DT Magazin | Ausgabe 2 - Spielzeit 2011/12 - Deutsches Theater
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„Es ist nicht nur leicht,<br />
wenn Widerstand wegfällt.“<br />
Andreas Döhler als Georg Seidel<br />
Georg Seidel<br />
Georg Seidel war ein „Einzelgänger im Schreiben“.<br />
Sein Stück ‚Jochen Schanotta’ inszeniert Frank Abt in den Kammerspielen.<br />
„Es war bei der Premiere von ‚Jochen Schanotta‘ in Schwedt. Ich<br />
war mit ein paar Freunden da. Georg kannte ich damals noch<br />
nicht. Wir arbeiteten zwar schon beide am Deutschen <strong>Theater</strong>,<br />
aber er war noch nicht in der Dramaturgie. Ich wusste also nicht,<br />
dass es seine Premiere war und merkte auch nicht, dass er im<br />
Zuschauerraum direkt hinter mir saß. Während der Vorstellung<br />
haben wir ein bisschen in der Gruppe getuschelt, wie man das<br />
eben so macht. Das muss ihn wahnsinnig aufgeregt haben. Denn<br />
einige Tage später stand er plötzlich in meinem Büro und hat<br />
mich schrecklich zusammengefaltet.“ So erzählt Angela Modest,<br />
seit 1980 Mitarbeiterin des Deutschen <strong>Theater</strong>s, von ihrer ersten,<br />
etwas missglückten Begegnung mit Georg Seidel, die letztlich<br />
aber den Auftakt einer engen Freundschaft bildete: „Ich<br />
habe mich später auf einer Party entschuldigt. Er sagte nur: Ach,<br />
ist ja jetzt nicht mehr so schlimm. Und danach waren wir die<br />
dicksten Freunde. Das war schon super.“<br />
Georg Seidel, geboren 1945, stammte aus Dessau. Er war<br />
zunächst Werkzeugmacher, bevor ihn sein Interesse für das <strong>Theater</strong><br />
an die Bühne seiner Heimatstadt führte. 1967 war er dort<br />
als Bühnenarbeiter engagiert, begann dann ein Maschinenbaustudium<br />
in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz. Auf Grund seiner<br />
Verweigerung des Wehrdienstes an der Waffe wurde er bereits<br />
nach acht Wochen exmatrikuliert und musste als Bausoldat<br />
Dienst leisten. Auch eine Immatrikulations-Zusage des Leipziger<br />
Literaturinstituts wurde zurückgezogen, seine Texte seien<br />
voller Ressentiments gegen die sozialistische Gesellschaft, hieß<br />
es in der Begründung. Seidel ging nach Berlin, war bei der DEFA<br />
angestellt, bis er 1975 als Beleuchter ans Deutsche <strong>Theater</strong> kam.<br />
Hier wurde er 1982 von Ilse Galfert, damals Cheflektorin des<br />
DDR-Verlages Henschel und Chefdramaturgin am Deutschen<br />
<strong>Theater</strong>, entdeckt. Sie förderte den 37-jährigen, nahm sich seiner<br />
Stücke an und holte ihn als Mitarbeiter in die Dramaturgie.<br />
Die wenigen Texte, die über Georg Seidel veröffentlicht<br />
wurden, beschreiben ihn als Geradeausdenker, als Unbestechlichen,<br />
der der Welt mit einem unbezwingbaren moralischen Rigorismus<br />
begegnete. Sie bezeichnen ihn als „Einzelgänger im<br />
Schreiben“, der nicht etwa verdeckt über Parabeln oder Umschreibungen<br />
auf Schieflagen in der Gesellschaft aufmerksam<br />
machte, sondern vielmehr über eine frappierende Direktheit versuchte,<br />
seine unmittelbare Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen.<br />
Und sie bezeichnen ihn als Leidenden, der sich der Unerträglichkeit<br />
der Realität, des alltäglichen Lebens nie entziehen<br />
konnte. „Georg hat die Welt anders gesehen, kritischer“, erzählt<br />
Angela Modest, „er war alles andere als oberflächlich, ein<br />
sehr guter Beobachter und ein Mensch mit wirklicher Tiefe. Um<br />
die Geschichten schreiben zu können, die er geschrieben hat,<br />
musste er sich aber ein wenig raushalten. Das war ja zu der Zeit<br />
alles andere als gewollt. Jemand, der solche Stücke schrieb, der<br />
war nun wirklich nicht besonders beliebt in der DDR.“<br />
Unverblümt beschreiben Seidels Stücke die gesellschaftlichen<br />
Entwicklungen der Endphase der DDR: den fortschreitenden<br />
Zerfall des sozialistischen Systems, den Zustand zunehmender<br />
gesellschaftlicher Entfremdung und die wachsende<br />
Isolation des Individuums. Nicht verwunderlich also, dass Seidel<br />
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seit dem Tag der Uraufführung seines ersten Dramas ‚Kondensmilchpanorama‘<br />
als Unbequemer galt, der als politisch subversiv<br />
beobachtet, an dessen Erfolglosigkeit in den Amtsstuben<br />
der Kulturbürokratie kräftig gearbeitet wurde; besonders gravierend<br />
im Falle von ‚Jochen Schanotta‘. Margot Honeckers Ministerium<br />
für Volksbildung startete eine Kampagne gegen Stück<br />
und Inszenierung. Es gab eine Pressevereinbarung in Berlin,<br />
dass das Stück zu verreißen sei. Außerdem wurden ‚Karls Enkel‘<br />
engagiert, ein Liedertheater, deren eigene Texte in die Uraufführung<br />
am Berliner Ensemble eingebaut wurden. So entstand<br />
eine Kommentarebene zu Seidels Text, die diesen voll kommen<br />
aufweichte und ironisierte.<br />
Seidel blieb in der DDR, und das trotz Möglichkeiten wegzukommen.<br />
Beispielsweise als er in seiner Funktion als Dramaturg<br />
in die Schweiz reisen durfte. „Als Georg wiederkam, hat<br />
er nur gelacht“, erzählt Angela Modest, „er hat gesagt, ihm<br />
wäre da alles viel zu ordentlich, zu sauber, zu nett, und dass<br />
ihm da gar nichts einfallen würde. Keine Sekunde hat er daran<br />
gedacht wegzubleiben. Er war jemand, der dableiben und ins<br />
Nest pieken wollte.“<br />
Das Deutsche <strong>Theater</strong> hat Georg Seidel 1987 verlassen.<br />
Er entschied sich als freier Schriftsteller zu arbeiten, die Arbeit<br />
in der Dramaturgie und das Schreiben unter einen Hut zu bringen,<br />
gelang ihm nicht mehr. Kurz darauf erkrankte er. Vielleicht<br />
ist es Zufall, dass Georg Seidel nur wenige Monate nach dem<br />
Fall der Mauer im Alter von 44 Jahren verstarb. Eine tragische<br />
Verbindung zwischen dem Krankheitsprozess und den gesellschaftlichen<br />
Begleitumständen kommt einem jedoch unweigerlich<br />
in den Sinn, betrachtet man seine Lebenseckdaten. „Wir<br />
können es nicht wissen, aber vielleicht wäre es Georg genauso<br />
gegangen wie Heiner Müller,“ sagt Angela Modest, „Das System<br />
war die Triebfeder, die Reibungsfläche und vielleicht wäre<br />
auch Georg nach 1989 nichts mehr eingefallen, vielleicht wäre<br />
auch er geschluckt worden. Es ist nicht nur leicht, wenn Widerstand<br />
wegfällt.“<br />
Text: Meike Schmitz<br />
Jochen Schanotta<br />
von Georg Seidel<br />
‚Jochen Schanotta‘ erzählt die Geschichte eines sehnsuchtsvollen<br />
Verweigerers im Kampf mit der Gesellschaft, dessen utopische Potentiale<br />
sich immer mehr verlieren, der zwischen Aufruhr und Anpassung<br />
schmerzvoll aufgerieben wird. Auch wenn das System heute ein<br />
anderes ist, sind Gefühle sozialer Entfremdung und Vereinzelung wie<br />
auch die Bedrohung gesellschaftlichen Zerfalls gleichsam präsent.<br />
Regie Frank Abt, Bühne Anne Ehrlich,<br />
Kostüme Marie Roth, Dramaturgie Meike Schmitz<br />
Es spielen Simon Brusis, Andreas Döhler, Daniel Hoevels,<br />
Kathleen Morgeneyer, Thomas Schumacher, Natali Seelig<br />
Premiere am 18. Dezember <strong>2011</strong>, Kammerspiele