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Dr. Ulrich Köstlin Rede anläßlich der Absolventenfeier der ...

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<strong>Dr</strong>. <strong>Ulrich</strong> <strong>Köstlin</strong><br />

<strong>Rede</strong> <strong>anläßlich</strong> <strong>der</strong> <strong>Absolventenfeier</strong> <strong>der</strong> Wirtschafts‐<br />

wissenschaftlichen Fakultät <strong>der</strong> Humboldt Universität<br />

am Samstag, den 29. Oktober 2011<br />

Liebe Absolventinnen und Absolventen <strong>der</strong> Betriebs‐ und<br />

Volkswirtschaft, <strong>der</strong>en Anverwandte, Professoren und<br />

Freunde, meine sehr verehrten Damen und Herren,<br />

ich weiß nicht, warum Ihr Dekan Prof. Günther mich für<br />

diese Veranstaltung als Redner ausgesucht hat. Als ich mich<br />

diese Woche auf Ihre Feier vorbereitet habe, ist mir aber<br />

zumindest eine interessante Verwandtschaft zwischen den<br />

Absolventinnen und Absolventen und mir selbst aufgefallen:<br />

Wenn man davon ausgeht, daß wir uns rund ein <strong>Dr</strong>ittel<br />

unseres Lebens ausbilden, ein <strong>Dr</strong>ittel arbeiten und ein<br />

<strong>Dr</strong>ittel <strong>der</strong> Ruhestandsphase widmen, dann stehen Sie, liebe<br />

Absolventinnen und Absolventen, und auch ich selbst an<br />

dem Übergang von einem <strong>Dr</strong>ittel in das nächste. Sie haben<br />

Ihr Ausbildungsdrittel beendet und blicken auf 30‐40 Jahre<br />

spannendes Berufsleben; ich habe in diesem Sommer nach<br />

fast 30 Jahren mein aktives Industrieleben beendet und gehe<br />

voll Spannung an die Gestaltung <strong>der</strong> nächsten Phase. Wir<br />

haben also eine Phasenverschiebung um ein <strong>Dr</strong>ittel, aber<br />

durchaus eine interessante Parallele im Vorwärts‐ und<br />

Rückblick.<br />

Ich möchte mich heute vor allem an die Graduierten wenden<br />

und Ihnen zuerst sehr herzlich zu Ihren Abschlüssen<br />

gratulieren. Vor allem will ich aber mit Ihnen nach vorne<br />

blicken. Ihre Graduierung ist für mich <strong>der</strong> Beginn einer<br />

neuen spannenden Phase in Ihrem Leben; die heutige Feier<br />

also ein Startschuß und kein Schlußpunkt. Und ich möchte<br />

Ihnen Mut machen, sich für diese Lebensphase etwas<br />

vorzunehmen und Ihren im Nebel liegenden Berufsweg aktiv<br />

1


zu gestalten. Die Vorausschau darauf möchte ich in einer<br />

ganz spezifischen Weise machen, und zwar indem ich mit<br />

Ihnen zurückblicke: aus dem Jahr 2050 zurück auf Ihren<br />

erfolgreichen Berufsweg. Da wir alle die Einzelheiten Ihrer<br />

Berufswege noch nicht kennen, werde ich Ihnen an <strong>der</strong><br />

einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Stelle einfach meine eigene Perspektive<br />

des Rückblicks auf 30 Jahre Industrie und 17 Jahre<br />

Vorstandstätigkeit leihen. Der Rückblick aus 2050 fällt mir<br />

übrigens auch deswegen beson<strong>der</strong>s leicht, weil eine<br />

Schweizer Lebensversicherung für mich errechnet hat, daß<br />

ich statistisch noch 36 Jahre Lebenserwartung habe, also das<br />

Jahr 2050 zwar fast, aber nicht ganz erreichen werde.<br />

Deswegen sitze ich gedanklich sozusagen unbeschwert auf<br />

einer Wolke und lasse mich von Ihnen inspirieren.<br />

Ehe ich das tue, wenigstens aber ein kurzes Wort an die<br />

anwesenden Eltern, Verwandten, aber auch die Professoren.<br />

Bei dem Rückblick aus dem Jahr 2050 wird das Studium und<br />

sein Abschluß zu kurz kommen. Ich verkenne aber<br />

keineswegs, wie erleichtert neben den Absolventinnen und<br />

Absolventen auch Sie über den erfolgreichen<br />

Studienabschluß sind. Sie haben dazu erheblich beigetragen,<br />

ideel und finanziell. Ich möchte deshalb auch Ihnen herzlich<br />

gratulieren. Es soll also auch Ihre Feier sein, und Sie können<br />

auf Ihren Beitrag zu diesen Abschlüssen stolz sein und sich<br />

mit den frischgebackenen Graduierten darüber freuen.<br />

Jetzt aber mit einem großen Schritt in das Jahr 2050. Einer<br />

von Ihnen steht hier am Pult bei <strong>der</strong> Graduiertenfeier <strong>der</strong><br />

Humboldt‐Universität und sieht auf sein eigenes<br />

Berufsleben und das seiner Generation zurück. Keiner von<br />

uns kennt die Welt, in <strong>der</strong> er das tut. Ich will auch nicht<br />

spekulieren, ob es dann noch wirtschaftswissenschaftliche<br />

Abschlüsse o<strong>der</strong> gar Fakultäten gibt, o<strong>der</strong> ob die Hälfte o<strong>der</strong><br />

2/3 <strong>der</strong> Absolventinnen und Absolventen aus China und<br />

an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n kommen. Ich weiß es nicht. Amerikaner<br />

würden noch hinzufügen: and if I knew, I would not be here.<br />

2


Die Welt <strong>der</strong> nächsten 30‐40 Jahre und das Jahr 2050 ist vor<br />

allem “unvorhersehbar”.<br />

Sie ist als Welt auch für jeden Einzelnen von uns weitgehend<br />

“unbeeinflussbar”, und das dritte U muß je<strong>der</strong> sich selbst<br />

wählen:<br />

Es steht entwe<strong>der</strong> für “unheimlich” o<strong>der</strong> “unbegrenzte<br />

Möglichkeiten”.<br />

Jetzt möchte ich Ihnen meine eigene Perspektive leihen.<br />

Auch die Welt, in <strong>der</strong> wir heute leben, war vor 30 Jahren<br />

nicht vorhersehbar. Wir haben als Studienabgänger we<strong>der</strong><br />

die Revolution in <strong>der</strong> Kommunikationstechnologie<br />

vorausgesehen noch das Ende des kalten Krieges mit <strong>der</strong><br />

Entstehung völlig neuer Län<strong>der</strong>gruppen. Auch die<br />

Globalisierung und den Aufstieg von China haben wir nicht<br />

gesehen o<strong>der</strong> unterschätzt. Wir tun gut daran, davon<br />

auszugehen, daß wir auch entscheidende Parameter <strong>der</strong><br />

nächsten 30 Jahre, also Ihrer Berufsjahre, nicht voraussehen<br />

werde und uns auf dem Weg darauf einstellen müssen. Ich<br />

versichere, daß das ganz in Ordnung ist, und Sie mir im<br />

eigenen Rückblick zustimmen werden.<br />

Die Unvorhersehbarkeit gilt auch für den eigenen<br />

Lebensweg. Ich selbst habe nie vorausgesehen, daß mein<br />

Unternehmen mich viele Jahre nach Lateinamerika schicken<br />

würde, und mir dieser Kontinent von einer fremden<br />

abenteuerlichen Welt zu einer zweiten Heimat werden<br />

sollte. Ich habe auch die Übernahmeschlacht um Schering<br />

nicht vorausgesehen, die meine letzten fünf Berufsjahre<br />

entscheidend verän<strong>der</strong>t hat. Ihr Dekan, Prof. Günther, hat in<br />

<strong>der</strong> Dankesrede zu seinem 50. Geburtstag am letzten<br />

Mittwoch zweimal das Wort “unglaublich” benutzt, weil er<br />

heute noch staunt, wie unvorhersehbar für ihn bei einem<br />

Berlin‐Besuch und dem Besuch einer Buchhandlung in <strong>der</strong><br />

Ost‐Berliner Spandauer Straße in den 1970ern war, daß er<br />

einst in <strong>der</strong> Humboldt‐Universität lehren und in <strong>der</strong><br />

Heiliggeistkapelle seinen 50. Geburtstag feiern würde.<br />

3


Auch Sie werden in 2050, wie <strong>der</strong> Dekan und ich selbst<br />

heute, über die unglaublichen Verän<strong>der</strong>ungen auf Ihrem<br />

Weg staunen, aber im Rückblick auch sehen, wie Ihre gute<br />

Ausbildung, die wachsende Berufserfahrung und die<br />

Zusammenarbeit mit an<strong>der</strong>en Ihnen geholfen hat, ein Thema<br />

um das an<strong>der</strong>e anzugehen und zu bewältigen und auch aus<br />

den aufgetauchten Chancen etwas zu machen. Wenn es<br />

Ihnen geht, wie mir, dann werden Sie beson<strong>der</strong>s stolz auf<br />

Ihre Rolle bei großen Verän<strong>der</strong>ungen sein und weniger auf<br />

die kontinuierlichen Phasen.<br />

Das zweite U stand für “unbeeinflussbar”, weil viele dieser<br />

externen Verän<strong>der</strong>ungen passieren werden, ob wir sie<br />

wollen o<strong>der</strong> nicht. Wir können und müssen uns selbst<br />

allerdings beeinflussen, uns darauf einstellen. Das heißt, wir<br />

müssen uns flexibel halten und uns selbst verän<strong>der</strong>n, weil<br />

wir in einer unvorhersehbaren Welt unbeeinflussbaren<br />

Verän<strong>der</strong>ungen ausgesetzt sind.<br />

Wir werden in unserem Rückblick 2050 sehen, daß Sie sich<br />

in Ihrem Berufsleben mehr als einmal neu erfinden mußten.<br />

Auch ich mußte mich bei <strong>der</strong> Übernahme von Schering neu<br />

erfinden, mich von vertrauten und geschätzten Kollegen und<br />

Arbeitsprozessen verabschieden und mich mit neuen<br />

anfreunden. Ich gehe übrigens für meine nächste<br />

Lebensphase davon aus, daß dies wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Fall sein wird,<br />

und auch das ist ganz in Ordnung. Bei mir waren es inklusive<br />

<strong>der</strong> Auslandseinsätze und persönlicher Krisen vielleicht 4‐5<br />

Momente des Neu‐Erfindens – gehen Sie davon aus, daß wir<br />

beim Rückblick in 2050 auf noch dramatischere<br />

Verän<strong>der</strong>ungen und wahrscheinlich zahlenmäßig mehr<br />

Situationen des Neu‐Erfindens in Ihren Lebenswegen<br />

zurückblicken: z.B. Unternehmens‐ und Kontinentswechsel,<br />

ganz an<strong>der</strong>e Formen <strong>der</strong> Zusammenarbeit, Arbeit für<br />

Konzernzentralen nicht im heimischen Europa, son<strong>der</strong>n in<br />

Asien und Lateinamerika, stärkere Selbständigkeits‐ und<br />

Projektelemente in Ihrer Arbeit, mehrere unterschiedliche<br />

Karrieren in einem Lebensweg. Als ich im letzten Jahr mit<br />

4


meinem englischen Abitursjahrgang auf die 38 Jahre seit<br />

unseren A‐levels zurückblickte, gab es in den Lebenswegen<br />

vor allem die Gemeinsamkeit, daß je<strong>der</strong> mindestens einen<br />

großen Bruch bewältigt hatte: Eine Berufs‐ o<strong>der</strong> Lebens‐<br />

o<strong>der</strong> Ehekrise, eine schwere Krankheit o<strong>der</strong> den Tod eines<br />

nahen Angehörigen. Aber in allen Fällen mit Betonung auf<br />

“bewältigt”.<br />

Das dritte “U” wollte ich Sie wählen lassen. Es hat nämlich<br />

etwas mit <strong>der</strong> inneren Haltung zu tun, mit <strong>der</strong> man sich<br />

diesen Verän<strong>der</strong>ungen stellt. Sie können sie “unheimlich”<br />

finden und defensiv darauf reagieren. Sie können auch die<br />

“unbegrenzten Möglichkeiten” sehen und aktiv gestalten.<br />

Hier möchte ich Ihnen Mut machen, die Chancen in diesen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen zu sehen. Zwei Beispiele aus meinem Leben,<br />

über die ich im Rückblick beson<strong>der</strong>s glücklich bin und ich<br />

möchte Ihnen wünschen, daß Sie ähnlich glücklich auf<br />

eigene Entscheidungen in Ihrem Berufsleben zurückblicken<br />

werden.<br />

1983 war ich ein junger Trainee in Berlin und bekam den<br />

Anruf von einem Vorstand, daß Schering keinen Nachfolger<br />

für einen Geschäftsführer in Equador hatte und er mir diese<br />

Position anbieten wolle. Ich wußte damals nicht ganz genau<br />

wo Equador in Lateinamerika liegt, sprach kein Spanisch<br />

und wußte nicht, was in dem dortigen Unternehmen genau<br />

zu tun war. Der Anruf und die Aufgabe waren vollständig<br />

unvorhersehbar, die Welt die mich erwarten würde auch.<br />

Daß mir die Sache durchaus unheimlich war, zeigte mir ein<br />

Albtaum kurz vor <strong>der</strong> Ausreise Trotzdem sah ich auch die<br />

unbegrenzten Möglichkeiten dieser beruflichen<br />

Weiterentwicklung und sagte kurzentschlossen zu. Bis heute<br />

sehe ich dies als eine <strong>der</strong> wichtigsten und positivsten<br />

beruflichen Entscheidungen, denn es war die erste mehrerer<br />

Lateinamerika‐Aufgaben und brachte mir eine ungeheuere<br />

Erweiterung meines beruflichen und persönlichen<br />

Horizonts. Das Überlebenstraining in einem extrem volatilen<br />

5


wirtschaftlichen Umfeld Lateinamerikas <strong>der</strong> 80er Jahre mit<br />

hohen Inflations‐ und Abwertungsraten hat mir mein ganzes<br />

Berufsleben lang den Rücken gestärkt. Im Rückblick ist es<br />

beson<strong>der</strong>s wichtig gewesen, daß ich diese Chance ergriffen<br />

habe und nicht zuhause geblieben bin und mich ein ganzes<br />

Leben hätte fragen müssen: was wäre gewesen, wenn ich<br />

damals nach Lateinamerika gegangen wäre. Wenn es schief<br />

gegangen wäre, hätte ich das sicher noch korrigieren<br />

können. Die Chance selbst wäre kein zweites Mal<br />

gekommen.<br />

Ein zweites Beispiel war die Übernahme <strong>der</strong> Schering AG<br />

durch die Bayer AG in 2006, ebenso unvorhersehbar wie<br />

unbeeinflussbar als es passierte. Bayer machte mir zwar<br />

relativ bald ein Angebot, auch dem neuen Vorstand wie<strong>der</strong><br />

anzugehören, aber klar daran war eigentlich nur, daß diese<br />

Tätigkeit vollständig an<strong>der</strong>s als mein Leben als<br />

unabhängiger Dax‐Vorstand sein würde: an<strong>der</strong>e<br />

Vorstandskollegen, an<strong>der</strong>e Mitarbeiter, Weisungsrechte <strong>der</strong><br />

Leverkusener Holding‐Vorstände, an<strong>der</strong>e Arbeitsgebiete<br />

und Produkte und an<strong>der</strong>e Arbeitsabläufe und<br />

Unternehmenskultur. Auch hier möchte ich einen<br />

“unheimlichen” Eindruck nicht verhehlen, aber es war auch<br />

<strong>der</strong> Reiz des Neuen, <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung und <strong>der</strong> Gestaltung<br />

des Neuen da. Ich bin froh, daß ich mich damals aktiv in die<br />

Gestaltung <strong>der</strong> neu fusionierten Bayer Schering Welt<br />

eingebracht habe. Ich sehe dies vielleicht nicht als die<br />

angenehmsten Jahre meines Berufslebens an, aber als die<br />

vielleicht wichtigsten unter dem Aspekt Führung eines<br />

Unternehmens durch Verän<strong>der</strong>ung. Ich bin im eigenen<br />

Rückblick auch beson<strong>der</strong>s stolz auf diese schwierige<br />

Entscheidung des Jahres 2006 und kann Ihnen nur<br />

wünschen, daß wir zusammen in 2050 abgeklärt auf Ihre<br />

Werdegänge zurückblicken, es keine Bitternis über<br />

unvorhergesehene Haarnadelkurven und Brüche gibt,<br />

son<strong>der</strong>n Sie sich dadurch ausgezeichnet haben, daß Sie in<br />

solchen Situationen immer nach vorn geblickt haben und<br />

sich offen, mit Spannung und mit Selbstvertrauen in<br />

6


Verän<strong>der</strong>ungsprozesse eingebracht haben. Die Beobachtung<br />

vieler Kolleginnen und Kollegen während <strong>der</strong> Übernahme<br />

von Schering hat mir übrigens gezeigt, daß diejenigen, die<br />

diese innere Haltung entwickelt haben, am erfolgreichsten,<br />

aber auch am zufriedensten waren.<br />

Wir sollten uns 2050 auch darüber austauschen, was in<br />

unseren Berufswegen die wichtigsten Erkenntnisse waren.<br />

In meinem eigenen Rückblick ist es neben <strong>der</strong> schon<br />

erwähnten inneren Haltung zu Verän<strong>der</strong>ungen die<br />

Bedeutung des gesunden Menschenverstandes. Die<br />

Erwähnung dieses Punktes fällt mir beson<strong>der</strong>s schwer in<br />

Anwesenheit Ihrer Professoren, die sich ja nach Kräften<br />

bemüht haben, Ihren gesunden Menschenverstand<br />

wissenschaftlich und professionell zu überformen. Das<br />

wollen wir auch 40 Jahre später bei unserem Rückblick noch<br />

rühmen, aber aber ich bin sicher, daß Sie bei dieser<br />

Gelegenheit ebenfalls feststellen, daß Sie Ihre wichtigsten<br />

beruflichen Entscheidungen mit Ihrem gesunden<br />

Menschenverstand getroffen haben. Wissenschaftlich hat<br />

dies übrigens Nähe zur Wie<strong>der</strong>entdeckung des sog.<br />

“ehrbaren Kaufmanns”, also eines fiktiven Unternehmers,<br />

<strong>der</strong> sich von gesunden menschlichen Überlegungen und<br />

ethischen Prinzipien leiten läßt. Ein kluger Hamburger<br />

Banker hat mir einmal gesagt, er hätte die Finger immer von<br />

Dingen gelassen, von denen seine Mutter gesagt hätte “Da<br />

hängt kein Segen dran”. Daran mußte ich in <strong>der</strong><br />

gegenwärtigen Bankenkrise immer wie<strong>der</strong> denken. Und ich<br />

selbst kann Sie nur ermutigen, sich in entscheidenden<br />

Situationen eine Vertrauensgestalt aus Ihrem persönlichen<br />

Umfeld vorzustellen, vorzugsweise jemanden, <strong>der</strong> nicht im<br />

Geschäftsleben steht, z.B. eine Großmutter, und sich zu<br />

fragen, wie diese die Situation entschieden hätte. Sie werden<br />

über die Klarheit <strong>der</strong> Lösungswege erstaunt sein.<br />

Ein kurzes Beispiel aus meinem eigenen Rückblick:<br />

1994 wollte Schering sich von seinem Distributor Leiras in<br />

Finland trennen und das Geschäft dort selbst betreiben. Die<br />

7


Verhandlungen waren schwierig und auch konfliktiv<br />

gewesen, führten am Schluß aber zu einem<br />

Auflösungsvertrag. Kurz nach Unterschrift feierte Leiras,<br />

eine <strong>der</strong> wichtigsten nationalen Pharmafirmen in Finland<br />

sein 60jähriges Firmenjubiläum und schickte mir eine<br />

persönliche Einladung. Die Feier sollte an einem<br />

Wochenende Anfang Januar sein, eine Jahreszeit mit<br />

geringer touristischer Attraktivität für eine Finland Reise.<br />

Mit An‐ und Abreise war das ganze Wochenende weg, und<br />

für die Unterschrift unter den Vertrag, die ja schon erfolgt<br />

war, war die Reise auch irrelevant. Es war gleichzeitig durch<br />

die Form <strong>der</strong> Einladung aber auch deutlich, daß es dem<br />

Leiras Management und ihrer Muttergesellschaft Huhtamäki<br />

persönlich und gesellschaftlich wichtig war, ausländische<br />

Geschäftspartner bei dieser Feier dabeizuhaben. Schweren<br />

Herzens stellte ich mir die “Großmutter”‐Frage, und es war<br />

klar, daß meine damals schon nicht mehr lebende<br />

Stuttgarter Großmutter mir sagen würde: “Buele, da muscht<br />

hinfahre.” Das tat ich auch, aus reinen menschlichen und<br />

Anstandsgefühlen und nicht so sehr aus geschäftlicher<br />

Raison.<br />

Es stellte sich heraus, daß ich offensichtlich <strong>der</strong> einzige<br />

ausländische Geschäftspartner gewesen war, <strong>der</strong> die<br />

Großmutter‐Frage gestellt hatte, denn außer mir war kein<br />

an<strong>der</strong>er gekommen, wohl aber war inklusive des<br />

Staatspräsidenten ganz Finland anwesend. Der<br />

Vorstandsvorsitzende <strong>der</strong> schwedischen Pharmacia‐Firma,<br />

die enge Geschäftsverbindungen unterhielt, hatte ein Video<br />

mit einer Grußbotschaft geschickt, die in Anwesenheit des<br />

Staatspräsidenten in <strong>der</strong> Oper von Helsinki auf einer<br />

Leinwand abgespielt wurde. Aber das war natürlich nicht<br />

dasselbe wie ein Händeschütteln mit einem lebendigen<br />

Geschäftspartner.<br />

Kurz, die Finnen waren sehr dankbar für meine Reise und<br />

ich selbst hatte meine kalten und nassen Füße im<br />

Schneematsch vor <strong>der</strong> Oper schon fast wie<strong>der</strong> vergessen, als<br />

am Montagmorgen <strong>der</strong> Vorstandsvorsitzende von<br />

8


Huhtamäki in meinem Büro anrief, um mir nochmals zu<br />

danken und mir zu sagen, daß man in geheimen<br />

Verkaufsverhandlungen mit Pharmacia über die Firma<br />

Leiras stünde und ein etwas schlechtes Gewissen hätte, uns<br />

als möglichem weiteren Interessenten nicht Bescheid gesagt<br />

zu haben. Man sei aber jetzt so beeindruckt von <strong>der</strong><br />

menschlichen Geste meines Besuchs, daß man uns bei<br />

Interesse noch die Möglichkeit geben wolle, in den Prozess<br />

einzusteigen und den Verhandlungsstand von Pharmacia<br />

einzuholen.<br />

An diesem Punkt setzt wie<strong>der</strong> die nüchterne<br />

Betriebswirtschaft ein. Unser Interesse war groß, hatte<br />

Leiras doch ein hochinteressantes neues Produkt für die<br />

Fertilitätskontrolle. Wir stiegen noch in <strong>der</strong> gleichen Woche<br />

in den Prozess ein und waren trotz des starken<br />

Wettbewerbs mit Pharmacia in <strong>der</strong> Lage, Leiras einige<br />

Monate später zu kaufen. Das Produkt, Mirena, ist heute<br />

eines <strong>der</strong> 5 größten Pharmaprodukte von Bayer Pharma und<br />

ein Eckstein in dem Geschäft Womens Health.<br />

Einen letzten Punkt sollten wir uns bei unserem<br />

gemeinsamen Rückblick in 40 Jahren noch fragen. Ich hoffe<br />

es zumindest und wünsche es Ihnen. Warum waren Sie in<br />

den letzten 40 Berufsjahren so erfolreich? War es Ihre<br />

exzellente Ausbildung an <strong>der</strong> Humboldt‐Universität, die in<br />

vielen Stationen und auf verschiedenen Kontinenten<br />

gesammelte breite Berufserfahrung o<strong>der</strong> Ihre<br />

Persönlichkeit? Die wahrscheinlichste Antwort ist natürlich,<br />

daß alle drei Faktoren eine Rolle gespielt haben. In meinem<br />

eigenen Rückblick ist dies auch <strong>der</strong> Fall, mit <strong>der</strong> Erkenntnis,<br />

daß die eigene, unverwechselbare Persönlichkeit gerade in<br />

schwierigen Führungssituationen beson<strong>der</strong>s an Gewicht<br />

gewonnen hat. Daß die Mitarbeiter mir während <strong>der</strong><br />

Übernahmeschlacht um Schering und <strong>der</strong> folgenden<br />

schwierigen Integration auf dem von mir eingeschlagenen<br />

Weg gefolgt sind, hatte weniger etwas mit meiner<br />

Ausbildung o<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> bis dahin gesammelten<br />

9


Berufserfahrung zu tun, son<strong>der</strong>n mehr mit einem<br />

gewachsenen Vertrauen in meine Person. Bei meinem<br />

Abschied wurde mir vielfach bescheinigt, daß Kollegen und<br />

Mitarbeiter mich in <strong>der</strong> damaligen Situation als fair,<br />

transparent, authentisch und unabhängig gesehen haben.<br />

Ich halte auch im eigenen Rückblick und im Blick auf die<br />

bedeutendsten meiner Kollegen unsere Persönlichkeits‐<br />

entwicklung während <strong>der</strong> vielen Berufsjahre für unsere<br />

wichtigste Errungenschaft, insbeson<strong>der</strong>e wenn es gelungen<br />

ist, einer großen Fachkompetenz eine ebenso große<br />

emotionale Kompetenz hinzuzugesellen. Ich wünsche Ihnen,<br />

daß Sie ähnlich auf den eigenen Weg zurückblicken, muß<br />

Ihnen aber sagen, daß die Persönlichkeit sich nicht nur von<br />

alleine entwickelt, son<strong>der</strong>n ebenfalls Aufmerksamkeit und<br />

liebevoller Sorge bedarf. In meinem Fall war beson<strong>der</strong>s<br />

wichtig, daß ich neben einem intensiven Berufsleben auch<br />

persönliche Interessen insbeson<strong>der</strong>e in Kunst und Kultur<br />

kontinuierlich gepflegt habe. Das hat mir neben den<br />

beruflichen Kontakten und Erfahrungen ganz an<strong>der</strong>e und<br />

komplementäre Kontakte und Erkenntnisse vermittelt und<br />

mich innerlich unabhängiger von meiner Berufswelt<br />

gemacht. Diese Breite und Unabhängigkeit ist in allen <strong>Rede</strong>n<br />

zu meinem Abschied als beson<strong>der</strong>es Merkmal meiner<br />

Persönlichkeit angesprochen worden. Und ich kann Ihnen<br />

wie<strong>der</strong>um aus vielen Diskussionen um die Besetzung<br />

wichtiger Positionen in den Konzernen Schering und Bayer<br />

sagen, daß dort die Diskussion um das Persönlichkeitsprofil<br />

<strong>der</strong> Kandidaten meist entscheidend gegenüber Ausbildung<br />

o<strong>der</strong> Berufserfahrung war. An dieser Stelle also ein Appell,<br />

sich immer wie<strong>der</strong> kritisch während <strong>der</strong> nächsten 30‐40<br />

Jahre zu fragen, ob Sie <strong>der</strong> Entwicklung Ihrer Persönlichkeit<br />

ebensoviel Gedanken und Energie widmen, wie Ihrer<br />

Karriere im engeren Sinne, und ob Ihre Persönlichkeit mit<br />

den Aufgaben parallel mitwächst. Stellen Sie sich einfach die<br />

Frage, welche Dinge bis zum jeweiligen Zeitpunkt Ihre<br />

Persönlichkeit am positivsten beeinflußt haben o<strong>der</strong> besser<br />

10


noch, fragen Sie ihr Umfeld, und stellen Sie sicher, daß sie in<br />

diese Richtung weiterarbeiten.<br />

Als kleine Motivation noch die Anmerkung aus meiner<br />

heutigen Perspektive und Ihrer Perspektive von 2050 nach<br />

vorne, daß natürlich die eigene Persönlichkeit, so wie sie<br />

sich bis 2050 entwickelt hat, <strong>der</strong> wesentliche Faktor für ein<br />

glückliches Gestalten Ihrer nächsten auf das Berufsleben<br />

folgenden Phasen ist, die ja bei <strong>der</strong> Lebenserwartung Ihrer<br />

Generation nochmals mindestens 30‐40 Jahre einnehmen<br />

werden.<br />

Ich möchte mich an dieser Stelle bedanken, daß Sie meinen<br />

Ausführungen so aufmersam gefolgt sind und werde Sie<br />

bitten, gleich aus dem Jahr 2050 wie<strong>der</strong> zum 29. Oktober<br />

2011 und <strong>der</strong> Verleihung Ihrer Urkunden zurückzukehren.<br />

Zwei Dinge würden mich persönlich beson<strong>der</strong>s freuen:<br />

Erstens, wenn mehrere aus Ihrem Kreis so erfolgreich sind,<br />

daß sie gefragt werden, die Rednerposition bei den<br />

Graduiertenfeiern 2040 bis 2050 einzunehmen, und<br />

zweitens wenn unser gemeinsamer Rückblick auf Ihre<br />

erfolgreichen Berufswege Sie in den nächsten Jahren<br />

mutiger, aber auch gelassener an <strong>der</strong>en Gestaltung gehen<br />

läßt. Dafür wünsche ich Ihnen alles Gute.<br />

11

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