zMA GA ZIN J e n s - U l r i c h D a v i d s geb. 1942 in Hamburg, Studium der Anglistik, Germanistik sowie der Kulturwissenschaft ebendort, in Bangor (North Wales) und Tübingen. 1970–1973 Professor of German (in Wahrheit: Deutschlehrer) am Institute of Technology in Madras (Chennai), Indien. Danach Akademischer Rat im Fach Anglistik an der Universität Oldenburg bis 2004. Mitglied in der Schreibgruppe ›Wortlaut‹ und Vorstandsmitglied im ›Bremer Literaturkontor e.V.‹. Schreibt Gedichte, Kurzgeschichten und Romane. F o t o : MARINA LILIENTHAL 12 F Ü R S T A D T K U L T U R DER GUTE JOGGER V O N J E N S - U L R I C H D A V I D S Mir war der Mann schon im Frühjahr aufgefallen, wie er da neben der Bank stand, als ich vorbeilief, mit dem Rücken zu mir. Und dann hab ich ihn oft gesehen. Einmal stand er da, es tropfte von den Blättern über ihm, er stand da, den Blick ins Gebüsch gerichtet, und zog den Reißverschluss seiner Windjacke hoch. Es war kalt und an diesem Tag tat er mir zum ersten Mal Leid. Am selben Nachmittag fuhr ich runter zur Weser. Ich musste ein paar Minuten auf die Fähre warten und sah hoch zu dem blauen Neonwinkel neben der Anlegestelle. Sie erinnern sich? Viele haben ihn ja für ein Firmenlogo gehalten, so wie Fluggesellschaften einen Adler oder Kranich haben. Für mich war er immer wie der Okayhaken, mit dem ich in Schülerheften zeige, dass ich etwas richtig gut finde. Oder auch ein halber Pfeil, ein Fluchtzeichen, hier geht es ins Freie und Weite, verstehen Sie? Dies hier ist aus dem Abschlussbericht meiner Therapeutin vom letzten Herbst, ich les mal ein paar Absätze, damit Sie mich verstehen. ›Gerhardt S. war schon als Schüler politisch aktiv, Straßenbahnkämpfe, Protest gegen die Mozarttrasse. Später trat er in eine K-Gruppe ein, verlor schnell den Glauben, trat wieder aus und widmete sich ausschließlich der Schule. Um sie zu bestehen, wurde er nach eigener Meinung über die Jahre immer autoritärer und strenger. Was ihn dabei ziemlich unglücklich sein ließ, war die Sorge um den Lauf der Welt.‹ Klingt verrückt, stimmt aber. Das war zwanghaft. Ich mochte mich nicht mehr. Ich fühlte mich im ganzen Körper matt und unwürdig, weil ich nichts ändern konnte und immer noch nicht kann, nicht am Klima, nicht am Irakkrieg der Amis, nicht an Hartz IV. Sie gab mir dann einen Rat, der steht nicht im Bericht. Tun die ja eigentlich nicht. Ich sollte das große Ganze vergessen und im Kleinen wirken. Gutes tun in der Stille. Nicht in pädagogischer Absicht, das wäre Beruf: Im Privaten müsste es geschehen und es sollte etwas ganz Persönliches, geradezu Körperliches dabei sein. Einmal, im Oktober, stand vor ihm aufgeklappt ein brauner Koffer mit Schnappschlössern und Metallkappen auf den Ecken. ›Moin‹, sagte ich und blieb stehen. ›Das war ’ne ziemlich kalte Nacht, oder?‹ Der Mann drehte sich um. Aus großen braunen Augen sah er mich an. Ein Gitternetz von Fältchen zog sich über beide Wangen. Sein Gesicht war rotbraun. Er trug eine schwarze Prinz Heinrich-Mütze mit aufgesticktem Anker. ›Alles easy‹, sagte ich und fing an, auf der Stelle zu laufen. ›Solange die Gelenke das mitmachen.‹ Der Mann drehte sich wieder zu seinem Koffer. Der Winter kam und ging. Unterricht, Klassenarbeiten, Pisa in aller Munde. Ob er irgendwo warm und trocken schlafen konnte? Wo kriegte er Geld her? Ich wusste nichts über ihn und eigentlich wollte ich es so genau auch nicht wissen. Aber ich hatte ja diesen Auftrag. Ich lief im April, ich lief im Mai und wenn ich ihn sah, grüßte ich ihn. Aber das reichte F o t o : LARS KAISER halbzeitwissen WRITER’S CORNER nicht. Einmal brachte ich ihm eine Thermoskanne mit Tee. ›Ich würde gern mit Ihnen einen kleinen Ausflug machen‹, sagte ich zu seinem Rücken, ›nur ein, zwei Stunden, wie fänden Sie das?‹ Der Mann drehte sich mit einem Ruck um. ›Warum denn das?‹ Er hatte die Stirn misstrauisch gefaltet. ›Verzeihung, ich, ich möchte das gern‹, sagte ich. Hätte ich ihm gestehen sollen, dass ich ihn als Gelegenheit sah, meine innere Balance zu finden? Vier Montage später sagte er plötzlich: ›Über die Weser, geht das? Mit der Fähre.‹ Diesmal kam ich zu Fuß. Er stand mit seinem Koffer neben der Bank und blickte mir entgegen. ›Der muss mit auf die Reise‹, sagte er. Reise? Das konnte ja heiter werden. Er ging mit rollendem Gang neben mir her. Manchmal sah er mich an und lächelte. ›Guter Tag‹, sagte er und blinzelte. Er sah korrekt und bieder aus, graue Windjacke über blauer Hose, schwarze Schuhe, schwarze Mütze, graue Haare. Die Weser lag in der Sonne. Ein Lastschiff schob sich flussaufwärts. Der Mann zeigte auf den blauen Neonhaken. ›Super‹, sagte er, ›genau richtig.‹ Wir gingen den Weg zum Schiff hinunter. ›Hin und zurück‹, sagte er. Der Skipper machte seine Kreuze auf meiner Zehnerkarte, die Maschine wurde lauter, dann waren wir schon drüben. Leute stiegen ein, wir tuckerten zurück. An der Landestelle, als wir schon wieder über Steine gingen, zog der Mann mich am Ärmel. ›Super‹, sagte er, ›nochmal, bitte.‹ Und guckte richtig dankbar. Wir gingen zurück an Bord. ›Zweimal, bitte‹, sagte ich. ›Hin und zurück‹, sagte der Mann. Wir gingen bis in die Spitze des Schiffchens. Er stellte den Koffer ab, kletterte auf das Schanzkleid und richtete sich auf. Wie im Titanic-Film, dachte ich, bloß waren es da zwei und die waren viel hübscher. Der Mann stand still wie eine Galionsfigur. ›Ich bin aus Holz‹, rief er in den Wind, ›ich segle, ich geh nicht unter.‹ Armer Kerl, dachte ich, aber es tut ihm sicher gut. Dann kletterte er umständlich herunter, nahm seinen Koffer und wir gingen mit den andern Passagieren an Land. Und jetzt kommt’s, passen Sie gut auf, Herr Kommissar. Unter dem blauen Haken blieb er stehen, bis wir allein waren. Er sah mich an, dann legte er seinen Koffer auf den Boden, öffnete ihn und holte einen faustgroßen Stein heraus. Er wog ihn in der rechten Hand und trat ein paar Schritte zurück. Ich wurde ganz aufgeregt. ›Was soll denn das werden? Was machen Sie da?‹, fragte ich. Er sah mich ein bisschen mitleidig an, holte aus und warf mit aller Kraft. Die blaue Neonröhre zerknallte und Splitter fielen mir vor die Füße. Der Mann ließ die Kofferschlösser schnappen. ›He he he‹, sagte ich, ›so geht das aber nicht.‹ ›Doch‹, sagte der Mann, ›so geht das. Und wenn nicht jetzt, wann dann?‹, und ging davon. Nach einigen Schritten drehte er sich um. ›Danke‹, sagte er, ›war echt super.‹ Später haben Sie ihn dann ja aus dem Wasser gefischt. Ich war das aber nicht.
13 Jens Laloire OH MEIN UTOPIA VER ZETT ELT In feiner Regelmäßigkeit keimt eine gewisse Sehnsucht in mir auf – und zwar immer dann, wenn meine Mailpostfächer überquellen, das Mobilgerät dauervibriert, die To-do-Liste auswuchert, sich die Facebook-Gemeinde in Rage redet, die Bild-Titelseiten meinen Puls hochtreiben und ich bei einer kurzen Radfahrt durch die Stadt ein gutes Dutzend Mal fast über den Haufen gefahren werde. Wenn all das zusammenkommt, dann ist es wieder soweit, dann sehne ich mich nach einer kleinen Hütte auf einem Hügel irgendwo im Niemandsland. Weit und breit keine Menschenseele, keine Asphaltrennstrecken für SUVs, kein Internet, kein Facebook, kein Mobiltelefon! Tagsüber säße ich vor der Hütte, schaute zu den Wiesen hinaus, wo Hase, Reh und Fuchs miteinander Fangen spielten, oder läge einfach nur im Gras, um dem Wind zu lauschen. Am späten Nachmittag schriebe ich an dem einen Brief, den ich pro Monat per Brieftaube an meine Familie schickte, und abends säße ich am Lagerfeuer, knackte zusammen mit einem Eichhörnchen Nüsse und ließe mir von einem Igel den Rücken kratzen, während eine Nachtigall ein Lied von Leonard Cohen zwitscherte. So sähe es aus, mein alternatives Leben – und eigentlich spricht alles für dieses Leben. Doch immer dann, wenn ich endlich bereit scheine, diese Utopie zu verwirklichen, simst mir ein lieber Mensch einen Smiley, laden mich Freunde per Mail zum Essen ein, postet jemand bei Facebook einen Konzerttermin meiner Lieblingsband; und dann denke ich, während im Hintergrund via Youtube ein famoser Song läuft, dass die Welt, in der ich lebe, doch eigentlich gar nicht so übel ist und dass die Menschen, denen ich in diesem Kosmos begegne, in erster Linie herzensgute Wesen sind. Und während ich auf dem Sofa liege und der Musik lausche, spüre ich, dass alles bloß eine Frage der Perspektive ist und dass ich genauso gut hier bleiben kann. So eine Stadtflucht wäre doch keine Lösung, wäre vielmehr eine Kapitulation – und vor allem wüsste ich überhaupt nicht, wie man ganz alleine eine Hütte zusammenzimmert (zumindest nicht ohne Anleitungsvideo aus dem Internet).