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zett Magazin Februar / März

Magazin für Stadtkultur Schlachthof / Lagerhaus

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Jens Laloire<br />

OH MEIN UTOPIA<br />

VER<br />

ZETT<br />

ELT<br />

In feiner Regelmäßigkeit keimt eine gewisse Sehnsucht in mir auf – und zwar<br />

immer dann, wenn meine Mailpostfächer überquellen, das Mobilgerät dauervibriert,<br />

die To-do-Liste auswuchert, sich die Facebook-Gemeinde in Rage redet, die Bild-Titelseiten<br />

meinen Puls hochtreiben und ich bei einer kurzen Radfahrt durch die Stadt<br />

ein gutes Dutzend Mal fast über den Haufen gefahren werde. Wenn all das zusammenkommt,<br />

dann ist es wieder soweit, dann sehne ich mich nach einer kleinen<br />

Hütte auf einem Hügel irgendwo im Niemandsland.<br />

Weit und breit keine Menschenseele, keine Asphaltrennstrecken für SUVs, kein<br />

Internet, kein Facebook, kein Mobiltelefon! Tagsüber säße ich vor der Hütte, schaute<br />

zu den Wiesen hinaus, wo Hase, Reh und Fuchs miteinander Fangen spielten,<br />

oder läge einfach nur im Gras, um dem Wind zu lauschen. Am späten Nachmittag<br />

schriebe ich an dem einen Brief, den ich pro Monat per Brieftaube an meine Familie<br />

schickte, und abends säße ich am Lagerfeuer, knackte zusammen mit einem Eichhörnchen<br />

Nüsse und ließe mir von einem Igel den Rücken kratzen, während eine<br />

Nachtigall ein Lied von Leonard Cohen zwitscherte. So sähe es aus, mein alternatives<br />

Leben – und eigentlich spricht alles für dieses Leben.<br />

Doch immer dann, wenn ich endlich bereit scheine, diese Utopie zu verwirklichen,<br />

simst mir ein lieber Mensch einen Smiley, laden mich Freunde per Mail zum<br />

Essen ein, postet jemand bei Facebook einen Konzerttermin meiner Lieblingsband;<br />

und dann denke ich, während im Hintergrund via Youtube ein famoser Song läuft,<br />

dass die Welt, in der ich lebe, doch eigentlich gar nicht so übel ist und dass die<br />

Menschen, denen ich in diesem Kosmos begegne, in erster Linie herzensgute Wesen<br />

sind. Und während ich auf dem Sofa liege und der Musik lausche, spüre ich, dass<br />

alles bloß eine Frage der Perspektive ist und dass ich genauso gut hier bleiben kann.<br />

So eine Stadtflucht wäre doch keine Lösung, wäre vielmehr eine Kapitulation –<br />

und vor allem wüsste ich überhaupt nicht, wie man ganz alleine eine Hütte zusammenzimmert<br />

(zumindest nicht ohne Anleitungsvideo aus dem Internet).

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