch in Europa: Konflikte und Konsolidierung im<br />

deutsch-amerikanischen Verhältnis, in: Friedrich, 1991, S. 231-257, hier S. 235.<br />

11 Rede Präsident Reagans zur 750-Jahr-Feier Berlins vom 12. Juni 1987, in: Archiv <strong>der</strong> Gegenwart, Folge<br />

12/1987, 4.-20. Juni, S. 31137.


eines grundsätzlichen Wandels in den deutsch-amerikanischen Beziehungen, 12 die traditionell<br />

getragen waren von einer freundschaftlichen, vertrauensvollen Affinität. 13 <strong>Die</strong> Bundesrepublik<br />

genoß bei den Amerikanern hohe Popularität 14 und ihr Recht auf Selbstbestimmung wurde als<br />

genuin amerikanischer Wert weitläufig unterstützt. 15 Gleichzeitig pochte Bonn verstärkt auf<br />

Souveränität in Fragen, die mit verschiedenen Belastungen aufgrund <strong>der</strong> militärischen Präsenz<br />

amerikanischer Truppen in Deutschland zusammenhingen. Dazu erschien die For<strong>der</strong>ung des<br />

<strong>deutschen</strong> Außenministers, Gorbatschow beim Wort zu nehmen, einer amerikanischen<br />

Administration, die sich noch schwer tat, vom gewohnten Denken des Ost-West-Konfliktes<br />

abzukommen, als neue, eher bedrohliche deutsch-sowjetische Annäherung. Dennoch erkannte<br />

die Administration die zunehmende Bedeutung einer engen deutsch-amerikanischen<br />

Partnerschaft.<br />

Auch in <strong>der</strong> Europaabteilung des State Departments machte man sich seit 1989 Gedanken, wie<br />

die Beziehungen zu Deutschland den verän<strong>der</strong>ten weltpolitischen Rahmenbedingungen<br />

anzupassen seien. 16 Zudem waren leitende Berater des Präsidenten besorgt, daß Bush zu<br />

langsam und zögerlich auf den weltpolitischen Wandel und die Reformbemühungen <strong>der</strong><br />

Sowjetunion reagierte und arbeiteten an einem neuen Europakonzept für die Vereinigten<br />

Staaten, das die Chancen <strong>der</strong> Entspannung zu nutzen verstand. 17 Der daraus resultierende neue<br />

europapolitische Ansatz wurde erstmals deutlich in einer Serie außenpolitischer Reden des<br />

Präsidenten im Mai 1989. 18<br />

<strong>Die</strong> neue Konzeption verdichtete sich in den Bil<strong>der</strong>n eines „Europe whole and free“ mit <strong>der</strong><br />

For<strong>der</strong>ung nach größerer politischer Freiheit in Osteuropa, einer Überwindung <strong>der</strong> Teilung<br />

Berlins, gemeinsamer Anstrengungen zur Bewältigung europäischer Umweltprobleme und<br />

Abrüstungsbemühungen sowie dem Angebot einer „Partnership in Lea<strong>der</strong>ship“ für die<br />

Bundesrepublik, 19 die dem wachsenden Gewicht des Partners Rechnung tragen sollte. Robert<br />

Zoellick hatte seit 1988/89 versucht, die Aufmerksamkeit seines Chefs, Außenminister Bakers,<br />

verstärkt auf Deutschland und Japan zu lenken und künftige Szenarien für die deutschamerikanischen<br />

Beziehungen ausgearbeitet, in denen eine stärkere Rolle <strong>der</strong> Verbündeten mit<br />

12 Für den Positionswechsel <strong>der</strong> USA gegenüber <strong>der</strong> Bundesrepublik zu Beginn 1989 vgl. Elisabeth Pond, <strong>Die</strong><br />

Entstehung von „Zwei-plus-Vier“, in: EA 21/1992, S. 619-630, hier S. 619f.<br />

13 Für die Einstellungen <strong>der</strong> Deutschen gegenüber den Vereinigten Staaten vgl. Ronald D. Asmus, German<br />

Perceptions of the United States at Unification, RAND Research Report R-4069-AF, Santa Monica<br />

1991, S. 11-32; für amerikanische Eliteeinstellungen gegenüber Deutschland vgl. Ronald D. Asmus,<br />

Germany in the Eyes of the American Security Elite, RAND Paper P-7810, Santa Monica 1993,<br />

insbeson<strong>der</strong>e S. 1.<br />

14 In einer Meinungsumfrage rangierte die Bundesrepublik 1990 hinter Kanada und Großbritannien mit 62 von<br />

maximal 80 Punkten an dritter Stelle <strong>der</strong> Beliebtheitsskala, vgl. American Public Opinion and U.S.<br />

Foreign Policy 1991, ed. by John E. Rielly, The Chicago Council on Foreign Relations, Chicago 1991,<br />

S. 21<br />

15 Für die positive öffentliche Meinung in den USA hinsichtlich einer <strong>deutschen</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung vgl. Szabo,<br />

1992, Fn. 20; für amerikanische Eliten vgl. Kaiser, 1991, S. 50.<br />

16 Vgl. Szabo, 1992, S. 11.<br />

17 Vgl. Zelikow/Rice, 1995, S. 29.<br />

18 Vgl. beispielsweise Address by President Bush at the Boston University Commencement Ceremony, May 21,<br />

1989, Department of State Current Policy No. 1177, S. 1. Für eine Bewertung des neuen<br />

Europakonzepts vgl. The U.S. Role in a New World Or<strong>der</strong>: Prospects for George Bush’s Global Vision,<br />

CRS-Report for Congress by Stanley R. Sloan, Congressional Research Service, The Library of<br />

Congress, Washington 1991, S. 7-12.<br />

19 Vgl. Address by President Bush at the Rheingoldhalle, Mainz, May 31, 1989, U.S. Departement of State<br />

Current Policy, No. 1179, S. 1ff.


einer festen Bindung an die USA verklammert werden sollte. <strong>Die</strong> Partnerschaft zwischen Bonn<br />

und Washington und das Vertrauen <strong>der</strong> amerikanischen Administration in die Bundesrepublik<br />

als verläßlichen Partner waren stark genug geworden, um Deutschland im Rahmen des neuen<br />

Europakonzeptes <strong>der</strong> USA die Möglichkeit zu geben, eine führende Rolle zu spielen. In<br />

Washington wollte man also die deutsch-amerikanischen Beziehungen auf eine neue Grundlage<br />

stellen. 20 Gleichzeitig sollte die starke Bindung <strong>der</strong> Bundesrepublik an die Vereinigten Staaten<br />

aufrechterhalten werden: „We were looking to the future. We needed to get Germany to<br />

gradually play a larger role on the world stage in all dimensions, including military. One of the<br />

significant accomplishments of the past 45 years was not only the development of a democratic<br />

social market Germany but a Germany integrated into European and transatlantic structures.<br />

And we wanted to maintain that.“ 21<br />

Unterschiedliche Positionen und Lagebeurteilungen<br />

Wann genau man in Washington die Chance für eine deutsche <strong>Einheit</strong> erkannte, ist umstritten.<br />

Der Deutschlandexperte Ronald Asmus kritisiert die Administration, bis etwa zum Sommer<br />

1989 die latente Möglichkeit für einen substantiellen Wandel in den deutsch-<strong>deutschen</strong><br />

Beziehungen unterschätzt zu haben. <strong>Die</strong> DDR wurde in den USA als stabil angesehen, die<br />

Bundesrepublik schien mit dem status quo zufrieden und <strong>der</strong> sowjetische Wi<strong>der</strong>stand wurde als<br />

unüberwindbares Hin<strong>der</strong>nis für die deutsche <strong>Einheit</strong> angesehen. 22 <strong>Die</strong> scheidende<br />

stellvertretende Außenministerin Rozanne Ridgway warnte noch im März 1989 davor, die<br />

Deutsche Frage verfrüht auf die internationale Tagesordnung zu setzen. <strong>Die</strong> Teilung sei ein<br />

Faktor <strong>der</strong> Stabilität in Europa, zudem sei eine Wie<strong>der</strong>vereinigung kein großes Anliegen <strong>der</strong><br />

Deutschen selber. 23 Ab Frühjahr 1989 „some within the Bush Administration had begun to<br />

think about German unification as a realistic policy goal.“ 24 Der Stab des NSC war auf <strong>der</strong><br />

Suche nach einer zündenden diplomatischen Idee, einer Initiative, die eine neue amerikanische<br />

Führungsrolle initiieren und den politischen Entwicklungen in Europa ein neues Momentum<br />

geben konnte. Vor dem Hintergrund des neuen europa- und deutschlandpolitischen Konzepts<br />

empfahlen dann <strong>der</strong> NSC und das neue Team um Außenminister Baker, <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Frage<br />

beson<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit zu widmen 25 und konnten sich damit bei Präsident Bush<br />

durchsetzen. Teile <strong>der</strong> außenpolitischen Bürokratie in Washington hatten also die Frage <strong>der</strong><br />

<strong>deutschen</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung auf die Agenda gehoben und die Unterstützung des Präsidenten<br />

vorbereitet.<br />

20 Daß auch die Führung in Moskau eine Neugestaltung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses beabsichtigt<br />

hatte, belegt <strong>der</strong> Artikel von Hannes Adomeit, Gorbachev and German Unification: Revision of<br />

Thinking, Realignment of Power, in: Problems of Communism, Vol. 39, No. 4 (July-August 1990), S. 1-<br />

23, hier S. 13f.<br />

21 Interview mit Robert Zoellick, Un<strong>der</strong>secretary of State and White House Deputy Chief of Staff (Bush).<br />

Special Counselor to James Baker, U.S. Department of State, Washington 11. Mai 1995.<br />

22 Ronald Asmus, A United Germany, in: Foreign Affairs, Spring 1990, S. 63f.<br />

23 Vgl. Pond, 1992, S. 619.<br />

24 Szabo, 1992, S. 13.<br />

25 Zelikow/Rice, 1995, S. 28.


Bush unterstützt die <strong>Einheit</strong><br />

In einem Interview mit <strong>der</strong> Washington Times gab Bush am 16. Mai an, er sehe Deutschland<br />

gerne wie<strong>der</strong>vereinigt: „If you can get reunification on a proper basis, fine.“ 26 Während des<br />

Sommers 1989 hielt sich die Administration allerdings mit öffentlichen Äußerungen bezüglich<br />

einer amerikanischen Unterstützung für die deutsche <strong>Einheit</strong> zurück. 27 Auch während <strong>der</strong><br />

Flüchtlingskrise in verschiedenen bundes<strong>deutschen</strong> Botschaften während <strong>der</strong> Monate August<br />

und September spielte Washington keine auffällige diplomatische Rolle, zu sehr war man nach<br />

wie vor darauf bedacht, Gorbatschows Reformkurs nicht zu gefährden. Allerdings hatte man<br />

intern den bundes<strong>deutschen</strong> Partnern Unterstützung zugesichert. 28 Während eines Aufenthaltes<br />

in Helena, Montana, sprach sich Bush dann am 18. September wie<strong>der</strong> öffentlich für die <strong>Einheit</strong><br />

aus, über die die Deutschen selbst zu entscheiden hätten, und die keinesfalls einen Nachteil für<br />

westliche Interessen bedeuten müsse. 29 Auf die Bestimmungen des Artikel 7 des<br />

Deutschlandvertrages nahm Präsident Bush in seiner Rede auf dem NATO-Ratstreffen in<br />

Brüssel am 4. Dezember 1989 bezug: „Bekanntlich unterstützen wir alle die<br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung Deutschlands seit vier Jahrzehnten.“ 30 Weiterhin sprach sich Bush in seiner<br />

Rede für ein ungeteiltes Europa sowie das Selbstbestimmungsrecht <strong>der</strong> Völker aus und<br />

markierte damit öffentlich Position und Prinzipien amerikanischer Europa- und<br />

Deutschlandpolitik. Geschickt nahm er durch seine Wortwahl die beiden Westalliierten,<br />

Frankreich und Großbritannien in die Pflicht. 31 <strong>Die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Unterstützung Bushs für das<br />

Gelingen <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> wird noch deutlicher vor dem Hintergrund einer zumindest<br />

anfänglich stark ablehnenden Haltung Frankreichs, Großbritanniens und <strong>der</strong> Sowjetunion, die<br />

„in das Jahr 1990 mit dem festen Willen [gingen], die deutsche Vereinigung zu verhin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong><br />

sie zumindest erheblich zu verzögern.“ 32<br />

Pressestimmen und öffentliche Meinung in den USA<br />

Amerikanische Pressereaktionen auf die Möglichkeit einer baldigen Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />

Deutschlands waren im Herbst 1989 geteilt, mit einem alles in allem eher mahnenden, zur<br />

Vorsicht ratenden Unterton. 33 Verglichen mit englischen und französischen Kommentaren war<br />

26 Bush „Would Love“ Reunited Germany, Washington Times, May 16, 1989, A 1.<br />

27 Offenbar war das Thema Deutsche <strong>Einheit</strong> nicht Top <strong>der</strong> außenpolitischen Agenda des Präsidenten. Bush<br />

erhielt am 7. August ein Memo von Scowcroft, in dem das Anliegen <strong>der</strong> Deutschen nach nationaler<br />

<strong>Einheit</strong> wohlwollend diskutiert wurde. Der Präsident las und initialisierte es allerdings erst am 9.<br />

September, vgl. Zelikow/Rice, S. 393, Fn. 63.<br />

28 So beispielsweise Eagleburger zu Seiters am 7. September 1989, vgl. Zelikow/Rice, S. 80, Fn. 62.<br />

29 Vgl. Public Papers of the President, George Bush, Band II, Washington 1990, S. 1221.<br />

30 Vgl. Outline of Remarks at the North Atlantic Treaty Organization Headquarters in Brussels, December 4,<br />

1989, in: Public Papers of the President, George Bush, Band II, Washington 1990, S. 1644-1647, hier S.<br />

1644, Übersetzung <strong>der</strong> Verfasser.<br />

31 Vgl. zum amerikanischen Einfluß auf die Zustimmung <strong>der</strong> Westalliierten Timothy Garton Ash, Im Namen<br />

Europas. Deutschland und <strong>der</strong> geteilte Kontinent, München 1993, Kapitel 7, S. 502ff, hier S. 510.<br />

32 Ulrich Albrecht, <strong>Die</strong> internationale Regelung <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung. Von einer ‘No-win’-Situation zum<br />

raschen Erfolg, in: APuZ B 40, 27. September 1996, S. 3-11, hier S. 3.<br />

33 Für eine Bewertung <strong>der</strong> amerikanischen Presse durch Assistant Secretary of State for Public Affairs in einem<br />

Memo an Eagleburger von Ende September vgl. Zelikow/Rice, S. 399, Fn. 99. Für skeptische, eher<br />

negative Kommentare, die mit <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> Probleme kommen sahen, auf die Westeuropa nicht<br />

vorbereitet war vgl. Too Soon for a Mighty Germany, International Harald Tribune, May 3, 1989, S. 5;


die amerikanische Berichterstattung in ihrer Tendenz allerdings vorsichtig wohlwollend. 34 In<br />

<strong>der</strong> öffentlichen Meinung erlangte die deutsche <strong>Einheit</strong> eine ungewöhnlich hohe Popularität. In<br />

einer Umfrage im Dezember sprachen sich zwei von drei amerikanischen Befragten (67%) für<br />

eine <strong>Einheit</strong> <strong>der</strong> beiden <strong>deutschen</strong> Staaten aus, nur 16% äußerten Bedenken. Vergleichswerte<br />

für Frankreich ergaben zwar 75% für eine Wie<strong>der</strong>vereinigung (Großbritannien 61%).<br />

Allerdings hielten auch ganze 49% <strong>der</strong> Franzosen nur eine langfristige <strong>Einheit</strong> für<br />

wünschenswert. 35 Insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Fall <strong>der</strong> Berliner Mauer am 9. November erlangte höchste<br />

Medienaufmerksamkeit: Unter Amerikanern wurde er als das wichtigste außeramerikanische<br />

Ereignis des Jahres 1989 überhaupt angesehen. 36 Auch Entscheidungsträger in Washington<br />

kommentierten den 9. November überschwenglich. Außenminister Baker meinte beispielsweise<br />

dazu: „The most dramatic event in East-West relations since the end of the war.“ 37<br />

3.1.2 Grundsätze und Ziele<br />

Prinzipien amerikanischer Deutschlandpolitik 1989/90<br />

In einer Grundsatzrede vor <strong>der</strong> Foreign Policy Association in New York legte Außenminister<br />

Baker im Oktober 1989 die Eckpunkte <strong>der</strong> neuen amerikanischen Deutschlandpolitik fest: Ein<br />

wie<strong>der</strong>vereinigtes Deutschland könne es nur in Gestalt eines Volkes geben, das in die<br />

Gemeinschaft demokratischer europäischer Nationen integriert sei. Aussöhnung durch<br />

Selbstbestimmung dürfe nur in Frieden und Freiheit erreicht werden und müsse sich auf <strong>der</strong><br />

Grundlage westlicher Werte vollziehen. <strong>Die</strong> Einbettung einer möglichen Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />

(Baker vermied diesen Begriff damals noch) in ein europäisches Gesamtkonzept wurde von<br />

Baker damals schon unterstrichen. Es sei wichtig, daß die Entwicklung in Verbindung mit<br />

„größeren Verän<strong>der</strong>ungen in Ost- und Westeuropa auf <strong>der</strong> Grundlage fundamentaler<br />

westlicher Werte stattfindet.“ 38<br />

Präsident Bush machte die Wertorientierung <strong>der</strong> amerikanischen Politik im Kontext <strong>der</strong><br />

<strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> auf dem NATO-Gipfel in Brüssel am 4. Dezember 1989 deutlich: „The end<br />

of the unnatural division of Europe, and of Germany, must proceed in accordance with and be<br />

How to Slow the East German Exodus, New York Times, October 6, 1989, S. A30; Deutschland uber<br />

alles, Christian Science Monitor, October 13, 1989, S. 18. Eher positiv bewertete dagegen <strong>der</strong><br />

Kommentar Once Again, the „German Question“, Christian Science Monitor, October 6, 1989, S. 19,<br />

die Ereignisse.<br />

34 Für einen frühen Überblick <strong>der</strong> amerikanischen Pressestimmen, vgl. In den Vereinigten Staaten<br />

Gelassenheit, Vorsicht und Sympathien, FAZ, 9. November 1989; Sehr ausführlich, insbeson<strong>der</strong>e für<br />

ausländische Pressestimmen auf frühe Eckdaten im Einigungsprozeß, <strong>Die</strong> ausländischen Medien und die<br />

offene deutsche Frage, DW Monitor, Deutsche Welle, Köln 1989. Einen umfassenden Überblick <strong>der</strong><br />

internationalen Pressereaktionen zur <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> des Jahres 1990 haben auch Harold James und<br />

Marla Stone zusammengetragen. When the Wall Came Down. Reactions to German Unification, New<br />

York 1992. Für amerikanische Stimmen vgl. dies., S. 167-217; auch Arthur M. Hanhardt, <strong>Die</strong> deutsche<br />

Vereinigung im Spiegelbild <strong>der</strong> amerikanischen veröffentlichten Meinung, in: Friedrich, 1991, S. 407-<br />

417. Hanhardt gibt einen systematischen Überblick <strong>der</strong> Berichterstattung einzelner Tageszeitungen.<br />

35 Vgl. Unification is supported in U.S. Poll, IHT, 3. Dezember 1989.<br />

36 Wolfgang G. Gibowski, Amerikanische öffentliche Meinung und deutsche <strong>Einheit</strong>, in: Friedrich, 1991, S.<br />

391-406, hier S. 393.<br />

37 Vgl. Growing Fear of Summit Surprises, FT, 11. November 1989.<br />

38 Vgl. Baker unterstützt die „Aussöhnung“ des <strong>deutschen</strong> Volkes, FAZ, 18. Oktober 1989.


ased upon the values that are becoming universal ideals...“ 39 In <strong>der</strong>selben Rede legte Bush<br />

vier Grundprinzipien dar, an denen sich <strong>der</strong> Einigungsprozeß orientieren sollte:<br />

1. <strong>Die</strong> Ausübung des Selbstbestimmungsrechts <strong>der</strong> Deutschen müsse offen sein für<br />

verschiedene Modelle.<br />

2. <strong>Die</strong> <strong>Einheit</strong> müsse im Kontext einer <strong>deutschen</strong> NATO-Mitgliedschaft und <strong>der</strong> Vertiefung<br />

<strong>der</strong> EG-Integration stattfinden sowie die bestehenden Vier-Mächte-Rechte respektieren.<br />

3. Der Prozeß müsse friedlich und graduell ablaufen.<br />

4. Schließlich seien alle Grenzfragen auf <strong>der</strong> Grundlage des KSZE-Prozesses zu lösen. 40<br />

In diesen Grundsätzen findet sich eine deutliche Orientierung an internationalen Prinzipien,<br />

Rechtsnormen und gemeinsamen Werten. <strong>Die</strong> Verweise auf Institutionalisierung und<br />

Integration können als Indiz für das amerikanische Anliegen gesehen werden, die<br />

Bundesrepublik auf ihren zivilmachtorientierten Kurs <strong>der</strong> Integration festzulegen. Auch wird<br />

hier die KSZE als möglicher institutioneller Rahmen für den Einigungsprozeß angedeutet.<br />

Ziele<br />

In einer Studie zur <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong>, die <strong>der</strong> außenpolitische Ausschuß des U.S.-Senats in<br />

Auftrag gegeben hat, werden die amerikanischen Ziele im Kontext <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> dokumentiert. 41<br />

Genauer wird auch in einer Analyse des Congressional Research Service auf die speziellen<br />

amerikanischen Zielvorstellungen im Kontext <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> eingegangen: 42<br />

Einbettung in Bemühungen zur Schaffung einer neuen Friedensordnung:<br />

<strong>Die</strong> USA wollten für die Einigung Deutschlands einen Prozeß finden, <strong>der</strong> zur Stabilität und<br />

Sicherheit in Europa beitragen würde. <strong>Die</strong> <strong>Einheit</strong> sollte also in den Kontext einer neuen<br />

europapolitischen Vision gestellt werden. Dazu gehörte auch, die demokratische Revolution in<br />

(Ost-)Europa zu konsolidieren. „The American objective was basically to extend the Western<br />

core eastwards.“ 43<br />

Souveränität für Deutschland:<br />

In diesem Einigungsprozeß sollten die „Rechte und Verantwortlichkeiten“ <strong>der</strong> vier Mächte<br />

über Deutschland als Ganzes und über Berlin an ein vereintes Deutschland zurückübertragen<br />

werden. Washington strebte die volle Souveränität für ein vereintes Deutschland an und war<br />

bereit, seine beson<strong>der</strong>en Rechte als Siegermacht über Deutschland vorbehaltlos aufzugeben. 44<br />

39 Outline of Remarks at the North Atlantic Treaty Organization Headquarters in Brussels, December 4, 1989,<br />

in: Public Papers of the President, 1989, Bd. II, S. 1644-47.<br />

40 Public Papers of the President, 1989, Bd. II, S. 1644-47; vgl. zu den amerikanischen Prinzipien für die<br />

deutsche <strong>Einheit</strong> Kaiser, 1991, S. 52; Michael Haltzel, Amerikanische Einstellungen zur <strong>deutschen</strong><br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung, in: Europa Archiv, Folge 4/1990, S. 127-132, hier S. 129; Alexan<strong>der</strong> Moens,<br />

American Diplomacy and German Unification, in: Survival, Vol. XXXIII, No. 6, Nov./Dec. 1991, S.<br />

531-545, hier S. 533.<br />

41 Vgl. Legal Issues Relating to the Future Status of Germany. Committee Print for the Committee on Foreign<br />

Relations, United States Senate, 101th Congress, 2nd Session, June 1990, U.S. Government Printing<br />

Office, Washington 1990, S. 25.<br />

42 Vgl. The Unification of Germany: Background and Analysis of the Two-Plus-Four Talks, CRS Report for<br />

Congress by Paul E. Gallis, Congressional Research Service, The Library of Congress, Washington<br />

1990, S. 22-24.<br />

43 Interview mit Stephen Szabo, Washington, 24. Mai 1995.<br />

44 In Fragen <strong>der</strong> Lufthoheit über Berlin waren die USA allerdings, wie alle Siegermächte, im Dezember 1989<br />

noch unwillig, ihre Regelungskompetenz über den Luftverkehr von und nach Berlin aufzugeben und<br />

reagierten gereizt, als die Bürgermeister bei<strong>der</strong> Stadtteile mit praktischen Maßnahmen zur Verbesserung<br />

<strong>der</strong> Lage Berlins die Initiative ergriffen, vgl. Steps Toward Unity Distress 4 Powers, IHT, 11. Dezember<br />

1989.


Auf Reparationen und ausstehende For<strong>der</strong>ungen an den ehemaligen Kriegsgegner Deutschland<br />

zu bestehen, wird in <strong>der</strong> Analyse als „surreal act“ bezeichnet. Das Ziel, Deutschland nicht zu<br />

singularisieren, um künftige Ressentiments <strong>der</strong> Deutschen gegen ein neues „Jalta“ und damit<br />

Instabilität in Europa zu vermeiden, kann als konzeptionelles Leitmotiv <strong>der</strong> USA betrachtet<br />

werden. 45<br />

Lösung territorialer Fragen:<br />

Schließlich sollte ein rechtlich verbindliches Dokument zur deutsch-polnischen Grenze ein<br />

Ergebnis des Verhandlungsprozesses sein. Im Zusammenhang mit den noch offenen<br />

Grenzfragen ergab sich für die USA allerdings ein Dilemma: Einerseits erwartete Washington<br />

vom neuen Deutschland, die Grenzen zu seinen Nachbarn in rechtlich verbindlichen Verträgen<br />

festzuschreiben: „...such legal agreements could contribute to the reassurance of Germany’s<br />

neighbors and provide a stable political framework for Europeans of the Future.“ Gleichzeitig<br />

fürchtete die Administration, daß „rounds of bilateral or multilateral negotiations over treaty<br />

level documents addressing bor<strong>der</strong>s would again ‘singularize’ the German people.“ 46 <strong>Die</strong><br />

Regelung <strong>der</strong> Grenzfrage durch ein unverbindliches KSZE-Dokument sah man in Washington<br />

allerdings als nicht ausreichend an, um langfristige Stabilität sicherzustellen. Ähnliche<br />

Bedenken hegte man gegenüber <strong>der</strong> Fähigkeit <strong>der</strong> KSZE, die Verhandlungen über die<br />

internationalen <strong>Aspekte</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> abschließend zu legitimieren. 47<br />

NATO-Mitgliedschaft/Sicherheit:<br />

Außer Frage stand das amerikanische Anliegen, das neue Deutschland sowohl in <strong>der</strong> NATO als<br />

auch in <strong>der</strong> integrierten Kommandostruktur <strong>der</strong> Allianz zu halten. Ob auf deutschem Boden<br />

weiterhin Nuklearwaffen stationiert werden konnten, sollte allein in <strong>der</strong><br />

Entscheidungskompetenz <strong>der</strong> NATO liegen bzw. eine bilaterale Frage zwischen Bonn und<br />

Washington sein. Washington erkannte die Möglichkeit, über die deutsche <strong>Einheit</strong> die<br />

konventionelle Überlegenheit <strong>der</strong> sowjetischen Militärmacht in Osteuropa zu verringern und im<br />

Idealfall die sowjetische Truppenpräsenz in Deutschland zu beenden. 48 Zusätzlich wurde ein<br />

Abkommen über weitreichende Rüstungskontrollbestimmungen außerhalb des eigentlichen<br />

Verhandlungsrahmens angestrebt. Auch hier wird mit den Verweisen auf Integration,<br />

gleichberechtigte Partnerschaft, Legitimierung und Sicherheitskooperation eine Haltung<br />

erkennbar, die als Ideal für Deutschlands die Rolle einer ‘Zivilmacht’ sieht.<br />

Motive <strong>der</strong> USA zur Unterstützung <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong><br />

<strong>Die</strong> Motivation <strong>der</strong> USA, den <strong>deutschen</strong> Einigungsprozeß nachhaltig und aktiv zu<br />

unterstützen, entstand aus einer Kombination aus Prinzipien, Normen und Werten sowie eher<br />

praktischen und rationalen Erwägungen:<br />

- Zunächst hatten die USA als Partner <strong>der</strong> Deutschen über 45 Jahre hinweg das Prinzip einer<br />

friedlichen Vereinigung als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts <strong>der</strong> Völker unterstützt.<br />

„We felt that it was a principle and our obligation to follow through.“ 49 „From a principled,<br />

45 Vgl. Testimony von Robert Zoellick, in: Treaty on the Final Settlement With Respect to Germany. Hearing<br />

before the Committee on Foreign Relations, United States Senate, 101th Congress, 2nd Session,<br />

September 28, 1990, U.S. Government Printing Office, Washington, 1991, S. 27, 35.<br />

46 The Unification of Germany, a.a.O., S. 23.<br />

47 The Unification of Germany, a.a.O., S. 24.<br />

48 Für weit weniger ambitionierte Ziele sprach sich Henry Kissinger, Delay Is the Most Dangerous Course,<br />

Washington Post, February 9, 1990, S. A27, aus. So hoffte er, daß amerikanische Truppen zwar<br />

weiterhin in Deutschland stationiert sein könnten, sich aber möglicherweise hinter eine Linie am Rhein<br />

zurückziehen müßten.<br />

49 Interview mit Zoellick, Washington, 11. Mai 1995.


Wilsonian piont of view, [the right of self-determination] is consistent with American<br />

traditions.“ 50 Hier werden also die Rolle <strong>der</strong> USA als solidarischer Partner und die<br />

amerikanische Orientierung an wesentlichen Prinzipien des internationalen Rechts bereits sehr<br />

früh thematisiert.<br />

- In den USA herrschte generell eine große Begeisterung für die weltpolitischen Umbrüche des<br />

Jahres 1989. <strong>Die</strong> Aussicht auf eine deutsche Wie<strong>der</strong>vereinigung 51 galt dabei als Teil <strong>der</strong><br />

Chance, die demokratische Revolution in Europa zu konsolidieren und dadurch Osteuropa von<br />

Kommunismus und sowjetischer Vorherrschaft zu befreien.<br />

- Als eher pragmatische Erwägung spielte <strong>der</strong> amerikanische Eindruck, den Gang <strong>der</strong> Dinge als<br />

solches nicht aufhalten zu können, eine nicht unwesentliche Rolle. Im State Department war<br />

man sich bewußt, daß, nachdem <strong>der</strong> Prozeß in Gang gekommen war, je<strong>der</strong> Versuch, dies<br />

nachhaltig zu verzögern o<strong>der</strong> gar umkehren zu wollen, töricht, ja geradezu gefährlich sein<br />

würde. „What we thought instead was the smarter strategy was to help channel and lead the<br />

process in the right direction recognizing that there was an engine on the ground that was<br />

moving ahead regardless of what diplomats and chancelors were doing.“ 52 Durch<br />

entschlossene Lea<strong>der</strong>ship glaubte man also, einem unaufhaltsamen Prozeß Form und Richtung<br />

geben zu können.<br />

- Schließlich hoffte man, durch ein nachhaltiges amerikanisches Engagement Deutschlands<br />

Bindung an den Westen aufrechterhalten und stärken zu können. 53 Der Direktor für<br />

europäische und sowjetische Angelegenheiten des NSC, Robert Blackwill, empfahl in einem<br />

Memo an Bush vom 11. Mai 1989, die USA sollten sich des neu entflammten Themas einer<br />

Lösung <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Frage annehmen und im Zuge erneuter Nukleardebatten zwischen<br />

Washington und Bonn (gemeint war die Mo<strong>der</strong>nisierungsdebatte <strong>der</strong> LANCE-<br />

Raketensysteme) stärker mit den nationalen Zielen und Wünschen <strong>der</strong> Deutschen assoziieren.<br />

So würden die Deutschen leichter davon zu überzeugen sein, im Gegenzug ihre eigene Zukunft<br />

eng mit <strong>der</strong> westlichen Allianz und dem Partner Amerika zu verbinden. 54 Eine amerikanische<br />

Führungsrolle und die Unterstützung Washingtons für das Anliegen <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> sollte also die<br />

Deutschen als langfristige Verbündete in Europa und als Partner <strong>der</strong> USA bei <strong>der</strong><br />

Neugestaltung <strong>der</strong> Ost-West-Beziehungen sichern. 55 Über eine funktionierende „partnership in<br />

50 Interview mit Stephen Szabo, Associate Dean, School of Advanced International Science (SAIS),<br />

Washington, 24. Mai 1995.<br />

51 Für die Unterscheidung <strong>der</strong> Begriffe „Wie<strong>der</strong>vereinigung“ (reunification), wie in den USA meist verwendet<br />

und „Vereinigung“ (unification), vgl. Karl Kaiser, Unity For Germany, Not Reunification, New York<br />

Times, October 6, 1989, S. A31.<br />

52 Interview mit Zoellick, Washington, 11. Mai 1995.<br />

53 Kaiser, 1991, S. 51 bezeichnet dieses Motiv als die realpolitische, interessengeleitete Annahme<br />

amerikanischer Politik.<br />

54 Zelikow/Rice, 1995, S. 29. Ein ähnliches Memo an den Präsidenten kam am 15. Mai von Zoellick, <strong>der</strong> den<br />

Präsidenten dazu ermutigte, die Führungsrolle zu übernehmen, bevor sich Präsident Gorbatschow <strong>der</strong><br />

Sache annähme und dadurch die Agenda in seinem Sinne bestimmen könnte. Zoellick hat in einem<br />

Interview am 11. Mai 1995 in Washington die Auffassung vertreten, die USA fürchteten 1988/89,<br />

zunehmend weniger Einfluß auf die Bundesrepublik gehabt zu haben. Ein „Fehlverhalten“ <strong>der</strong> USA im<br />

Kontext <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> schien aus <strong>der</strong> dieser Sicht eine Abwendung <strong>der</strong> Bundesrepublik von<br />

seinen westlichen Partnern heraufzubeschwören: „There was a sense that if the United States and the<br />

Western allies played this wrong you could actually create the danger that Germany would percieve that<br />

it couldn’t trust its relationships with its partners of the past 45 years and you could create a new central<br />

European power.“<br />

55 Richard Kiessler/Frank Elbe, Ein run<strong>der</strong> Tisch mit scharfen Ecken: Der Diplomatische Weg zur <strong>deutschen</strong><br />

<strong>Einheit</strong>, Baden-Baden 1993, S. 58f.


lea<strong>der</strong>ship“ zwischen Washington und Bonn sollte auch <strong>der</strong> dauerhafte Einfluß <strong>der</strong> USA in<br />

Europa gewährleistet werden. 56 Auf das Anliegen von NSC und State Department,<br />

Deutschland im Zuge einer Wie<strong>der</strong>vereinigung stärker in die weltpolitische Pflicht zu nehmen<br />

und Bonn mehr internationale Verantwortung zu übertragen, wurde bereits hingewiesen.<br />

Insgesamt wird deutlich, daß die deutsche <strong>Einheit</strong> in eine europäische Gesamtstrategie <strong>der</strong><br />

USA eingebettet wurde. <strong>Die</strong>se neue europäische Sicherheitsarchitektur beinhaltete wesentliche<br />

institutionell-organisatorische und sicherheitspolitische <strong>Aspekte</strong> des Zivilmachttypus. Sie<br />

wurde von Baker in seiner Rede vor dem Berliner Presseclub am 11. Dezember 1989<br />

dargelegt. <strong>Die</strong> neue Sicherheitsarchitektur sollte Deutschland die Möglichkeit zur<br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung eröffnen und die Bindungen Amerikas an Europa sicherstellen. Um diese<br />

Bindung dauerhaft zu stabilisieren, war vorgesehen, die nichtmilitärischen <strong>Aspekte</strong> <strong>der</strong><br />

Sicherheit als neue Mission <strong>der</strong> NATO aufzubauen, die institutionellen Bindungen und die<br />

Kooperationsfel<strong>der</strong> zwischen <strong>der</strong> EG und den USA zu stärken und schließlich die KSZE<br />

inhaltlich und institutionell zu stärken. 57<br />

3.1.3 Strategien und Instrumente<br />

Um die weit über die Herstellung staatlicher <strong>Einheit</strong> hinausgehenden Ziele <strong>der</strong> USA<br />

durchzusetzen, beinhaltete die amerikanische Strategie drei wesentliche Elemente. 58<br />

1. Klare Vorgaben und Lea<strong>der</strong>ship<br />

Zunächst - und im weiteren Verlauf - mußte die eigene Politik mit <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

koordiniert werden. Dadurch wollte man in Washington Bonns Linie auf amerikanische Ziele<br />

und Prinzipien ausrichten. Als diplomatisches Instrument diente hier insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> deutschamerikanische<br />

Bilateralismus auf persönlicher Basis und auf höchster politischer Ebene. In<br />

einem zweiten Schritt mußten dann die übrigen Westalliierten formal auf die gemeinsame<br />

amerikanisch-deutsche Linie ausgerichtet werden. Hierfür wurden Bilateralismus und<br />

Konferenzdiplomatie, z.B. die bilateralen Treffen <strong>der</strong> Bush-Administration mit<br />

Regierungsvertretern aus Paris und London o<strong>der</strong> auf dem europäischen Gipfel in Brüssel,<br />

angewendet.<br />

2. Persönliche Vertrauensbildung<br />

<strong>Die</strong> Sowjetunion mußte dazu bewegt werden, <strong>der</strong> gemeinsamen westlichen Position<br />

zuzustimmen. Dazu diente <strong>der</strong> amerikanisch-sowjetische Bilateralismus, z.B. während des<br />

Gipfeltreffens auf Malta. Den Nachbarn und Partnern Deutschlands wollten die USA<br />

versichern, daß ein geeintes Deutschland aufgrund des weiteren amerikanischen Engagements<br />

eingebunden und berechenbar bleiben würde.<br />

3. Der Verhandlungsprozeß<br />

Schließlich sollten konkrete Ergebnisse nicht im weiten, für Überraschungen und Störmanöver<br />

offenen KSZE-Rahmen, son<strong>der</strong>n im kleineren „2+4“-Rahmen ausgehandelt und<br />

festgeschrieben werden. Dazu wollten sich die Außenminister <strong>der</strong> vier Siegermächte und <strong>der</strong><br />

beiden <strong>deutschen</strong> Staaten in Bonn, Berlin, Paris und Moskau treffen.<br />

56 Interview mit Szabo, Washington, 24. Mai 1995.<br />

57 Vgl. Rede des amerikanischen Außenministers, James A. Baker, vor dem Berliner Presseclub in West-Berlin<br />

am 12. Dezember 1989, abgedruckt in: Europa Archiv, Folge 4/1990, D 77-84. Baker sprach in dieser<br />

Rede zahlreiche Zivilmachtkategorien an, insbeson<strong>der</strong>e im Bereich <strong>der</strong> Institutionalisierung. Vgl.<br />

beispielsweise Bakers Hinweise auf Kategorie 3.2, regime buil<strong>der</strong>/ deepener: „ <strong>Die</strong> neue Architektur<br />

muß den Bau von Institutionen weiterführen“ o<strong>der</strong> auf Kategorie 3.5, supporter of strong UN, CSCE:<br />

„Der KSZE-Prozeß sollte zum wichtigsten Forum <strong>der</strong> Zusammenarbeit zwischen Ost und West<br />

werden... und an Bedeutung gewinnen“.<br />

58 Vgl. dazu das Gespräch James Bakers mit Christoph Bertram, Wie ein Ritt über den Bodensee, DIE ZEIT,<br />

Nr. 39, 22. September 1995, S. 7.


Es ging also für die USA im wesentlichen darum, Partner für die eigene Politik zu gewinnen<br />

bzw. die Verhandlungspartner zur Annahme einer bestimmten Politik zu bewegen. <strong>Die</strong>s<br />

geleistet zu haben, war vor allem das Ergebnis intensiver Diplomatie zentraler Akteure <strong>der</strong><br />

Bush-Administration. Wie geschickt und erfolgreich die USA ihre „Intensivdiplomatie“ als<br />

Instrument eingesetzt haben, mögen zwei Beispiele verdeutlichen:<br />

Ende Januar/Anfang Februar 1990 wurde die Zustimmung wesentlicher Akteure für die im<br />

State Department und im NSC ausgearbeitete Formel „2+4“ in einer Reihe bilateraler Treffen<br />

Außenminister Bakers mit seinen Amtskollegen sichergestellt. Baker traf sich innerhalb<br />

weniger Tage zunächst am 29. Januar mit seinem britischen Kollegen Hurd, danach mit<br />

Genscher am 2./3. Februar in Washington, 59 reiste dann über Shannon, wo er am 7. Februar<br />

mit Außenminister Dumas zusammentraf, nach Prag, um dort am gleichen Tag mit Präsident<br />

Havel zu konferieren und stimmte schließlich in Moskau Gorbatschow und Schewardnadse auf<br />

den 2+4-Plan ein. Baker gelang es, den Außenministern klarzumachen, daß die amerikanischen<br />

Ziele im ureigenen Interesse aller Verhandlungspartner lagen: z.B. die NATO-Mitgliedschaft<br />

Gesamtdeutschlands bzw. den Verbleib amerikanischer Truppen in Deutschland erklärte er<br />

während seines Treffens mit Gorbatschow und Schewardnadse in Moskau am 8. Februar als<br />

für die Sicherheit <strong>der</strong> Sowjetunion notwendiges Mittel, um Deutschland fest in westliche<br />

Strukturen einbinden und dadurch kontrollieren zu können. 60 Zoellick erinnert sich an Bakers<br />

Argumentation im Kreml: „‘Would you rather have a unified neutral Germany in Central<br />

Europe or would you rather have a unified Germany in NATO? Isn’t it better from your<br />

security posture to have it in NATO?’ And intellectually, the Soviets could un<strong>der</strong>stand that,<br />

but emotionally, it was very difficult because it certainly suggested that they had lost the Cold<br />

War.“ 61<br />

Offiziell wurde dann die Zustimmung zu diesem Verhandlungsrahmen auf dem Treffen <strong>der</strong><br />

Außenminister von NATO und Warschauer Pakt in Ottawa 62 eine Woche später, vom 11.-13.<br />

Februar, erreicht. Zuvor hatte die EG ihre Zustimmung zu einem umfassenden KSZE-Gipfel<br />

zur <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> in Paris signalisiert. Baker gelang es dennoch, seine Kollegen in einer<br />

Serie bilateraler Gespräche auf den 2+4-Rahmen einzustimmen. Alleine am 13. Februar traf er<br />

sich fünfmal mit Schewardnadse, ebenso oft mit Genscher, darüber hinaus bilateral mehrmals<br />

mit Hurd und Dumas, schließlich zweimal im Rahmen <strong>der</strong> „Quad Ministerials“ mit seinen<br />

Kollegen aus <strong>der</strong> Bundesrepublik, Großbritannien und Frankreich. 63 Washington gelang also<br />

die Durchsetzung eigener Positionen im wesentlichen mit „soft-power“-Instrumenten.<br />

Um die empfindliche Balance zwischen dem nötigen Druck für eine rasche <strong>Einheit</strong> und <strong>der</strong><br />

Gefahr, die Sowjetunion nachhaltig gegen den eingeleiteten Prozeß aufzubringen, zu finden,<br />

wendete die Bush-Administration abwechselnd eine Taktik aus stimulierenden und<br />

verzögernden Elementen an: Positiv stimulierend wirkten vor allem die öffentlichen<br />

Bekundungen wohlwollen<strong>der</strong> Unterstützung für das Selbstbestimmungsrecht <strong>der</strong> Deutschen.<br />

<strong>Die</strong> ansonsten überschwenglich gefeierte Meldung von <strong>der</strong> Öffnung <strong>der</strong> Berliner Mauer am 9.<br />

59 Zur gleichen Zeit wurde das Bundeskanzleramt durch ein Treffen von Scowcroft und Blackwill mit Teltschik<br />

in München „abgedeckt“.<br />

60 Zelikow/Rice, 1995, S. 180f.<br />

61 Interview mit Zoellick, Washington, 11. Mai 1995.<br />

62 Auf dieser ‘Open-Skies’-Konferenz ging es offiziell um Verhandlungen über gegenseitige<br />

Inspektionsmöglichkeiten durch Luftaufklärung, die Tagesordnung war jedoch dominiert von <strong>der</strong><br />

<strong>deutschen</strong> Frage und <strong>der</strong> amerikanisch-sowjetischen Vereinbarung, die Truppenstärken in Europa<br />

künftig auf jeweils 195.000 Mann zu beschränken, vgl. Ulrich Albrecht, <strong>Die</strong> internationale Regelung <strong>der</strong><br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung. Von einer ‘No-win’-Situation zum raschen Erfolg, in: APuZ B 40, 27. September<br />

1996, S. 3-11, hier S. 4f.<br />

63 Zelikow/Rice, 1995, S. 191ff.


November kommentierte <strong>der</strong> Präsident in einer Pressekonferenz dagegen überraschend<br />

verhalten. 64 In einem Telefonat mit Kohl am 17. November 1989 warnte <strong>der</strong> Präsident davor,<br />

daß die allgemeine Euphorie im Westen die nur begrenzte Toleranz <strong>der</strong> Sowjetunion und<br />

Ostberlins für Reformen gefährden könne. 65 Washington wollte so die Dynamik <strong>der</strong> Ereignisse<br />

besser kontrollieren.<br />

3.1.4 Perzeption <strong>der</strong> eigenen Gestaltungsmöglichkeiten<br />

Ende <strong>der</strong> 80er Jahre herrschte in den USA die Sorge, an Einfluß in Europa und auf die<br />

Bundesrepublik zu verlieren. Nicht zuletzt aus dieser Sorge resultierte das nachhaltige<br />

Engagement <strong>der</strong> Vereinigten Staaten für die deutsche <strong>Einheit</strong>. Als <strong>der</strong> amerikanische<br />

Botschafter in Bonn, Vernon Walters, im April 1989 west<strong>deutschen</strong> Politikern seine<br />

optimistischen Prognosen bezüglich einer baldigen <strong>Einheit</strong> (in ein bis zwei Jahren) darlegte,<br />

stieß er nicht nur in Washington, son<strong>der</strong>n vor allem in Bonn auf Unverständnis. 66 Im Herbst<br />

sprach Walters bereits von <strong>der</strong> Möglichkeit einer Einigung „in <strong>der</strong> nahen Zukunft,“ 67 eine<br />

Äußerung, von <strong>der</strong> sich das State Department offiziell distanzierte. Trotz <strong>der</strong> couragierten<br />

Unterstützung durch die Bush-Administration seit Mai 1989 war sich auch Washington lange<br />

Zeit nicht sicher, ob man das Ziel einer schnellen Wie<strong>der</strong>vereinigung wirklich bald erreichen<br />

konnte. Noch im Herbst 1989 herrschte in Washington große Ungewißheit über einen<br />

möglichen Ausgang <strong>der</strong> Entwicklungen in <strong>der</strong> DDR bzw. über einen Zeitplan für die <strong>Einheit</strong>.<br />

Der NSC fertigte im Oktober 1989 sogar Krisenpläne für ein mögliches Chaos in <strong>der</strong> DDR an<br />

und entwarf auch das Szenario eines sowjetischen Einmarsches. 68 Insgesamt habe man, so ein<br />

Mitarbeiter des NSC, zum damaligen Zeitpunkt den Einfluß <strong>der</strong> Sowjetunion auf das<br />

weltpolitische Geschehen, speziell ihre Fähigkeit, die <strong>Einheit</strong> aufzuhalten bzw. zu verhin<strong>der</strong>n,<br />

überschätzt. 69<br />

Nach intensiven diplomatischen Bemühungen von Außenminister Baker und positiven<br />

internationalen Signalen glaubte Bush im Frühjahr 1990, daß die Sowjetunion am Ende den<br />

Verbleib des neuen Deutschlands in <strong>der</strong> NATO akzeptieren würde, wozu aber zähe<br />

Verhandlungen nötig seien. 70 Das eigene Gestaltungspotential bewertete man in Washington<br />

vorsichtig optimistisch. Dagegen war man bis zuletzt besorgt, <strong>der</strong> Partner Bundesrepublik<br />

könne unter dem Druck Moskaus Abstriche von den gemeinsamen Positionen machen und zu<br />

für Washington unannehmbaren Kompromissen bereit sein, um eine internationale Krise zu<br />

vermeiden. Eine konfrontative Reaktion <strong>der</strong> Hardliner in Moskau hatte Valentin Falin nach<br />

dem Gipfel in Ottawa in einem „Spiegel“- Interview im Februar angedeutet. 71 Insgesamt war<br />

man in <strong>der</strong> amerikanischen Presse aber, beson<strong>der</strong>s nachdem die 2+4-Formel in Ottawa<br />

international verankert werden konnte, überzeugt, die Administration sei „on top, if not<br />

literally in control, of the swiftly evolving situation in Europe.“ 72<br />

64 Vgl. Public Papers of the President, George Bush, 1989, Bd. II, Washington, D.C. 1990, S. 1488-89.<br />

65 Zelikow/Rice, 1995, S. 112.<br />

66 Vgl. Vernon Walters, <strong>Die</strong> Vereinigung war voraussehbar. Hinter den Kulissen eines entscheidenden Jahres.<br />

<strong>Die</strong> Aufzeichnungen des amerikanischen Botschafters, Berlin 1994, S. 89.<br />

67 Vgl. Walters: German Unity Soon, International Herald Tribune, 4. September 1989.<br />

68 Zelikow/Rice, 1995, S. 399, Fn. 100.<br />

69 Interview mit David Gompert, Senior Staff Director, National Security Council (Bush-Administration),<br />

Washington, 30. Mai 1995.<br />

70 Zelikow/Rice, 1995, S. 196.<br />

71 Vgl. Der Spiegel, 19.2.1990, S. 168-72.<br />

72 The Score at Ottawa, New York Times, February 15, 1990, S. A21.


3.1.5 Das Rollenkonzept <strong>der</strong> USA<br />

Im Verlauf des Einigungsprozesses nahmen die Vereinigten Staaten mehrere Rollen ein, die für<br />

das Gelingen <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung waren.<br />

- Washington übernahm zu Anfang die Rolle des Initiators, <strong>der</strong> die günstigen internationalen<br />

Rahmenbedingungen für eine deutsche Vereinigung vor allen an<strong>der</strong>en erkannte und als Thema<br />

auf <strong>der</strong> weltpolitischen Agenda etablierte. Erst dadurch wurde <strong>der</strong> Beginn des Prozesses<br />

ermöglicht.<br />

- <strong>Die</strong> Vereinigten Staaten unterstützten die Bundesrepublik politisch, wurden zum wichtigsten<br />

Fürsprecher <strong>der</strong> Deutschen und ermutigten Bonn so überhaupt erst zum Handeln. 73 Sie zeigten<br />

sich damit bereit, für die Ziele eines Partners im Rahmen einer Wertegemeinschaft einzustehen<br />

und dessen Interessen zu för<strong>der</strong>n. 74 In Washington war man sich bewußt, daß die<br />

Bundesrepublik in den schwierigen Verhandlungen ohne den Rückhalt durch die USA nicht<br />

bestehen konnte: „Germany needed the U.S. standing behind to negotiate effectively with the<br />

Soviet Union.“ 75 Gleichzeitig gelang es den USA, dem Partner wichtige Impulse zu geben,<br />

Bonns Politik gegebenenfalls zu korrigieren, und die Bundesrepublik dadurch auf Kurs zu<br />

halten. <strong>Die</strong>s wird vor allem deutlich in den Bereichen NATO-Mitgliedschaft und<br />

sicherheitspolitischer Status des Territoriums <strong>der</strong> ehemaligen DDR sowie im Zusammenhang<br />

<strong>der</strong> polnisch-<strong>deutschen</strong> Grenzfrage. <strong>Die</strong> doppelte Partnerrolle - Beistand und Lenkung - wird<br />

auch sichtbar an <strong>der</strong> amerikanischen Reaktion auf Kohls 10-Punkte-Plan zur <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong><br />

vom 28. November. Bush bewertete Kohls Vorstoß positiv und schenkte dem Kanzler volles<br />

Vertrauen. In einem Telefonat vom 29. November versicherte er Kohl: „We are on the same<br />

wavelength.“ 76 State Department und NSC empfahlen dem Präsidenten daraufhin allerdings<br />

auch, nach dem Malta-Gipfel mit <strong>der</strong> Sowjetunion nicht nur die westliche Position hinter Kohls<br />

Plan zu einen, son<strong>der</strong>n gleichzeitig auch sicherzustellen, daß Kohls Programm die<br />

amerikanischen Kriterien für die Wie<strong>der</strong>vereinigung erfüllen würde. 77 <strong>Die</strong> amerikanische<br />

Botschaft in Bonn war unzufrieden darüber, daß <strong>der</strong> Bundeskanzler in seinen 10 Punkten die<br />

Vier-Mächte-Rechte nicht erwähnt 78 und auch die Bündniszugehörigkeit des neuen<br />

Deutschlands völlig ausgeklammert hatte. Daraufhin entwarfen <strong>der</strong> NSC und <strong>der</strong> Planungsstab<br />

des State Departments unter Leitung von Dennis Ross und Francis Fukuyama eine Rede für<br />

Bush anläßlich des NATO-Gipfels in Brüssel am 4. Dezember 1989, in <strong>der</strong> die NATO-<br />

Mitgliedschaft sowie eine angemessene Beachtung <strong>der</strong> Vier-Mächte-Rechte als zwei <strong>der</strong> vier<br />

Grundprinzipien für die <strong>Einheit</strong> Deutschlands aufgeführt wurden. Hier wurde <strong>der</strong> Kurs <strong>der</strong><br />

Bundesregierung durch die USA inhaltlich also zumindest ergänzt, wenn nicht sogar korrigiert.<br />

- <strong>Die</strong> Bush-Administration übernahm eine klare internationale Führungsrolle, nachdem <strong>der</strong><br />

Prozeß ins Rollen gekommen war, indem man Initiativen startete und inhaltliche Vorgaben<br />

machte, die zur Lösung <strong>der</strong> anstehenden internationalen Probleme im Zusammenhang mit <strong>der</strong><br />

<strong>Einheit</strong> konstruktiv beitrugen. Washington gelang es, den Prozeß in die richtigen Bahnen zu<br />

lenken und in internationale Entwicklungen einzubetten: „We early on played a role of trying<br />

73 Kiessler/Elbe, 1993, S. 56.<br />

74 Auf die stark verinnerlichte Rolle als solidarischer Partner <strong>der</strong> Deutschen wurde mehrfach hingewiesen. Vgl.<br />

Interviews mit Szabo, Washington, 24. Mai 1995 und Zoellick, Washington, 11. Mai 1995.<br />

75 Interview mit Gompert, Washington, 30. Mai 1995.<br />

76 Zitat von Präsident Bush, in: Zelikow/Rice, 1995, S. 123.<br />

77 Vgl. Zelikow/Rice, 1995, S. 123.<br />

78 Vgl. Memo <strong>der</strong> Bonner U.S. Botschaft, Kohl’s Ten-Point Program - Silence on the Role of the Four Powers,<br />

1 Dec 1989, zitiert in Zelikow/Rice, 1995, S. 411, Fn. 80.


to structure the external context for unification“ 79 So boten die Vereinigten Staaten<br />

beispielsweise mit ihrer neuen europapolitischen Architektur einen konzeptionellen Rahmen an,<br />

in den ein vereintes Deutschland glaubhaft integriert werden konnte. Auf dem Frühjahrstreffen<br />

<strong>der</strong> NATO-Außenminister im schottischen Turnberry vom 30. Mai bis 3. Juni 1990 kündigte<br />

die Allianz unter amerikanischer Führung ein Konzept zur Transformation des westlichen<br />

Bündnisses in Richtung kollektiver Sicherheitsstrukturen an, das die Ost-West-Beziehungen<br />

deutlich verbesserte und so <strong>der</strong> Sowjetunion die Zustimmung zur <strong>deutschen</strong> NATO-<br />

Mitgliedschaft ermöglichte. Auch die erfolgreiche 2+4-Verhandlungsformel ging auf<br />

amerikanische Führung zurück. In dieser Führungsrolle agierten die USA nicht nur als<br />

Ideenlieferant. Amerikanische Vorschläge wurden auch aktiv auf <strong>der</strong> diplomatischen Bühne<br />

durchgesetzt. In Ottawa waren es vor allem Bakers diplomatisches Geschick und<br />

Überzeugungskunst sowie das Gewicht und <strong>der</strong> Druck einer Weltmacht, die zur Annahme <strong>der</strong><br />

2+4-Formel geführt haben. 80 <strong>Die</strong> Leitungsfunktion <strong>der</strong> USA wurde sowohl vom Partner<br />

Bundesrepublik als auch von den westlichen Verbündeten anerkannt. 81<br />

- <strong>Die</strong> USA haben vor allem in <strong>der</strong> Initiierungsphase die eher zögerlichen Westalliierten für die<br />

deutsche <strong>Einheit</strong> in die Pflicht genommen und ihre Argumente gegen eine Einigung<br />

entkräftet. 82 Zeitweilig „kämpfte“ die Administration nicht nur gegen die Sowjetunion als<br />

offenem Gegner einer Wie<strong>der</strong>vereinigung, son<strong>der</strong>n auch gegen die westlichen Alliierten,<br />

insbeson<strong>der</strong>e Premierministerin Thatcher, die mehrfach versuchte, Bush und Kohl<br />

gegeneinan<strong>der</strong> auszuspielen. 83 <strong>Die</strong> Rolle eines ‘balancers’, <strong>der</strong> eine gemeinsame westliche<br />

Position erwirken und diese gegen sowjetische Bedürfnisse auszubalancieren in <strong>der</strong> Lage war,<br />

hätte von <strong>der</strong> Bundesrepublik nicht übernommen werden können.<br />

- <strong>Die</strong> Vereinigten Staaten spielten diese mehrschichtige Vermittlerrolle auch zwischen<br />

Deutschen und Polen: „We would simultaneously try to reassure the Poles and Bush actually<br />

played a significant go-between role between Kohl and Masowiecki on the idea of the language<br />

in the joint resolution.“ 84 In seinem Treffen mit dem polnischen Premierminister am 21. März<br />

1990 fungierte Bush als Sprachrohr für Kohl und als Vermittler zwischen <strong>deutschen</strong> und<br />

polnischen Interessen und versuchte, auf beiden Seiten Verständnis für die Position des<br />

an<strong>der</strong>en zu wecken. 85 Washington gelang es auch, die starke polnische Lobby in den USA<br />

davon zu überzeugen, daß die amerikanische Delegation die Interessen Polens in den 2+4-<br />

Verhandlungen abdecken würde. 86<br />

- Eine wichtige Rolle nahmen die USA in ihrer sicherheitspolitischen<br />

Rückversicherungsfunktion gegenüber <strong>der</strong> Sowjetunion und den Nachbarn Deutschlands ein.<br />

79 Interview mit Zoellick, Washington, 11. Mai 1995. <strong>Die</strong> politische Führung in Bonn war durch die inneren<br />

<strong>Aspekte</strong> <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> so sehr beansprucht, daß es nicht verwun<strong>der</strong>lich erscheint, wenn richtungsweisende<br />

Ideen aus Washington kamen.<br />

80 Zu dieser Einschätzung gelangt Elisabeth Pond, hier in Kiessler/Elbe, 1993, S. 91.<br />

81 Vgl. Teltschik, 1991, S. 78; Kiessler/Elbe, 1993, S. 58f; Pond, 1993, S. 153f.<br />

82 Vgl. Possibility of a United Germany Is No Cause for Alarm, Bush Says, New York Times, October 25,<br />

1989; Bush’s Aim: Reducing Resistance to Bonn Role, IHT, 28./29. Oktober 1989.<br />

83 Bushs rhetorische Unterstützung für die Idee <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> und damit die amerikanische Rolle als „protector“<br />

des Partners Bundesrepublik wurde von den Westeuropäern als Warnung verstanden, vgl. Zelikow/Rice,<br />

1995, S. 95, Fn. 97.<br />

84 Interview mit Zoellick, Washington, 11. Mai 1995.<br />

85 Vgl. für Details <strong>der</strong> Gespräche zwischen Bush und Kohl bzw. zwischen Bush und Mazowiecki,<br />

Zelikow/Rice, 1995, S. 219-222.<br />

86 Interview mit Bowman Miller, Director of European Analysis, U.S. Department of State, Washington, 22.<br />

Mai 1995.


Der Verbleib amerikanischer Truppen in Deutschland, die NATO-Mitgliedschaft und eine enge<br />

partnerschaftliche Bindung Deutschlands an die USA gewährleisteten den<br />

Verhandlungsteilnehmern die als notwendig empfundene Einbindung und Kontrolle des<br />

vereinten Deutschland.<br />

- Während die Bush-Administration bemüht war, auf sowjetische Befindlichkeiten Rücksicht zu<br />

nehmen, mußten die USA immer wie<strong>der</strong> Attacken aus Moskau abwehren. Beispielsweise blieb<br />

<strong>der</strong> Versuch <strong>der</strong> Sowjetunion, die Vier-Mächte-Rechte zu perpetuieren, indem man mehrere<br />

Treffen <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> vier Siegermächte im Gebäude des Alliierten Kontrollrates in Berlin<br />

vorschlug, weitgehend ergebnislos, weil es den USA gelang, die westlichen Partner darauf zu<br />

einigen, den Gesprächen inhaltlich und formal die Bedeutung zu versagen. 87<br />

3.1.6 Rollenerwartungen <strong>der</strong> USA an den Partner<br />

<strong>Die</strong> Vereinigten Staaten gingen von einer Arbeitsteilung mit sich überschneidenden<br />

Verantwortlichkeiten zwischen Bonn und Washington aus. Man war davon überzeugt, daß sich<br />

das deutsche Volk in Ausübung seines Rechts auf Selbstbestimmung vereinen würde und<br />

wollte diesen Prozeß nicht behin<strong>der</strong>n. <strong>Die</strong> USA wußten, daß „FRG officials...would oppose<br />

any effort by the four powers to guide the unification process.“ 88 Bonn sollte vielmehr<br />

aufgrund seiner „overwhelming political and economic strength“ 89 den internen<br />

Einigungsprozeß selbst leiten. Von <strong>der</strong> Bundesrepublik wurde erwartet, eine Einigung <strong>der</strong><br />

beiden <strong>deutschen</strong> Staaten auf einen Modus für die Regelung <strong>der</strong> inneren <strong>Aspekte</strong> <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong><br />

schnellstmöglich herbeizuführen und damit die DDR als „Störfaktor“ in den internationalen<br />

Verhandlungen weitgehend auszuschalten. 90 <strong>Die</strong> externen <strong>Aspekte</strong> <strong>der</strong> Einigung sollten danach<br />

gemeinsam bewältigt werden, wobei <strong>der</strong> Bundesrepublik die Rolle eines gleichberechtigten<br />

Partners zugedacht war. 91<br />

Eine neue Rolle Deutschlands in <strong>der</strong> internationalen Politik?<br />

Wie bereits einführend deutlich gemacht wurde, sah Washington die Aussicht auf eine<br />

Vereinigung Deutschlands als Chance, die eigenen Vorstellungen für Deutschlands künftige<br />

internationale Rolle umzusetzen. „<strong>Die</strong> Rolle des erweiterten Deutschlands in Europa, in <strong>der</strong><br />

NATO, war ein Aspekt über den... die Amerikaner mit den Russen direkt und parallel zu den<br />

Gesprächen Kohl-Gorbatschow gesprochen haben.“ 92 <strong>Die</strong> Bundesrepublik sollte unter allen<br />

Umständen ihren Weg <strong>der</strong> Integration und <strong>der</strong> Kooperation in westlichen Institutionen<br />

fortsetzen. Vor allem das amerikanische Insistieren auf eine volle NATO-Mitgliedschaft<br />

Gesamtdeutschlands verdeutlicht, wie sehr sich die sicherheitspolitischen Vorstellungen für die<br />

zukünftige Rolle des neuen Deutschlands an Zivilmachtkriterien orientierten. Insofern galt das<br />

Rollendesign, das die Vereinigten Staaten für die Bundesrepublik nach dem zweiten Weltkrieg<br />

vorgesehen und eingeleitet hatten, nach wie vor. Gleichzeitig sollten längerfristig auch<br />

Korrekturen an <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> USA erfolgreichen außenpolitischen Sozialisation des<br />

Partners vorgenommen werden: „The politics that have developed in both countries [Germany<br />

87 Vgl. Kiessler/Elbe, 1993, S. 73; Zelikow/Rice, 1995, S. 139-141.<br />

88 The Unification of Germany, CRS-Report for Congress, a.a.O., S. 20.<br />

89 Ebd., S. 20.<br />

90 <strong>Die</strong>se Erwartung wird bei Zelikow/Rice, 1995, S. 201 angedeutet.<br />

91 Vgl. Interview mit Szabo, Washington, 24. Mai 1995: „It was not a ‘Diktat’. It was clearly a negotiation<br />

going back and forth.“<br />

92 Interview mit Botschafter Gebhardt von Moltke, Assistant Secretary General for Political Affairs, NATO,<br />

damals Leiter <strong>der</strong> Amerikaabteilung des Auswärtigen Amtes, Brüssel, 19.12.1995.


and Japan] in the aftermath of World War II have let them to be restrained in taking larger<br />

roles of responsibility but also it’s let to almost a moral superiority of disengagement. We<br />

wanted to try to make Germany a normal country as much as possible. In part for the stability<br />

but also it goes back to our earlier strategic view. We wanted Germany and Japan to become<br />

more full partners with the U.S., dealing with the next generation of issues whether they be<br />

proliferation whether they be security or economic problems.“ 93<br />

3.2 Bundesrepublik<br />

3.2.1 Lagebeurteilung und Position<br />

<strong>Die</strong> internationalen Rahmenbedingungen für eine Bewegung im deutsch-<strong>deutschen</strong> Verhältnis<br />

waren in <strong>der</strong> ersten Hälfte des Jahres 1989 günstig, sowohl innerhalb des westlichen<br />

Bündnisses, als auch in den Ost-West-Beziehungen. In Bonn spürte man eine deutliche<br />

Verbesserung <strong>der</strong> deutsch-amerikanischen Beziehungen. Auf dem NATO-Gipfel Ende Mai war<br />

die umstrittene Entscheidung über eine Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> LANCE-Raketensysteme auf 1992<br />

vertagt worden. Im Juni eröffnete <strong>der</strong> Staatsbesuch Gorbatschows in <strong>der</strong> Bundesrepublik ein<br />

neues Kapitel in den deutsch-sowjetischen Beziehungen. Mit dem Reformprozeß in Osteuropa<br />

schien sich eine Phase weitreichen<strong>der</strong> Entspannung anzubahnen. 94 Dennoch setzte Bonn von<br />

sich aus die Thematik <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> we<strong>der</strong> auf die eigene noch auf die internationale<br />

Tagesordnung und wirkte in bezug auf die sich anbahnende Chance eher verschlafen.<br />

Öffentliche Meinung und Pressereaktionen<br />

Im Herbst 1988 hatte Willy Brandt die Wie<strong>der</strong>vereinigungsrhetorik <strong>der</strong> Unionspolitiker noch<br />

als „Lebenslüge <strong>der</strong> zweiten <strong>deutschen</strong> Republik“ bezeichnet. 95 Selbst das neue CDU-<br />

Parteiprogramm von 1988 sprach davon, daß eine mögliche <strong>Einheit</strong> Deutschlands nur mit <strong>der</strong><br />

Unterstützung <strong>der</strong> westlichen und östlichen Nachbarn anzustreben sei und damit utopisch<br />

erschien. 96 In <strong>der</strong> Bundesrepublik war es über die Jahrzehnte <strong>der</strong> Teilung zu einer tiefen<br />

Entfremdung von <strong>der</strong> DDR gekommen. 97 Mit dem Gedanken an eine Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />

fühlten sich die (West-)Deutschen 1989 nicht son<strong>der</strong>lich wohl. Im April glaubten nahezu 50%<br />

<strong>der</strong> Bundesbürger, die BRD sollte ihr Streben nach <strong>Einheit</strong> aufgeben. 98 Als später dann die<br />

<strong>Einheit</strong> plötzlich doch auf <strong>der</strong> Tagesordnung stand, warnten zahlreiche Intellektuelle, an die<br />

deutsche Geschichte erinnernd, das Ausland und die Deutschen selber davor, im Herzen<br />

Europas erneut eine <strong>der</strong>artige Machtkonzentration zuzulassen. 99<br />

93 Interview mit Zoellick, Washington, 11. Mai 1995.<br />

94 Vgl. für diese positive Schil<strong>der</strong>ung Frank Elbe, <strong>Die</strong> Lösung <strong>der</strong> <strong>äußeren</strong> <strong>Aspekte</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Vereinigung.<br />

Der 2+4-Prozeß, Vortrag im Rahmen <strong>der</strong> Schückling-Vorlesungen des Instituts für Internationales<br />

Recht an <strong>der</strong> Universität Kiel am 11. Dezember 1992, Manuskript, S. 1f.<br />

95 Willy Brandt, Deutsche Wegmarken, Der Tagesspiegel, 13. September 1988.<br />

96 Bortfeldt, 1993, S. 6.<br />

97 <strong>Die</strong>se Entfremdung wird deutlich belegt durch die Zusammenstellung <strong>der</strong> Umfrageergebnisse bis in die<br />

frühen 80er Jahre bei Gebhard Schweigler, Grundlagen <strong>der</strong> außenpolitischen Orientierung <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen, Motive, Einstellungen, Aktuelle Materialien zur<br />

Internationalen Politik, Stiftung Wissenschaft und Politik/SWP, Baden-Baden 1985, S. 116-141.<br />

98 Vgl. Emnid-Umfrage, Der Spiegel, 10. April 1989, S. 156.<br />

99 Günter Grass’ Artikel in <strong>der</strong> IHT, Germany: Reunification Should be Opposed by Germans, Too, 8. Januar<br />

1990, erregte auch im Ausland große Aufmerksamkeit.


<strong>Die</strong> Bundesregierung war, dieser allgemeinen Stimmung entsprechend, bis in den Herbst 1989<br />

hinein äußerst zögerlich, sich auf die im Sommer 1989 aufgekommene Idee <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong><br />

<strong>Einheit</strong> einzulassen. Genscher vermied das Thema in auffälliger Weise selbst als er während<br />

eines Treffens mit seinem Amtskollegen Baker am Rande <strong>der</strong> UN-Vollversammlung im<br />

September 1989 darauf angesprochen wurde. 100 In einem „Spiegel“-Interview vom 25.<br />

September äußerte <strong>der</strong> Bundesaußenminister seine Zurückhaltung bezüglich <strong>der</strong><br />

Wie<strong>der</strong>vereinigungsidee und sprach von einer Reform <strong>der</strong> DDR. 101 Am 26. September traf<br />

Bush mit Finanzminister Waigel in New York zusammen und sprach ihn direkt auf die<br />

Möglichkeit einer Wie<strong>der</strong>vereinigung an. Waigel antwortete umständlich. 102 Offenbar gab es<br />

noch keine offizielle Position <strong>der</strong> Bundesregierung zum damaligen Zeitpunkt.<br />

<strong>Die</strong> amerikanische Botschaft in Bonn beschreibt das zögerliche Verhalten <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

in einem Memo für das State Department vom 25. Oktober 1989: Offenbar lege die<br />

Bundesregierung großen Wert auf die Position ihrer Partner in Ost und West, glaube aber<br />

<strong>der</strong>zeit nicht, daß die notwendige Unterstützung für die <strong>Einheit</strong> gegeben sei. Eine<br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung stehe nicht an erster Stelle auf <strong>der</strong> deutsch-<strong>deutschen</strong> Agenda. 103 Wie<br />

schnell die Bundesregierung von den Ereignissen eingeholt werden sollte, verdeutlicht <strong>der</strong><br />

Positionswandel Frank Elbes zwischen Mitte November und Anfang Dezember 1989: Zunächst<br />

for<strong>der</strong>te <strong>der</strong> engste Berater des Bundesaußenministers in Fragen <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong>, das Tempo <strong>der</strong><br />

<strong>deutschen</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung dürfe die Stabilität in Europa nicht gefährden. Wenige Wochen<br />

später warnte er dagegen, daß eben jene Stabilität gefährdet sei, wenn die deutsche <strong>Einheit</strong><br />

nicht schnell herbeigeführt werden könne. 104<br />

3.2.2 Grundsätze und Ziele<br />

Was sich zwischen Spätsommer 1989 und Herbst 1990 ereignete, beruhte nicht auf einer<br />

konkreten Zielvorgabe <strong>der</strong> Bundesregierung, obwohl das 'Ziel' <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> rhetorisch<br />

nachdrücklicher Gegenstand nahezu je<strong>der</strong> Regierungserklärung <strong>der</strong> Nachkriegszeit gewesen<br />

ist. Bonn hatte keinen Krisenplan, an dem man sich orientieren konnte, 105 wohl aber halfen <strong>der</strong><br />

Bundesregierung festverankerte Prinzipien und Grundsätze für das eigene außenpolitische<br />

Handeln als Orientierungspunkte auf dem Weg zur <strong>Einheit</strong>:<br />

<strong>Die</strong> Bundesrepublik war vor allem um eine glaubhafte internationale Einbettung des<br />

Einigungsprozesses bemüht. Bereits Kohls Zehn-Punkte-Plan enthielt die For<strong>der</strong>ung nach einer<br />

Einbettung des <strong>deutschen</strong> Einigungsprozesses in den gesamteuropäischen Friedens- und<br />

Dialogprozeß und in die Ost-West-Beziehungen. Bei an<strong>der</strong>er Gelegenheit sagte <strong>der</strong> Kanzler:<br />

„The future architecture of Germany must fit into the future architecture of the whole of<br />

Europe.“ 106 Weiterhin verwies <strong>der</strong> Bundeskanzler auf die Einbindung <strong>der</strong> Bundesrepublik in<br />

tragende europäische Institutionen (EG und KSZE), denen aus bundesdeutscher Sicht im<br />

Prozeß zur Herstellung <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> eine wesentliche Rolle zukommen sollte. 107 <strong>Die</strong>se<br />

100 Zelikow/Rice, 1995, S. 80, Fn. 60.<br />

101 Vgl. Der Spiegel, 25. September 1989.<br />

102 Zelikow/Rice, 1995, S. 81, Fn. 65.<br />

103 Vgl. Memcom vom 25. Oktober 1989, in: Zelikow/Rice, 1995, S. 92f.<br />

104 Kiessler/Elbe, 1993, S. 47<br />

105 <strong>Die</strong> Dynamik <strong>der</strong> Ereignisse ließ planvolles Handeln oftmals überhaupt nicht zu, we<strong>der</strong> für Bonn, noch für<br />

Washington, vgl. Gespräch mit Elisabeth Pond, Trier, 15. Januar 1996.<br />

106 Vgl. German Reunification Raises the Question of Democracy, FT, 20. Dezember 1989.<br />

107 Vgl. Kiessler/Elbe, 1993, S. 50.


„Einbindungspolitik“ 108 bekräftigte die Bundesrepublik auch im multilateralen Rahmen. In <strong>der</strong><br />

Erklärung des Europäischen Rates vom 8./9.12.1989 heißt es: „[German unification] must be<br />

embedded in a perspective of European integration.“ 109 Um den Prozeß <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong><br />

zu ‘europäisieren’ und damit die europäische Integration selbst zu stärken, beauftragten<br />

sowohl die EG-Kommission als auch das Europäische Parlament eigene Arbeitsgruppen damit,<br />

die Folgen <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> für die europäische Integration abzuschätzen und, darauf aufbauend,<br />

eine gemeinsame Position <strong>der</strong> EG auszuarbeiten. 110<br />

<strong>Die</strong> Lösung für das anstehende Problem „deutsche Wie<strong>der</strong>vereinigung“ sollte also prinzipiell<br />

im Rahmen institutionalisierter Kontexte und in enger Abstimmung mit internationalen<br />

Partnern gesucht werden. <strong>Die</strong> Auswirkungen einer Vereinigung <strong>der</strong> beiden <strong>deutschen</strong> Staaten<br />

auf den institutionellen Rahmen, in den die Bundesrepublik eingebunden war (vor allem EG),<br />

wurden sehr ernst genommen: Bonn wollte Verträglichkeit sicherstellen. Außerdem machte <strong>der</strong><br />

Kanzler das Prinzip des partnerschaftlichen, kollektiven Handelns <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Außenpolitik<br />

deutlich, insbeson<strong>der</strong>e auch, um Besorgnissen <strong>der</strong> Partner und Verbündeten<br />

entgegenzukommen. In einem Telefonat mit Bush am 29. November 1989 sagte Kohl: „It’s an<br />

iron law that there will be no going it alone in German policy.“ 111 Genscher versicherte einem<br />

internationalen Publikum des Institute for East-West Security Studies im Oktober 1989: „[Wir]<br />

werden Kurs halten. Den Kurs unserer europäischen Friedensverantwortung. Einen <strong>deutschen</strong><br />

Alleingang wird es nicht geben. Unsere Politik wird nicht enteuropäisiert.“ 112 Neben den aus<br />

dem Zivilmachtkonzept herrührenden internationalen Zielsetzungen organisatorischer Art -<br />

speziell „supranationalist“, mit <strong>der</strong> grundsätzlichen Bejahung von Bindung und Einbindung<br />

sowie „regime buil<strong>der</strong>/deepener“, mit dem Ziel einer Vertiefung und Weiterentwicklung<br />

bestehen<strong>der</strong> Institutionen - wird in diesen Maximen <strong>der</strong> Bundesregierung auch <strong>der</strong><br />

außenpolitische Stil einer idealtypischen Zivilmacht erkennbar.<br />

Das Auswärtige Amt hatte sieben wichtige politische Zielvorgaben für den<br />

Verhandlungsprozeß, <strong>der</strong> zur <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> führen sollte, definiert:<br />

1. Bonn wollte die <strong>äußeren</strong> - und nur die <strong>äußeren</strong> - <strong>Aspekte</strong> <strong>der</strong> Einigung im Einklang mit<br />

seinen Nachbarn lösen.<br />

2. Alle Teilnehmer des Verhandlungsrahmens zur <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> sollten gleichberechtigt<br />

sein.<br />

3. Deutschland durfte auf keinen Fall durch eine Son<strong>der</strong>behandlung diskriminiert o<strong>der</strong><br />

singularisiert werden. 113<br />

108 Vgl. dazu Gunther Hellmann, „Einbindungspolitik“. German Foreign Policy and the Art of Declaring<br />

„Total Peace“, Manuscript prepared for the XVIth World Congress of the International Political Science<br />

Association, Berlin, August 20-25, 1994.<br />

109 Vgl. Hellmann, Einbindungspolitik, 1994, S. 5, Fn. 15.<br />

110 Vgl. dazu David Spence, <strong>Die</strong> Verhandlungen <strong>der</strong> Europäischen Gemeinschaft, in: Wolfgang Heisenberg<br />

(Hrsg.), <strong>Die</strong> Vereinigung Deutschlands in europäischer Perspektive, Baden-Baden 1992, S. 29-51, hier<br />

S. 31. <strong>Die</strong> Arbeitsgruppen hörten auch deutsche Experten und Entscheidungsträger und sprachen<br />

Empfehlungen aus.<br />

111 Vgl. Zelikow/Rice, 1995, S. 123.<br />

112 Rede des Bundesaußenministers bei <strong>der</strong> Tagung des Institute for East-West Security-Studies (IEWSS) in <strong>der</strong><br />

Frankfurter Paulskirche, 19. Oktober 1989, in: Hans-<strong>Die</strong>trich Genscher, Unterwegs zur <strong>Einheit</strong>. Reden<br />

und Dokumente aus bewegter Zeit, Berlin 1991, S. 208-226, hier S. 225.<br />

113 Genscher hebt auf diesen Aspekt in seinen Erinnerungen mit Nachdruck ab: „Ich lege Wert darauf, daß die<br />

beiden <strong>deutschen</strong> Staaten... über die außenpolitischen <strong>Aspekte</strong> mit den Vier sprachen und nicht<br />

umgekehrt. Je<strong>der</strong> Anschein, die Vier würden über Deutschland verhandeln, mußte vermieden werden.<br />

Daraus ergab sich die... Reihenfolge: Zwei plus Vier, nicht Vier plus Zwei.“ Vgl. Hans-<strong>Die</strong>trich<br />

Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 716f.


4. Mit <strong>der</strong> vollkommenen Ablösung <strong>der</strong> Vier-Mächte-Rechte sollte Deutschland seine volle<br />

und uneingeschränkte Souveränität erhalten.<br />

5. <strong>Die</strong> Bundesrepublik strebte eine NATO-Mitgliedschaft für Gesamtdeutschland an.<br />

6. Alle sowjetischen Streitkräfte sollten von deutschem Territorium abgezogen werden.<br />

7. Schließlich mußte die völkerrechtlich offene Grenzfrage mit Polen geklärt werden. 114<br />

3.2.3 Strategien und Instrumente<br />

Einbettung in „peaceful change“<br />

Was die <strong>äußeren</strong> - und damit die für diese Fallstudie relevanten - <strong>Aspekte</strong> <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong><br />

anbelangt, bestand das Problem <strong>der</strong> Bundesregierung darin, die Unterstützung <strong>der</strong> Nachbarn<br />

für eine Vereinigung <strong>der</strong> beiden <strong>deutschen</strong> Staaten, insbeson<strong>der</strong>e die Zustimmung <strong>der</strong><br />

Sowjetunion zur vollen NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands, zu erhalten. Genscher war<br />

von Anbeginn klar, daß dies nur gelingen konnte, wenn <strong>der</strong> eigentliche Prozeß <strong>der</strong><br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung in einen größeren Zusammenhang gestellt würde. Dann könnte die <strong>Einheit</strong><br />

als wichtiger, aber nicht als <strong>der</strong> dominierende Teil eines Prozesses friedlichen Wandels in<br />

Europa erscheinen, somit in eine vorteilhafte Perspektive gerückt und für die Nachbarn<br />

akzeptabel werden.<br />

Genscher versuchte daher, vor allem in seinen Gesprächen mit den Sowjets, auf folgende<br />

Punkte aufmerksam zu machen:<br />

1. <strong>Die</strong> deutsche <strong>Einheit</strong> konnte die Spaltung Europas überwinden und alte Macht- und<br />

Denkstrukturen <strong>der</strong> europäischen Nachkriegsordnung überwinden.<br />

2. <strong>Die</strong> <strong>Einheit</strong> bot eine Chance zur Einbindung, nicht zum Ausschluß, <strong>der</strong> Sowjetunion in<br />

europäische Institutionen sowie in bedeutende Finanz- und Wirtschaftsorganisationen.<br />

„Einschließen und nicht ausschließen, das muß die Devise sein.“ 115 Hier wird die<br />

idealtypische Kategorie ‘institution/regime enlarger’ in <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Politik erkennbar.<br />

3. Über die deutsche Vereinigung hinaus konnten neue Sicherheitsstrukturen für ganz Europa<br />

geschaffen werden. Der Ausbau, eine Vertiefung und Institutionalisierung des KSZE-<br />

Prozesses konnte einen neuen Stabilitätsrahmen schaffen. (‘supporter of strong UN,<br />

CSCE’).<br />

4. <strong>Die</strong> Bündnisse sollten sich „entfeinden“, eine stärkere politische Rolle annehmen und von<br />

konfrontativen auf kooperative Strukturen übergehen (‘promoter of cooperative security’).<br />

5. <strong>Die</strong> deutsche Einigung konnte den europäischen und weltweiten<br />

Rüstungskontrollmechanismen eine neue Dynamik verleihen (‘promoter of cooperative<br />

security’).<br />

6. Ein geeintes Deutschland konnte für die Sowjetunion ein attraktiver Partner werden, sowohl<br />

politisch, als auch wirtschaftlich, und sich für gemeinsame westliche Anstrengungen zur<br />

Unterstützung <strong>der</strong> Perestroika in <strong>der</strong> Sowjetunion einsetzen 116 (‘partner; promoter of good<br />

governance; value based foreign policy’).<br />

Mit diesen Politikelementen, die zahlreiche Prinzipien des idealtypischen Zivilmachtkonzeptes<br />

beinhalten, wollte Genscher also Stabilität und Vertrauen um den eigentlichen Prozeß <strong>der</strong><br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung herum aufbauen.<br />

114 Vgl. zu diesen Zielvorgaben sehr ausführlich Kiessler/Elbe, 1993, S. 106-118.<br />

115 Interview des Bundesaußenministers im West<strong>deutschen</strong> Rundfunk, 5. Juli 1990, zitiert in. Kiessler/Elbe,<br />

1993, S. 139f.<br />

116 Für die oben genannten Elemente in Genschers Strategie, vgl. Kiessler/Elbe, 1993, S. 139-143.


Arbeitsteilung <strong>der</strong> Entscheidungsträger<br />

Eine „Arbeitsteilung“ unter den politischen Entscheidungsträgern konnte bei <strong>der</strong> schwierigen<br />

Aufgabe helfen, die richtige Geschwindigkeit für den Prozeß zu bestimmen. Übernahm <strong>der</strong><br />

Kanzler die Rolle, das Vakuum des plötzlich realistisch erscheinenden Traumes von einer<br />

<strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> durch Politikergebnisse zu füllen und damit die Einigungsdynamik<br />

voranzutreiben, so lag es beim Bundespräsidenten, Bonn vor unüberlegtem und vorschnellem<br />

Handeln zu warnen und an die Befindlichkeiten des Auslands zu erinnern. 117 Genscher<br />

wie<strong>der</strong>um war vor allem daran gelegen, den Prozeß in den Augen <strong>der</strong> Nachbarn und Partner<br />

vertrauenswürdig zu gestalten.<br />

Diplomatie<br />

Bonns Leistung bestand insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> Gleichzeitigkeit einer bi- und multilateralen<br />

Diplomatie, die an Ausgleich und Kompromiß, also <strong>der</strong> außenpolitischen Konfliktkultur einer<br />

Zivilmacht, ausgerichtet war. <strong>Die</strong> Bundesregierung war bereit, ihre For<strong>der</strong>ungen in einzelnen<br />

Politikfel<strong>der</strong>n mit eigenen Angeboten/Zugeständnissen international abzufe<strong>der</strong>n. So sollte<br />

beispielsweise die For<strong>der</strong>ung nach NATO-Mitgliedschaft mit dem Angebot einer<br />

Transformation des westlichen Bündnisses bzw. einer Beschränkung <strong>der</strong> eigenen<br />

Militärpotentiale ausbalanciert werden. Genscher faßte später seine Taktik so zusammen:<br />

„Basically, my strategy was to say to the Russians..., the relationship you could have with a<br />

united Germany will be more important for you than the sum of your relations with the GDR<br />

and us.“ 118<br />

Wirtschaftliche Instrumente<br />

Weiterhin wird eine Linkage-Strategie Bonns in <strong>der</strong> Vergabe materieller Hilfe für die<br />

Sowjetunion erkennbar. Im Januar 1990, während sich die DDR immer weiter auf den<br />

wirtschaftlichen Kollaps zubewegte, bat <strong>der</strong> sowjetische Außenminister den Bundeskanzler um<br />

Unterstützung, wie sie Kohl während seines Besuchs in Moskau im Juni 1989 bereits zugesagt<br />

hatte. <strong>Die</strong> Bundesregierung subventionierte daraufhin eine Lieferung von u.a. 52.000 Tonnen<br />

Rindfleisch, 50.000 Tonnen Schweinefleisch und 20.000 Tonnen Butter mit 220 Millionen<br />

Mark, um den Sowjets zur Überwindung zeitweiliger Engpässe einen Freundschaftspreis<br />

anbieten zu können. 119 Kohl versuchte dann bei seinem Besuch in Moskau am 10./11. Februar<br />

1990, ein Linkage zwischen Moskaus Zustimmung zur <strong>Einheit</strong> und <strong>der</strong> Aussicht auf<br />

vorteilhafte deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen anzudeuten. 120 Auf <strong>der</strong> Agenda stand<br />

ein deutsch-sowjetischer Kooperations- und Freundschaftsvertrag für die Zeit nach <strong>der</strong><br />

Vereinigung. Im Mai 1990, als die für ein Gelingen <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> entscheidenden Wiener<br />

Verhandlungen in einer Sackgasse steckten und die Sowjetunion verschiedentlich ihre<br />

ablehnende Haltung gegenüber einer NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands vorgebracht<br />

hatte, bereitete Kanzler Kohl seine Reise nach Moskau vor. Zu den Verhandlungsgegenständen<br />

im Kreml sollte auch eine deutsche Kredithilfe für Moskau über mehrere Milliarden DM<br />

gehören. In einer Besprechung im Kanzleramt stellte Kohl am 21. Mai fest, daß in dieser Zeit<br />

117 Für diese Rolle des Bundespräsidenten vgl. Deutschland Deutschland über alles, Economist, 13. Januar<br />

1990, S. 26.<br />

118 Zitat bei Pond, 1993, S. 185.<br />

119 Vgl. Ash, 1993, S. 513.<br />

120 Vgl. Zelikow/Rice, 1995, S. 188.


<strong>der</strong> schwierigen Verhandlungen zwischen Ost und West die Botschaft an Gorbatschow lauten<br />

müsse, „daß die Bundesregierung helfen werde, wenn vorher klargestellt sei, daß die 2+4-<br />

Gespräche erfolgreich abgeschlossen würden. Er könne nicht Kredite in einer solchen<br />

Größenordnung verbürgen, 121 wenn damit keine Gegenleistung verknüpft sei.“ 122 Kohl sah die<br />

Kreditentscheidung, also wirtschaftliche Anreize, als Teil eines Gesamtpakets, daß zum Erfolg<br />

<strong>der</strong> 2+4-Gespräche beitragen sollte.<br />

Hier wird die im Zivilmachtkonzept thematisierte Rolle des ‘intervener’ mit den Mitteln<br />

wirtschaftliche Konditionalität und Linkage (Kategorie 4.3.) angesprochen. <strong>Die</strong>ses von <strong>der</strong><br />

Bundesregierung eingesetzte Instrument hatte offensichtlich nachhaltige Wirkung auf die<br />

sowjetische Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft. Ende Mai 1990, nachdem Kohl den<br />

Sowjets sein Kreditpaket vorgestellt hatte, äußerte sich Genscher in einem „Spiegel“-Interview<br />

überraschend optimistisch, daß die Sowjets sich einer vollen NATO-Mitgliedschaft am Ende<br />

nicht wi<strong>der</strong>setzen würden. 123 Präsident Mitterand und <strong>der</strong> kanadische Außenminister Joe Clark<br />

verbreiteten dagegen zur gleichen Zeit nach ihren bilateralen Gesprächen im Kreml ein düsteres<br />

Bild über die sowjetische Haltung und prognostizierten noch enttäuschende Ergebnisse für den<br />

bevorstehenden Gipfel zwischen Bush und Gorbatschow in Washington. 124 Beide wußten<br />

nichts von den bundes<strong>deutschen</strong> Kreditzusagen.<br />

Umgekehrt hatte <strong>der</strong> Kanzler wirtschaftliche Hilfe für Ostberlin gerade dann von umfassenden<br />

Reformen abhängig gemacht, als Egon Krenz diese Hilfe am nötigsten hatte, um das Regime zu<br />

stabilisieren. 125 In einer Erklärung <strong>der</strong> Bundesregierung vor dem Deutschen Bundestag vom 8.<br />

November 1989 for<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Bundeskanzler umfassende politische, nicht nur wirtschaftliche<br />

Reformen, eine Aufgabe des Machtmonopols <strong>der</strong> SED sowie freie Wahlen als Bedingung für<br />

Bonner Wirtschaftshilfe. 126 Auch hier wird Bonns Zivilmachtrolle als ‘promoter of good<br />

governance and the rule of law/intervener’, also die Bereitschaft nach Einmischung in die<br />

inneren Belange, gebunden an Konditionalität und Linkage, sichtbar.<br />

3.2.4 Perzeption <strong>der</strong> eigenen Gestaltungsmöglichkeiten<br />

In Bonn war man lange Zeit skeptisch, ob das Thema „<strong>Einheit</strong>“ überhaupt realistisch war,<br />

selbst dann noch, als <strong>der</strong> Partner USA bereits das internationale Umfeld für die<br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung vorzubereiten begonnen hatte. Bonn hat mit eigenen For<strong>der</strong>ungen und<br />

diplomatischen Initiativen bis etwa November 1989 auf eindeutige Signale <strong>der</strong> internationalen<br />

Staatengemeinschaft gewartet, 127 ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr man in <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik davon ausging (ausgeht), außenpolitisch nur handlungsfähig zu sein, wenn die<br />

Partner kooperieren. Ende November äußerte sich Genscher dann allerdings wesentlich<br />

selbstbewußter, lehnte jede Form eines von den Vier Mächten dominierten<br />

Verhandlungsrahmens ab und schien optimistisch über die Erfolgschancen <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong><br />

Politik: „We have the winning concept. We should not talk about it too much, but we know<br />

121 In einem Brief vom 22. Mai 1990 versicherte <strong>der</strong> Kanzler den Sowjets Kredite in Höhe von 5 Milliarden<br />

DM und versprach, sich für die baldige Einberufung von EG- und G-7-Konferenzen zum Thema<br />

Aufbauhilfe einzusetzen, vgl. Zelikow/Rice, 1995, S. 269.<br />

122 Teltschik, 1991, S. 243.<br />

123 Nicht den Buchhaltern überlassen, Der Spiegel, 14. Mai 1990, S. 28-30, hier S. 30.<br />

124 Zelikow/Rice, 1995, S. 270-71.<br />

125 Zelikow/Rice, 1995, S. 92.<br />

126 Vgl. Bericht <strong>der</strong> Bundesregierung zur Lage <strong>der</strong> Nation im geteilten Deutschland, in: Bulletin, Nr. 123,<br />

9.11.1989, S. 1053-1060, hier S. 1053.<br />

127 Für ein Beispiel vgl. Kiessler/Elbe, 1993, S. 49.


things are going our way.“ 128 Manchmal schien die Bundesrepublik auch die eigenen<br />

Möglichkeiten bzw. die Gestaltungsaussichten in bestimmten Situationen zu überschätzen. Als<br />

Kohl und Teltschik das Treffen im Kreml am 10./11. Februar 1990 bereits als grünes Licht für<br />

die <strong>Einheit</strong> und eine deutsche NATO-Mitgliedschaft erklärten, bestand dazu faktisch überhaupt<br />

keine Rechtfertigung. <strong>Die</strong> interne Zustimmung Moskaus fiel erst wesentlich später. 129<br />

3.2.5 Das Rollenkonzept <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

Aus dem zugänglichen Material läßt sich nicht eindeutig ableiten, ob und welches<br />

Rollenkonzept die Bundesrepublik für sich selbst im Kontext <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> eingenommen hat.<br />

Vor allem zu Beginn erkannte Bonn das gestalterische Potential für die eigene Politik nur<br />

unzureichend und trat hinter die wegbereitenden Initiativen des Partners USA zurück. Später<br />

hat man den Prozeß dann aktiv geleitet und versucht, dem Lauf <strong>der</strong> Dinge Richtung zu geben.<br />

<strong>Die</strong> Bundesregierung ist dabei z.T. sehr selbstbewußt als Anwalt deutscher Interessen<br />

aufgetreten. Bereits lange vor <strong>der</strong> Vollendung <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> fühlte sich die<br />

Bundesrepublik de facto als souveräner Staat und wollte diesen Status auch völkerrechtlich<br />

festschreiben. Daher erklärt sich auch die bisweilen überbetonte For<strong>der</strong>ung Genschers nach<br />

absoluter Gleichberechtigung während <strong>der</strong> Verhandlungen, also bereits bevor die volle<br />

Souveränität mit <strong>der</strong> Abtretung <strong>der</strong> Vier-Mächte-Rechte an das vereinte Deutschland<br />

übertragen wurde.<br />

Bonn hat sich allerdings häufig auch zum Anwalt internationaler Interessen und zum Vermittler<br />

zwischen Ost und West gemacht. <strong>Die</strong> weitreichenden Bemühungen <strong>der</strong> Bundesregierung, zu<br />

einer Transformation <strong>der</strong> Bündnisse und zum Aufbau einer gesamteuropäischen<br />

Friedensordnung beizutragen, waren sicher ein Preis, <strong>der</strong> für die Zustimmung <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> zu<br />

entrichten war. Allerdings hat sich die Bundesrepublik über das dazu notwendige Maß hinaus<br />

zum konzeptionellen Anbieter/Konstrukteur neuer gesamteuropäischer Strukturen gemacht.<br />

Das Bemühen, die eigenen Ziele auf eine Art und Weise zu erreichen, die mit den Zielen<br />

an<strong>der</strong>er europäischer Nationen vereinbar sein konnte und die vor allem <strong>der</strong> Sowjetunion einen<br />

Gesichtsverlust ersparen würde, weist die Bundesrepublik im Kontext <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> als<br />

Zivilmacht aus.<br />

3.2.6 Rollenerwartungen <strong>der</strong> Bundesrepublik an den Partner USA<br />

Natürlich hätten die USA die <strong>Einheit</strong> nicht verhin<strong>der</strong>n können. Aber sie besaßen die kritische<br />

Masse, den diplomatischen Einfluß einer Supermacht, um die <strong>Einheit</strong> zu ermöglichen. <strong>Die</strong><br />

Bundesregierung wußte sehr genau, daß sich Deutschland ohne die aktive Unterstützung des<br />

Partners Amerika nicht gegenüber seinen europäischen Partnern, insbeson<strong>der</strong>e Frankreich und<br />

Großbritannien, und vor allem natürlich nicht gegenüber <strong>der</strong> Sowjetunion mit dem Wunsch<br />

nach staatlicher <strong>Einheit</strong> hätte durchsetzen können. Verständlich wird daher auch das<br />

bundesdeutsche Zögern im Spätsommer 1989. Erst nachdem man eindeutige Signale aus<br />

Washington empfangen hatte, begann die Bundesregierung mit eigenen diplomatischen<br />

Initiativen. In den USA sah Bonn also den zentralen Kooperationspartner, <strong>der</strong> es den<br />

Deutschen ermöglichen konnte, das eigene Ziel <strong>der</strong> Vereinigung zu verwirklichen. <strong>Die</strong>se<br />

Erwartung an amerikanische Rückendeckung und engen Schulterschluß deutete <strong>der</strong><br />

Bundeskanzler in einem Telefonat vom 28. November Bush gegenüber an: „History left us<br />

128 <strong>Die</strong>ses Zitat stammt aus einem Treffen Genschers mit Scowcroft vom 21. November 89, zitiert in:<br />

Zelikow/Rice, 1995, S. 114, Fn. 38.<br />

129 Für die Kontroverse über die richtige Interpretation des Treffens vgl. Zelikow/Rice, 1995, S. 189-190, Fn.<br />

66.


with good cards in our hands. I hope with the cooperation of our American friends we can play<br />

them well.“ 130<br />

4 Bewertung <strong>der</strong> bilateralen Beziehungen<br />

Rückblickend wird deutlich, wie wichtig die enge Partnerschaft zwischen Washington und<br />

Bonn für das Gelingen <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> war: Genscher wollte die eigentlichen Verhandlungen über<br />

die <strong>äußeren</strong> <strong>Aspekte</strong> auf jeden Fall „bis zur Pariser Konferenz unter Dach und Fach“ bringen,<br />

um das Ergebnis <strong>der</strong> Verhandlungen dann den Teilnehmerstaaten dort zur Kenntnisnahme und<br />

Zustimmung vorzulegen. „Nur eine enge Zusammenarbeit in erster Linie mit den Amerikanern<br />

hat das überhaupt erst ermöglicht.“ 131 Ähnlich wie in <strong>der</strong> Fallstudie Golfkonflikt kann anhand<br />

einer Untersuchung des bilateralen Konflikt- und Kooperationsverhaltens <strong>der</strong> Einfluß<br />

Washingtons auf Richtung und Entscheidungen <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Politik überprüft werden.<br />

Umgekehrt läßt sich so erkennen, ob und inwieweit beide Partner eine geteilte, arbeitsteilige<br />

Führungsrolle eingenommen haben.<br />

4.1 Transparenz und Homogenität amerikanischer und deutscher Politik<br />

Über unterschiedliche Bewertungen und Differenzen zwischen State Department und NSC in<br />

Detailfragen - vor allem Sicherheit, Behandlung <strong>der</strong> Sowjetunion und 2+4-<br />

Verhandlungsrahmen - gibt es zahlreiche, wenngleich nicht übereinstimmende Kommentare.<br />

Allerdings konnten Unstimmigkeiten meist sehr schnell ausgeräumt werden. <strong>Die</strong> ungewöhnlich<br />

gute und reibungslose Zusammenarbeit zwischen den ansonsten oft zerstrittenen<br />

außenpolitischen Bürokratien in Washington wird von Beteiligten ausdrücklich betont. 132 Es<br />

gab Kooperationspräferenzen zwischen dem Weißen Haus bzw. dem NSC und dem<br />

Bundeskanzleramt auf <strong>der</strong> einen und zwischen dem State Department und dem Auswärtigen<br />

Amt auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite. 133 Auch schienen die Außenämter insgesamt weniger stark mit den<br />

eigentlichen Sicherheitsfragen beschäftigt gewesen zu sein. 134 Umgekehrt fühlte man in<br />

Washington nicht immer ganz sicher, wie die Position <strong>der</strong> Bundesrepublik zu Einzelfragen<br />

genau ausfallen würde. Innerhalb <strong>der</strong> Bonner Bürokratie traten wie<strong>der</strong>holt Spannungen zutage.<br />

Zwischen Kanzleramt, dem Verteidigungsministerium und dem Team Außenminister<br />

Genschers gab es z.T. doch erhebliche Meinungsverschiedenheiten, beispielsweise über den<br />

sicherheitspolitischen Status des DDR-Territoriums. Ähnliche Differenzen gab es zwischen<br />

dem AA und dem Verteidigungsminister. 135 Ferner war man in Washington über<br />

parteipolitische Differenzen zwischen Kanzler und Außenminister besorgt. 136 Genscher schien<br />

bisweilen nicht genau über die Pläne des Kanzleramtes informiert. 137 In Washington hat man<br />

daher, trotz des persönlichen und sehr engen Verhältnisses zwischen Baker und Genscher seit<br />

130 Zitat bei Zelikow/Rice, 1995, S. 123.<br />

131 Interview mit von Moltke, Brüssel, 19. Dezember 1995.<br />

132 Vgl. Robert D. Blackwill, Deutsche Vereinigung und amerikanische Diplomatie, in: Außenpolitik, Nr.<br />

3/1994, S. 211-225, hier S. 224. Ähnlich Zelikow/Rice, 1995, S. 23.<br />

133 Vgl. dazu auch Kiessler/Elbe, 1993, S. 21; Interviews mit Zoellick und Szabo, a.a.O.<br />

134 Interview mit Szabo, Washington, 24. Mai 1995.<br />

135 Kiessler/Elbe, 1993, S. 81-83.<br />

136 Vgl. Kiessler/Elbe, 1993, S. 101. Nachdem Genscher in Washington <strong>der</strong> Idee vom 2+4-Rahmen zugestimmt<br />

hatte, soll Teltschik angeblich im Weißen Haus Zweifel an Kohls Sympathie für den 2+4-Plan<br />

hervorgerufen haben. Genscher mußte sich mehrfach in Bonn rückversichern.<br />

137 So mußte er von Baker erfahren, daß Kohl nach Moskau eingeladen worden war, vgl. Zelikow/Rice, 1995,<br />

S. 177.


dem „Kamingespräch“ im State Department am 1. Februar 1990, dem Kanzler sogar die<br />

Möglichkeit gegeben, mit Bush ohne Beisein Genschers zu konferieren. 138<br />

Anfänglich haben die USA sicherlich die Führungsrolle übernommen und den Prozeß als<br />

Initiator überhaupt erst ins Rollen gebracht. Im späteren Verlauf hat sich die Bundesrepublik<br />

durch eigene Initiativen dann die Führungsrolle mit den USA geteilt, teilweise auch selbst<br />

übernommen, zumindest aus <strong>der</strong> Sicht des Auswärtigen Amtes: „<strong>Die</strong> Hauptakteure waren Herr<br />

Genscher und Herr Kohl.“ 139<br />

4.2 Unterschiedliche Definitionen <strong>der</strong> Beziehungen<br />

Beide Akteure maßen <strong>der</strong> bilateralen Beziehung im Kontext <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Vereinigung einen<br />

hohen Stellenwert bei und empfanden die Zusammenarbeit als intensiv und fruchtbar. In <strong>der</strong><br />

Rückschau bewertet <strong>der</strong> damalige Leiter <strong>der</strong> Amerikaabteilung im Auswärtigen Amt, Gebhardt<br />

von Moltke, die enge Zusammenarbeit zwischen Washington und Bonn als Voraussetzung für<br />

den schnellen Verhandlungserfolg, <strong>der</strong> die <strong>Einheit</strong> möglich gemacht hat. 140 Das Jahr 1989/90<br />

wurde als <strong>der</strong> Höhepunkt in den deutsch-amerikanischen Beziehungen bezeichnet.<br />

<strong>Die</strong> Definition <strong>der</strong> Beziehung aus Sicht <strong>der</strong> USA wird vor allem durch die starke Partnerrolle<br />

charakterisiert, die gekennzeichnet war durch Solidarität und Vertrauen. In einem Satz:<br />

„George Bush very strongly felt that we had an obligation to an ally.“ 141 Hier wird also<br />

deutlich die Zivilmachtkategorie „partner“ erkennbar.<br />

4.3 Interaktionsmuster aus Konflikt und Kooperation<br />

<strong>Die</strong> 2+4-Verhandlungen sind „als Anwendungsfall einer auf Kooperation angelegten Politik“ 142<br />

charakterisiert worden. <strong>Die</strong>se Kooperation lief häufig nach folgendem Muster in drei Schritten<br />

ab.<br />

1. Zunächst äußerte einer <strong>der</strong> Partner (meist die Bundesrepublik) ihr Anliegen.<br />

2. <strong>Die</strong>ses Anliegen wurde dann vom Partner (meist den USA) erkannt, zum Gegenstand <strong>der</strong><br />

eigenen Politik gemacht und nach außen hin propagiert. Damit erhielt <strong>der</strong> Partner kraftvolle<br />

Rückendeckung, Bonn wurde so gleichzeitig aus <strong>der</strong> Schußlinie <strong>der</strong> internationalen Kritik<br />

genommen.<br />

3. Im weiteren versuchten dann beide Partner gemeinsam, Lösungen für die verschiedenen<br />

Teilprobleme zu finden, die auf die gemeinsamen Bedürfnisse abgestimmt waren und den<br />

Wünschen des Partners weitgehend entsprachen.<br />

Als Beispiel kann hier das wie<strong>der</strong>holte Drängen Genschers dienen, einen Verhandlungsmodus<br />

zu finden, <strong>der</strong> Deutschland auf jeden Fall als gleichberechtigtes Mitglied in den Prozeß<br />

einbinden würde. Bush und Baker äußerten verschiedentlich, es dürfe zu keinem Diktat über<br />

Deutschland kommen und es sei zuallererst Sache <strong>der</strong> Deutschen selbst, über ihre Zukunft zu<br />

entscheiden. Von Anfang an wurde die volle und uneingeschränkte Souveränität des vereinten<br />

Deutschlands als eines <strong>der</strong> Verhandlungsziele angegeben. <strong>Die</strong> im wesentlichen von den USA<br />

ausgearbeitete Formel „2+4“ war dann vom Design her auch ganz auf das Bedürfnis <strong>der</strong><br />

Deutschen nach Gleichberechtigung angelegt.<br />

138 Am 3. Dezember 1989 nahm Baker an einem gemeinsamen Abendessen zwischen Bush und Kohl in Brüssel<br />

extra nicht teil, damit auch Genscher, aus protokollarischen Gründen, nicht präsent sein konnte, vgl.<br />

Zelikow/Rice, 1995, S. 131.<br />

139 Interview mit Botschafter von Moltke, Brüssel, 19. Dezember 1995.<br />

140 Interview mit Botschafter von Moltke, Brüssel, 19. Dezember 1995.<br />

141 Interview mit Zoellick, Washington, 11. Mai 1995.<br />

142 Kiessler/Elbe, 1993, S. 7.


Umgekehrt funktionierte <strong>der</strong> Mechanismus auch, wenn amerikanische Wünsche anstanden. <strong>Die</strong><br />

USA hatten bereits sehr früh eine NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands als Ziel<br />

ihrer Bemühungen ausgegeben. Genscher entwickelte daraufhin in einer Rede am 31. Januar<br />

1990 die „Tutzing-Formel“, in <strong>der</strong> die NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands öffentlich<br />

gefor<strong>der</strong>t wird, NATO-Truppen jedoch nicht auf dem Territorium <strong>der</strong> ehemaligen DDR<br />

stationiert, und die <strong>deutschen</strong> Streitkräfte auf diesem Gebiet nicht dem NATO-Oberbefehl<br />

unterstellt werden sollten. 143 <strong>Die</strong>ser Ansatz wurde von beiden Partnern als Grundlage<br />

genommen und bis zur endgültigen Fassung im 2+4-Vertrag vor allem von den USA<br />

weiterentwickelt.<br />

Ein weiteres Beispiel für die spontane Reaktion Washingtons auf bundesdeutsche Bedürfnisse<br />

sei hier noch angeführt: In einem Telefonat mit Bush vom 23. Oktober 1989 zeigte sich Kohl<br />

besorgt über die zunehmend negative internationale Presse bezüglich eines unzuverlässigen<br />

Verbündeten Bundesrepublik, <strong>der</strong>, als Preis für die <strong>Einheit</strong>, nach Neutralität bzw. nach einer<br />

deutsch-sowjetischen Annäherung strebe. Bush könne dem Kanzler helfen, indem er den<br />

Deutschen seine Solidarität ausspreche. Bereits am nächsten Tag gab Bush in einem Interview<br />

mit <strong>der</strong> New York Times an: „I don’t share the concern that some European countries have<br />

about a reunified Germany, because I think Germany’s commitment and recognition of the<br />

importance of the Alliance is unshakable.“ 144<br />

<strong>Die</strong>ses partnerschaftliche Interaktionsmuster beruhte auf einem beson<strong>der</strong>en<br />

Vertrauensverhältnis und war durchaus keine Einbahnstraße. In einem Telefonat mit Kohl am<br />

17. November 1989 erbat sich Präsident Bush von Kohl Ratschläge für sein bevorstehendes<br />

Gipfeltreffen mit Gorbatschow in Malta. 145 In einem internen Gesprächsmemorandum heißt es:<br />

„Bush said that he had never needed Kohl’s input more than he needed it now, in preparation<br />

for this summit.“ 146 Umgekehrt bereiteten die USA Kohl vor dessen Reise nach Moskau im<br />

Februar 1990 genauestens auf die Situation im Kreml vor. Zum einen wurde das Kanzleramt in<br />

einem NSC Memo vom 9. Februar <strong>der</strong> amerikanischen Unterstützung versichert und<br />

aufgefor<strong>der</strong>t, unter Moskauer Druck nicht von einer NATO-Mitgliedschaft und dem Verbleib<br />

amerikanischer Truppen und Nuklearwaffen in Deutschland abzugehen. Baker leitete über den<br />

<strong>deutschen</strong> Botschafter in Moskau, Klaus Blech, <strong>der</strong> ankommenden Kanzlerdelegation am 10.<br />

Februar einen detaillierten Bericht seiner Gespräche im Kreml vom Vortag zu 147 und bereitete<br />

Kohl und Teltschik damit auf mögliche Argumente und Attacken von Gorbatschow und<br />

Schewardnadse vor. 148 Aus den Schil<strong>der</strong>ungen bei Kiessler/Elbe wird deutlich, daß die USA<br />

durch diese Einstimmung Kohls die eigene Kontrolle über das Verhalten des Partners und<br />

damit über den Fortgang <strong>der</strong> Ereignisse sicherstellen wollten. 149 Robert Blackwill hat die<br />

Partnerstrategie <strong>der</strong> USA als Versuch bezeichnet, den Kanzler mit einem ‘westlichen Kokon’<br />

143 Vgl. Rede des Bundesaußenministers zum Thema „Zur <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> im europäischen Rahmen“ vor<br />

<strong>der</strong> Evangelischen Akademie in Tutzing am 31. Januar 1990, abgedruckt in: Kaiser, 1991, S. 190-191.<br />

144 Excerpts on the German Question From Bush Interview, IHT, 26. Oktober 1989.<br />

145 Teltschik, 1991, S. 36.<br />

146 Vgl. Zelikow/Rice, 1995, S. 113, Fn. 33.<br />

147 Teltschik, 1991, S. 137.<br />

148 Memos aufgeführt in Zelikow/Rice, 1995, S. 186f.<br />

149 Vgl. Kiessler/Elbe, 1993, S. 95f.


zu umgeben. 150 <strong>Die</strong>ser Kokon gewährte <strong>der</strong> Bundesrepublik Schutz und <strong>der</strong> Schutzmacht USA<br />

Kontrolle. 151<br />

Washington verstand sich freilich nur als Partner für die Bundesrepublik. <strong>Die</strong> DDR-Delegation<br />

wurde als Verhandlungspartner nicht ernst genommen. Einen Vorschlag zur<br />

Kompromißfindung im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Bündnisfrage des DDR-Außenministers Meckel<br />

lehnten die USA im Juni 1990 kategorisch ab. 152 Allerdings nahmen die Ostberliner Politiker in<br />

sicherheitspolitischen Kernfragen nicht verhandlungsfähige Positionen ein und isolierten sich<br />

dadurch in wichtigen Fragen. <strong>Die</strong> DDR-Delegation war offensichtlich nicht bereit, ihre Haltung<br />

zu modifizieren und in Richtung auf ein gemeinsames Gruppeninteresse zu transformieren. „So<br />

gesehen war die DDR... an <strong>der</strong> Regelung <strong>der</strong> <strong>äußeren</strong> <strong>Aspekte</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Vereinigung nur<br />

formal beteiligt“. 153<br />

Zusammenfassend ergibt sich für die USA eine stark ausgeprägte, an den Grundsätzen<br />

Solidarität und Vertrauen, Wertegemeinschaft, faire Lastenteilung, Berechenbarkeit und<br />

Verläßlichkeit ausgerichtete Partnerorientierung, die die Kriterien einer idealtypischen<br />

Zivilmacht voll erfüllt. Ähnliches läßt sich für die Bundesrepublik feststellen. Hier werden<br />

allerdings aus Sicht <strong>der</strong> USA einzelne Abstriche in Bezug auf die Berechenbarkeit <strong>der</strong><br />

<strong>deutschen</strong> Position und <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Strategie erkennbar. <strong>Die</strong>se Defizite sind aber erklärbar<br />

mit <strong>der</strong> Unsicherheit Bonns über die internationale Akzeptanz <strong>der</strong> eigenen Ziele und die<br />

Positionsdifferenzen in Detailfragen unter den Entscheidungsträgern.<br />

5 Zum Zivilmachtcharakter <strong>der</strong> Verhaltensmuster, Strategien und<br />

Instrumente<br />

Wie ist nun das zu beobachtende Akteursverhalten im Kontext <strong>der</strong> Fallstudie gemessen am<br />

Idealtypus <strong>der</strong> Zivilmacht zu bewerten? Insbeson<strong>der</strong>e vier Themenbereiche <strong>der</strong> Fallstudie<br />

bieten sich für die genauere Analyse des <strong>deutschen</strong> bzw. amerikanischen Zivilmachtcharakters<br />

an:<br />

• <strong>Die</strong> außenpolitische Konfliktkultur <strong>der</strong> Akteure, insbeson<strong>der</strong>e die Wahl des<br />

Verhandlungsrahmens und die Präferenzen des diplomatischen Stils.<br />

• <strong>Die</strong> Handhabung von Fragen <strong>der</strong> Sicherheit, insbeson<strong>der</strong>e das Problem des<br />

sicherheitspolitischen Status und <strong>der</strong> Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschlands.<br />

• <strong>Die</strong> Lösung anstehen<strong>der</strong> Territorialfragen<br />

• und unterschiedliche Formen <strong>der</strong> Herrschafts- und Souveränitätsausübung.<br />

5.1 Außenpolitische Konfliktkultur/Verhandlungsrahmen<br />

<strong>Die</strong> deutsche Vereinigung warf eine Vielzahl ordnungs- und sicherheitspolitischer Fragen<br />

sowohl für Deutschland selbst wie für seine Nachbarn in Ost und West auf. Aus<br />

zivilmachttheoretischer Perspektive ergibt sich die Frage, welche Art von<br />

Konfliktlösungsmechanismus für die anstehende Probleme angewandt worden ist, spezieller,<br />

150 Zitiert nach Kiessler/Elbe, 1993, S. 96.<br />

151 Interessant in diesem Zusammenhang ist <strong>der</strong> Versuch amerikanischer Regierungsvertreter vom Dezember<br />

1989, die Regierung Kohl durch eine offizielle Auffor<strong>der</strong>ung zu noch engeren Konsultationen an die<br />

kurze Leine zu legen. Bush hat einen solchen Plan jedoch mit <strong>der</strong> Begründung abgelehnt, daß die<br />

persönlichen Versprechen des Kanzlers an Bush ausreichten, vgl. Zelikow/Rice, S. 414, Fn. 108.<br />

152 Kiessler/Elbe, 1993, S. 195f<br />

153 Sebastian Bartsch, Gestaltungsanspruch zwischen DDR-Identität und gesamtdeutscher Zukunft: <strong>Die</strong> DDR<br />

und die sicherheitspolitischen <strong>Aspekte</strong> des „Zwei-plus-Vier“-Prozesses, in: Gunther Hellmann (Hrsg.),<br />

Alliierte Präsenz und deutsche <strong>Einheit</strong>. <strong>Die</strong> politischen Folgen militärischer Macht, Baden-Baden 1994,<br />

S. 127-154, hier S. 154.


welchen Verhandlungsrahmen Entscheidungsträger ausgewählt haben, um die weitreichenden<br />

internationalen Implikationen <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> mit den Partnern und Nachbarn abzustimmen.<br />

Entsprachen die Verhandlungsstrategie <strong>der</strong> Akteure und die dabei eingesetzten diplomatischen<br />

Instrumente den Kriterien einer zivilmachtorientierten Konfliktkultur?<br />

<strong>Die</strong> Ausarbeitung des 2+4-Verhandlungsrahmens<br />

Als wesentliche Problemstellungen im Kontext <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> waren von Anfang an die<br />

Themen Sicherheit/Bündniszugehörigkeit und Fragen <strong>der</strong> Territorialität vorgegeben. Ein nicht<br />

unwesentlicher Teil <strong>der</strong> diplomatischen Bemühungen beschäftigte sich vor allem mit <strong>der</strong><br />

Ausarbeitung eines geeigneten Verhandlungsrahmens, um diese Hauptprobleme zu bewältigen.<br />

<strong>Die</strong>ser eigentliche Verhandlungsprozeß mußte klein und flexibel genug sein, um rasche<br />

Ergebnisse erarbeiten zu können und doch umfassend genug, um die internationalen Bedenken<br />

gegen die Vereinigung zu zerstreuen, indem alle verantwortlichen Akteure mit einbezogen<br />

werden konnten. 154 Der privilegierten Stellung <strong>der</strong> Vier Siegermächte mit ihren Rechten und<br />

Verantwortlichkeiten mußte ebenso Rechnung getragen werden, wie dem aus amerikanischer<br />

Sicht berechtigten Anliegen des Partners Bundesrepublik, als absolut gleichberechtigtes<br />

Mitglied an den Verhandlungen beteiligt zu sein.<br />

Im späten November 1989 ergriff die Sowjetunion die Initiative mit dem Vorschlag einer<br />

zweiten Helsinki-Konferenz, die über die deutsche <strong>Einheit</strong> im Kontext weitreichen<strong>der</strong><br />

Verän<strong>der</strong>ungen europäischer Strukturen, auch <strong>der</strong> Militärbündnisse, entscheiden sollte. <strong>Die</strong>ser<br />

Vorschlag fand Unterstützung bei Präsident Mitterrand, Premierministerin Thatcher und<br />

Genscher. <strong>Die</strong> EG-Außenminister hatten bei ihrem Treffen in Dublin <strong>der</strong> Idee ebenfalls<br />

zugestimmt. In Washington reagierte man unterschiedlich: Im State Department ermunterten<br />

Raymond Seitz und Dennis Ross Außenminister Baker, positiv zu antworten, falls gewisse<br />

Voraussetzungen erfüllt würden, so beispielsweise die vorherige Unterzeichnung des den<br />

Amerikanern beson<strong>der</strong>s wichtigen KSE-Abkommens. Der NSC unter Robert Blackwill<br />

fürchtete dagegen, daß ein solcher KSZE-Gipfel die Aufmerksamkeit von den KSE<br />

Verhandlungen ablenken würde und ausarten könnte in „open-ended negotiation about the<br />

future of Europe in about the worst multilateral setting one can imagine.“ 155 Präsident Bush<br />

schien bereits auf dem amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffen in Malta seine Vorbehalte<br />

gegen eine zentrale Rolle <strong>der</strong> KSZE im Einigungsprozeß anzudeuten. Während Gorbatschow<br />

in <strong>der</strong> gemeinsamen Pressekonferenz betonte, die UdSSR betrachte die deutsche Frage aus <strong>der</strong><br />

Position des Helsinki-Prozesses, gab Bush lediglich an, die Grenzen in Europa seien auf <strong>der</strong><br />

Konferenz von Helsinki festgelegt worden. 156 Außenminister Baker war <strong>der</strong> Idee einer KSZE-<br />

Konferenz gegenüber ebenfalls skeptisch. Eine solche Konferenz „puts the cart before the<br />

horse“ 157 und ließe die Alliierten nicht bestimmen, wie <strong>der</strong> Prozeß ausgehen würde. <strong>Die</strong> USA<br />

strebten also eine Kontrolle über ‘outcomes’ auch durch die Bestimmung prozeduraler Fragen<br />

an. Während eines Treffens mit Außenminister Hurd in Washington am 29. Januar 1990<br />

erläuterte Baker die amerikanischen Bedingungen für einen KSZE-Gipfel: <strong>Die</strong> Agenda sollte<br />

geprägt sein durch Fortschritte in Fragen <strong>der</strong> Menschenrechte und eine Akzeptanz des<br />

amerikanischen Vorschlags über die Prinzipien für freie Wahlen, weiterhin eine vorherige<br />

Unterzeichnung des KSE-Abkommens. Präsident Bushs Nationaler Sicherheitsberater<br />

Scowcroft fügte unmißverständlich hinzu, daß die USA nicht erlauben würden, den KSZE-<br />

154 Vgl. Kiessler/Elbe, 1993, S. 77.<br />

155 Zelikow/Rice, 1995, S. 139.<br />

156 DW Monitor-<strong>Die</strong>nst, 4. Dezember 1989, S. 4.<br />

157 So Außenminister Baker, zitiert in: Zelikow/Rice, 1995, S. 413, Fn. 98.


Gipfel zu einer Friedenskonferenz über Deutschland ausufern zu lassen. 158 Auf einer <strong>der</strong>artigen<br />

Konferenz, so fürchtete man in Washington, wären die USA und ihr Partner Bundesrepublik<br />

leicht isoliert worden gegen die Sowjetunion und die DDR, die unter Umständen mit <strong>der</strong><br />

Unterstützung Frankreichs und Großbritannien rechnen konnten. In einer solchen Situation<br />

hätte die Sowjetunion ihre Bedingungen für eine Zustimmung zur <strong>Einheit</strong> diktieren können<br />

(Demilitarisierung/Neutralität), die dann von <strong>der</strong> Bundesrepublik möglicherweise als Preis für<br />

die <strong>Einheit</strong> angenommen worden wären. Schewardnadse schlug überraschend am 10./11.<br />

Januar jedoch lediglich ein Treffen <strong>der</strong> Vier Mächte vor, um über die weitere Entwicklung zu<br />

beraten. Auf amerikanischen Druck hin einigten sich die drei Westalliierten, dieses Treffen in<br />

Berlin anzunehmen, aber dadurch abzuwerten, daß man ausschließlich über kulturelle und<br />

wirtschaftliche Kontakte in Berlin und dies nur auf mittlerer diplomatischer Ebene zu<br />

verhandeln bereit war. Damit war die unmittelbare Gefahr einer breit angelegten<br />

Friedenskonferenz gebannt. Gleichzeitig wurde ein symbolträchtiges Diktat <strong>der</strong> Vier Mächte<br />

über Deutschland vermieden.<br />

Neben dem bereits erwähnten Leitmotiv <strong>der</strong> USA, den Partner Bundesrepublik in keiner Weise<br />

zu singularisieren, wird ein zweites zentrales Anliegen <strong>der</strong> Bush-Administration in <strong>der</strong><br />

Ausarbeitung des 2+4-Rahmens dokumentiert: Der Sowjetunion sollte ein Forum offeriert<br />

werden, das Gorbatschow vor allem gegenüber seinen Wi<strong>der</strong>sachern im eigenen Land als<br />

anerkannten Partner und gewichtigen Akteur bei den Verhandlungen erscheinen ließ. Im<br />

Verlauf des Winters 1989 war den USA klar geworden, daß die ursprünglich von Kohl<br />

angestrebte Strategie einer graduellen <strong>Einheit</strong> in mehreren Phasen erstens an <strong>der</strong> Dynamik <strong>der</strong><br />

Ereignisse in Ostdeutschland, zweitens unter Umständen an <strong>der</strong> Instabilität in <strong>der</strong> Sowjetunion<br />

scheitern konnte. 159 Gorbatschows und Schewardnadses Position wurde zunehmend schwächer<br />

gegenüber Hardlinern im Politbüro und innerhalb <strong>der</strong> Streitkräfte, die einer Annäherung an den<br />

Westen als Teil des Reformkurses skeptisch gegenüberstanden und die deutsche <strong>Einheit</strong> unter<br />

allen Umständen verhin<strong>der</strong>n wollten, weil sie als Nie<strong>der</strong>lage des Warschauer Paktes angesehen<br />

wurde.<br />

<strong>Die</strong> eigentliche Idee für die Formel „2+4“ (Zwei deutsche Staaten plus Vier Siegermächte)<br />

stammte von <strong>der</strong> Direktorin für sowjetische Angelegenheiten im NSC, Condolezza Rice, die im<br />

Januar 1990, um einem sowjetischen Plan zur Einberufung einer umfassenden<br />

Friedenskonferenz zuvorzukommen, eine Strategie <strong>der</strong> schnellen Einigung in einem kleinen<br />

Kreis von Verhandlungsteilnehmern vorschlug. 160 Während man im NSC und in <strong>der</strong><br />

Europaabteilung des State Departments die Besorgnis äußerte, <strong>der</strong> Sowjetunion in einem<br />

solchen Prozeß zu viele Mitspracherechte einzuräumen und damit eine direkte Möglichkeit zu<br />

geben, die <strong>Einheit</strong> zu behin<strong>der</strong>n bzw. in eigenem Interesse zu beeinflussen, 161 erschien es<br />

Zoellick und dem Planungschef des State Departments, Dennis Ross, wichtig, Gorbatschow<br />

die Gelegenheit zu geben, sein Gesicht zu wahren und konstruktiv einzubinden: „We thought<br />

that by creating a 2+4-process we could help channel the Soviet thinking. We were saying to<br />

158 Zelikow/Rice, 1995, S. 174.<br />

159 Drittens war man in Washington immer besorgt, daß <strong>der</strong> Partner Bundesrepublik in einem langwierigen<br />

Prozeß dem internationalen, vor allem sowjetischen Druck nach Zugeständnissen nicht standhalten können<br />

würde.<br />

160 Zelikow/Rice, 1995, S. 160.<br />

161 Beispielsweise in einem Memo von Raymond Seitz an Baker vom 1. Februar 1990, in dem er ein Two Plus<br />

Zero Forum <strong>der</strong> beiden <strong>deutschen</strong> Staaten alleine vorschlägt und Baker rät, den Bilateralismus zwischen<br />

Bonn und Washington gegenüber einem multilateralen Ansatz auszubauen. Vgl. Zelikow/Rice, 1995, S.<br />

168.


the Soviets we are engaging you, we want this to happen with you but if you don’t engage it’s<br />

gonna happen anyway.“ 162<br />

In einem Memo an Baker Ende Januar 1990 wurden dann die Bedingungen und <strong>der</strong> Inhalt für<br />

die 2+4-Verhandlungen ausgearbeitet. <strong>Die</strong> ost<strong>deutschen</strong> Delegierten sollten von einer frei<br />

gewählten Regierung gestellt werden; beide deutsche Staaten sollten gleichberechtigt mit den<br />

an<strong>der</strong>en Mächten konferieren; das von allen Parteien anerkannte Verhandlungsziel müsse ein<br />

Mandat für die <strong>Einheit</strong> Deutschlands sein. Es sollte also nicht das „ob“ einer <strong>Einheit</strong>, son<strong>der</strong>n<br />

das „wie“ verhandelt werden. 163 Wie<strong>der</strong> konnte sich Zoellick mit seinem Plan gegen an<strong>der</strong>e<br />

Vorschläge aus State Department und NSC bei Baker und Bush durchsetzen. Anfang Februar<br />

1990 wurde zunächst Genschers Mitarbeiter Frank Elbe, dann dem Außenminister selbst die<br />

2+4-Formel in Washington unterbreitet. 164 Baker und Genscher einigten sich auf einen Zeitplan<br />

für die 2+4-Verhandlungen. Es würde keinen KSZE-Gipfel als Verhandlungsrahmen über die<br />

deutsche <strong>Einheit</strong> geben. Vielmehr sollten die Ergebnisse des 2+4-Prozesses einer im Herbst<br />

stattfindenden KSZE-Konferenz unterbreitet werden. Beide unterstrichen die NATO-<br />

Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands.<br />

International wurde die 2+4-Strategie dann auf dem Treffen <strong>der</strong> Außenminister <strong>der</strong> NATOund<br />

Warschauer Pakt-Staaten in Ottawa am 13. Februar 1990 vorgestellt und abgesegnet. In<br />

einer gemeinsamen Erklärung hieß es, daß sich die zwei <strong>deutschen</strong> Staaten mit den Vier<br />

Siegermächten treffen würden, um die externen <strong>Aspekte</strong> <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong>, einschließlich Fragen <strong>der</strong><br />

Sicherheit, zu diskutieren. <strong>Die</strong> Bundesrepublik spielte in dieser konzeptionellen Phase eine eher<br />

unbedeutende Rolle. <strong>Die</strong> Idee für 2+4 kam offiziell nicht aus Bonn - hier hatte man ja dem<br />

Vorschlag für eine Lösung im Kontext einer KSZE-Konferenz bereits zugestimmt. Allerdings<br />

soll man dort intern ebenfalls über ein Sechser-Forum nachgedacht haben. 165<br />

Der Zivilmachtcharakter von „2+4“<br />

Einerseits war <strong>der</strong> 2+4-Verhandlungsrahmen verglichen mit einer integrativen KSZE-Formel<br />

also bewußt als exklusiver und überschaubarer Prozeß ausgelegt. Dafür versprach diese Formel<br />

Kontrolle, Effektivität und schnelle Ergebnisse. An<strong>der</strong>erseits sollten aber doch alle<br />

maßgeblichen Spieler gleichberechtigt und konstruktiv beteiligt werden. Außerdem waren die<br />

eigentlichen 2+4-Verhandlungen bewußt eingebettet in ein Netz begleiten<strong>der</strong> internationaler<br />

Begegnungen und Konferenzen. Der 2+4-Rahmen wäre durch die Masse <strong>der</strong><br />

Sicherheitsaspekte, die zur Diskussion standen, überfor<strong>der</strong>t gewesen. Zusätzlich waren daher<br />

weitere bi- und multilaterale Verhandlungsstränge nötig, die im wesentlichen dem Ziel dienen<br />

sollten, die NATO zu entdämonisieren. 166 <strong>Die</strong> 2+4-Verhandlungen waren also nur das<br />

erfolgreiche Finale zahlreicher bi- und multilateraler Begegnungen von Kanzler, Außen- und<br />

Finanzminister 167 unter an<strong>der</strong>em in Windhuk, Genf, Brest, Münster, Turnberry, London,<br />

Archys, beim EG-Gipfel in Dublin und beim G-7-Treffen in Houston. Es gab also eine<br />

Parallelität von intensivem Bilateralismus (vor allem mit den USA und mit <strong>der</strong> Sowjetunion)<br />

162 Interview mit Zoellick, Washington 11. Mai 1995.<br />

163 Memo von Ross und Zoellick an Baker: Game Plan for Two Plus Four Power Talks, 30. Januar 1990, vgl.<br />

Zelikow/Rice, 1995, S. 168.<br />

164 Vgl. US and Bonn Agree on Unification Timetable, FT, 5. Februar 1990; vgl. auch Pond, 1993, S. 178;<br />

Kiessler/Elbe, 1993, S. 86f; Zelikow/Rice, 1995, S. 176.<br />

165 Interview mit Botschafter Gebhardt von Moltke, Assistant Secretary General for Political Affairs, NATO,<br />

damals Leiter <strong>der</strong> Amerikaabteilung des Auswärtigen Amtes, Brüssel, 19.12.1995.<br />

166 Frank Elbe, 1992, S. 11.<br />

167 Kiessler/Elbe, 1993, S. 138.


und multilateralen Strukturen verschiedener Prägung. Der ergänzende deutsche Bilateralismus,<br />

vor allen Dingen mit den Sowjets, wurde von den USA nie als Bedrohung gesehen, son<strong>der</strong>n<br />

begrüßt, denn auch Washington bewegte sich in einem „Zirkus mit mehreren Manegen“, wie<br />

Zoellick zitiert wird. Blackwill hat später erklärt, daß das Weiße Haus zu keiner Zeit<br />

beunruhigt gewesen sei: „Wir fühlten uns zu je<strong>der</strong> Zeit eingebunden durch die Unterrichtung<br />

auf <strong>der</strong> Schiene Baker-Genscher bzw. Zoellick-Elbe. Das, was wir von den Deutschen<br />

erfuhren, stimmte mit dem überein, was zwischen Schewardnadse und Baker bzw. zwischen<br />

Tarassenko und Zoellick besprochen wurde.“ 168 Offener Bilateralismus, wie er hier von <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik bzw. den USA praktiziert wurde, war eine <strong>der</strong> Voraussetzungen für den<br />

schnellen und erfolgreichen Abschluß <strong>der</strong> 2+4-Gespräche.<br />

<strong>Die</strong> USA maßen den 2+4-Verhandlungen überragende Bedeutung bei. In einem Memo des<br />

NSC an Bush vom 15. Februar 1990 wurden sie als „the most important set of talks for the<br />

West in the postwar period“ 169 bezeichnet. Dementsprechend sollte die Agenda sorgfältig<br />

vorbestimmt und die zur Verhandlung stehenden Themen möglichst eng umgrenzt werden. 170<br />

Nur durch ein einheitliches Auftreten <strong>der</strong> westlichen Alliierten zusammen mit <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik konnten die im amerikanischen Interesse liegenden Verhandlungsziele erreicht<br />

werden. Nachdem nun die internationale Zustimmung für den eigentlichen<br />

Verhandlungsrahmen erreicht worden war, wollte man aber den Beginn <strong>der</strong> Gespräche<br />

verzögern, um damit <strong>der</strong> inner<strong>deutschen</strong> Annäherung den nötigen Vorsprung zu geben und<br />

selbst Zeit zu gewinnen, eine tragfähige Strategie mit den westlichen Partnern abzustimmen. 171<br />

Über den (intendierten) Verhandlungsstil <strong>der</strong> amerikanischen Delegation gibt ein Zitat von<br />

Baker, wie es sich in Schewardnadses Memoiren wie<strong>der</strong>findet, Auskunft. Auf dem ersten<br />

Treffen <strong>der</strong> Außenminister im Rahmen <strong>der</strong> 2+4-Gespräche in Bonn am 5. Mai 1990 wollte<br />

Baker allen Beteiligten einen Gesichtsverlust ersparen und erklärte: „Wir müssen eine Lösung<br />

finden, bei <strong>der</strong> es we<strong>der</strong> Gewinner noch Verlierer geben wird.“ 172 Der 2+4-Prozeß bot <strong>der</strong><br />

Sowjetunion in <strong>der</strong> Tat eine faire politische Option, die eigenen legitimen Interessen<br />

einzufor<strong>der</strong>n.<br />

Dem steht allerdings die rückschauende Bewertung <strong>der</strong> amerikanischen Strategie durch die<br />

damaligen NSC-Mitglie<strong>der</strong> Zelikow und Rice entgegen: „The harsh truth was that the<br />

American goal could be achieved only if the Soviet Union suffered a reversal of fortunes not<br />

unlike a catastrophic defeat in a war. The United States had decided to try to achieve the<br />

unification of Germany absolutely and unequivocally on Western terms.“ 173 Gleichzeitig wollte<br />

man, um zu verhin<strong>der</strong>n, daß Moskau den ausgehandelten Ergebnissen nachträglich<br />

entgegentreten würde, eine Lösung finden, die die Sowjetunion innerlich annehmen und<br />

akzeptieren konnte. <strong>Die</strong> amerikanische Strategie, in den Verhandlungsprozeß mit westlichen<br />

Maximalfor<strong>der</strong>ungen einzutreten, barg in sich kein geringes Risiko.<br />

In <strong>der</strong> Bundesrepublik gab es Auseinan<strong>der</strong>setzungen über das gegenüber den Sowjets zu<br />

demonstrierende Maß an Kompromißbereitschaft. Teltschik soll Kohl in <strong>der</strong><br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung zwischen Genscher und Stoltenberg, ob NATO-Hoheit auf das<br />

Territorium <strong>der</strong> Ex-DDR ausgeweitet werden solle, dahingehend beraten haben, an die<br />

168 Für die Zitate von Zoellick und Blackwill vgl. Kiessler/Elbe, 1993, S. 144-145.<br />

169 Vgl. Zelikow/Rice, 1995, S. 208f, Fn. 24.<br />

170 So wurden zum Schutz <strong>der</strong> Agenda beispielsweise die amerikanischen Botschaften angewiesen, über den<br />

Inhalt <strong>der</strong> 2+4-Gespräche nicht zu spekulieren.<br />

171 Zelikow/Rice, 1995, S. 209.<br />

172 Kiessler/Elbe, 1993, S. 128f.<br />

173 Zelikow/Rice, 1995, S. 197.


Sowjetunion keine Zugeständnisse zu machen, solange Moskau diese nicht ausdrücklich<br />

gefor<strong>der</strong>t hätte. 174 Der Kanzler entschied sich zunächst für Genschers kompromißbereite Linie<br />

gegenüber den Sicherheitsinteressen <strong>der</strong> Sowjetunion. Aus dem Kanzleramt hieß es: „This is<br />

not a zero-sum game; everyone will win.“ 175 <strong>Die</strong> Bundesrepublik erfüllte damit die<br />

Zivilmachtkategorie 5.3, ‘promoter of bargaining, compromise and mediation’ eher, als die<br />

USA, denen es um ‘face-saving’ <strong>der</strong> Sowjets, nicht aber um <strong>der</strong>en legitime Interessen ging.<br />

Auch stieß die Art und Weise, wie <strong>der</strong> 2+4-Verhandlungsrahmen im Grunde exklusiv zwischen<br />

Washington und Bonn ausgehandelt und <strong>der</strong> Weltöffentlichkeit dann in Ottawa vorgelegt<br />

wurde, bei vielen westlichen Partnern und Nachbarlän<strong>der</strong>n auf Protest. Der nie<strong>der</strong>ländische<br />

Außenminister Van den Broek verlangte, an den Verhandlungen beteiligt zu werden, da doch<br />

auch die ‘Sicherheit <strong>der</strong> Nachbarstaaten’ diskutiert werden sollte. 176 Der italienische<br />

Außenminister De Michelis monierte, daß man 40 Jahre lang in <strong>der</strong> Allianz immer<br />

vertrauensvoll zusammengearbeitet habe und mußte sich von einem wütenden Genscher sagen<br />

lassen: “You are not part of the game.“ 177 <strong>Die</strong> NATO-Partner fühlten sich von den USA und<br />

<strong>der</strong> Bundesrepublik überrollt. Ebenso kam Kritik von <strong>der</strong> DDR-Delegation bei den Treffen <strong>der</strong><br />

Außenminister im Rahmen <strong>der</strong> 2+4-Gespräche. Markus Meckels politischer Direktor, von<br />

Braunmühl, beklagte sich, daß seit dem dritten (von insgesamt vier) 2+4-Treffen in Paris am<br />

17. Juli 1990 de facto nur noch ‘Eins-plus-Vier-Gespräche’ stattgefunden hätten. 178 We<strong>der</strong><br />

Washington noch Bonn sahen die DDR als gleichberechtigten Verhandlungspartner. Ähnliches<br />

hatte man schon vorher kritisiert: Der Zehn-Punkte-Plan Kohls zur <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> vom 28.<br />

November 1989 wirkte auf Moskau wie eine Belehrung, auf den Westen als Alleingang, 179 weil<br />

er nicht mit den Partnern koordiniert o<strong>der</strong> angekündigt worden war, um dem Kanzler den<br />

innenpolitischen Überraschungseffekt zu sichern. 180 Weiterhin wurde das im Juli 1990 im<br />

Kaukasus zwischen Kohl und Gorbatschow exklusiv ausgehandelte Abkommen über die<br />

sicherheitspolitischen <strong>Aspekte</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> von Beobachtern als neues Rapallo<br />

bezeichnet, auch wenn es bedeutende Unterschiede gab. <strong>Die</strong> nachfolgende Kritik gilt in ihrem<br />

Fazit auch für den 2+4-Prozeß insgesamt:<br />

„<strong>Die</strong>s war kein Arrangement gegen die Westmächte, und das meiste geschah auch nicht hinter<br />

<strong>der</strong>en Rücken. Aber es war auch weit entfernt von jenem postnationalen, multilateralen Stil <strong>der</strong><br />

internationalen Beziehungen, den die Bundesrepublik öffentlich predigte und <strong>der</strong> mit dem<br />

Namen ‘Helsinki’ einherging. Seinem Stil und seinem Inhalt nach war es ein<br />

Großmächtegeschäft. Gorbatschow selbst sagte bei <strong>der</strong> abschließenden Pressekonferenz: ’Wir<br />

handelten im Geiste des bekannten <strong>deutschen</strong> Ausdrucks ‘Realpolitik’.“ 181 Den<br />

Verhandlungsstil <strong>der</strong> USA charakterisieren Zelikow und Rice we<strong>der</strong> als unilateral, wie er von<br />

Präsident Reagan exerziert wurde, noch als multilateral im Sinne <strong>der</strong> Präsidentschaft Carters.<br />

174 Vgl. dazu Teltschik, 1991, S. 147-52; Kiessler/Elbe, 1993, S. 81-85; Zelikow/Rice. 1995, S. 204, die sich<br />

auf ein Interview mit Teltschik stützen.<br />

175 Vgl. Michael Mertes und Norbert J. Prill, German Reunification Raises the Question of Democracy, FT, 20.<br />

Dezember 1989.<br />

176 Kiessler/Elbe, 1993, S. 104.<br />

177 Zelikow/Rice, 1995, S. 193.<br />

178 Kiessler/Elbe, 1993, S. 199.<br />

179 <strong>Die</strong> FT, German Unification Moves up the Agenda, vom 5. Dezember 1989, berichtete: „The Bonn<br />

ambassadors of the US, Britain and France are extremely annoyed that they were informed...only after the<br />

speech had been delivered.“<br />

180 Kiessler/Elbe, 1993, S. 50ff.<br />

181 Für die Bewertung und das Zitat Gorbatschows vgl. Ash, 1993, S. 516.


Statt echter Multilateralismuspräferenzen für den 2+4-Prozeß sehen beide im außenpolitischen<br />

Stil Washingtons eher Pragmatismus. 182 Der Erfolg von 2+4 kann nicht bestritten werden. Es<br />

war <strong>der</strong> erste Fall eines „internationalen Problemmanagements in <strong>der</strong> Nach-Nachkriegs-Ära“ 183<br />

und wurde als „Modellfall“ für eine erfolgreiche Krisenlösung in <strong>der</strong> neuen Weltordnung<br />

bezeichnet. 184 Wie in <strong>der</strong> Jugoslawienfallstudie gezeigt werden kann, hat <strong>der</strong> ‘minilaterale’<br />

Verhandlungsrahmen auch in an<strong>der</strong>en Zusammenhängen Anwendung gefunden. Der 2+4-<br />

Verhandlungsrahmen war als mäßig institutionalisierte minilaterale Kooperationsform<br />

gemessen am erreichten Ziel eine vernünftige Politik, auch wenn damit <strong>der</strong><br />

zivilmachtidealtypischen For<strong>der</strong>ung nach Multilateralismus und dem Weg durch die<br />

Institutionen nicht voll genüge getan worden ist.<br />

5.2 Fragen <strong>der</strong> Sicherheit/Bündniszugehörigkeit<br />

Zu den schwierigsten Verhandlungsgegenständen des Einigungsprozesses zwischen den USA,<br />

<strong>der</strong> Bundesrepublik und <strong>der</strong> Sowjetunion, aber auch zwischen den Partnern in Washington und<br />

Bonn, gehörte die Frage, welchen sicherheitspolitischen Status ein vereintes Deutschland<br />

einnehmen sollte. Unterschiedliche Konzepte bezüglich <strong>der</strong> Bündniszugehörigkeit<br />

Deutschlands wurden kontrovers diskutiert, um das Ergebnis wurde auf allen Seiten hart<br />

gerungen. Hier ging es neben allen „realistischen“ <strong>Aspekte</strong>n von Sicherheit nicht zuletzt um die<br />

Aufteilung von Gütern bzw. die Durchsetzung nationalstaatlicher Interessen. Inwieweit<br />

entsprachen amerikanische und bundesdeutsche Konzepte von Sicherheit den Kriterien <strong>der</strong><br />

Zivilmacht? Welche Vorstellungen haben die Bundesrepublik hinsichtlich <strong>der</strong> eigenen<br />

Sicherheit und <strong>der</strong> Sicherheitsinteressen <strong>der</strong> Partner geleitet und inwieweit waren Bonn und<br />

Washington bereit, das Gut Sicherheit zwischen den Verhandlungspartnern im Sinne eines<br />

Ausgleiches zu verteilen?<br />

Sicherheitspolitische Rahmenbedingungen: Bemühungen zur konventionellen Abrüstung<br />

Schon bevor das Thema deutsche <strong>Einheit</strong> zum Gegenstand internationaler Verhandlungen<br />

wurde, hatten zum Teil überraschende Initiativen zur Reduzierungen <strong>der</strong> Zerstörungspotentiale<br />

bei<strong>der</strong> Supermächte zu einer Phase sicherheitspolitischer Entspannung geführt, die eine<br />

Überwindung <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Teilung überhaupt erst ermöglichen sollte. Präsident Gorbatschow<br />

hatte in seiner Rede vor <strong>der</strong> UNO-Generalversammlung am 7. Dezember 185 substantielle<br />

einseitige Reduzierungen versprochen. Im Mai 1989 reagierte dann Präsident Bush auf dem<br />

NATO-Gipfel mit seinem Vorschlag, eine Obergrenze von jeweils 250.000 Soldaten für die<br />

beiden Supermächte in Europa festzulegen. 186 Nachdem auch sicherheitspolitische Fragen zur<br />

Agenda <strong>der</strong> 2+4 Gespräche erklärt worden waren, stellten sich die Entscheidungsträger aller<br />

beteiligten Akteure, also auch <strong>der</strong> Bundesrepublik, darauf ein, „daß sich die Vereinigung<br />

Deutschlands nicht losgelöst von signifikanten Reduzierungen im Bereich <strong>der</strong> konventionellen<br />

182 Vgl. Zelikow/Rice, 1995, S. 20. Einen ähnlichen Eindruck vermittelt auch Zoellick, vgl. Interview mit<br />

Robert Zoellick, Un<strong>der</strong>secretary of State and White House Deputy Chief of Staff (Bush). Special Counselor<br />

to James Baker, U.S. Department of State, Washington 11. Mai 1995.<br />

183 Bortfeldt, 1993, S. 190.<br />

184 <strong>Die</strong>se Bewertung von Szabo, 1992, S. 200, spiegelt zugegebenermaßen die Euphorie zu Beginn <strong>der</strong><br />

neunziger Jahre wi<strong>der</strong>.<br />

185 Abgedruckt in Auszügen in: Survival, Vol. 31, No. 2 (March/April 1989), S. 171-76.<br />

186 Vgl. Bush Proposes Cutback in U.S. Troops in Europe, Washington Post, 30. Mai 1989.


Streitkräfte verwirklichen lassen würde.“ 187 <strong>Die</strong> Bundesregierung begrüßte die weitreichenden<br />

Abrüstungsvorschläge auch deshalb, weil dadurch eine Dynamik entstehen konnte, die zu<br />

Verhandlungen über Nuklearwaffen kürzester Reichweite genutzt werden konnte, ein<br />

beson<strong>der</strong>es Anliegen <strong>der</strong> Deutschen. Vor allem aber waren die westlichen<br />

Stationierungstruppen für die Bundesrepublik im Kontext <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> zu einer Belastung<br />

geworden: In Bonn erwartete man ein Junktim <strong>der</strong> Sowjetunion, wonach ein Abzug <strong>der</strong><br />

sowjetischen Truppen aus <strong>der</strong> DDR an einen Abzug sämtlicher Stationierungstruppen aus<br />

Deutschland gekoppelt sein müßte. Einen entsprechenden Vorstoß hatte Außenminister<br />

Schewardnadse bei seiner Rede auf dem zweiten 2+4-Außenministertreffen in Berlin am 22.<br />

Juni 1990 gemacht: „<strong>Die</strong> Vier Mächte sollen ihre Truppen in <strong>der</strong> Übergangsperiode auf<br />

gegenseitiger Basis erst um 50 Prozent und anschließend auf symbolische Kontingente<br />

verringern o<strong>der</strong> sie völlig aus Deutschland abziehen.“ 188 <strong>Die</strong> Sowjetunion hatte damit den<br />

Zusammenhang hergestellt, „den Präsident Bush immer befürchtet hat.“ 189 <strong>Die</strong><br />

Bundesregierung hätte einem reziproken Abbau bzw. dem völligen Abzug aller<br />

Stationierungstruppen aus Deutschland als Preis für die <strong>Einheit</strong> wahrscheinlich zugestimmt. 190<br />

Vor diesem Hintergrund veröffentlichte das Bundesverteidigungsministerium im Dezember<br />

1989 seine längerfristige Bundeswehrplanung, in <strong>der</strong>, bei erfolgreichem Abschluß <strong>der</strong> Wiener<br />

VKSE-Verhandlungen, eine Reduzierung <strong>der</strong> Bundeswehr von 495.000 auf 400.000 Soldaten<br />

vorgesehen war. 191 Später kündigte <strong>der</strong> Verteidigungsminister an, die Bundesrepublik wolle<br />

sich zum „Schrittmacher“ für weitere Abrüstungsinitiativen <strong>der</strong> NATO machen und drängte<br />

die USA und die Sowjetunion zu einer weiteren, substantiellen Truppenreduzierung in<br />

Europa. 192 Bush schlug in <strong>der</strong> jährlichen State-of-the-Union-Rede im Februar 1990 sogar die<br />

Verringerung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte in Europa auf 195.000 Mann vor. 193<br />

Es schien, als wollten Bonn und Washington im Frühjahr 1990 möglichst viel an ‘militärischem<br />

Ballast’ abstoßen, um die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen für ein Gelingen <strong>der</strong><br />

<strong>Einheit</strong> zu schaffen. Dabei lief ein Großteil dieses Abrüstungsprozesses außerhalb <strong>der</strong> 2+4-<br />

Verhandlungen auf multilateraler, institutionalisierter Ebene (Verhandlungen über<br />

konventionelle Streitkräfte in Europa, KSE, sowie über Vertrauens- und Sicherheitsbildende<br />

Maßnahmen, VKSE, in Wien). Wenn es gelänge, sowjetische Truppenreduzierungen in<br />

gesamteuropäische Abrüstungsvereinbarungen einzubinden, dachten amerikanische und<br />

bundesdeutsche Diplomaten, würde ein Abzug <strong>der</strong> Sowjets aus <strong>der</strong> DDR nicht<br />

notwendigerweise als Ergebnis <strong>der</strong> Zustimmung Moskaus zur <strong>Einheit</strong> und damit als Moskauer<br />

Nie<strong>der</strong>lage interpretiert werden. Kanzleramtsberater Teltschik kommentierte den<br />

Abrüstungswettlauf im Frühjahr 1990: „Damit werden auch die mit <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong><br />

verknüpften Sicherheitsprobleme erheblich erleichtert. Wird die Initiative Bushs... Wirklichkeit,<br />

muß die Sowjetunion fast die Hälfte ihrer Truppen aus <strong>der</strong> DDR abziehen. Das wäre für uns<br />

187 Gunther Hellmann, <strong>Die</strong> West<strong>deutschen</strong>, die Stationierungstruppen und die Vereinigung: Ein Lehrstück über<br />

„verantwortliche Machtpolitik“?, Gunther Hellmann (Hrsg.), Alliierte Präsenz und deutsche <strong>Einheit</strong>. <strong>Die</strong><br />

politischen Folgen militärischer Macht, Baden-Baden 1994, S. 91-125, hier. S. 102.<br />

188 Auszüge <strong>der</strong> Rede Schewardnadses in <strong>der</strong> Süd<strong>deutschen</strong> Zeitung, 25. Juni 1990.<br />

189 Teltschik, 1991, S. 277.<br />

190 Vgl. Hellmann, <strong>Die</strong> West<strong>deutschen</strong>..., 1994, S. 104.<br />

191 Vgl. <strong>Die</strong> Bundeswehr in den neunziger Jahren, Regierungserklärung des Bundesministers <strong>der</strong> Verteidigung,<br />

Dr. Gerhard Stoltenberg, vor dem <strong>deutschen</strong> Bundestag am 7. Dezember 1989, in: Der Bundesminister <strong>der</strong><br />

Verteidigung, Material für die Presse, Nr. 26/27, 7.12.1989, S. 18-19.<br />

192 Vgl. Stoltenberg für weiteren Truppenabbau in Europa, Süddeutsche Zeitung, 10. Januar 1990.<br />

193 Trimming the Troops. Bush Proposes a Reduction of U.S. Forces in Europe. But How Far Will - or Can -<br />

America Go?, Newsweek, 12. Februar 1990.


ein erheblicher Fortschritt... Erfreulich ist, wie Bush und Baker uns dafür den Boden<br />

bereiten.“ 194<br />

Amerikanische Ziele<br />

Präsident Bush sah sich Ende <strong>der</strong> achtziger Jahre einem wachsenden Druck des demokratisch<br />

kontrollierten Kongresses ausgesetzt, die amerikanischen Truppen in Europa aufgrund <strong>der</strong><br />

verän<strong>der</strong>ten Sicherheitssituation und haushaltspolitischer Beschränkungen nachhaltig zu<br />

verringern und schlug signifikante Truppenreduzierungen in verschiedenen Initiativen selbst<br />

vor. Für die USA stellt die Bundesrepublik allerdings die Basis für rund 80 Prozent aller U.S.-<br />

Truppen in Europa, <strong>der</strong>en Bedeutung als amerikanischer Brückenkopf für militärische<br />

Operationen dann bereits im Golfkrieg 1990/91 deutlich sichtbar werden sollte. Bush hatte<br />

verschiedentlich seine Absicht betont, in Europa ein signifikantes Kontingent amerikanischer<br />

Truppen zu belassen. Eine im Verhältnis zu den Sowjets reziproke Reduzierung bzw. einen<br />

totalen Abzug aller Amerikaner aus Deutschland als Preis für die deutsche <strong>Einheit</strong> galt es zu<br />

verhin<strong>der</strong>n. Gesamtdeutschland als NATO-Partner zu erhalten und die konventionelle<br />

Machtbalance in Europa aus westlicher Sicht zu verbessern, können daher als wichtigste<br />

sicherheitspolitische Ziele <strong>der</strong> Bush-Administration angesehen werden.<br />

Ein völliger Abzug aller Stationierungstruppen bzw. ein symmetrischer Abbau auf allen Seiten<br />

waren für die Bundesrepublik keine politisch durchsetzbaren Optionen, die Bonn in den 2+4-<br />

Verhandlungen hätte anbieten können, um den For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Sowjetunion<br />

entgegenzukommen: Waren die USA zu nachhaltiger Reduzierung ihrer Stationierungstruppen<br />

noch gewillt, so hatten Frankreich und Großbritannien keine Bereitschaft erkennen lassen, ihre<br />

Truppen in Deutschland als Verhandlungsgegenstand <strong>der</strong> Abrüstungsgespräche zu betrachten,<br />

auch nicht, nachdem Genscher persönlich mehrere Versuche unternommen hatte, die beiden<br />

Verbündeten umzustimmen. 195 Bonn mußte also eine an<strong>der</strong>e Lösung finden.<br />

<strong>Die</strong> Positionen zur NATO-Mitgliedschaft<br />

Über eine NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands war man sich in <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik und unter den westlichen Verbündeten weitgehend einig. 196 <strong>Die</strong> Frage unter<br />

den Entscheidungsträgern war nicht so sehr ein „ob“ <strong>der</strong> NATO-Mitgliedschaft, son<strong>der</strong>n ein<br />

„wie“, insbeson<strong>der</strong>e, welche Konzessionen gegenüber <strong>der</strong> Sowjetunion zu machen waren,<br />

damit diese die Mitgliedschaft akzeptieren würde. Allerdings sprachen sich in <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik Teile <strong>der</strong> SPD 197 und <strong>der</strong> Grünen gegen eine NATO-Mitgliedschaft aus.<br />

Innerhalb <strong>der</strong> DDR gab es sehr starke Vorbehalte gegen die Mitgliedschaft im westlichen<br />

Bündnis. 198<br />

194 Teltschik, 1991, S. 123.<br />

195 Gunther Hellmann, <strong>Die</strong> West<strong>deutschen</strong>..., 1994, S. 105.<br />

196 Gunther Hellmann, <strong>Die</strong> West<strong>deutschen</strong>..., 1994, S. 106.<br />

197 SPD-West und SPD-Ost for<strong>der</strong>ten in einer gemeinsamen Erklärung, daß ein geeintes Deutschland we<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

NATO noch dem Warschauer Pakt angehören dürfe, vgl. Erklärung zum Weg zur <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong>, 19.<br />

Februar 1990, zitiert nach Zelikow/Rice, 1995, S. 203.<br />

198 Im Oktober 1990 favorisierten 68% <strong>der</strong> Ost<strong>deutschen</strong> (25% <strong>der</strong> West<strong>deutschen</strong>) den Status <strong>der</strong> Neutralität<br />

für Deutschland, 79% (46% <strong>der</strong> West<strong>deutschen</strong>) sprachen sich für einen völligen Abzug amerikanischer<br />

Truppen aus Deutschland aus, vgl. Ronald D. Asmus, German Perceptions of the United States at<br />

Unification, RAND Project Air Force, Santa Monica 1991, S. 20, 24.


Kompromißbereitschaft versus Maximalfor<strong>der</strong>ung<br />

Von November 1989 bis zum ersten Außenministertreffen im Rahmen <strong>der</strong> 2+4-Gespräche am<br />

5. Mai 1990 wurde die bundesdeutsche NATO-Position, die sich auf Genschers Drängen<br />

ursprünglich sehr stark an sowjetischen Sicherheitsbedürfnissen orientiert hatte, mehr und mehr<br />

an amerikanischen Maximalfor<strong>der</strong>ungen ausgerichtet. Genscher konnte sich am Ende mit seiner<br />

kompromißbereiten Haltung gegen Kanzleramt, Verteidigungsministerium und die Partner in<br />

Washington nicht durchsetzen.<br />

Wie die Deutschen zu einer NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands stehen würden, war für<br />

die Bush-Administration von Anfang an die entscheidende sicherheitspolitische Frage im<br />

Zusammenhang mit <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong>. 199 Präsident Bush hatte den Kanzler nach <strong>der</strong> Ankündigung<br />

des 10-Punkte-Plans bereits in einem Telefonat vom 29. November 1989 auf das Thema<br />

angesprochen. Kohl soll offenbar nicht bereit gewesen sein, darauf ausführlich zu reagieren und<br />

erwi<strong>der</strong>te nur: „They will remain in the Pact and we, in NATO.“ 200 Der Bundeskanzler sagte<br />

dann Mitte Januar in einem Presseinterview auf die Frage, ob ein vereintes Deutschland<br />

Mitglied <strong>der</strong> NATO sein würde, es sei noch zu früh, um das sagen zu können. Bundespräsident<br />

von Weizsäcker hatte sich eher unspezifisch im Sinne einer Einbettung <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> in<br />

einen europäischen Rahmen geäußert. Beide Aussagen ließen die USA im unklaren über die<br />

bundesdeutsche Haltung. 201 Außenminister Genscher etablierte seine Position zur NATO-<br />

Mitgliedschaft Ende Januar 1990 als Kompromiß: Zwar müsse die Bundesrepublik Mitglied<br />

<strong>der</strong> NATO bleiben, das Territorium <strong>der</strong> DDR dürfe jedoch nicht in die militärischen Strukturen<br />

<strong>der</strong> NATO eingebunden werden. 202 Genschers Position war geprägt von <strong>der</strong> Absicht,<br />

sowjetische Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen und so überhaupt erst die Zustimmung<br />

des Kremls zu erlangen. Genscher wollte verhin<strong>der</strong>n, daß die Vorstellung einer vollständigen<br />

Integration Gesamtdeutschlands in die NATO zur <strong>deutschen</strong> o<strong>der</strong> westlichen<br />

Verhandlungsposition erhoben würde. Der Außenminister wollte die beiden Militärbündnisse<br />

„zur Kooperation zwingen und nicht etwa ein Land in ein an<strong>der</strong>es Bündnis hinüberziehen.“ 203<br />

<strong>Die</strong>se sogenannte ‘Tutzing-Formel’ war innerhalb <strong>der</strong> Bundesregierung umstritten 204 und<br />

divergierte hinsichtlich des militärpolitischen Status <strong>der</strong> DDR auch von den Plänen des State<br />

Departments. 205<br />

199 <strong>Die</strong> unterschiedlichen Positionen akademischer Eliten zur <strong>deutschen</strong> NATO-Mitgliedschaft hat Elisabeth<br />

Pond, 1993, S. 188f m.w.N., ausführlich zusammengefaßt. Es überrascht, wie zögerlich und zurückhaltend<br />

viele „Realisten“ hinsichtlich einer Ausdehnung <strong>der</strong> NATO auf das Territorium <strong>der</strong> ehemaligen DDR<br />

argumentierten. George Kennan empfahl <strong>der</strong> Regierung, die Entscheidung über eine NATO-Mitgliedschaft<br />

Deutschlands möglichst um mehrere Jahre hinauszuzögern; Zbigniew Brzezinski sah eine etwa<br />

zwanzigjährige Übergangsfrist voraus, in <strong>der</strong> Truppen des Warschauer Paktes in Ostdeutschland verbleiben<br />

würden; John Lewis Gaddis schlug eine Doppelmitgliedschaft Deutschlands in beiden Bündnissen vor;<br />

Samuel Huntington wollte an einer NATO-Mitgliedschaft Deutschlands festhalten, dafür aber ein vereintes<br />

Deutschland weitgehend entwaffnen; an<strong>der</strong>e schlugen dagegen eher neue Sicherheitsstrukturen vor. Jack<br />

Sny<strong>der</strong> sah ein gänzliches Verschwinden von NATO und Warschauer Pakt voraus; Stanley Hoffmann<br />

glaubte, die Bedeutung <strong>der</strong> NATO werde künftig weitgehend ersetzt durch eine stärkere KSZE.<br />

200 Vgl. Memcom for President Bush’s phone call with Chancellor Kohl, 29. November 1989, zitiert nach<br />

Zelikow/Rice, 1991, S. 123.<br />

201 Zelikow/Rice, 1995, S. 166. Vgl. auch Interview mit Zoellick, Washington, 11. Mai 1995.<br />

202 Vgl. Genschers Rede in Tutzing vom 31.1.1990, a.a.O., Teltschik, 1991, S. 117, 148f.<br />

203 Genscher bei Baker in Washington, FAZ, 3. Februar 1990.<br />

204 Vgl. die Ausführungen bei Teltschik, 1991, S. 147-52, Kiessler/Elbe, 1993, S. 81-85. Zelikow/Rice, 1995, S.<br />

205f.<br />

205 Zelikow/Rice, 1995, S. 175f.


Während einer Sitzung <strong>der</strong> außen- und sicherheitspolitischen Arbeitsgruppe des<br />

Kabinettsausschusses Deutsche <strong>Einheit</strong>, hatte Verteidigungsminister Stoltenberg mit Genschers<br />

‘Tutzing-Formel’ unter dem Hinweis gebrochen, es dürfe keine unterschiedlichen<br />

Sicherheitszonen in Deutschland geben und warf die Frage auf, ob Bundeswehrsoldaten auf<br />

dem Territorium <strong>der</strong> ehemaligen DDR stationiert werden könnten. Genscher verneinte dies<br />

heftig. Eine Stationierung <strong>der</strong> Bundeswehr auf DDR-Territorium werde nicht möglich sein und<br />

sei blanke Illusion. 206 Kohl intervenierte in diesem Streit noch zugunsten <strong>der</strong> gegenüber den<br />

Sowjets nachgiebigeren Haltung Genschers. In einer gemeinsamen Erklärung Genschers,<br />

Stoltenbergs und Seiters’ zu den sicherheitspolitischen Fragen <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> wurde daraufhin<br />

festgeschrieben, daß keine <strong>der</strong> NATO assignierten und nichtassignierten Streitkräfte <strong>der</strong><br />

Bundeswehr auf dem Gebiet <strong>der</strong> DDR stationiert werden sollten. 207 Mitte Februar 1990<br />

unterstützte <strong>der</strong> Kanzler also noch die kompromißbereite Haltung Genschers. <strong>Die</strong>ser auf<br />

Kompromiß und Ausgleich beruhende Kurs wurde von den Amerikanern, aber auch von Teilen<br />

des Bundeskanzleramts und des Verteidigungsministeriums, als Strategie angesehen, die auf<br />

Beschwichtigung, ja Anbie<strong>der</strong>ung gegenüber den Reformen Gorbatschows und <strong>der</strong><br />

sowjetischen Zustimmung zur <strong>Einheit</strong> angelegt war. Eine vielbeachtete Analyse kommt<br />

dagegen zu dem Schluß, <strong>der</strong> sogenannte „Genscherismus“ sei im Grunde viel aggressiver<br />

gegenüber den Sowjets gewesen. Sein Hauptelement habe darin bestanden, „dem<br />

Kommunismus den totalen Frieden zu erklären,“ 208 um so die Teilung Europas und<br />

Deutschlands zu überwinden. Dabei sei Genscher in den 2+4-Verhandlungen, zwar exponierter<br />

als an<strong>der</strong>e bundesdeutsche Entscheidungsträger, aber dennoch kennzeichnend für die Bonner<br />

Politik, weit über das Notwendige an Zugeständnissen hinausgegangen. 209 Hier wird <strong>der</strong><br />

kompromißhafte Zivilmachtcharakter als fester Bestandteil des Rollenkonzepts Genschers<br />

erkennbar: Das Zugeständnis war offensichtlich nur zu einem geringeren Teil auf <strong>äußeren</strong><br />

Druck, vielmehr aber auf verinnerlichte Prinzipien und Grundsätze zurückzuführen, denn die<br />

Sowjetunion hatte zu diesem Zeitpunkt ihre For<strong>der</strong>ungen noch nicht explizit gestellt.<br />

Bush wollte ursprünglich für die DDR nicht mehr anbieten als „einen beson<strong>der</strong>en militärischen<br />

Status.“ 210 Wie dieser Status genau aussehen könnte, wußte man we<strong>der</strong> in Washington noch in<br />

Bonn. Allerdings spricht einiges dafür, daß Präsident Bush wirkliche sicherheitspolitische<br />

Zugeständnisse an die Sowjetunion nie ernstlich in Betracht gezogen hat. Zwar hatte Baker in<br />

seinem Treffen mit Gorbatschow am 9. Februar noch erklärt, „that NATO’s jurisdiction would<br />

not shift one inch eastward from its present position.“ 211 Nach bilateralen Konsultationen <strong>der</strong><br />

sicherheitspolitischen Top-Berater und des amerikanischen Präsidenten mit NATO-<br />

Generalsekretär Manfred Wörner in Camp David im Februar 1990 einigten sich Bush und<br />

Wörner jedoch darauf, daß das DDR-Territorium we<strong>der</strong> neutralisiert noch entmilitarisiert<br />

werden sollte, die Schutzgarantien <strong>der</strong> NATO auch für Gesamtdeutschland gelten mußten, und<br />

Deutschland ohne Abstriche in <strong>der</strong> integrierten Militärstruktur <strong>der</strong> NATO verbleiben müsse.<br />

<strong>Die</strong>s, so betonte Wörner, sei <strong>der</strong> Schlüssel für ein wirklich multilaterales Konzept <strong>der</strong><br />

206 Vgl. die Darstellung bei Teltschik, 1991, S. 148.<br />

207 Vgl. Zitat nach Teltschik, 1991, S. 152.<br />

208 Jörg Bischoff, Oft die Mittel gewechselt, nie das Ziel. Der Antikommunist Hans-<strong>Die</strong>trich Genscher, die<br />

Destabilisierung des Sowjetsystems und die kleine Rache für erlittenes Unrecht, Der Tagesspiegel, 21.<br />

März 1990.<br />

209 Hellmann, <strong>Die</strong> West<strong>deutschen</strong>..., a.a.o., S. 92.<br />

210 Teltschik, 1991, S. 135.<br />

211 Vgl. Don Oberdorfer, The Turn - From the Cold War to a New Era. The United States and the Soviet Union<br />

from 1983-1990, New York, 1991, S. 395.


europäischen Verteidigung, 212 die ohne eine volle Integration Deutschlands keinen Sinn<br />

machte. <strong>Die</strong>se Position wurde dem Kanzler gegenüber während seines Wochenendes auf Camp<br />

David am 24./25. Februar verdeutlicht. Baker korrigierte auf Nachfrage Kohls frühere<br />

Ausführungen bezüglich des sicherheitspolitischen Son<strong>der</strong>status für die DDR. Es ginge bei <strong>der</strong><br />

Formulierung, die NATO-Jurisdiktion nicht auf das Territorium <strong>der</strong> DDR ausweiten zu wollen,<br />

lediglich darum, dort keine NATO-Truppen zu stationieren. 213 Von Anfang an galt die NATO-<br />

Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands als amerikanische Bedingung für die deutsche <strong>Einheit</strong>. 214<br />

Baker hatte bereits in seiner zentralen Rede vor dem Berliner Presseclub von <strong>der</strong> anhaltenden<br />

Verpflichtung <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland gegenüber <strong>der</strong> NATO gesprochen.<br />

Frank Elbe bezeichnete später die NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands als „conditio<br />

sine qua non“ 215 einer amerikanischen Unterstützung für den Einigungsprozeß. <strong>Die</strong>se<br />

Einschätzung wird auch belegt durch folgenden Zusammenhang: „Nachdem die deutsche Seite<br />

sich für die Zugehörigkeit des vereinten Deutschlands zur NATO ausgesprochen hatte, griffen<br />

die USA nun aktiv und nachdrücklich in den weiteren Prozeß ein.“ 216 Michael Haltzel sieht in<br />

dieser Politik Washingtons einen Wi<strong>der</strong>spruch: Das Selbstbestimmungsrecht <strong>der</strong> Deutschen<br />

wurde von Präsident Bush in seiner Vier-Punkte-Erklärung garantiert und zum Prinzip<br />

amerikanischer Politik erhoben. Gleichzeitig wollten die USA unter allen Umständen<br />

ausschließen, daß die Deutschen - selbst in freier Entscheidung - für ein vereintes Deutschland<br />

votieren könnten, das neutral und blockfrei sein würde. 217<br />

<strong>Die</strong> deutsche Position im Frühjahr 1990 war letztlich ein Kompromiß zwischen <strong>der</strong> ‘weichen’<br />

‘Tutzing-Formel’ Genschers und den For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> USA nach einer möglichst<br />

uneingeschränkten NATO-Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands, <strong>der</strong> sich erst nach intensiven<br />

Verhandlungen zwischen Washington und Bonn etablierte. Washington hatte in diesem Prozeß<br />

bewußt die Position Kohls und Stoltenbergs - und damit eigene Präferenzen - gegenüber<br />

Genscher gestärkt. In sicherheitspolitischen Fragen konnte Bush dabei ausnahmsweise auf die<br />

vorbehaltlose Unterstützung <strong>der</strong> beiden westlichen Alliierten Frankreich und Großbritannien<br />

bauen, die Bushs und Kohls sicherheitspolitischen Vorstellungen gegenüber wesentlich<br />

geneigter schienen, als <strong>der</strong> weichen Haltung Genschers, durch die sie ihre eigenen<br />

Sicherheitsinteressen bedroht sahen.<br />

Im weiteren Verlauf sollte selbst diese Kompromißformel zwischen <strong>der</strong> Position Genschers und<br />

den Interessen Washingtons noch weiter zugunsten westlicher Sicherheitsinteressen<br />

verschoben werden. <strong>Die</strong> USA erwirkten zusammen mit an<strong>der</strong>en westlichen Verbündeten<br />

sowohl die Ausdehnung <strong>der</strong> Bundeswehr auf das Territorium <strong>der</strong> DDR als auch eine volle<br />

Gültigkeit <strong>der</strong> Artikel 5 und 6 des NATO-Vertrages für Gesamtdeutschland und damit eine<br />

NATO Garantie für die ehemalige DDR. Kohl war nach seinen Beratungen in Camp David von<br />

212 Vgl. Zelikow/Rice, 1995, S. 195f; Hellmann, <strong>Die</strong> West<strong>deutschen</strong>..., a.a.O., S. 109.<br />

213 Vgl. die ausführliche Schil<strong>der</strong>ung bei Teltschik, 1991, S. 160-62; Kiessler/Elbe, 1993, S. 111f.<br />

214 Vgl. US-Botschafter in Bonn stellt klar: Vereintes Deutschland nur innerhalb <strong>der</strong> NATO, Süddeutsche<br />

Zeitung, 19. Januar 1990.<br />

215 Frank Elbe, <strong>Die</strong> Lösung <strong>der</strong> <strong>äußeren</strong> <strong>Aspekte</strong>..., a.a.O., S. 4.<br />

216 Kiessler/Elbe, 1993, S. 89.<br />

217 Michael Haltzel, Amerikanische Einstellungen zur <strong>deutschen</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung, in: Europa Archiv, Folge<br />

4/1990, S. 127-32, hier S. 130. Robert Zoellick hat die Frage, ob es für die Bush-Administration ein<br />

‘linkage’ zwischen <strong>der</strong> amerikanischen Unterstützung für den Partner und einer NATO-Mitgliedschaft<br />

Gesamtdeutschlands gegeben hätte, ausweichend beantwortet: „I can’t answer a hypothetical question,“<br />

vgl. Interview mit Zoellick, Washington, 11. Mai 1995. Ein hochrangiger Diplomat betonte im März 1990<br />

für die Bush-Administration, „a united Germany should belong to NATO“ aber „membership was not a<br />

condition for U.S. support“, vgl. U.S. Said to Prefer Rapid German Unity, In or Out of NATO, IHT, 22.<br />

März 1990.


<strong>der</strong> ursprünglichen Unterstützung für Genscher zurückgewichen und for<strong>der</strong>te Anfang April<br />

während eines Treffens mit seinen außen- und sicherheitspolitischen Beratern, in Anlehnung an<br />

die zwischen Bush und Wörner ausgehandelte Position, „daß die Bundeswehr in<br />

Gesamtdeutschland stationiert werden und die Wehrpflicht überall gelten“ 218 müsse. <strong>Die</strong> USA<br />

und Bundeskanzler Kohl hatten somit ihre Position gegenüber Genscher durchgesetzt.<br />

Unter Zivilmachtsgesichtspunkten muß gefragt werden, ob Ziele und Interessen primär national<br />

o<strong>der</strong> vielmehr international definiert werden, d.h. die legitimen Interessen an<strong>der</strong>er<br />

mitberücksichtigen. Im Fall des militärischen Status <strong>der</strong> DDR haben die USA und letztlich die<br />

Bundesregierung ihre Ziele eindeutig national definiert und verwirklicht. Timothy Garton Ash<br />

geht in seiner Analyse des Vereinigungsprozesses über diesen Vorwurf noch hinaus: „Doch<br />

wäre es eindeutig falsch zu behaupten, daß die nationalen Interessen von allen an<strong>der</strong>en<br />

europäischen Staaten und Völkern - nach <strong>der</strong>en eigener Interessendefinition, und wer sonst<br />

sollte sie definieren? - im Prozeß <strong>der</strong> Vereinigung gleichermaßen respektiert wurden.“ 219<br />

An<strong>der</strong>erseits stellte ein funktionstüchtiges und starkes Bündnis einen zentralen Wert in den<br />

<strong>deutschen</strong> und amerikanischen Rollenvorstellungen dar, <strong>der</strong> durch eine Aufweichung<br />

einheitlicher Sicherheitsstrukturen innerhalb <strong>der</strong> NATO verletzt worden wäre. Ohne die<br />

Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands wäre die NATO zudem ausgehöhlt worden, ihr<br />

Bestand an sich sogar in Gefahr geraten. <strong>Die</strong> Frage, inwieweit man auf die (legitimen)<br />

Sicherheitsinteressen des Verhandlungspartners Sowjetunion Rücksicht hätte nehmen müssen,<br />

führte also zu einem Rollen- und Wertekonflikt, den Kohl gegen Genscher für seine und die<br />

amerikanische Position entschied. Entlastend muß hier zusätzlich zumindest kurz erwähnt<br />

werden, daß auf dem NATO-Gipfel in Rom im Juli 1990, im Zusammenhang mit dem Prozeß<br />

<strong>der</strong> <strong>Einheit</strong>, auch weitreichende Reformen für eine kooperationswillige NATO und die<br />

Erweiterung des Bündnisses angeregt wurden, in denen sich ein zivilmachtorientiertes<br />

Verständnis von Sicherheit wi<strong>der</strong>spiegeln.<br />

Beschränkung <strong>der</strong> Obergrenze für die gesamt<strong>deutschen</strong> Streitkräfte<br />

Nachdem sich also die Sowjets we<strong>der</strong> mit ihren For<strong>der</strong>ungen nach Neutralität bzw. nach einem<br />

sicherheitspolitischen Son<strong>der</strong>status für das Territorium <strong>der</strong> ehemaligen DDR noch mit ihrem<br />

Ziel eines symmetrischen Truppenabbaus durchsetzen konnten, blieb ein letzter Versuch, dem<br />

Westen Zugeständnisse für die eigene Sicherheit abzutrotzen: Moskau wollte die<br />

Truppenstärke <strong>der</strong> gemeinsamen Armee des künftigen Gesamtdeutschlands reduzieren bzw.<br />

eine möglichst niedrige Obergrenze vereinbaren. 220 Bundeswehr und NVA hätten zusammen<br />

eine Personalstärke von etwa 670.000 Mann erreicht. <strong>Die</strong> Bemühungen <strong>der</strong> Sowjetunion, eine<br />

Reduzierung <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Streitkräfte zu erwirken, wird umso verständlicher, als über den<br />

Abbau amerikanischer Truppen in Europa hinaus nur die Bundeswehr als Verhandlungsmasse<br />

in Frage kam, nachdem Franzosen und Briten eine Reduzierung ihrer Potentiale im Zuge <strong>der</strong><br />

<strong>Einheit</strong> abgelehnt hatten. In dieser Frage nun fand die Sowjetunion einen Partner in Frankreich.<br />

Vor allem <strong>der</strong> westliche Nachbar <strong>der</strong> Bundesrepublik drängte darauf, daß sich die zukünftige<br />

Stärke <strong>der</strong> Bundeswehr zwar an ihrem zentralen Beitrag zur Verteidigung des westlichen<br />

Bündnisses orientieren solle, aber wesentlich unter <strong>der</strong> Sollstärke <strong>der</strong> französischen Armee<br />

liegen müsse. 221 Washington und Moskau stritten in diesem Zusammenhang heftig darum, in<br />

218 Teltschik, 1991, S. 190.<br />

219 Ash, 1993, S. 518.<br />

220 Vgl. Soviets Demand Treaty Limits on German Forces, IHT, 22. Mai 1990.<br />

221 Vgl. Hellmann, <strong>Die</strong> West<strong>deutschen</strong>..., 1994, S. 115.


welchem Verhandlungsrahmen (VKSE/KSE vs. 2+4) über die <strong>deutschen</strong> Obergrenzen<br />

entschieden werden sollte.<br />

Parallele Verhandlungsrahmen<br />

Über eine Reduzierung <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Streitkräfte wollten we<strong>der</strong> Bonn noch Washington im<br />

Rahmen <strong>der</strong> 2+4-Gespräche verhandeln, wie dies von den Sowjets vorgeschlagen worden war,<br />

son<strong>der</strong>n im multilateralen Abrüstungsrahmen <strong>der</strong> VKSE, <strong>der</strong> die Deutschen gegenüber an<strong>der</strong>en<br />

europäischen Nationen nicht diskriminieren würde, 222 denn hier ging es um<br />

Abrüstungsverhandlungen für alle europäischen Staaten. <strong>Die</strong> amerikanische Strategie bestand<br />

darin, die 2+4-Gespräche von wirklich substantiellen sicherheitspolitischen Fragen freizuhalten<br />

und diese in parallel verlaufenden multilateralen Gesprächen begleitend aufzuarbeiten.<br />

Voraussetzung dafür war aber, daß die Geschwindigkeit von 2+4 und VKSE nahezu<br />

gleichmäßig verlaufen würde. An<strong>der</strong>nfalls konnten Verhandlungsrückschläge des einen Forums<br />

das Gelingen des an<strong>der</strong>en Verhandlungsrahmens leicht gefährden. In <strong>der</strong> Tat liefen die Wiener<br />

Verhandlungen schleppend und drohten im Frühjahr 1990, den 2+4-Prozeß aufzuhalten. 223<br />

Ende Mai schlug Genscher dann vor, den Sowjets eine Reduzierung <strong>der</strong> Bundeswehr im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Wiener VKSE-Verhandlungen auf 350.000 Mann vorzuschlagen und darüber<br />

hinaus auch über eine Reduzierung britischer und französischer Streitkräfte zu verhandeln, um<br />

damit den bevorstehenden amerikanisch-sowjetischen Gipfel zu unterstützen und die<br />

Verhandlungen zwischen Ost und West zu erleichtern. Bush hielt ein solches Angebot für<br />

verfrüht. 224<br />

Der amerikanische Neun-Punkte-Plan<br />

Statt dessen bot Zoellick während des Besuches von Außenminister Baker in Moskau Mitte<br />

Mai 1990 den sowjetischen Vertretern einen Neun-Punkte-Plan an, in dem sowjetische und<br />

europäische Sicherheitsinteressen umfassend angesprochen wurden: Eine zweite Runde <strong>der</strong><br />

KSE-Verhandlungen sollte so bald wie möglich begonnen werden und über eine Obergrenze<br />

<strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Streitkräfte verhandeln. Deutschland würde auf ABC-Waffen verzichten.<br />

Während einer Übergangsperiode sollten keine NATO-Truppen in Ostdeutschland stationiert<br />

werden. Den sowjetischen Streitkräften in <strong>der</strong> DDR sollte ein angemessener Zeitplan für ihren<br />

Abzug angeboten werden. Eine neue NATO Strategie sollte den verän<strong>der</strong>ten<br />

sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in Europa angepaßt werden. <strong>Die</strong> KSZE könne eine<br />

bedeutende Rolle für die Sowjetunion in Europa gewährleisten. Schließlich sollten die deutschsowjetischen<br />

Wirtschaftsbeziehungen <strong>der</strong> Perestroika zugutekommen. 225<br />

Genscher offerierte danach neue Angebote als Lösungsvorschläge für die Wiener<br />

Verhandlungen, die aber von NSC, Verteidigungsminister Cheney und Generalstabschef<br />

Powell als zu riskant abgelehnt wurden. 226 Ab Mitte Juni herrschte unter den<br />

Koalitionspartnern CDU/CSU ein Konsens über die Unvermeidlichkeit einer substantiellen<br />

222 Vgl. Das gute Klima nutzen, <strong>Die</strong> ZEIT, 13. April 1990; „Deutschland soll volle Souveränität erlangen“,<br />

FAZ, 5. Mai 1990. Für Bakers kategorisches „nein“ gegenüber sowjetischen Vorstößen vgl. Zelikow/Rice,<br />

1995, S. 262.<br />

223 Zelikow/Rice, 1995, S. 269.<br />

224 Teltschik, 1991, S. 249, 253.<br />

225 Vgl. Darstellung <strong>der</strong> 9-Punkte bei Zelikow/Rice, 1995, S. 263f.<br />

226 Zelikow/Rice, 1995, S. 268f.


Truppenreduzierung, wollte man die <strong>Einheit</strong> zügig erreichen. 227 <strong>Die</strong> SPD for<strong>der</strong>te gar eine<br />

Halbierung <strong>der</strong> neuen Bundeswehr. 228<br />

<strong>Die</strong> Bundesregierung erklärte am 21. Juni, daß im Verlauf <strong>der</strong> Wiener Verhandlungen „auch<br />

über die künftigen Streitkräfte eines geeinten Deutschlands und ebenso <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Teilnehmerstaaten verhandelt werden“ 229 sollte. Bonn wollte durch die For<strong>der</strong>ung nach einer<br />

gemeinsamen Festlegung <strong>der</strong> Obergrenzen für alle Staaten in einer mitteleuropäischen Zone im<br />

Rahmen <strong>der</strong> KSE eine deutsche Son<strong>der</strong>behandlung vermeiden. 230 In Washington sah man sich<br />

„einem gewissen Druck aus Bonn ausgesetzt,“ 231 auf eine Begrenzung <strong>der</strong> Mannschaftsstärken<br />

auch an<strong>der</strong>er westlicher Teilnehmerstaaten im VKSE-Rahmen hinzuwirken. <strong>Die</strong><br />

Bundesrepublik konnte sich damit jedoch gegen den Wi<strong>der</strong>stand aus London und Paris beim<br />

Partner USA nicht durchsetzen. In <strong>der</strong> Londoner NATO-Gipfelerklärung wurden lediglich<br />

Folgeverhandlungen vorgeschlagen, in denen „zusätzliche Maßnahmen“ aller Teilnehmer zu<br />

treffen seien. Der Personalumfang <strong>der</strong> Streitkräfte eines vereinten Deutschlands sollte bereits<br />

vorher, mit <strong>der</strong> Unterzeichnung des KSE-Vertrages, erfolgen. 232<br />

Der Kaukasus-Gipfel<br />

Mitte Juli flogen Kohl und Genscher dann nach Moskau, um die sicherheitspolitischen<br />

Bedingungen Gorbatschows entgegenzunehmen. Der anschließende Besuch <strong>der</strong> Delegationen<br />

im Kaukasus wurde als Durchbruch für die späteren Verhandlungen zur <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong><br />

bezeichnet. Gorbatschow gewährte <strong>der</strong> Bundesregierung sicherheitspolitische Zugeständnisse,<br />

die man in Bonn nicht erwartet hatte: Volle NATO-Mitgliedschaft, einschließlich aller<br />

Schutzgarantien für das Territorium <strong>der</strong> DDR; <strong>der</strong> NATO unterstellte Bundeswehreinheiten<br />

dürften in Ostdeutschland stationiert werden, sobald sich die Rote Armee vollständig<br />

zurückgezogen hätte; schließlich garantierte Gorbatschow den Abzug <strong>der</strong> Sowjetarmee in drei<br />

bis vier Jahren auf vertraglicher Basis. <strong>Die</strong> Bundesrepublik verpflichtete sich ihrerseits, den<br />

Gesamtumfang <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Streitkräfte auf 370.000 Mann zu begrenzen (Genscher hatte<br />

noch am Tag zuvor eine Reduzierung auf 350.000 Mann angeboten 233 ) sowie auf die<br />

Produktion, Lagerung und den Einsatz von ABC-Waffen zu verzichten. 234 Der Verzicht auf<br />

227 Teltschik, 1991, S. 270f.<br />

228 <strong>Die</strong> SPD strebt eine Halbierung <strong>der</strong> Streitkräfte Gesamtdeutschlands an, FAZ, 21. Juni 1990.<br />

229 Erklärung <strong>der</strong> Bundesregierung zum Vertrag vom 18. Mai 1990..., in: Bulletin, Nr. 79, 22. Juni 1990, S.<br />

677-684, hier S. 683.<br />

230 <strong>Die</strong> Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) begannen am 9.3.1989 und endeten<br />

am 20.11. 1990 mit <strong>der</strong> Unterzeichnung des KSE-Vertrages auf dem Pariser KSZE-Gipfel. Das Mandat für<br />

die VKSE erstreckte sich lediglich auf konventionelle Waffensysteme, nicht jedoch auf Personalstärken.<br />

Erst in den Folgeverhandlungen (VKSE Ia), die am 17.7.1992 auf dem KSZE-Gipfel in Helsinki<br />

abgeschlossen wurden, verpflichteten sich 29 Staaten <strong>der</strong> NATO und des ehemaligen Warschauer Pakts,<br />

ihre nationalen Militärpotentiale auf festgesetzte Höchststärken zu begrenzen, vgl. Wichard Woyke (Hrsg.),<br />

Handwörterbuch Internationale Politik, Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 1994, S. 81, 234.<br />

231 Bush bringt neue Abrüstungsvorschläge zum Londoner NATO-Treffen, FAZ, 3. Juli 1990.<br />

232 Vgl. Londoner Erklärung <strong>der</strong> Tagung <strong>der</strong> Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikrats am 5./6. Juli<br />

1990, in: Bulletin, Nr. 90, 10. Juli 1990, S. 777-779, hier S. 778.<br />

233 Teltschik, 1991, S. 317.<br />

234 Für Hergang und Ergebnisse <strong>der</strong> Gespräche in Moskau vgl. Zelikow/Rice, 1995, S. 335-342.


ABC-Waffen kann ebenfalls als Indiz für eine beson<strong>der</strong>e sicherheitspolitische Kultur 235 sowie<br />

postnationalstaatliche Bereitschaft <strong>der</strong> Bundesrepublik zur Aufgabe sicherheitspolitischer<br />

Souveränitäts- und Hoheitsrechte gesehen werden. Eine rein nationale Verfügungsgewalt über<br />

Atomwaffen bedeutete nach bundesdeutschem Rollenverständnis ein riskantes Instrument<br />

staatlicher Außen- und Sicherheitspolitik.<br />

Im Ergebnis hat die Bundesregierung in Wien als einziger Verhandlungsteilnehmer eine<br />

einseitige Verpflichtungserklärung abgegeben, die Streitkräfte nach dem Inkrafttreten des<br />

ersten KSE-Vertrages „innerhalb von drei bis vier Jahren auf eine Personalstärke von 370.000<br />

Mann zu reduzieren.“ 236 <strong>Die</strong>se Erklärung wurde später in den Artikel 3 des 2+4-Vertrags<br />

übernommen. 237 So kam es zwar nicht zur gefürchteten „Singularisierung“ Deutschlands in den<br />

2+4-Verhandlungen, gleichwohl aber zu einer Son<strong>der</strong>behandlung <strong>der</strong> Deutschen im Rahmen<br />

<strong>der</strong> Wiener Konferenz. <strong>Die</strong> Bereitschaft, über die eigene Sicherheit mit an<strong>der</strong>en zu verhandeln<br />

und - aus realistischer Sicht - großzügige Vorleistungen zu erbringen, weisen für die<br />

Bundesrepublik eine sicherheitspolitische Kultur aus, die einer idealtypischen Zivilmacht näher<br />

steht als einer klassischen Großmacht.<br />

Transformation <strong>der</strong> Bündnisse<br />

Zivilmachtnahe Konzepte sicherheitspolitischen Denkens halfen <strong>der</strong> Bundesrepublik auch<br />

an<strong>der</strong>e Sicherheitsprobleme im Zusammenhang mit <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> zu lösen: Genscher schlug<br />

bereits im Januar 1990 ein verän<strong>der</strong>tes westliches Bündnis mit neuen, systemübergreifenden<br />

Strukturen kooperativer Sicherheit und langfristig die allmähliche Transformation <strong>der</strong><br />

Bündnisse von Systemen kooperativer in Systeme kollektiver Sicherheit vor. 238 Ebenso warb<br />

<strong>der</strong> Außenminister für eine Entfeindung zwischen den Militärbündnissen, die in einer<br />

gemeinsamen Erklärung von NATO und Warschauer Pakt zum Ausdruck kommen sollte. 239<br />

Wenn man den Sowjets den verän<strong>der</strong>ten Sicherheitsbegriff und den sich daraus ergebenden<br />

Wandel <strong>der</strong> Militärallianzen verständlich machen konnte, so Genschers Idee, mußte eine volle<br />

NATO-Mitgliedschaft Deutschlands als geringeres Problem erscheinen. Es gelang<br />

Bundeskanzler Kohl bei seinem Besuch in Washington Anfang Juni, Präsident Bush für diese<br />

Strategie zu gewinnen. Vom NATO-Gipfel im Juli in London sollte nach <strong>der</strong> gemeinsamen<br />

Auffassung von Kohl und Bush „eine Botschaft“ ausgehen, daß sich Atlantische Allianz und<br />

Warschauer Pakt „in vernünftiger Weise“ aufeinan<strong>der</strong> zubewegen. 240 Das Ziel <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik war eben nicht nur eine Vollmitgliedschaft Gesamtdeutschlands in <strong>der</strong> NATO,<br />

son<strong>der</strong>n die gleichzeitige Transformation des Bündnisses in Richtung kooperativer<br />

systemübergreifen<strong>der</strong> Sicherheitsstrukturen. Durch diesen von <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

235 Vgl. dazu als historische Übersicht Wolfgang Krieger, The Germans and the Nuclear Question (Fith Alois<br />

Mertes Memorial Lecture), German Historical Institute, Occasional Papers No. 14, Washington, D.C.,<br />

1995, S. 22, 24f.<br />

236 Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Hans-<strong>Die</strong>trich Genscher, vor dem Plenum <strong>der</strong> VKSE in Wien,<br />

30. August 1990, in: Bulletin, Nr. 106, 7. September 1990, S. 1129-1131, hier, S. 1130. <strong>Die</strong> Erklärung war<br />

mit einem Zusatz versehen, daß die Bundesregierung davon ausgehen werde, daß auch die an<strong>der</strong>en<br />

europäischen Staaten in Folgeverhandlungen ihren Beitrag zur Sicherheit in Europa leisten würden,<br />

einschließlich <strong>der</strong> Begrenzung von Personalstärken.<br />

237 Vgl. Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland, in: Verträge zur <strong>deutschen</strong><br />

<strong>Einheit</strong>, Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 1991, S. 83-90.<br />

238 So z.B. auf dem traditionellen Drei-Königs-Treffen <strong>der</strong> Liberalen am 6. Januar 1990 in Stuttgart, vgl. das<br />

Zitat Genschers in: Kiessler/Elbe, 1993, S. 78.<br />

239 Vgl. Genscher will ein kooperatives Verhältnis zwischen den Bündnissen, in: FAZ, 8. Juni 1990.<br />

240 Kohl: NATO soll nach Moskau „Botschaft <strong>der</strong> Zuversicht“ senden, dpa-Meldung vom 9. Juni 1990.


mitinitiierten Schritt zur Vertrauensbildung konnten berechtigte sowjetische<br />

Sicherheitsinteressen berücksichtigt werden. <strong>Die</strong> Transformation würde für die Sowjetunion<br />

einen größeren Gewinn an Sicherheit bedeuten, als durch die Auslösung <strong>der</strong> DDR aus dem<br />

Warschauer Pakt verloren worden war. <strong>Die</strong> Londoner Erklärung <strong>der</strong> NATO vom Juli 1990<br />

enthält zahlreiche Elemente einer zivilmachtorientierten Bündnistransformation. Damit hat die<br />

Bundesrepublik den Rückgriff auf zentrale sicherheitspolitische Elemente des<br />

Zivilmachtkonzeptes demonstriert (‘promoter of collective bzw. cooperative security).<br />

Bewertung<br />

<strong>Die</strong> Bundesrepublik hat also die Zustimmung ihrer Nachbarn und vor allem <strong>der</strong> Sowjetunion zu<br />

einer vollen NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands durch ihre Bereitschaft zur<br />

Vertrauensbildung und zu einseitigem Verzicht auf sicherheitspolitische Instrumente erreicht.<br />

Es gelang <strong>der</strong> Bundesregierung, ihre Partner für eine Transformation <strong>der</strong> westlichen<br />

Bündnisstrategie hin zu kooperativen, systemübergreifenden Formen <strong>der</strong> Sicherheitspolitik zu<br />

gewinnen. Bonn war zu weitgehenden Zugeständnissen hinsichtlich des militärischen Status <strong>der</strong><br />

ehemaligen DDR bereit. Auch hat die Bundeswehr einer einseitigen Reduzierung <strong>der</strong><br />

Obergrenze ihrer Streitkräfte zugestimmt, die über das hinausging, was von den<br />

Verhandlungspartnern gefor<strong>der</strong>t wurde. Auf ABC-Waffen hat Bonn dauerhaft verzichtet. Der<br />

Sowjetunion bot man großzügige finanzielle Unterstützung an und vereinbarte einen<br />

Truppenabzug, <strong>der</strong> Moskau den Gesichtsverlust erspart hat. Hinter Genschers Strategie stand<br />

„ein ungewöhnliches, die übliche [neo-realistische, KK] Verhandlungslogik auf den Kopf<br />

stellendes Konzept“, daß als „verantwortliche Machtpolitik“ o<strong>der</strong> „totale Friedenspolitik“<br />

bezeichnet worden ist. 241 Bonn war nicht nur bereit, die Szenarien <strong>der</strong> Vier Siegermächte<br />

hinsichtlich künftiger Sicherheitsstrukturen in Europa zu akzeptieren, es hat selbst wesentlich<br />

zur Neugestaltung dieser Strukturen beigetragen, sowohl konzeptionell als auch durch seine<br />

Bereitschaft, einseitige Beschränkungen seines militärischen Potentials hinzunehmen.<br />

5.3 Territorialfragen<br />

<strong>Die</strong> Frage, wie im Zusammenhang mit dem Einigungsprozeß aufgetretene Territorialfragen<br />

gelöst wurden, also speziell die abschließende Regelung <strong>der</strong> polnischen Westgrenze, erlangt im<br />

Zusammenhang mit dem Zivilmachtkonzept ebenfalls Bedeutung. Strebte die Bundesrepublik<br />

nach territorialen Gewinnen bzw. hat sie sich eine territoriale Verän<strong>der</strong>ung für die Zukunft<br />

vorbehalten wollen?<br />

Außenminister Genscher hatte bereits früh durch klare Aussagen versucht, bei den Polen<br />

Vertrauen in Bezug auf die deutsche Position zu wecken. <strong>Die</strong> Polen, so <strong>der</strong> Tenor des<br />

Außenministers vor <strong>der</strong> UNO-Vollversammlung 1989 hätten das „Recht, in sicheren Grenzen<br />

zu leben, das von uns als Deutschen we<strong>der</strong> jetzt noch in Zukunft in Frage gestellt wird.“ 242 Der<br />

Bundeskanzler hatte dagegen verschiedentlich den Eindruck erweckt, <strong>der</strong> Frage<br />

auszuweichen 243 und dadurch internationale Irritationen hervorgerufen. 244 Mitte Dezember<br />

1989 hatte das Europäische Parlament die Bundesrepublik in einer Resolution aufgefor<strong>der</strong>t,<br />

sich „rapidly and unambiguously“ zu den bestehenden Grenzen in Europa, insbeson<strong>der</strong>e zur<br />

241 Vgl. Gunther Hellmann, <strong>Die</strong> West<strong>deutschen</strong>..., 1994, S. 125.<br />

242 Genscher, 1995, S. 15.<br />

243 Vgl. die Einschätzung <strong>der</strong> damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher eines Gesprächs mit<br />

dem Kanzler: „Er blieb vage - für meinen Geschmack zu vage - in Bezug auf die Grenzfrage...“. Margaret<br />

Thatcher, The Downing Street Years, London 1995, S. 797.<br />

244 Vgl. Albrecht, 1996, S. 6.


O<strong>der</strong>-Neiße-Grenze, zu bekennen. 245 Im Januar 1990 nutzte <strong>der</strong> Kanzler dann in einer Rede die<br />

Gelegenheit zu einer von vielen als überfällig empfundenen klaren Aussage und beruhigte so<br />

die internationale Gemeinschaft. <strong>Die</strong> deutsche <strong>Einheit</strong> würde mit keiner Verän<strong>der</strong>ung<br />

bestehen<strong>der</strong> Grenzen verbunden sein: „I want to say this quite clearly: No responsible political<br />

lea<strong>der</strong> in West Germany, no political group worthy of being taken seriously, dreams of a<br />

greater Germany.“ 246 Auch die USA waren über diese Zögerlichkeit des Kanzlers nicht erfreut.<br />

Verweise auf eine unklare Völkerrechtslage erweckten in Washington nur wenig Verständnis.<br />

Zwar vertraute Bush den inoffiziellen Zusagen <strong>der</strong> Bundesregierung, die deutsche Diplomatie<br />

ließ jedoch nach amerikanischer Einschätzung in Bezug auf die Regelung <strong>der</strong> Grenzfrage an<br />

Deutlichkeit und Vertrauenswürdigkeit nach außen hin zu wünschen übrig. 247 <strong>Die</strong><br />

Bundesregierung sträubte sich auch gegen die Beteiligung Polens an den 2+4-Verhandlungen,<br />

weil man fürchtete, die Verhandlungen könnten durch Reparationsfor<strong>der</strong>ungen aufgehalten<br />

werden. 248 Auf französischen Druck hin wurde <strong>der</strong> polnische Außenminister schließlich<br />

eingeladen, als im Rahmen <strong>der</strong> 2+4-Gespräche über die relevanten Grenzfragen diskutiert<br />

wurde. Washington hatte dem polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki mehrfach<br />

versichert, polnische Interessen zu schützen. 249 Am 21. Juni 1990 kam es zu einer<br />

gemeinsamen Erklärung bei<strong>der</strong> Parlamente, in dem beschlossen wurde, die O<strong>der</strong>-Neiße-Linie<br />

als deutsch-polnische Grenze völkerrechtlich zu legitimieren. 250<br />

Nach einer neueren Untersuchung „entpuppt sich die Auseinan<strong>der</strong>setzung um die verbindliche<br />

Anerkennung <strong>der</strong> Grenze... vor allem als Austrag von Machtpositionen. Zwar gab es<br />

substantiell auf deutscher Seite keinen Wi<strong>der</strong>spruch gegen den polnischen Wunsch, die<br />

bestehende Grenze zwischen beiden Län<strong>der</strong>n möglichst international hochrangig abzusichern,<br />

aber die polnische Politik war mit keinem ihrer Versuche ans Ziel gelangt, diese<br />

Übereinstimmung vorab international vertraglich festzuschreiben.“ 251 Das Ergebnis fällt zwar<br />

juristisch eindeutig aus, durch Kohls innenpolitisch motiviertes anfängliches Zögern hinsichtlich<br />

einer verbindlichen Zusage <strong>der</strong> polnischen Grenze gerät die Bundesrepublik jedoch mit <strong>der</strong><br />

Zivilmachtfor<strong>der</strong>ung eines verläßlichen und berechenbaren Partners für den Nachbarn Polen in<br />

Konflikt.<br />

5.4 Formen <strong>der</strong> Souveränitätsausübung<br />

<strong>Die</strong> Herstellung voller Souveränität im Zuge <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> eröffnete <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

zumindest theoretisch die Möglichkeit, zu traditionellen Formen <strong>der</strong> Souveränitätsausübung<br />

zurückzukehren. Hat sich diese Befürchtung <strong>der</strong> Nachbarn und Partner bestätigt? Hat die<br />

Bundesrepublik im Prozeß <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> versucht, Instrumente traditioneller Machtausübung zu<br />

245 Vgl. EC Urges Bonn to Speak Up, IHT, 15. Dezember 1989.<br />

246 Vgl. Kohl Says Germany Will Keep Frontiers, FT, 18. Januar 1990.<br />

247 Interview mit Gale Mattox, Policy Planning Staff, U.S. Department of State, Washington, 30. Mai 1995.<br />

Auch Bowman Miller, Director of European Analysis, U.S. Department of State, hat in einem Interview am<br />

22. Mai 1995 bestätigt, daß die Grenzfrage dem State Department neben <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> NATO-<br />

Mitgliedschaft am meisten Kopfzerbrechen bereitet hat. Bush selber hat dem Kanzler zu je<strong>der</strong> Zeit vertraut<br />

und zeigte Verständnis für die politische, wahltaktische Motivation seiner Zögerlichkeit, vgl. Interview mit<br />

Zoellick, Washington, 11. Mai 1995; ebenso Blackwill, 1994, S. 217; für die Verbindung zwischen<br />

Innenpolitik und Kohls Haltung in <strong>der</strong> Grenzfrage insbeson<strong>der</strong>e Zelikow/Rice, 1995, S. 153.<br />

248 Zelikow/Rice, 1995, S. 213.<br />

249 Vgl. Blackwill, 1994, S. 217.<br />

250 Albrecht, 1996, S. 8.<br />

251 Albrecht, 1996, S. 8.


erweitern und sich Einbindungs- und Kontrollmechanismen zu entziehen? Inwieweit war die<br />

Bundesrepublik bereit, ihren Weg als Zivilmacht fortzusetzen?<br />

Im Rahmen <strong>der</strong> diplomatischen Bemühungen zur Herstellung <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Einheit</strong> hat sich die<br />

Bundesrepublik nachdrücklich für absolute Gleichberechtigung <strong>der</strong> beiden <strong>deutschen</strong> Staaten<br />

im 2+4-Verhandlungsprozeß und als Folge <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> für volle, uneingeschränkte staatliche<br />

Souveränität des neuen Deutschlands eingesetzt. 252 <strong>Die</strong> Bush-Administration hatte dafür nicht<br />

nur volles Verständnis, sie hat ihrerseits sogar auf die Ausübung eigener Souveränitätsrechte<br />

verzichtet, um eine diplomatische Demütigung des Partners zu vermeiden und um den Prozeß<br />

<strong>der</strong> Einigung zu beschleunigen: So rief Bush den Kanzler am 9. Februar 1990 an und teilte ihm<br />

mit, daß die USA bereit wären, auf ihre aus dem Vier-Mächte-Status herrührenden Rechte zu<br />

verzichten. 253 Nach dem Pariser 2+4-Außenministertreffen hatte die Sowjetunion angedeutet,<br />

daß man die Verhandlungen bereits am 12. September in Moskau abschließen und einen<br />

Vertrag unterzeichnen könne. <strong>Die</strong> Vereinigten Staaten erklärten sich, ebenso wie<br />

Großbritannien, umgehend bereit, auf „ihre“ 2+4-Konferenzen in Washington und London zu<br />

verzichten, um das günstige Klima für einen frühzeitigen Abschluß <strong>der</strong> Verhandlungen zu<br />

nutzen. 254<br />

Trotz des bundes<strong>deutschen</strong> Beharrens auf formaler Gleichberechtigung und voller Souveränität<br />

fühlte man sich im Bonner Kanzleramt mit <strong>der</strong> Vorstellung, im Zuge <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> einer weiteren<br />

Integration und dem Transfer zusätzlicher Souveränitätsrechte zuzustimmen, durchaus wohl.<br />

Zwei Berater im Bundeskanzleramt schrieben in <strong>der</strong> Financial Times über den zur <strong>Einheit</strong><br />

führenden Weg: „As to the second condition [for unification], integration means giving up<br />

parts of national sovereignty in or<strong>der</strong> to exercise it along with others.“ 255 Insofern spiegeln sich<br />

im Denken <strong>der</strong> Entscheidungsträger stark zivilmachtorientierte, auf historischen Erfahrungen<br />

und strukturellen Verflechtungen gegründete Verhaltensmuster wi<strong>der</strong>, die es Bonn<br />

vereinfachten, die <strong>Einheit</strong> international abzufe<strong>der</strong>n. Für die Bundesrepublik gab es zu<br />

internationaler Selbstbindung und Souveränitätstransfer als Norm keine Alternative.<br />

<strong>Die</strong>ser Maxime entsprechend unterstützte die Bundesrepublik mit Erlangen <strong>der</strong> vollen<br />

Souveränität eine weitere Vertiefung und die Einbindung Deutschlands im Rahmen <strong>der</strong><br />

europäischen Integration. Deutschland war bereit, mehr Souveränität abzugeben als nationale<br />

Souveränitätsrechte im Zuge <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> hinzugewonnen wurden. Nicht nur hat Bonn auf<br />

relative Gewinne verzichtet, man hat sogar relative Verluste an formeller Macht und<br />

Souveränität hingenommen. <strong>Die</strong> Initiative für eine weitergehende Integration im Rahmen <strong>der</strong><br />

Europäischen Gemeinschaft zu ergreifen, 256 obwohl zu dieser Zeit kein beson<strong>der</strong>er<br />

integrationspolitischer Druck bestand, erklärt sich nur aus einer grundsätzlichen Präferenz für<br />

„Einbindungspolitik,“ 257 nicht aber aus machtpolitischen Überlegungen: <strong>Die</strong> Bundesrepublik<br />

252 Vgl. beispielsweise Frank Elbe, 1992, S. 4, 6; Zelikow/Rice, 1995, S. 176. Beson<strong>der</strong>s Genscher war fest<br />

entschlossen, diplomatisches proce<strong>der</strong>e, das auf eine Son<strong>der</strong>behandlung Deutschlands hinweisen könnte,<br />

auszuschließen. Vgl. dazu die Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> detaillierten Festlegung <strong>der</strong> 2+4-Tagungsagenda durch das<br />

Auswärtige Amt mit Tagungsorten, Sitzordnung, Vorsitz, Verhandlungssprache und Abstimmungsprinzip<br />

bei Kiessler/Elbe, 1993, S. 121.<br />

253 Bericht über Telefonat Bush-Kohl vom 9.Februar 1990, Zelikow/Rice, 1995, S. 186.<br />

254 Vgl. Kiessler/Elbe, 1993, S. 202.<br />

255 Michael Mertes und Norbert J. Prill, German Unification Raises the Question of Democracy, FT, 20.<br />

Dezember 1989.<br />

256 So vereinbarten Kohl und Mitterand z.B. Mitte März 1990 nach Konsultationen im Elysée, eine<br />

gemeinsame Initiative zur Politischen Union vorzubereiten, vgl. Teltschik, 1991, S. 175f. Auf dem<br />

europäischen Ratstreffen in Maastricht Ende 1991 ging Kohl noch weiter: wirtschaftliche Union mache<br />

überhaupt nur einen Sinn, wenn auch die politische Union erreicht würde, vgl. Pond, 1993, S. 233f.<br />

257 Hellmann, Einbindungspolitik, 1994, S.3.


hätte die Vereinigung abwarten können, um dann bei erneutem Integrationsdruck in einer<br />

besseren Verhandlungsposition zu sein. Auch hier nahmen also Kategorien aus dem<br />

Zivilmachtkonzept wesentlichen Einfluß auf die Politik <strong>der</strong> Bundesregierung (Kategorien 3.1,<br />

supranationalist und 3.2, regime buil<strong>der</strong>/deepener).<br />

6 Ergebnis <strong>der</strong> Hypothesenüberprüfung<br />

Tabelle 5<br />

idealtypische Verhaltenserwartung Bundesrepublik USA<br />

promoter of the rule of law (3.3) klar ja klar ja<br />

regime/institution user (5.4) eher ja (Nebeneinan<strong>der</strong><br />

von offenem Bi- und<br />

Multilateralismus)<br />

eher ambivalent (eher<br />

Minilateralismus)<br />

promoter of compromise and mediation (5.3) ja eher nein<br />

(Maximalfor<strong>der</strong>ungen)<br />

collective security (6.1) klar ja ja<br />

cooperative security (6.2) klar ja ja<br />

supranationalist (3.1) klar ja nicht prüfbar<br />

7 Gestaltungsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen<br />

Insgesamt gilt <strong>der</strong> deutsche Einigungsprozeß als beispielhafte diplomatische Leistung. <strong>Die</strong><br />

Regierungen in Washington und Bonn mußten gegenüber den an<strong>der</strong>en Spielern im Kontext <strong>der</strong><br />

Einigung nur wenige substantielle Kompromisse eingehen o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> eigenen Position<br />

abweichen: „The fact is that Bonn and Washington were united in a way that made it nearly<br />

impossible politically for other NATO allies to go public with their concerns about unification,<br />

much less work to <strong>der</strong>ail the process.“ 258 Vielmehr gelang es beiden Akteuren durch ihren<br />

engen Schulterschluß die internationale Politik maßgeblich zu beeinflussen und Politik weit<br />

über den eigentlichen Kontext <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> hinaus zu gestalten. Der enge Zusammenhalt und<br />

damit die gemeinsame Machtposition mag dies erklären. An<strong>der</strong>erseits hat die Bundesrepublik<br />

von <strong>der</strong> Sowjetunion weitreichende Zugeständnisse erhalten, weil sich Bonn demonstrativ<br />

kooperativ und entgegenkommend gezeigt hat. ‘Soft-Power’-Politik und eine<br />

Zivilmachtorientierung haben hier also hohes Gestaltungspotential bewiesen.<br />

7.1 <strong>Die</strong> Bundesrepublik<br />

Bundeskanzler Kohl stellte am 12. September, als das letzte 2+4-Außenministertreffen in<br />

Moskau zu Ende ging, im Bonner Kabinett fest, „...<strong>der</strong> in Moskau unterzeichnete „Zwei-plus-<br />

Vier“-Vertrag spiegele die Verhandlungsziele wi<strong>der</strong>, die sich seine Regierung sieben Monate<br />

zuvor gesetzt hatte: die Souveränität Deutschlands, die Entscheidungsfreiheit über die<br />

Bündniszugehörigkeit, den verbindlichen Zeitplan über den Abzug <strong>der</strong> sowjetischen Truppen<br />

aus Ostdeutschland und die Klarheit in <strong>der</strong> Grenzfrage mit Polen.“ 259 Für die Bundesrepublik<br />

258 Zelikow/Rice, 1995, S. 165.<br />

259 Vgl. Kiessler/Elbe, 1993, S. 205.


ergaben sich - bei aller Schwierigkeit und Ungewißheit des Prozesses - im Gegensatz zu den<br />

Rahmenbedingungen in <strong>der</strong> Fallstudie ‘Golfkonflikt’ günstige Voraussetzungen für eine<br />

erfolgreiche Politik. Der Kontext <strong>der</strong> Fallstudie stellt eine komplexe Verhandlungssituation dar,<br />

in <strong>der</strong> Erfolg vor allem von verschiedenen Formen von ‘soft-power’ abhing: diplomatisches<br />

Geschick, Verhandlungstaktik, die Fähigkeit Partner für die eigene Politik zu finden und<br />

Vertrauen zu schaffen, Kompromißbereitschaft, visionäre Kraft und das Anbieten<br />

wirtschaftlicher Anreize. Alle an den Verhandlungen beteiligten Akteure waren geprägt von<br />

Pragmatismus und Vernunft, 260 beides u.U. wesentliche Voraussetzungen für das Gelingen<br />

einer zivilmachtorientierten Politik. <strong>Die</strong> Situation kam also dem <strong>deutschen</strong> Rollenkonzept sehr<br />

entgegen und bot ein insgesamt günstiges Terrain für die deutsche Diplomatie, die all ihre<br />

Stärken im Rahmen <strong>der</strong> 2+4-Gespräche und in den begleitenden Verhandlungen ausspielen<br />

konnte.<br />

7.2 <strong>Die</strong> USA<br />

Den USA gelang es, ihre zentralen Zielsetzungen im Einigungsprozeß zu verwirklichen. „The<br />

American policy was very succesful...All the objectives were met and very early on. They came<br />

out of this process with a very stable relationship as the best possible starting point we could<br />

have.“ 261 Im Sinne <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Agenda des 2+4-Prozesses festgeschriebenen Ziele ließen die<br />

Ergebnisse also für Washington keine Wünsche offen. Im Nachhinein gab es in Washington<br />

dennoch Ernüchterung. Zwar legte die enge Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Bundesrepublik auch den<br />

Grundstein für die im Konzept „Partnership in Lea<strong>der</strong>ship“ zusammengefaßten neuen deutschamerikanischen<br />

Beziehungen und ließ die teilweise sehr störenden Turbulenzen in den<br />

Beziehungen <strong>der</strong> achtziger Jahre vergessen. Aber nicht alles, was man sich für die deutschamerikanischen<br />

Beziehungen als Folge <strong>der</strong> <strong>Einheit</strong> ausgedacht hatte, ging auch tatsächlich in<br />

Erfüllung:<br />

„The issue that we should have spend more time on... was the economic. There were aspects<br />

in the way that Germany was unified economically that actually caused great trouble, ironically,<br />

for George Bush’s political future. German unification led to the inability to get global growth<br />

in 1992 which might have helped George Bush to get reelected. And another thing we didn’t<br />

do is that George Bush was also very concerned about completing the Uruguay round. We had<br />

hoped that Germany could play an important role in trying to bring that about. Kohl never<br />

did. 262 It was unfortunate that Kohl really didn’t turn out to help Bush in the way that Bush<br />

helped Kohl. One could have argued that the United States could have said to Kohl, ‘we’ll help<br />

you here but you make sure we get the Uruguay round done’. We never did.“ 263<br />

Auch hier mußten die USA erkennen, daß die Bundesrepublik - ähnlich wie zuvor in <strong>der</strong><br />

Golfkrise - ihre eigenen Vorstellungen von <strong>der</strong> ‘Partnership in Lea<strong>der</strong>ship’ hatte und sich den<br />

Vorstellungen <strong>der</strong> Vereinigten Staaten von einem weltpolitischen Tandem unter amerikanischer<br />

Führung nicht ohne weiteres zu unterwerfen bereit sein würde. Deutschlands Konzepte von <strong>der</strong><br />

260 Michael Gordon hat auch auf den neuen sowjetischen Verhandlungsstil in den 2+4-Gesprächen aufmerksam<br />

gemacht: einer prinzipiellen Zugänglichkeit für gute Argumente <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite, vgl. Steps to German<br />

Unity: Bonn as a Power, New York Times, Februar 16, 1990.<br />

261 Interview mit Stephen Szabo, Washington, 24. Mai 1995.<br />

262 Als die GATT-Runde Ende 1990 kurz vor Abschluß stand und die Delegationen - mit Ausnahme<br />

Frankreichs! - einen konsensfähigen Kompromiß ausgearbeitet hatten, <strong>der</strong> für die gemeinsame<br />

Agrarpolitik <strong>der</strong> EG statt Außenhandelsabschöpfungen direkte Subventionen und damit einen besseren<br />

Marktzugang für die USA vorsah, gab Kohl die Direktive, nicht gegen französische Interessen<br />

abzustimmen. Kohl soll damals gesagt haben: „<strong>Die</strong> deutsch-französische Freundschaft geht vor“, Interview<br />

mit Otto Schlecht, Leiter <strong>der</strong> bundes<strong>deutschen</strong> EG-Ministerratsdelegation, Trier, Sommer 1993.<br />

263 Interview mit Zoellick, Washington, 11. Mai 1995.


eigenen Rolle in den internationalen Beziehungen fielen als unmittelbares Ergebnis <strong>der</strong><br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung immer noch bescheidener aus, als die USA dies gewünscht hätten.

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