Glareana_60_2011_#1
Johannes Keller Das "Cimbalo Cromatico" - Materialsammlung und Erlebnisbericht S. 4-34 Viktor Schubiger "Glareana" - über den Namen unserer Gesellschaftsnachrichten S. 35-39 Buchbesprechung Sammlerglück - Warum sammelt der Mensch? (jf) S. 40-41 Neue CDs (td) S. 42-43 In Memoriam: Hannes Paul Scherrer (26. Okt. 1925 - 8. jan. 2011) (Georg F. Senn) S. 44-46 Peter Zünd Edelmann-Sammlung im Museum Ackerhus in Ebnat-Kappel S. 47
Johannes Keller
Das "Cimbalo Cromatico" - Materialsammlung und Erlebnisbericht
S. 4-34
Viktor Schubiger
"Glareana" - über den Namen unserer Gesellschaftsnachrichten
S. 35-39
Buchbesprechung
Sammlerglück - Warum sammelt der Mensch? (jf)
S. 40-41
Neue CDs (td)
S. 42-43
In Memoriam: Hannes Paul Scherrer (26. Okt. 1925 - 8. jan. 2011) (Georg F. Senn)
S. 44-46
Peter Zünd
Edelmann-Sammlung im Museum Ackerhus in Ebnat-Kappel
S. 47
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
GLAREANA<br />
Nachrichten der Gesellschaft der Freunde alter Musikinstrumente<br />
<strong>2011</strong> <strong>60</strong>. Jahrgang Heft 1<br />
Editorial 3<br />
Das „Cimbalo Cromatico” - Materialsammlung und Erlebnisbericht<br />
von Johannes Keller<br />
„<strong>Glareana</strong>“ - über den Namen unserer Gesellschaftsnachrichten<br />
von Viktor Schubiger<br />
Buchbesprechung: Sammlerglück - Warum sammelt der Mensch?<br />
4<br />
35<br />
40<br />
Neue CDs 42<br />
In Memoriam: Hannes Paul Scherrer 44<br />
Edelmann-Sammlung im Museum Ackerhus in Ebnat-Kappel<br />
von Peter Zünd<br />
47<br />
Zu verkaufen 47
2 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
Impressum:<br />
<strong>Glareana</strong><br />
Nachrichten der Gesellschaft der<br />
Freunde alter Musikinstrumente<br />
Herausgeber:<br />
Gesellschaft der Freunde alter<br />
Musikinstrumente, Zürich (GEFAM)<br />
Postfach 109<br />
CH – 4007 Basel<br />
info@gefam.ch / www.gefam.ch<br />
Redaktion und Satz:<br />
Jörg Fiedler / jf<br />
joerg.fiedler@bluewin.ch<br />
Druck: Linsenmann & Gissler, Allschwil<br />
Die <strong>Glareana</strong> erscheint zweimal jährlich<br />
ISSN 16<strong>60</strong>-2730
Editorial 3<br />
Editorial<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
man sieht ihr das Alter nicht an, nicht wahr? Sie lässt’s auch nicht langsamer<br />
angehen (aber quirliger Aktionismus war auch nie ihr Ding – das hätte auch<br />
kaum zu ihren Interessen gepasst; Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit, das ist<br />
es!). Und wenn man ihr den Puls respektive auf den Zahn fühlt, spricht nichts<br />
dagegen, dass sie uns noch eine ganze Weile erhalten bleiben wird:<br />
<strong>60</strong> Jahre wird die GEFAM in diesem Jahr!<br />
Wie so manchesmal wird der runde Geburtstag nicht an die grosse Glocke<br />
gehängt – auch mir fiel der Umstand erst beim Anpassen der Jahrgangsnummer<br />
vorn auf diesem Heft wieder ins Bewusstsein. <strong>60</strong> Jahre GEFAM: das zeugt<br />
(neben grosser Verlässlichkeit ihrer „tragenden Säulen”) auch davon, dass die<br />
Faszination alter Instrumente und alter Musik eben durchaus keine kurzlebigen<br />
Produkte einer Mode sind. „Wer nicht in 3000 Jahren sich weiß Rechenschaft<br />
zu geben, bleibt im Dunkeln unerfahren”, formulierte der Weimarer Geheimrat<br />
bereits vor zwei Jahrhunderten, wie immer kategorisch. Nun, auch<br />
1000 Jahre Musikgeschichte sind schon Stoff genug, und die GEFAM hat während<br />
<strong>60</strong> Jahren unermüdlich in die Ecken dieser Zeiten hineingeleuchtet. Als<br />
kleines Licht, da gibt es nichts zu beschönigen – aber doch als eines, das man<br />
nicht unter den Scheffel stellen sollte. Passend zum Geburtstag bietet übrigens<br />
der Artikel von Viktor Schubiger über Heinrich Loriti aus Mollis, genannt<br />
Glarean (den Namenspatron des vorliegenden Periodikums) einige Anmerkungen<br />
aus der Anfangszeit der GEFAM. Und in dem von Ueli Halder<br />
vorgelegten Buch über das Sammlerglüc schliesslich fällt das Stichwort, das<br />
die raison d’être und tiefere Aufgabe dieser Gesellschaft beschreibt wie wohl<br />
kein zweites: „kulturelles Gedächtnis”.<br />
In diesem Sinne sei (zumindest in Gedanken) ein Glas gehoben auf diese<br />
kleine, aber offenbar lebenstüchtige Gemeinschaft von Begeisterten, Faszinierten,<br />
Interessierten: ad multos annos!<br />
Es grüsst Sie herzlich<br />
Ihr
4 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
Das „Cimbalo Cromatico”<br />
Materialsammlung und Erlebnisbericht<br />
von Johannes Keller<br />
Dieser Artikel soll einen Einblick in die vielschichtige Welt der chromatischenharmonischen<br />
Musik und der dafür erforderlichen Instrumente vermitteln.<br />
Es ist nicht einfach, von dieser Welt eine Karte zu zeichnen. Es sind zahlreiche<br />
und umfangreiche Gebiete beteiligt (wie Instrumentenkunde, Aufführungspraxis,<br />
Notationskunde, historische Stimmungssysteme, historische<br />
Satzlehre, um nur die wichtigsten zu nennen), die jedes für sich schon komplexe<br />
und kaum abschliessend zu behandelnde Gebiete sind. Ausserdem versinken<br />
einige wichtige Zonen dieser Weltkarte im Nebel der Musikgeschichte.<br />
So verstehe ich mich denn auch weniger als Kartograf denn als Entdeckungsreisender,<br />
der an dieser Stelle einen kurzen Erlebnisbericht vorlegen<br />
darf.<br />
In diesem Artikel versuche ich mit zwei Strategien, die Informationsflut<br />
bekömmlich zu machen. Zum einen schränke ich das Gebiet inhaltlich auf die<br />
Tasteninstrumente und zeitlich auf die Epoche zwischen Mitte des 16. und<br />
Ende des 17. Jahrhunderts ein. Zum andern versuche ich komplexe Theorien<br />
vereinfachend darzustellen bzw. anzusprechen. Verweise auf das ausführliche<br />
Literaturverzeichnis sollen dazu beitragen, den hoffentlich angeregten Appetit<br />
auf weitere Studien befriedigen zu können.<br />
Mein Ziel ist es, zwei schlichte, aber durchaus folgenreiche Erkenntnisse<br />
zu vermitteln:<br />
Erstens, dass Instrumente mit erweiterten Tonvorräten Gemeingut waren<br />
und in bestimmten Regionen selbstverständlicherweise den praktischen Musikern<br />
zur Verfügung standen.<br />
Zweitens, dass die gesamte Aufführungspraxis des 16. und 17. Jahrhunderts<br />
vom Konzept der Vieltönigkeit (im Sinne von Tonsystemen mit mehr als<br />
12 Tönen pro Oktave) durchdrungen ist, dass dieses mithin keinen experimentellen<br />
Spezialfall darstellt.<br />
Es geht mir darum, zu zeigen, wo die Grenze zwischen exotischem, intellektuell-theoretischem<br />
Experimentieren und üblicher Alltagspraxis gezogen<br />
werden kann. Und ich möchte insbesondere dazu anregen, bekanntes Reper-
Das „Cimbalo Cromatico” 5<br />
toire auf bislang unbekannte, vieltönige Aspekte hin zu untersuchen, es dadurch<br />
neu zu entdecken und in anderen Farben zu sehen und zu hören.<br />
Den Begriff der „Vieltönigkeit” 1 übernehme ich von Martin Kirnbauer 2 .<br />
Ihm und Markus Krebs danke ich herzlich für die inhaltliche und handwerkliche<br />
Unterstützung bei meinen Expeditionen.<br />
Tour d’horizon<br />
Es gibt keine einheitliche Terminologie der Tasteninstrumente mit erweiterten<br />
Klaviaturen. Zur Verdeutlichung dienen einige Beispiele aus der Literatur<br />
zwischen 1555 und 2002. Die Liste ist willkürlich zusammengestellt.<br />
„Archicembalo” 3 Nicola Vicentino 4 , 1555<br />
„Tastatura quinqueformis<br />
panarmonico-metathetica”<br />
„Cimbalo Cromatico”<br />
Michael Bulyowsky 5 , 1711<br />
Ascanio Mayone 6 , 1<strong>60</strong>9 / Giovanni Trabaci<br />
7 , 1615 / Gioan Pietro del Buono 8 ,<br />
1641<br />
„Cembalo Pentarmonico” Giovanni Battista Doni 9 , 1647<br />
1<br />
Auf den Ausdruck Mikrotonalität verzichte ich, da er suggeriert, dass das Konzept der<br />
Teilung von Intervallen in Kleinst-Intervalle im Vordergrund steht. Es geht hier aber<br />
vielmehr darum, durch konsequentes Hinzufügen von grösseren Intervallen (üblicherweise<br />
der grossen Terz) viele Töne zu bekommen, die eher als Nebenprodukt tatsächlich<br />
Mikrointervalle entstehen lassen.<br />
2<br />
Siehe Kirnbauer 2002 und Kirnbauer 2010.<br />
3<br />
Manchmal auch „Arcicembalo” genannt; es werden übrigens auch „Arciorgani” beschrieben.<br />
4<br />
Siehe Vicentino 1555, das „Arcicembalo” wird mit 36 über zwei Manuale verteilten Tasten<br />
pro Oktave beschrieben.<br />
5<br />
Siehe Bulyowsky 1711.<br />
6<br />
Siehe Mayone 1<strong>60</strong>9, das 14. Stück ist eine „Toccata Quarta per il Cimbalo Cromatico”.<br />
7<br />
Siehe Trabaci 1615, Toccata Terza, & Ricercar Sopra il Cimbalo Cromatico.<br />
8<br />
Siehe Del Buono 1641, der „Obligo LXIII” ist mit „Obligo a tutte le parti di semibrevi, e<br />
minime, che toccano del cromatico.” bezeichnet und die „Sonata VII” (im letzten Teil der<br />
Sammlung) hat den Titel „Stravagante, e per il cimbalo cromatico.”<br />
9<br />
Siehe Doni 1647.
6 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
„Clavier harmonique”, „Clavier<br />
parfait”, „Clavier tres-parfait”<br />
„Clavicimbalum universale seu<br />
perfectum”<br />
Marin Mersenne 10<br />
Michael Praetorius 11 , 1619<br />
„Universalflügel” Adolf Koczirz 12 , 1910<br />
„Enharmonic keyboard” Nicolas Meeùs 13 , 2001<br />
Rudolf Rasch versucht, eine konsistente und objektive Terminologie für Klaviaturen<br />
mit mehr als 12 Tasten pro Oktave zu konstruieren 14 . Die süditalienischen<br />
Praktiker Mayone, Trabaci und del Buono scheinen sich mit „Cimbalo<br />
Cromatico” einig zu sein. Sie beziehen sich auf Instrumente mit 19 Tönen pro<br />
Oktave; der Terminus kann aber auch als allgemeine Bezeichnung für „erweiterte<br />
Klaviatur” verstanden werden. In diesem Sinn wird für den vorliegenden<br />
Artikel „chromatisches Cembalo” bzw. „chromatische Klaviatur” verwendet,<br />
wenn eine beliebige Form erweiterter Klaviatur gemeint ist.<br />
Theoretische Grundlagen<br />
Im Zusammenhang mit erweiterten Tonsystemen und Instrumenten für deren<br />
Darstellung gibt es eine Vielzahl verschiedener historischer Theorien. Eine<br />
Sonderstellung nimmt Nicola Vicentino ein. Er formulierte 1555 in seinem<br />
Buch L'antica musica ridotta alla prattica moderna 15 eine radikale Verallgemeinerung<br />
des konventionellen Tonvorrats und prägte damit mehrere Generationen<br />
von Theoretikern, Praktikern und Instrumentenbauern. Mit der Kenntnis<br />
seiner Ideen können viele spätere Zusammenhänge verstanden werden; deshalb<br />
wird seiner Theorie in diesem Artikel besondere Aufmerksamkeit gewidmet.<br />
10<br />
Siehe Mersenne 1637 im Livre Sixiesme – des Orgues auf Seite 351, 356 und 357.<br />
11<br />
Siehe Praetorius 1619, im Kapitel XL.<br />
12<br />
Siehe Koczirz 1910.<br />
13<br />
Siehe Meeùs 2001, hier wird vorgeschlagen, alle Formen von erweiterten Klaviaturen im<br />
Begriff „enharmonic keyboard” zusammenzufassen.<br />
14<br />
Siehe Rasch 2002.<br />
15<br />
Vicentino 1555.
Das „Cimbalo Cromatico” 7<br />
Nicola Vicentino wurde 1511 in Vicenza geboren und starb 1576 in Mailand.<br />
In seinem ersten Madrigalbuch bezeichnet er sich als Schüler des grossen<br />
Adrian Willaert. Im Dienste von Kardinal Ippolito II. d'Este wirkte er<br />
in Ferrara und Rom. Er verliess seinen Dienst 1563. Danach ist über sein Leben<br />
nicht viel bekannt. Sein erhaltenes Werk umfasst zwei Bücher mit fünfstimmigen<br />
Madrigalen und ein Buch mit fünstimmigen Motetten. Er beschäftigte<br />
sich während seines ganzen Lebens mit der griechischen Musiktheorie<br />
und versuchte, sie mit der zeitgenössischen musikalischen Praxis zu vereinen<br />
16 .<br />
In der L'Antica Musica ridotta alla moderna Prattica 17 beschreibt Vicentino<br />
ein Tonsystem, eine Komponierweise und ein Instrument, die diese Vereinung<br />
ermöglichen. Bis auf die wenigen und fragmentarischen Beispielkompositionen<br />
aus dem erwähnten Buch sind leider keine Kompositionen erhalten, die<br />
dieses System benutzen. Auch gab es keine Komponisten, die sein System direkt<br />
übernahmen 18 und damit komponierten 19 . Die folgende Darstellung von<br />
Vicentinos Tonsystem orientiert sich formal nicht an seiner eigenen Vorgehensweise,<br />
sondern zeigt die Situation aus heutiger Sicht.<br />
Das griechische Tonsystem wird üblicherweise durch Tetrachorde beschrieben.<br />
Zwei Tetrachorde bilden zusammen eine Oktave. Die äusseren zwei<br />
Noten der Tetrachorde sind fest und umspannen eine Quarte, die inneren<br />
zwei Noten sind beweglich. Je nach Position dieser beweglichen Noten verändert<br />
sich der Charakter (Tongeschlecht) des Tetrachords. Der „diatonische”<br />
Tetrachord besteht aus zwei Ganztonschritten und einem Halbtonschritt, der<br />
„chromatische” aus einem Eineinhalb- und einem Halbtonschritt und der „enharmonische”<br />
aus einem Doppeltonschritt und zwei Diesen 20 . Wie gross diese<br />
Intervalle exakt waren, hängt von der Auffassung des jeweiligen Theoretikers<br />
ab und wurde häufig auch gar nicht verbindlich festgelegt.<br />
16<br />
Zu Leben und Werk siehe Kaufmann 2002 und Kaufmann 1966.<br />
17<br />
Siehe Vicentino 1555.<br />
18<br />
Im weiteren Sinn kann jedes mitteltönig gestimmte Tasteninstrument Vicentinos Theorie<br />
zugeordnet werden. Aber die von Vicentino beschriebene Kompositionsweise wurde<br />
gemäss aktuellem Forschungsstand von keinem Komponisten aufgenommen.<br />
19<br />
Eine ausführlichere Zusammenfassung Vicentinos L’Antica Musica. liefert Cordes<br />
2007.<br />
20<br />
Eine Diesis ist in diesem Zusammenhang ein Intervall kleiner als ein Halbton.
8 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
Spätestens ab dem zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts hatte sich die mitteltönige<br />
Stimmung in der alltäglichen Praxis der Tasteninstrumente etabliert<br />
21 . Nur so konnten die Kompositionen, die sich immer mehr an vertikalen<br />
Klängen orientierten, praktisch umgesetzt werden. Es war für Vicentino<br />
also eine Bedingung, das mitteltönige Tonsystem als Basis für sein neues Tonsystem<br />
zu nehmen. Die ersten zwei Tongeschlechter – das diatonische und das<br />
chromatische – lassen sich ohne weiteres mit dem mitteltönigen System vereinen,<br />
denn die benötigten Intervalle (Halb- und Ganzton) sind darin definiert.<br />
Die mitteltönige Stimmung unterscheidet zwei verschieden grosse Halbtöne:<br />
den grossen, diatonischen (z.B. e-f oder gis-a) und den kleinen, chromatischen<br />
Halbton (z.B. c-cis oder es-e). Für das enharmonische Genus wird jedoch ein<br />
neues Intervall, die Diesis, benötigt. Es ist kleiner als ein Halbton. Vicentino<br />
definiert die Diesis als Differenz zwischen einem diatonischen und chromatischen<br />
Halbton. Sie entspricht genau dem Fünftel eines Ganztons der mitteltönigen<br />
Temperatur 22 .<br />
Praktischerweise passt dieses neue Intervall genau dreimal in einen diatonischen<br />
und somit zweimal in einen chromatischen Halbton. Diese Tatsache<br />
lässt eine radikale Verallgemeinerung des enharmonischen Tetrachords zu.<br />
Wenn nun einfach jeder mitteltönige Ganzton in fünf gleiche Intervalle geteilt<br />
wird, hat man sowohl den Tonvorrat eines normalen, ¼-Komma-mitteltönig<br />
gestimmten Tasteninstruments, wie auch die Möglichkeit, von jeder beliebigen<br />
Tonhöhe aus einen enharmonischen Tetrachord aufzubauen. Das<br />
heisst aber auch, dass auf jeder beliebigen Tonhöhe jedes Intervall in mitteltöniger<br />
Intonation existiert. Die üblichen Einschränkungen der mitteltönigen<br />
Stimmung hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Tonarten sind somit<br />
21<br />
Die Akzeptanz der grossen Terz als Konsonanz wurde für die Theoretiker durch die Erweiterung<br />
der pythagoreischen Tetraktys um die Zahlen 5 und 6 ermöglicht. Damit<br />
konnten die Proportionen für die grosse (5:4) und kleine Terz (6:5) ausgedrückt werden.<br />
Zarlino formulierte 1571 erstmals die reine grosse Terz theoretisch korrekt (siehe Zarlino<br />
1571), wobei angenommen werden muss, dass die Praxis schon wesentlich früher die<br />
Terz im Sinne einer gestimmten Konsonanz verwendete.<br />
22<br />
Diese Aussage ist mathematisch nicht korrekt. Eine präzise Behandlung dieses Themas<br />
würde jedoch den Rahmen dieses Artikels sprengen. Der Unterschied zwischen einem<br />
exakten mitteltönigen Füntelton und einer Diesis ist so klein, dass er vom menschlichen<br />
Gehör nicht wahrgenommen werden kann.
Das „Cimbalo Cromatico” 9<br />
vollständig aufgehoben 23 . Mit anderen Worten: teilt man die Oktave in 31<br />
gleiche Teile, erhält man ein perfektes 24 mitteltöniges System.<br />
Die Konsequenzen dieses Ansatzes für den Instrumentenbau und für die<br />
Kompositionspraxis werden in folgenden Kapitel Instrumente und im Kapitel<br />
Repertoire (S. 20) zusammengefasst.<br />
Instrumente<br />
Tasteninstrumente mit gebrochenen Tasten zur Erweiterung des Tonvorrats<br />
sind schon im 15. Jahrhundert nachzuweisen 25 . Bis heute wurden immer wieder<br />
Versuche unternommen, alternative Klaviatur-Layouts zu konstruieren.<br />
Ein Beispiel aus dem 20. Jahrhundert ist die Fokker-Orgel in Haarlem (vergl.<br />
S. 25).<br />
Chromatische Cembali können in zwei Gruppen eingeteilt werden:<br />
• Instrumente für die Praxis. Dazu gehören alle Cembali mit nur wenigen<br />
gebrochenen Tasten, die in der zweiten Hälfte des 16. und in der ersten<br />
Hälfte des 17. Jahrhunderts relativ verbreitet waren 26 und in der alltäglichen<br />
musikalischen Praxis eingesetzt wurden. Sie sind mitteltönig gestimmt.<br />
• Theoretisch motivierte Instrumente. Dazu gehören Instrumente mit einem<br />
stark erweiterten Tonraum, die nie eine grössere Verbreitung fanden<br />
und im wesentlichen Einzelfälle blieben. Auch die Klaviaturen, die<br />
23<br />
Damit ist gemeint: jede beliebige Tonart ist spielbar. In einem normalen (12-teiligen)<br />
mitteltönigen System existiert beispielsweise der Fis-Dur-Dreiklang nicht, da über dem<br />
fis kein ais zur Verfügung steht (und das b kommt nicht in Frage, weil es zu fis ja eine<br />
verminderte Quarte und keine Terz bildet). Im 31-teiligen System steht jedoch ein ais zur<br />
Verfügung. Das Spiel kann nun aber noch viel weiter getrieben werden: über ais gibt es<br />
die Terz cisis und darüber die Terz eisis und darüber die Terz gisisis etc. Alle diese Noten<br />
stellt das System zur Verfügung. Wobei man für das eisis keine neue Taste braucht, denn<br />
es entspricht exakt einem geses.<br />
24<br />
D.h. der Quintenzirkel schliesst sich, was bedeutet, dass es keinen Wolf gibt.<br />
25<br />
Eine Übersicht über die erhaltenen und dokumentierbaren Instrumente befindet sich auf<br />
S. 14.<br />
26<br />
Über den Grad der Verbreitung kann kaum eine verbindliche Aussage gemacht werden.<br />
Es gab Zentren, wo sozusagen eine enharmonische Sub-Kultur auszumachen ist, in anderen<br />
Regionen findet man keinerlei Hinweise auf eine entsprechende Praxis.
10 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
zur Realisierung von alternativen Stimmungssystemen entworfen wurden,<br />
zählen zu dieser zweiten Gruppe.<br />
In diesem Artikel wird insbesondere die Verbreitung und Benutzung der ersten<br />
Gruppe diskutiert und untersucht. Die Sekundärliteratur beschäftigt sich<br />
in erster Linie mit den exotischen Varianten.<br />
Beim Bau chromatischer Cembali entstehen grundsätzliche Probleme. Unabhängig<br />
vom Typ der Klaviatur, müssen in jedem chromatischen Cembalo<br />
mehr Saiten als in einem normalen Cembalo untergebracht werden. Dafür<br />
gibt es prinzipiell zwei Lösungen.<br />
1. Die Saiten werden nebeneinander angeordnet. Da die Mechanik nicht<br />
beliebig komprimiert werden kann, führt dieser Ansatz in den meisten<br />
Fällen zu einer signifikanten Verbreiterung des Gehäuses. Um die Spielbarkeit<br />
zu erhalten, kann das Oktavmass kaum gedehnt werden, weshalb<br />
die Tastenhebel nicht wie üblich parallel verlaufen können, sondern<br />
sich wie bei einem Fächer aufspreizen müssen. Das ist handwerklich<br />
aufwändig herzustellen und führt zu einer erhöhten Anfälligkeit<br />
auf Klimaveränderungen, da arbeitendes Holz die Tastenhebel in dieser<br />
Anordnung viel stärker beeinflussen kann. Die Verbreiterung des Gehäuses<br />
führt zu einer Verzerrung der Proportionen des Resonanzbodens.<br />
Abgesehen von statischen Problemen ist das klangliche Resultat<br />
erfahrungsgemäss weniger befriedigend als bei normal proportionierten<br />
Resonanzböden.<br />
2. Es werden mehrere Rechen pro Register verwendet. Vicentino benutzt<br />
diese Strategie für sein „Archicembalo”. Das Instrument wird dadurch<br />
kaum verbreitert und die Tastenhebel können kompakter gebaut werden.<br />
Allerdings werden die Tastenhebel sehr schmal und es ist kompliziert,<br />
die Springer mehrerer Rechen separat anzusteuern. Die unterschiedliche<br />
Anreissposition führt zu wahrnehmbaren klanglichen Unterschieden<br />
zwischen den Springer-Reihen, was einen heterogenen Gesamtklang<br />
verursachen kann.<br />
Das 24-teilige chromatische Cembalo des Verfassers verwendet die zweite<br />
Methode. Das Problem des heterogenen Klangs ist zwar nachvollziehbar, aber<br />
fällt im Fluss eines Stücks erstaunlicherweise kaum auf. Das Problem der Anfälligkeit<br />
der extrem schmalen Tastenhebel konnte der Cembalobauer Markus
Das „Cimbalo Cromatico” 11<br />
Krebs durch die Wahl eines hochwertigen, gut gelagerten Holzes minimieren.<br />
Tatsächlich traten bisher keine mechanischen Probleme auf.<br />
Im Lauf der Musikgeschichte wurden natürlich auch zahlreiche andere Instrumente<br />
mit erweitertem Tonraum gebaut, wie beispielsweise Gamben oder<br />
Lauten. Eine zentrale Figur diesbezüglich ist Giovanni Battista Doni 27 . Generell<br />
ist es bei Nicht-Tasteninstrumenten wesentlich schwieriger, eine entsprechende<br />
Praxis nachzuweisen. Die Bünde bestehen aus Darm und hinterlassen<br />
keine Spuren am Griffbrett; die Instrumente konnten (und können)<br />
problemlos zwischen einem normalen und einem erweiterten Tonraum hin<br />
und her wechseln. Bundfreie Instrumente und Blasinstrumente bieten noch<br />
weniger Untersuchungsmaterial. Blasinstrumente deshalb, weil sie die Intonation<br />
durch den Ansatz, den Blasdruck oder Hilfsgriffe so stark dehnen können,<br />
dass sie praktisch jedes Tonsystem ohne Modifikation des Instruments<br />
realisieren können.<br />
Archicembalo<br />
Im Kapitel VI seines Werks beschreibt Vicentino den Bau und die Stimmung<br />
eines Cembalos, das sein Tonsystem (siehe S. 7) in der Praxis anwendbar<br />
macht. Die Tasten sind auf zwei Manualen verteilt. Im Anhang seines<br />
Buchs befinden sich Baupläne für die Mechanik und die Klaviatur.<br />
27<br />
Siehe Doni 1635, Vatielli 1908 und Palisca 1981.
12 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
Das Instrument besitzt drei Rechen (Springer-Reihen) und zwei Manuale,<br />
wobei das untere (Abbildung vorige Seite) einer üblichen 19-tönigen Klaviatur<br />
entspricht und das obere (Abbildung unten) einer 17-tönigen.<br />
Die drei Rechen entsprechen nicht drei Registern, sondern fallen in ein<br />
einziges zusammen, da keine zwei Saiten im Instrument gleich gestimmt sind.<br />
Jede dieser 36 Tasten pro Oktave bietet dem Spieler also eine andere Tonhöhe<br />
an. Die „Belegung” der Tasten ist - innerhalb der physikalischen Grenzen der<br />
Belastbarkeit der Saiten - im Prinzip frei wählbar.<br />
Vicentinos Anweisung zum Stimmen des „Archicembalos” scheint auf den<br />
ersten Blick widersprüchlich 28 . Sobald man allerdings davon ausgeht, dass es<br />
sich dabei um zwei unabhängige Methoden – mit unterschiedlichem Ziel und<br />
Resultat – handelt, erscheint alles sinnvoll 29 . An dieser Stelle werden die beiden<br />
Methoden kurz zusammengefasst.<br />
28<br />
Sie wird von der Sekundärliteratur üblicherweise nicht oder falsch verstanden: Kaufmann<br />
1970 versucht, die zwei Methoden in engen Zusammenhang zu bringen und konstruiert<br />
damit sozusagen eine neue Stimmung, Maniates 1996 stellt im Vorwort seiner<br />
Übersetzung von L’antica musica nur resigniert fest „The result is a hopeless muddle”.<br />
29<br />
In Vicentino 1555, „Libro Quinto”, Cap. V. und Cap. VI .
Das „Cimbalo Cromatico” 13<br />
1. „Modo d'accordare l'Archicembalo”. Das untere Manual wird konventionell<br />
mitteltönig gestimmt, über eine Reihe von temperierten Quinten, die<br />
über die entstehenden reinen grossen Terzen kontrolliert werden. Nach dem<br />
his des unteren Manuals wird das ges des oberen in der Bedeutung eines fisis<br />
gestimmt. Der Punkt über der Note bedeutet, dass sie eine Diesis, also einen<br />
Fünftelton höher klingt. Ein ges entspricht somit einem fisis. Von dieser Note<br />
aus wird auch das obere Manual mitteltönig gestimmt:<br />
2. „Modo d'accordare il nostro Archicembalo con le quinte perfette in ogni<br />
tasto”. Auch bei dieser Methode bildet die übliche mitteltönige Stimmung die<br />
Ausgangssituation. Das untere Manual wird genau gleich wie oben beschrieben<br />
gestimmt. Das obere Manual bildet nun allerdings reine Quinten zum unteren.<br />
D.h. das obere g ist rein zum unteren c (und somit um ¼ Komma höher<br />
als das untere g), das obere gis rein zum unteren cis, das obere as rein zum<br />
unteren des usw. (die als reine Quinten zum Untermanual gestimmten Noten<br />
werden in der folgenden Abbildung mit ' gekennzeichnet). Dies hat mit Vicentinos<br />
31-teiligen Tonsystem natürlich nichts mehr zu tun. Es ist eine sehr<br />
praktische und verhältnismässig spielerfreundliche Lösung für eine reine<br />
Stimmung. Denn man gewinnt mit dem oberen Manual nicht nur reine Quinten,<br />
sondern auch reine kleine Terzen. In einem homophonen Satz kann so die<br />
zentrale Stimme (üblicherweise Bass oder Tenor) auf dem unteren Manual gespielt<br />
werden, und die dazugehörenden Konsonanzen kontextabhängig auf<br />
dem unteren oder oberen Manual gegriffen werden. Wenn die Manuale kompakt<br />
gebaut sind, ist es nach Einschätzung des Verfassers gut vorstellbar, mit<br />
dieser Methode Vokalmusik mit akzeptablem Übaufwand spielen zu können<br />
(s. Abb. folgende Seite).
14 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
Liste nachweisbarer Instrumente<br />
Die folgende Liste stellt den Versuch dar, eine Übersicht über die in der Sekundärliteratur<br />
erwähnten Instrumente zu geben. Die Liste soll einen groben<br />
Eindruck der Menge an dokumentierbaren bzw. erhaltenen Instrumenten geben.<br />
Die Einträge wurden vom Verfasser unkritisch übernommen und haben<br />
keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Teilweise widersprechen sich die Autoren<br />
der Sekundärliteratur oder geben missverständliche Informationen. Die<br />
letzte Spalte der Liste gibt an, aus welcher Quelle der Eintrag stammt. Es sei<br />
dem Leser empfohlen, bei weiterführendem Interesse auf die Quellen zurückzugreifen.<br />
Die Ziffern am Ende der Zeilen der Tabelle beziehen sich auf die folgenden<br />
Veröffentlichungen:<br />
1 Stembridge 1994<br />
2 Stembridge 1993<br />
3 Wraight 2002
Das „Cimbalo Cromatico” 15
16 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)
Das „Cimbalo Cromatico” 17
18 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)
Das „Cimbalo Cromatico” 19
20 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
Repertoire<br />
Als Repertoire für chromatische Cembali kommt prinzipiell die gesamte mitteltönig<br />
intonierte Musik in Frage. Die mitteltönige Stimmung birgt die Erweiterung<br />
des konventionellen Tonraums natürlicherweise in sich, da jede<br />
Note eine eigene Tonhöhe hat (und eben nicht beispielsweise dis und es die<br />
identische Tonhöhe haben). Es genügt also, die entsprechenden Partituren<br />
darauf hin zu untersuchen, ob sie mehr als 12 Töne pro Oktave benutzen (also<br />
beispielsweise ein dis und ein es im gleichen Stück vorkommen). Da die Diskussion<br />
des Repertoires nicht im Zentrum dieses Artikels stehen soll, wird<br />
hier stellvertretend eine willkürliche Auflistung mit exemplarischen Stücken<br />
gegeben. Jedes aufgelistete Stück steht stellvertretend für zahllose weitere in<br />
ähnlichem Kontext stehende. Viele Fragen müssen hier dabei offen gelassen<br />
werden.<br />
• weltliche Vokalmusik: Domenico Mazzocchi, Dialoghi e Sonnetti (Erweiterung<br />
des Tonraums von des bis his) 30 ; Benedetto Ferrari, Musiche<br />
Varie (Explizites Spiel mit diatonischem und chromatischem Halbton,<br />
Erweiterung des Tonraums ev. durch mitteltönige Theorbenstimmung<br />
nachvollziehbar) 31 ; Nicola Vicentino, Beispielkompositionen aus seinem<br />
L'antica musica. (melodische Verwendung des Fünfteltons, Erweiterung<br />
auf 31 Töne pro Oktave) 32 ; Carlo Gesualdo, Madrigale (Erweiterung<br />
des Tonraums auf 19 Töne pro Oktave) 33<br />
• geistliche Vokalmusik: Cavalieri, Lamentationes Hieremiae Prophetae<br />
(Erweiterung des Tonraums)<br />
• Oper: Monteverdi, Il Ritorno d'Ulisse (Erweiterung des Tonraums, siehe<br />
z.B. im „Lamento di Penelope”, dort bis des) 34<br />
30<br />
Mazzocchi 1638 .<br />
31<br />
Ferrari 1633 .<br />
32<br />
Vicentino 1555.<br />
33<br />
Gesualdo.<br />
34<br />
Monteverdi.
Das „Cimbalo Cromatico” 21<br />
• Instrumentalmusik: Falconiero, Canzone (Erweiterung des Tonraums<br />
bis 17 Töne pro Oktave) 35 ; Georg Muffat, Violinsonate (explizite melodische<br />
Verwendung des Fünfteltonschrittes während einer enharmonischen<br />
Modulation) 36<br />
• Musik für Tasteninstrumente: Trabaci, Toccaten 37 ; Gesualdo, „Canzon<br />
del Principe” 38 ; Pesenti, Correnti 39 ; Froberger, „Meditation faite sur ma<br />
mort future” 40 . Zur Bibliografie von Tastenmusik siehe auch Stembridge<br />
1992.<br />
Dabei verfolgen die Komponisten mit der Erweiterung des Tonraums die<br />
unterschiedlichsten Ziele:<br />
• schönere und geschmeidigere Klänge duch neue, enharmonische Intervalle<br />
(Vicentino)<br />
• „unmögliche” Tonarten für die Darstellung besonders dramatischer Passagen<br />
(Mazzocchi, Monteverdi, Ferrari)<br />
• die Grenzen der mitteltönigen Stimmung bezüglich Modulation überwinden<br />
(Pesenti, Froberger, Falconiero)<br />
• enharmonische Intervalle als exotischer Spezialeffekt (Gesualdo, Muffat)<br />
Beim Studium der diskutierten Beispiele drängt sich die Vermutung auf,<br />
dass die gezielte Verwendung „verstimmter” Noten (also z. B. es als Terz über<br />
h) nie Teil des ästhetischen Konzeptes der Komponisten war. Einerseits werden<br />
„falsche” Noten nie notiert (sondern würden erst durch das Spielen auf<br />
einem entsprechend gestimmten Instrument entstehen), andererseits werden<br />
in Kompositionen, die explizit für ein Cimbalo cromatico geschrieben sind, nie<br />
solche Effekte verwendet, obwohl gerade auf diesen Instrumenten die Möglichkeiten<br />
viel grösser wären.<br />
35<br />
Falconiero 1650 .<br />
36<br />
Muffat 1677 .<br />
37<br />
Trabaci 1615<br />
38<br />
Gesualdo.<br />
39<br />
Pesenti 1645 .<br />
40<br />
Froberger.
22 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
Oft verwenden Komponisten für die Notation erweiterter Tonräume eine<br />
spezielle Notation (Vicentino, Mazzocchi, Froberger). Im Umkehrschluss<br />
bedeutet dies, dass beispielsweise unkonventionelle Akzidenzien auf die Verwendung<br />
chromatischer Instrumente hinweisen können.<br />
Die grosse Menge und Vielfalt der Kompositionen, Theorien und Instrumente<br />
machen es unmöglich, allgemein gültige Aussagen oder gar Regeln zu<br />
formulieren. Es bleibt in der Verantwortung jedes Musikers, die Ästhetik und<br />
den historisch-theoretischen Kontext einer chromatisch-enharmonischen<br />
Komposition zu erforschen und das entsprechende Instrumentarium einzusetzen.<br />
Weitere Ansätze und Theorien<br />
In den obigen Kapiteln wurden bisher nur Theorien und Tonsysteme erwähnt,<br />
die die Kompositions- und Aufführungspraxis in signifikantem Mass direkt<br />
beeinflusst haben. Es gibt jedoch zahlreiche weitere Ansätze, die das Stadium<br />
des theoretischen Experiments nach heutigem Kenntnisstand nie verlassen<br />
haben. In diesem Kapitel werden die wichtigsten Ansätze und Theorien kurz<br />
erwähnt und auf die entsprechenden Traktate verwiesen.<br />
• Reine Stimmung. Das theoretische Ideal einer Stimmung, in der alle Intervalle<br />
rein sind, wurde immer wieder mit erweiterten Klaviaturen in<br />
die Praxis umzusetzen versucht. Das erste Traktat, das detailliert auf die<br />
Möglichkeiten geteilter Tasten zur Umsetzung der reinen Stimmung<br />
eingeht, ist Francisco de Salinas 1577 publiziertes Werk De musica libri<br />
septem 41 . Eine Einführung in Salinas Traktat gibt Cuesta 1975.<br />
• Das geschlossene 19-tönige System. Bei einer 1 / 3 -Komma-Temperatur<br />
schliesst sich der Quintenzirkel nach 19 Quinten mit akzeptabler Näherung.<br />
In diesem System werden die kleinen Terzen praktisch rein gestimmt,<br />
die grossen jedoch fallen empfindlich zu klein aus. Die Quinten<br />
sind beachtlich verengt. Der Ganzton wird dabei in drei fast gleiche Teile<br />
zerlegt, was natürlich viele neue kompositorische Möglichkeiten eröffnet.<br />
Guillaume Costeley publizierte 1570 ein wohl 1558 entstandenes<br />
„Chanson spirituelle” 42 . Im Vorwort fasst er den theoretischen Hintergrund<br />
zusammen und beschreibt ein „Espinette ou Orgue” mit geteil-<br />
41<br />
Siehe Salinas 1577<br />
42<br />
Es befindet sich im Druck – Costeley 1570.
Das „Cimbalo Cromatico” 23<br />
ten Obertasten und zusätzlichen Tasten für eis/fes und his/ces (die Töne<br />
fallen hier tatsächlich auf die gleiche Taste zusammen, eine enharmonische<br />
Verwechslung zwischen eis und fes bzw. his und ces ist also möglich).<br />
Eine ausführliche Analyse des Stücks und der praktischen Ausführbarkeit<br />
bieten Levy 1955 und Dahlhaus 1963.<br />
• „Echte” enharmonische Kompositionen. Stücke, die enharmonische Intervalle<br />
(wie zum Beispiel Vicentinos Fünftelton) im melodischen Sinn<br />
verwenden, gibt es kaum. Einen Eindruck der kompositorischen Möglichkeiten<br />
geben Ascanio Mayones Notenbeispiele in Fabio Colonnas<br />
Traktat 43 von 1618–1622 über das von Scipione Stella gebaute und von<br />
ihm selbst modifizierte 31-tönige Tasteninstrument namens „Sambuca<br />
lincea” (s. unten).<br />
Die Instrumente sind in ihrer theoretischen Konzeption direkte Nachkommen<br />
von Vicentinos „Archicembalo”, allerdings wurde versucht, die Spielbarkeit<br />
durch ein anderes Klaviaturlayout zu verbessern. Mayone zeigt eine<br />
Modulationsreihe über die 31 verfügbaren Tonarten und zahlreiche Fragmente<br />
enharmonischer Progressionen und kontrapunktischer Sätzen. Wie beispielsweise<br />
vierstimmige Imitationssätze mit einem enharmonischen Soggetto.<br />
Weitere Informationen befinden sich in der reichhaltig kommentierten<br />
Ausgabe von Patrizio Barbieri (siehe Barbieri 1991b).<br />
43<br />
Siehe Colonna 1618.
24 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
• Zykluskompositionen: Kompositionen, die durch alle (oder zumindest<br />
durch sehr viele) Tonarten um den Quintenzirkel herum modulieren,<br />
reizen die Möglichkeiten einer vielgeteilten Klaviatur besonders effizient<br />
aus. Häufig handelt es sich dabei um sogenannte Hexachord-Fantasien.<br />
Ein Beispiel für eine - höchstwahrscheinlich mitteltönig konzipierte<br />
- zyklische Hexachord-Fantasie ist das Stück „Ut, re mi, fa, sol la.”<br />
von John Bull 44 . Das oben erwähnte Notenbeispiel Mayones ist eine<br />
Zykluskomposition, die explizit für ein chromatisches Cembalo geschrieben<br />
wurde. Mit dem Aufkommen der „geschlossenen”, zyklischen<br />
Temperatursysteme, zunächst der ungleichschwebenden Temperaturen,<br />
erhält dieses Genre eine andere Bedeutung, existiert aber weiterhin.<br />
• Extreme Transpositionen: Konventionelle Stücke, die in extremen Tonarten<br />
stehen, können unter Umständen auch zum enharmonischen Repertoire<br />
gezählt werden. Ein Beispiel dafür sind die Correnti, Gagliarde, e<br />
Balletti von Martino Pesenti 45 . Es handelt sich dabei um normale Sätze,<br />
die sowohl „diatonico”, als auch „cromatico”, als auch „enharmonico”<br />
notiert sind, wobei die Stücke einfach in entlegene Tonarten (wie beispielsweise<br />
Ais-Dur) transponiert werden 46 . Übrigens gibt Pesenti im<br />
Vorwort eine interessante Beschreibung eines 24-töniges Instruments.<br />
• Rein theoretische Betrachtungen: Die Enzyklopädien von Marin Mersenne<br />
47 und Athanasius Kircher 48 enthalten spekulative Diskussionen<br />
über die praktische Umsetzbarkeit erweiterter Tonsysteme durch gebrochene<br />
Klaviaturen. Es ist davon auszugehen, dass die meisten der vorgeschlagenen<br />
Tastaturen nie gebaut wurden.<br />
• Späte enharmonische Klaviaturen: Gemeinsam mit der mitteltönigen<br />
Stimmung wurden im ausgehenden 17. Jahrhundert auch die in der Praxis<br />
gebräuchlichen chromatischen Tastaturen verdrängt. Die neuen,<br />
temperierten Stimmungen mit ihrer Möglichkeit der enharmonischen<br />
Verwechslung machten den Einsatz von mitteltönig erweiterten Klaviaturen<br />
überflüssig und behindernd. Trotzdem wurden immer wieder Instrumente<br />
mit erweiterten Tonräumen entworfen und gebaut. Als Bei-<br />
44<br />
Siehe Bull.<br />
45<br />
Siehe Pesenti 1645 .<br />
46<br />
Eine kurze Analyse der Stücke gibt Morey 1966.<br />
47<br />
Siehe Mersenne 1637, Seite 334–358 und Kapitel „Clavecin”.<br />
48<br />
Siehe Kircher 1650, Seite 453–475.
Das „Cimbalo Cromatico” 25<br />
spiele seien der Wiener „Harmonieflügel” 49 und die 31-tönige Orgel von<br />
Adriaan Fokker 50 (1951) in Haarlem (NL) genannt (s. Abb. unten).<br />
oben: Manual und Pedal der 31-tönigen<br />
Fokker-Orgel in Haarlem<br />
links: Wiener „Harmonie”-Flügel<br />
Einen wichtigen Aspekt, der bis jetzt noch nicht diskutiert wurde, stellt<br />
die Problematik der Transposition dar. In zahlreichen Traktaten zu praktischmusikalischen<br />
Themen wird der Transposition (und der Fähigkeit des Tastenspielers,<br />
in alle Tonarten zu transponieren) ein grosses Gewicht beigemessen.<br />
Es ist oft nicht klar, wie dies mit der Ästhetik der mitteltönigen Stimmung<br />
vereinbar sein soll. So schlägt Michael Praetorius in seinem Syntagma musicum<br />
51 vor, die durch die Transposition entstehenden verstimmten Noten<br />
49<br />
Ein 1796 wahrscheinlich von Johann Jakob Könnicke gebauter Hammerflügel mit 216<br />
Tasten (sechs Reihen mit jeweils 36 Tasten). Das Instrument ist erhalten und steht im<br />
Kunsthistorischen Museum Wien mit der Inventarnummer SAM 610. Mozart, Haydn<br />
und Beethoven sollen auf dem Instrument gespielt haben (siehe Seipel 2004).<br />
50<br />
Eine 1950 in Haarlem gebaute Orgel (zwei Manuale und Pedal) mit 31 Tönen pro Oktave.<br />
Der Physiker Adriaan Daniel Fokker (1887–1972) setzte damit Christiaan Huygens<br />
(siehe Huygens 1691) Theorie einer reinen Terz-Stimmung (die wiederum im Endresultat<br />
Vicentinos System entspricht) um.<br />
51<br />
Siehe Praetorius 1619.
26 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
nach Möglichkeit wegzulassen oder durch Ornamente zu entschärfen. Giovanni<br />
Paolo Cima erklärt hingegen in seinen Partite de Ricercari 52 ausführlich,<br />
wie das Cembalo 53 umzustimmen ist, um „per commodità de Cantori” die<br />
Stücke in allen denkbaren Tonarten spielen zu können. Interessanterweise benutzt<br />
er dann aber in der Notation doch die „falschen” Noten, ganz im Sinne<br />
einer Griffschrift. Nur mit seiner Erklärung im Text ist es möglich zu verstehen,<br />
dass der mitteltönige Tonvorrat durch Umstimmen angepasst werden<br />
muss und daher trotz falscher Notation richtig klingt.<br />
Erlebnisbericht - mein eigenes Cimbalo Cromatico<br />
In meiner Studienzeit an der Schola Cantorum spielte ich häufig Basso Continuo<br />
in mitteltönig intonierenden Ensembles. Häufig sprengte der von den<br />
Kompositionen verwendete Tonartenbereich die Möglichkeiten der Tasteninstrumente,<br />
wenn etwa ein dis verlangt wurde, auf der Orgel oder dem Cembalo<br />
aber ein es gestimmt war. So entstand das Bedürfnis nach einer instrumentenbaulichen<br />
Lösung. Eine zufriedenstellende Lösung fand ich in der Anschaffung<br />
eines „Cimbalo Cromatico”. Aus verschiedenen Gründen konnte ich<br />
kein neues Instrument bauen lassen, also modifizierte ich das bestehende.<br />
Gemeinsam mit dem Cembalobauer Markus Krebs fand ich eine Möglichkeit,<br />
mein 2004 von Tony Chinnery nach Grimaldi gebautes Cembalo mit<br />
wenigen Handgriffen in ein 24-teiliges „Cimbalo Cromatico” zu verwandeln,<br />
und zwar so, dass die Verwandlung jederzeit wieder rückgängig gemacht<br />
werden kann. Die Lösung besteht in einer zweiten, separaten Klaviatur, die<br />
die Springer der beiden Rechen separat auslöst. Die Bilder (s. folgende Seite)<br />
sollen zur Erklärung dieses Systems dienen.<br />
Erfahrungen im Alltag<br />
An dieser Stelle möchte ich einige Erfahrungen zusammenfassen, die ich im<br />
praktischen Umgang mit meiner 24-teiligen Klaviatur gemacht habe.<br />
Die Klaviatur passt in mein italienisches Cembalo nach Grimaldi und ist auswechselbar.<br />
Bei Bedarf kann ich das Instrument jederzeit wieder in seinen ursprünglichen,<br />
12-tönigen Zustand zurückversetzen. Der Vorgang ist unkom-<br />
52<br />
Siehe Cima 1<strong>60</strong>6.<br />
53<br />
Im Text zwar „clavicordo” genannt, es ist aber mit Sicherheit Cembalo gemeint.
Das „Cimbalo Cromatico” 27<br />
Details der 24-tönigen Klaviatur von Markus Krebs<br />
pliziert und dauert inklusive Umstimmen ungefähr 30 Minuten. Die Tastatur<br />
erhielt ich im Frühling 2008, habe nun also während zwei Jahren Erfahrungen<br />
sammeln können.<br />
Gewöhnung an die Spielweise: Überraschenderweise dauerte es nicht lange,<br />
bis ich mich an die neuen Anforderungen der Klaviatur gewöhnte. Fingertechnisch<br />
ändert sich prinzipiell nicht viel, ausser dass die Muskulatur für das<br />
Spreizen der Hand stark belastet wird und bei mir anfänglich zu schneller Ermüdung<br />
führte. Bereits nach wenigen Tagen war ich in der Lage, alle gebräuchlichen<br />
Griffe sicher zu treffen. Anders verhält es sich mit dem Umsetzen<br />
der Notation. Die Schwierigkeit, Musik zu lesen und mit Sicherheit zu<br />
spielen, hängt stark von der Art des Satzes ab. Enharmonische Correnti von<br />
Pesenti (einfache Stücke in beispielsweise Ais-Dur) sind schnell zu lernen, die<br />
Hexachord-Fantasie von John Bull ist jedoch etwas vom Schwierigsten, was<br />
ich bis jetzt gespielt habe. An das Generalbass-Spiel gewöhnte ich mich in<br />
kürzester Zeit. Eine wichtige Voraussetzung für das Spiel auf chromatischen<br />
Klaviaturen ist, dass man auch in der inneren Empfindung der Tonqualitäten<br />
auf keinen Fall enharmonisch verwechselt. Wer ein es „begreift” und als sol-
28 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
ches empfindet, wird keine Probleme haben, es beim Greifen vom dis zu unterscheiden.<br />
Der Umgang mit gebrochenen Obertasten ist bei mir mittlerweile<br />
so automatisiert, dass ich es bei mitteltönigen Stücken nicht vermeiden kann,<br />
dass meine Finger - auch auf einer normalen Klaviatur - beispielsweise bei einem<br />
as nach hinten greifen. Interessanterweise existieren diese Automatismen<br />
bei späterer Musik überhaupt nicht. Die Finger „erkennen” offenbar<br />
selbst, ob ein Stück mitteltönig „liegt” oder nicht.<br />
Hörende Wahrnehmung. Der Besitz eines chromatischen Cembalos schult<br />
das Gehör. Das ist keine überraschende Erkenntnis; dennoch ist es eindrücklich,<br />
zu erleben, wie sich die Bedeutung und Empfindung von Intervallen verändern<br />
kann. Einen Fünftelton, den ich anfänglich einfach als „alternative Intonation”<br />
oder „Verstimmung” wahrnahm, ist für mich mittlerweile ein klar<br />
definiertes, eigenständiges Intervall geworden, was ich somit auch problemlos<br />
singenderweise realisieren kann. Wenn ich versehentlich die falsche Obertaste<br />
erwische, empfinde ich es als Fehler (eben eine falsche Note), und nicht<br />
einfach nur als verrutschte Intonation. Es lohnt sich, die Möglichkeiten der<br />
Klaviatur auch im Singen zu erforschen, um von der Vorstellung wegzukommen,<br />
dass es sich bei einer 24-fachen Teilung der Oktave nur um eine mechanische<br />
Knobelei handelt.<br />
Stimmhaltung: Die verbreitete Meinung, chromatische Cembali seien extrem<br />
aufwändig zu stimmen und hielten die Stimmung schlecht, hat sich<br />
nicht bestätigt: der Stimmaufwand ist genau gleich gross wie bei einem normalen<br />
Cembalo (da in meinem Fall die Anzahl der Saiten gleich ist), die mitteltönige<br />
Stimmung ist zudem wohl von allen Stimmungen die am einfachsten<br />
zu legende. Die Stimmhaltung ist ebenfalls unproblematisch, denn auch<br />
wenn sich das Instrument nach einigen Tagen leicht verstimmt, sind die unterschiedlichen<br />
Eigenschaften der enharmonischen Intervalle (und damit das<br />
zentrale Element eines enharmonischen Instruments) immer noch sehr klar<br />
wahrnehmbar. Der einzige Nachteil ist, dass beim Auswechseln der Klaviaturen<br />
durch das wiederholte Umstimmen die Messingsaiten schwach werden<br />
und verhältnismässig häufig reissen.<br />
Stimmungssystem: Ich habe zahlreiche Stimmungssysteme ausprobiert. Ein<br />
System insbesondere hat sich bewährt und lässt sich universell einsetzen: die<br />
vordersten Glieder sind als cis, es, fis, gis und b gestimmt, die mittleren als<br />
des, dis, ges, as und ais, die beiden zusätzlichen Obertasten als eis und his. Die<br />
hinterste Reihe besteht aus Doppel-# oder Doppel-b, je nach Bedarf. Manchmal<br />
ist es nötig, das his in ein ces umzustimmen. Beim Stimmen folge ich dem
Das „Cimbalo Cromatico” 29<br />
Quintenzirkel, stimme die Quinten per Schwebungsfrequenz und kontrolliere<br />
stets über die entstehenden reinen grossen Terzen.<br />
Arbeit im Ensemble: Sänger reagieren üblicherweise gar nicht auf das Instrument.<br />
Da die Intervalle immer alle gestimmt sind und die Sänger in allen<br />
Tonarten wie gewohnt (im besten Fall) intonieren können, bemerken sie häufig<br />
gar nicht, dass eine erweiterte Klaviatur benutzt wird. So habe ich beispielsweise<br />
einmal fünfstimmige Madrigale von Sigismondo D'India begleitet<br />
(die immerhin einen Quintenzirkel von as bis his verlangen), ohne dass die<br />
Sänger auf meine Tastatur aufmerksam geworden sind. Das trifft natürlich<br />
nicht bei extremer Musik zu, wo die enharmonischen Intervalle an sich eingesetzt<br />
werden. Für mich als Spieler bedeutet die Klaviatur eine grosse Erleichterung,<br />
weil ich mich auf die Musik konzentrieren kann und nicht in erster Linie<br />
damit beschäftigt bin, zu überlegen, wie man die „bösen” Noten vermeiden<br />
oder vertuschen könnte.<br />
Solomusik: Die Tatsache, dass das überlieferte Solorepertoire sehr klein ist,<br />
macht es schwierig, ein entsprechendes Programm zusammenzustellen. Es ist<br />
mir bisher nicht gelungen, ein Solo-Konzert zu spielen, das nicht den Charakter<br />
einer experimentellen, wissenschaftlich-theoretischen Beispiel-Sammlung<br />
hat. Ich sehe darin eine Bestätigung, dass das chromatische Cembalo ein ideales<br />
Begleitinstrument für Sänger - insbesondere Vokalensembles - war und ist.<br />
Mechanische Probleme: Entgegen allen Befürchtungen befindet sich die<br />
Klaviatur nach wie vor in tadellosem Zustand. Kleine Unregelmässigkeiten in<br />
den Tastenhebeln sind im Winterhalbjahr zu beobachten, sie führen jedoch<br />
nicht zu mechanischen Beeinträchtigungen. Auch gab es nie Probleme mit<br />
Nebengeräuschen (was von anderen gebrochenen Klaviaturen teilweise bekannt<br />
ist).<br />
Zusammenfassung<br />
Die Entdeckung Nicola Vicentinos, dass die Teilung der Oktave in 31 Fünftel-Töne<br />
einen mitteltönig strukturierten Tonvorrat ergibt, regt bis heute unzählige<br />
Musiker, Komponisten, Instrumentenbauer und Theoretiker zu ungewöhnlichen<br />
Experimenten an. Darüber hinaus bildet seine Entdeckung jedoch<br />
die Grundlage für ein Neu-Verständnis der Aufführungspraxis und des Instrumentenbaus<br />
des 16. und 17. Jahrhunderts. Dieses besteht darin, die mitteltönige<br />
Stimmung nicht auf 12 Noten pro Oktave zu beschränken. Die Mitteltönig-
30 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
keit ist keine Stimmung, die für Tasteninstrumente entwickelt wurde (wie alle<br />
späteren temperierten Stimmungen bis hin zur heutigen Standard-Klavierstimmung),<br />
sondern ein Konzept eines beliebig erweiterbaren Tonsystems.<br />
Viele selbstverständlicherweise mitteltönig intonierende Instrumente (wie<br />
Zinken, Lirone, bundlose Streichinstrumente, Blockflöten) sind natürlicherweise<br />
vieltönig, denn sie nutzen verschiedene Griffe bzw. Saiten zur Unterscheidung<br />
beispielsweise eines dis von einem es. Aus dieser Perspektive betrachtet,<br />
läuft die Anwendung der mitteltönigen Stimmung auf ein Tasteninstrument<br />
ganz selbstverständlich auf die Hinzufügung von zusätzlichen Tasten<br />
hinaus. Dies hat zur Folge, dass ein beträchtlicher Teil des bekannten Repertoires<br />
neu erschlossen werden kann, wovon wiederum neue Impulse für<br />
den historisch-kopierenden Instrumentenbau ausgehen können.<br />
Literatur<br />
Bob van Asperen, „Consonant or dissonant? - Reflections at the keyboards of<br />
a Clavemusicum Omnitonum, cimbalo cromatico, and cembalo naturale”,<br />
in: Schweizer Jahrbuch der Musikwissenschaft, Bd. 22, 2002, S. 95-105.<br />
Patrizio Barbieri, „Il cembalo innicordo di Francesco Nigetti in due memorie<br />
inedite di G. B. Doni (1647) e B. Brescieani (1719)”, in: Rivista Italiana di<br />
Musicologia, Bd. 12, 1987, S. 34-113.<br />
Patrizio Barbieri, „La Sambuca Lincea” (kritische, kommentierte Ausgabe von<br />
Colonna 1618), Lucca 1991.<br />
Patrizio Barbieri, „Violin intonation: a historical survey”, in: Early Music, Nr.<br />
19/1, 1991, S. 69-88.<br />
Patrizio Barbieri, „The evolution of open-chain enharmonic keyboards c 1480-<br />
1650”, in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft, Bd. 22, 2002, S. 145-<br />
185 (Ital. Fassung S. 145-185).<br />
Patrizio Barbieri, „Enharmonic Instruments and Music 1470-1900”, Latina, Il<br />
Levante, 2008.<br />
James Murray Barbour, Tuning and Temperament, New York, 1962.<br />
Giovanni Andrea Bontempi, „Historia musica”, Perugia 1695.<br />
Paul Robert Brink, The archicembalo of Nicola Vicentin”, Diss. Ohio State University,<br />
1966.<br />
John Bull, Hexachord-Fantasie „Ut, re, mi, fa, sol, la.” aus dem Fitzwilliam Virginal<br />
Book (Edition: Breitkopf & Härtel, Dover Publications, 1899/1979).
Das „Cimbalo Cromatico” 31<br />
Michael Bulyowsky, Brevis de emedatione organi musici tractatio - Kurtze Vorstellung<br />
von Verbesserung des Orgelwercs, Strassburg 1680.<br />
Michael Bulyowsky, Neu-erfundenes, fünff-faches Clavier, bestehend aus fünff<br />
Reyhen der almulen, und so genandten Clavium, dessen eine gantze Octav<br />
XXXII. Commata begreift, so alle in geomatrischer continuen und ungetrennten<br />
Progression aufeinender gehen, Stuttgart 1699.<br />
Michael Bulyowsky, Tastatura quinqueformis panarmonico-metathetica, suis<br />
quibusdam virtutibus adumbrata, Durlach 1711.<br />
Michael Bulyowsky, Fünffaches vollständiges Transponier-Clavier, in einigen<br />
seinen Tugenden vorgestellt, Durlach 1711.<br />
P. E. Carapezza, „Le quattordici Sonata di Cimbalo di Gioan Pietro Del Buono<br />
(Palermo 1641)”, in: Analecta musicologica, Bd. 12, 1972, S. 131-147.<br />
Giovanni Paolo Cima, Partite e Ricercari & Canzoni alla Francese, Mailand<br />
1<strong>60</strong>6.<br />
Fabio Colonna, La sambuca lincea, overo dell'istromento musico perfetto, Neapel<br />
1618-1622 (Übertragung: siehe Barbieri „Violin intonation...”).<br />
Manfred Cordes, Nicola Vicentinos Enharmonik - Musik mit 31 Tönen, Akademische<br />
Druck- u. Verlagsanstalt, Graz 2007.<br />
Guillaume Costeley, Musique, Paris 1570 (Edition in: Kenneth J. Levy, „Costeley's<br />
Chromatic Chanson” - s. dort).<br />
Ismael Fernández de la Cuesta, „General Introduction to the De musica libri<br />
septem of Francisco Salinas, and to iths First Translation”, in: The Consort,<br />
Nr. 31, 1975, S. 101-108.<br />
Carl Dahlhaus, „Zu Costeleys chromatischer Chanson”, in: Die Musikforschung,<br />
Bd. 16, 1963, S. 253-263.<br />
Gioanpietro Del Buono, Canoni, Oblighi et Sonate in varie Maniere sopra L'Ave<br />
Maris Stella, Palermo 1641.<br />
Giovanni Battista Doni, Compendio del trattato de generi e de modi della musica,<br />
Rom 1635.<br />
Giovanni Battista Doni, Dichiaratione del Cembalo Pentarmonico, 1647.<br />
Joannes van der Elst, Notae Augustinianae, sive Musices figurae seu notae novae<br />
concinendis modulis faciliores tabulaturis organicis exhibendis aptiores,<br />
Gent 1657.<br />
Andrea Falconiero, Il primo libro di Canzone, Sinfonie, Fantasie, Capricci,<br />
Brandi, Correnti, Gagliarde Alemane, Volte per Violini, e Viole, overo altro<br />
Stromento à uno, due, e trè con il Basso Continuo., Neapel 1650 (Faksimile:<br />
S.P.E.S., Florenz 1980).
32 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
Benedetto Ferrari, Musiche varie a voce sola, 3 Bde. (1633, 1637, 1641), Venedig<br />
(Faksimile: S.P.E.S., Florenz 1985).<br />
Jörg Fiedler, Die nicht-temperierte Intonation, Abschlussarbeit im Rahmen des<br />
Diploms für Alte Musik der Schola Cantorum Basiliensis, Basel 1990.<br />
Johann Jacob Froberger, Manuskript SA 4450, Sing-Akademie Berlin (Faksimile<br />
und Übertragung: Bärenreiter, Kassel 2004).<br />
Carlo Gesualdo da Venosa, „Canzon del Principe”, MS Gb-Lbl Add. 30491,<br />
(Edition in Carlo Gesualdo: Sämtliche Werke, Weismann und Watkins,<br />
Hamburg 1957-1967, Bd. 10).<br />
Christiaan Huygens, Divisio monochordi, MS NL-Lu, 1661 (Edition: Oeuvres<br />
complètes de Christiaan Huygens, Bd. 10, Den Haag 1940).<br />
Christiaan Huygens, „Lettre touchant le cycle harmonique”, in: Histoire des<br />
ouvrages des scavans, 1691.<br />
Henry William Kaufmann, „The life and works of Nicola Vicentino”, in: Musicological<br />
studies and documents, Bd. 10, 1966.<br />
Henry William Kaufmann, „More on the Tuning of the Archicmebalo”, in:<br />
Journal of the American Musicological Society, Bd. 23, 1970, S. 84-94.<br />
Henry William Kaufmann und Robert L. Kendrick, Artikel „Vicentino, Nicola”,<br />
in: The New Grove, S. 526-528.<br />
Athanasius Kircher, Musurgia universalis, sive Ars magna consoni et dissoni,<br />
Rom 1650 (Faksimile: Olms 1999).<br />
Martin Kirnbauer, „Si possono suonare i Madrigali del Principe - Die Gamben<br />
G. B. Donis und chromatisch-enharmonische Musik in Rom im 17. Jahrhundert”,<br />
in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft, Bd. 22, 2002, S.<br />
229-250.<br />
Martin Kirnbauer, Vieltönige Musik - Spielarten chromatischer und enharmonischer<br />
Musik in Rom in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (in Vorb.).<br />
Adolf Koczirz, „Zur Geschichte des Luython'schen Klavizimbels”, in: Sammelbände<br />
der internationalen Musikgesellschaft, Bd. IX (1909/1910), S. 565-570.<br />
Kenneth J. Levy, „Costeley's Chromatic Chanson”, in: Annales musicologiques,<br />
Bd. 3, 1955, S. 213-263.<br />
Maria Rika Maniates, Ancient Music adapted to modern practise (Übersetzung<br />
von Vicentinos L'antica musica) New Haven, 1996.<br />
Thomas J. Mathiesen, Artikel „Greece, §I Ancient”, in: The New Grove, S. 327-<br />
348.<br />
Ascanio Mayone, Secondo libro di diversi capricci per sonare, Neapel 1<strong>60</strong>9 (Edition:<br />
Orgue et liturgie, Band LXIII und LXV, Paris 1964).
Das „Cimbalo Cromatico” 33<br />
Domenico Mazzocchi, Dialoghi e sonetti, Rom, 1638 (Faksimile: Forni, 1969,<br />
Bologna).<br />
Nicolas Meeùs, Artikel „Enharmonic Keyboards”, in: The New Grove, S. 248-<br />
250.<br />
Marin Mersenne, Harmonicorum instrumentorum libri IV, Paris 1636.<br />
Marin Mersenne, Harmonie Universelle, 1636-1637, Paris (Faksimile: Centre<br />
Nationale de la Recherche Scientifique, 1965).<br />
Claudio Monteverdi, Il Ritorno d'Ulisse, Manuskript A-Wn 18763.<br />
Carl Morey, „The Diatonic, Chromatic and Enharmonic Dances by Martino<br />
Pesenti”, in: Acta musicologica, Bd. 38, 1966, S. 185-189.<br />
Georg Muffat, Violinsonate D-Dur, Manuskript CZ-KRa (Edition: Comes-Verlag<br />
1992).<br />
Peter Niedermüller, „La musica cromatica ridotta alla pratica vicentiniana:<br />
Genus, Kontrapunkt und Musikalische Temperatur bei Nicola Vicentino”,<br />
in: Neues Musikwissenschaftliches Jahrbuch, Bd. 6, 1997, S. 59-90.<br />
Claude V. Palisca, „G. B. Doni's Lyra Barberina, Commentary and Iconographical<br />
Study, Facsimile Edition with Critical Notes”, in: Quadrivium, Bd.<br />
22, Nr. 2, 1981.<br />
Martino Pesenti, Correnti, Gagliarde, e Balletti diatonici, trasportati parte Cromatici,<br />
e Parte Henarmonici, Con un Balletto A Tre, Passi, e mezi A Due, &<br />
à tre, Per sonarsi nel Clavicembalo, & altri Stromenti, Venedig 1645.<br />
Michael Praetorius, Syntagma musicum, Wolfenbüttel 1619 (Faksimile: Documenta<br />
musicum, Reihe 1, Bd. 14, Kassel 1996).<br />
Rudolf Rasch: „On terminology for diatonic, chromatic, and enharmonic keyboards”,<br />
in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft, Bd. 22, 2002, S. 21-<br />
34.<br />
Rudolf Rasch: „Why were enharmonic keyboards built? - From Nicola Vicentino<br />
(1555) to Michael Bulyowsky (1699)”, in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft,<br />
Bd. 22, 2002, S. 35-95.<br />
Francisco de Salinas, De musica libri septem, in quibus eius doctrinae veritas<br />
tam quae ad harmoniam, quam quae ad rhythmum pertinet, iuxta sensus<br />
ac rationis iudicium ostenditur, & demonstratur, Salamanca 1577 (Faksimile:<br />
Bärenreiter 1958; spanische Übersetzung: J. F. de la Cuesta, 1983, Siete<br />
libros sobre la musica).<br />
Hans-Joachim Schugk, Praxis barocer Stimmungen und ihre theoretischen<br />
Grundlagen, 2. Aufl., Rolf Drescher, Berlin 1981.
34 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
Wilfried Seipel, Kurzführer durch das kunsthistorische Museum, Bd. 1, Wien<br />
2004.<br />
Johann Sonnleitner, „Erweiterte Mitteltönigkeit und erweitertes Tonsystem:<br />
Frescobaldis Cento Partite, 12- und 19-tönig sowie neue Musik, 24-tönig”,<br />
in: Schweizer Jahrbuch der Musikwissenschaft, Bd. 22, 2002, S. 137-145.<br />
Christopher Stembridge, „Music for the Cimbalo Cromatico and Other Split-<br />
Keyes Instruments in Seventeenth-Century Italy”, in: Performance Practice<br />
Review, Bd. 5, Nr. 1, 1992, S. 5-43.<br />
Christopher Stembridge, „The Cimbalo Cromatico and Other Italian Keyboard<br />
Instruments with Nineteen or More Divisions to the Octave (Surviving<br />
Specimens and Documentary Evidence)”, in: Performance Practice Review,<br />
Bd. 6, Nr. 1, 1993, S. 33-59.<br />
Christopher Stembridge, „Italian Split-Keyed Instruments with Fewer than<br />
Nineteen Divisions to the Octave”, in: Performance Practice Review, Bd. 7,<br />
Nr. 2, 1994, S. 150-181.<br />
Giovanni Maria Trabaci, Il secondo libro de ricercate & altri varij capricci, Neapel<br />
1615 (Faksimile: Archivum musicum, 1984).<br />
Nicola Vicentino, L'antica musica ridotta alla moderna prattica, Rom 1555<br />
(Faksimile: Lowinsky (Hg.), Bärenreiter 1959).<br />
F. Vatielli, La Lyra Barberina di G. B. Doni, Pesaro 1908.<br />
Joseph Willimann (Hg.), Chromatische und enharmonische Musik und Musikinstrumente<br />
des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft,<br />
Band 22 (2002).<br />
Denzil Wraight, „The cimbalo cromatico and other Italian string keyboard instruments<br />
with divided accidentals”, in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft,<br />
Bd. 22, 2002, S. 105-136.<br />
Gioseffo Zarlino, Le istitutioni harmoniche, Venedig 1558.<br />
Gioseffo Zarlino, Dimostrationi harmoniche, Venedig 1571 (Faksimile: Ridgewood<br />
1966).
„<strong>Glareana</strong>“ - über den Namen unserer Gesellschaftsnachrichten 35<br />
„<strong>Glareana</strong>“ - über den Namen unserer<br />
Gesellschaftsnachrichten<br />
von GEFAM-Mitglied Viktor Schubiger<br />
Am 9. November 1951 ist die erste Nummer unserer GEFAM Nachrichten unter<br />
dem Namen „<strong>Glareana</strong>“ erschienen. Im Geleitwort dieser Wiegennummer<br />
lesen wir:<br />
Der Name unserer Nachrichten, „<strong>Glareana</strong>“, erinnert an den Humanisten<br />
Heinrich Loriti aus Mollis, genannt Glarean, der zur Zeit der Reformation<br />
lebte, und als Poet und Musiktheoretiker durch seine Werke und seine<br />
Lehrtätigkeit weit über die Grenzen der damaligen Eidgenossenschaft<br />
hinaus berühmt wurde. Mit seinem Geist und seinem Wirken können wir<br />
uns auch heute noch als Freunde der Musik, als Schweizer und Weltbürger<br />
mit ihm verbunden fühlen. 1<br />
Als Verfasser dieser Zeilen kommt einer der beiden, in der gleichen Nummer<br />
am Schluß unterzeichnenden verantwortlichen Redaktoren in Frage: Präsident<br />
Josef Hiestand-Schnellmann, Freienbach (SZ) oder Sekretär Dr. Alfred<br />
Cattani, Zürich. Hiestand und Cattani sind auch die Initianten und<br />
Väter unserer Gesellschaft gewesen. Mit ihrem Interesse an historischen Musikinstrumenten<br />
vermochten sie rasch private und öffentliche Sammler in unserer<br />
Gesellschaft zu vereinen, wo sie eine Plattform gefunden hatten, auf der<br />
sie ihr Sammelgut mit demjenigen anderer Mitglieder vergleichen konnten,<br />
um damit ihr Wissen über Herkunft, Bauweise, Abmessungen und Klanglichkeit<br />
ihrer Instrumente zu bereichern und sie anhand der gesellschaftseigenen<br />
Nomenklatur zu inventarisieren.<br />
Josef Hiestand-Schnellmann (1900-1982) war ein innerschweizer Bauernsohn,<br />
der gerne ein Musikstudium auf der Violine absolviert hätte, von<br />
seinen bodenständigen Eltern jedoch zu einem „rechten“ Beruf gedrängt wurde.<br />
Zeitlebens war er als Kaufmann tätig, blieb aber musikalisch aktiv und<br />
baute eine reichhaltige private Instrumentensammlung auf mit dem Schwerpunkt<br />
auf Streichinstrumenten, die er gerne Interessierten zugänglich machte.<br />
Er war das ideelle und organisatorische Zentrum der GEFAM und als Gla-<br />
1<br />
Alle Ausgaben der <strong>Glareana</strong>, von der ersten Nummer 1951 bis Jahrgang 30 (1981), sind<br />
auf der Website der GEFAM im Volltext zugänglich: www.gefam.ch/de/glareana/altejahrgaenge19511982/<br />
.
36 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
reana-Redakteur auch ihr Sprachrohr. Die wichtige Rolle seiner Person zeigte<br />
sich nach seinem Tod, denn die Gesellschaft drohte auseinander zu fallen.<br />
Nach einem Jahr der Unsicherheit, in dem die verwaiste <strong>Glareana</strong> nicht erscheinen<br />
konnte, übernahm eine jüngere Gruppe um Veronika Gutmann,<br />
Brigitte Bachmann-Geiser und Georg Senn die Verantwortung und führte<br />
die GEFAM weiter. 2<br />
Dr. Josef Cattani (1922-2009) war gelernter Historiker und späterhin vor<br />
allem ein vielseitiger Journalist und Zeitungsmacher, der die Entwicklung der<br />
NZZ in verantwortlicher Position nachhaltig prägte. In den ersten Jahren der<br />
GEFAM fungierte er als Sekretär der Gesellschaft und unterstützte Josef Hiestand<br />
in der Redaktion der <strong>Glareana</strong>. 19<strong>60</strong> trat er von diesem Amt zurück,<br />
nachdem ihn seine anderweitigen Verpflichtungen immer mehr in Anspruch<br />
nahmen. 3<br />
Obwohl die <strong>Glareana</strong> sich vorerst auf das physische „historische Musikinstrument“<br />
konzentrierten, ist doch festzuhalten, daß sich seit Beginn auch<br />
Musiker, Künstler, Interpreten und Liebhaber unter unseren Mitgliedern finden,<br />
um gemeinsam mit den Sammlern, den Instrumentenbauern und den<br />
Musikwissenschaftlern in die Klangwelt früherer Jahrhunderte einzudringen.<br />
Daß also unser erster Präsident Hiestand oder unser erster Sekretär Cattani<br />
beim Humanisten Glarean den Titel <strong>Glareana</strong> unseres Gesellschaftsorgans<br />
geborgt hat, ist offensichtlich.<br />
Glarean (1488-1563), aus dem Glarner Mollis stammend, hat sich hauptsächlich<br />
mit der klassischen lateinischen Prosa und Poesie auseinandergesetzt<br />
und ist sowohl in Basel als auch später in Freiburg i. Br. ein Vertrauter von<br />
Erasmus gewesen. Er hat kritische Neuausgaben von Autoren des klassischen<br />
Roms verfasst und im Druck erscheinen lassen (Tacitus, Cicero, Livius, Horaz,<br />
Sueton, Caesar, Ovid, Sallust). Glarean kam früh mit der Musik in Kontakt.<br />
Wir wissen, daß er schon in seinen Knabenjahren im Choralgesang unterrichtet<br />
worden ist, und daß er zeitlebens ein singfreudiger Mensch geblieben ist<br />
und Gleichgesinnte um sich scharte. Er gibt mit 28 Jahren eine lateinische<br />
2<br />
Die Informationen über J. Hiestand stammen aus einem Nachruf von Brigitte Bachmann-Geiser<br />
in <strong>Glareana</strong> 32 (1983), Heft 1, S. 5-6.<br />
3<br />
Über seine Tätigkeit bei der Neuen Zürcher Zeitung berichtet ein Nachruf, der im Internet<br />
unter folgender Adresse zugänglich ist: www.nzz.ch/nachrichten/politik/schweiz/historiker_und_zeitungsmann_1.4343417.html<br />
(besucht<br />
am 30.03.<strong>2011</strong>).
„<strong>Glareana</strong>“ - über den Namen unserer Gesellschaftsnachrichten 37<br />
„Anleitung zum Gesang“ heraus (isagoge in musicen ..., Basel 1516 bei Johannes<br />
Froben; alle seine Schriften sind in lateinischer Sprache abgefaßt!), in<br />
welcher die singende Jugend in die Notation, die Akkordlehre, die Versrhythmik<br />
und die Modi (Tonarten) eingeführt wird. Als Liebhaber schöner Melodien<br />
vertont er selber zahlreiche lateinische Oden des römischen Lyrikers Horaz.<br />
Ab 1529, als Professor für (lateinische) Poetik in Freiburg, beherbergt er<br />
in seinem Wohnhaus vielfach auch musikbegabte Studenten aus der Schweiz,<br />
mit denen er den ein- und mehrstimmigen Gesang pflegt.<br />
Glareans Interesse gilt außerdem den acht klassischen Kirchentonarten,<br />
die er in der natürlichen diatonischen Tonleiter eingebettet sieht, in welcher<br />
er aber noch vier weitere findet, gesamthaft also zwölf Tonarten. Diese musiktheoretische<br />
Arbeit stützt er auf die ihm damals zu Verfügung stehende<br />
ein- und mehrstimmige Musikliteratur, die er eifrig sammelt und die er zu einem<br />
schönen Teil 1547 in seinem nahezu 500-seitigen Werk Dodekachordon<br />
publiziert. Neben dem theoretischen Text finden wir da auch eine Sammlung<br />
von mehrstimmigen Kompositionen der damals greifbaren Musik (Dietrich,<br />
Isaac, Josquin, Meyer, Mouton, Obrecht, Ockeghem, Senfl, u.a.m.).<br />
Am Rande dieses Werks befaßt sich Glarean<br />
auch etwas mit der Instrumentenkunde.<br />
Er schildert, wie er ein 3 Fuß langes Monochord<br />
bauen läßt, auf dem er seine physikalischen<br />
Experimente mit einem mobilen Steg<br />
durchführt (s. unten).
38 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
Er stellt seine (heute nicht mehr haltbaren) Mutmaßungen an<br />
über den Unterschied zwischen den antiken Instrumenten Kythara<br />
(cytara) und Lyra und der Anzahl und Anordnung ihrer<br />
Saiten. Darüber hinaus läßt er auch eine Zeichnung einer drei<br />
Oktaven umfassenden Harfe abdrucken, welche er als Kithara<br />
bezeichnet (s. vorige Seite rechts).<br />
Entzückend ist sodann ein Abschnitt über das Trumscheit,<br />
das er lateinisch „Tympanum Schizanum“ (wörtlich: Pauken-<br />
Spältling) bezeichnet! Die entsprechende Passage lautet in der<br />
gerafften Übersetzung aus dem Latein nach Bohn (1888) folgendermaßen:<br />
Auf dem französischen und deutschen Rheinufer bedient<br />
sich das einfache Volk dieses merkwürdigen Instrumentes<br />
von kegelförmigem Aussehen, 5 Fuß lang, bestehend aus<br />
drei Latten von dreieinhalb Zoll Breite an der Basis und<br />
anderthalb Zoll an der Spitze. Sie machen damit Straßenmusik.<br />
Und zwar stellen sie die Spitze auf die Brust, halten<br />
es mit der linken Hand und berühren mit dem linken Daumen<br />
die Saite ganz leicht in den Teilungspunkten, und mit<br />
der rechten Hand führen sie den Bogen auf dem herwärtigen<br />
Saitenstüc vom Daumen aus gesehen. Der bogenförmige<br />
Steg, wovon der eine Fuß frei schwebt und mit Elfenbein<br />
oder einem Eisen-Nagel verstärkt ist, erzeugt einen<br />
tremulierenden Ton. Ich mußte über die Erfindung der Leute<br />
lachen und fragte, warum der Steg nicht bei jeder Teilung<br />
gleich tremuliere und warum sie nicht die ganze Tonleiter<br />
erzeugen könnten, sondern nur Quarten und Quinten<br />
[.]. Sie wollten mir weise machen, die anderen Töne gäbe<br />
es gar nicht. Ich glaube aber, daß ihre dicen Daumen die<br />
Teilungsstellen zuwenig exakt zu finden wußten- Ich habe<br />
jedenfalls selber probiert und die Töne gefunden. Das Instrument<br />
eignet sich besonders gut für den Jonicus und Hypojonicus.<br />
Aus der Ferne hört sich der Klang recht angenehm<br />
an.<br />
Glarean läßt im Text die Zeichnung eines zweisaitigen<br />
Trumscheits drucken, auf welchem die Teilungsstellen (in nicht
„<strong>Glareana</strong>“ - über den Namen unserer Gesellschaftsnachrichten 39<br />
überzeugender Weise) eingezeichnet sind mit der Angabe der entsprechenden<br />
Töne in der großen und kleinen diatonischen Oktave (rechts).<br />
Kommen wir zurück zum Humanistennamen „Glarean“, den sich der Glarnerbürger<br />
Heinrich Loriti nach damaliger Mode zugelegt hat. Man geht<br />
nicht fehl, wenn man annimmt, daß er sich mit diesem wohlklingenden Namen<br />
zu seinem eidgenössischen Stand Glarus bekennen will und sich stolz<br />
„Glarner“ nennt; in jungen Jahren hatte er nämlich geglaubt, die lateinische<br />
Bezeichnung für Glarus sei Glarona. Erst später muß er wohl erkannt haben,<br />
daß Clarona richtig gewesen wäre und nennt sich infolge dessen nicht mehr<br />
civis Glaronensis, sondern civis Claronensis, ja er streicht sogar gelegentlich in<br />
seinen früheren Drucken eigenhändig das „G“ und ersetzt es mit „C“. Seinen<br />
Humanistennamen Glarean mit „G“ behält er jedoch und soll ihn übrigens<br />
elegant und ohne Aufhebens umgedeutet und neu vom Grundstück in Mollis<br />
abgeleitet haben, auf welchem sein Elternhaus stand, nämlich auf einem<br />
„Schotterterrain“, lateinisch Glarea. Damit war das bereits gewohnte und<br />
wohlklingende Wort Glarean gerettet!<br />
Die Begründer unserer Gesellschaftsnachrichten, welche sie „<strong>Glareana</strong>“<br />
getauft haben, beschäftigten sich aber wohl kaum mit solch linguistischen<br />
Spitzfindigkeiten, sondern sie dachten ganz einfach an den vielseitigen<br />
Schweizer Humanisten, insbesondere an den Musikaliensammler, Sänger, Liedermacher<br />
und Musiktheoretiker Glareanus !<br />
Postskriptum:<br />
Neuerdings kommt Glareans Name im 2007 neu geschaffenen Glareanpreis<br />
der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft zu Ehren. Der Preis ist<br />
mit 10’000 Schweizer Franken dotiert und wird alle zwei Jahre für herausragende<br />
Leistungen auf dem Gebiet der Europäischen Musikgeschichtsschreibung<br />
verliehen.
40 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
Sammlerglück -<br />
Warum sammelt der Mensch?<br />
2010 hier+jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden<br />
Halder, Ulrich (Hg.) , 2010, 104 Seiten, 44 schwarzweisse Abb.,<br />
Format 22 x 28 cm, ISBN 978-3-03919-147-5, Fr. 48.00, € 32.80<br />
Es ist sicher kein Zufall, dass diese Frage<br />
aus den Reihen der GEFAM gestellt<br />
wird – nämlich von deren Präsident<br />
Ueli Halder. Immerhin versammeln<br />
sich in der GEFAM expressis verbis<br />
„Freunde alter Musikinstrumente“, also<br />
eine Hochrisikogruppe in Bezug auf das<br />
Sammelvirus. Ueli Halder selbst darf<br />
ohne jeden Zweifel als Sammelviruspositiver<br />
Fall gelten (und gesteht dies<br />
selber auch freimütig ein).<br />
Was also bringt ansonsten völlig<br />
vernünftige Zeitgenossen dazu, unter<br />
(zumindest gelegentlich) beträchtlichen<br />
Mühen und Entbehrungen völlig nutzlose<br />
Dinge anzuhäufen, möglicherweise<br />
auch noch in vielhundertfachen Varianten?<br />
Was treibt sie, sich in die Kulturgeschichte<br />
und Restaurierung von, sagen<br />
wir: Tortenschaufeln, Teddybären, Traktoren (oder eben Flöten) zu vertiefen<br />
mit der selben Akribie, mit der andere Leute sich zum Wirtschaftsfachmann<br />
oder Naturwissenschaftler ausbilden? Warum stellen sie ganze Räume ihrer<br />
Behausung Engeln zur Verfügung, füllen sie mit Gasmasken, Turnschuhen<br />
oder Nachttöpfen, anstatt sich ein bequemes Fernsehzimmer einzurichten?<br />
Das Buch wählt einen sehr sinnvollen, erhellenden und dabei unterhaltsamen<br />
Mehrfach-Ansatz zur breiten Erkundung des Krankheitsbildes „Sammelwut“:<br />
Da sind zum einen die bei allem inhaltlichen Gewicht durchweg flott geschriebene<br />
Texte, die das Thema „Sammeln“ aus der wissenschaftlichen Perspektive<br />
des Psychologen, Pädagogen, Museumsleiters, Kulturwissenschaft-
Sammlerglück - Warum sammelt der Mensch? 41<br />
lers oder aus der Sicht des Spezialisten für digitale Archivierung angehen.<br />
Hier wird deutlich, dass Sammeln eben mehr ist als die intensive, aber leicht<br />
autistisch timbrierte Auseinandersetzung mit einem möglicherweise schrulligen<br />
Thema: ohne geduldiges und kundiges Sammeln von buchstäblich „allem<br />
möglichen“ verlöre unsere Kultur einen guten Teil ihres Gedächtnisses und<br />
damit ihrer Identität. Öffentliche wie private Museumssammlungen und Bibliotheken<br />
mit ihrer hochprofessionellen und kapitalintensiven Arbeit legen<br />
ein deutliches Zeugnis ab von der Wichtigkeit dieser Aufgabe.<br />
Da sind zum anderen ganz persönliche Statements von 24 Sammelwütigen,<br />
die deutlich werden lassen, auf wie vielfältige Weise die persönliche und die<br />
Sammler-Biografie miteinander verwoben sein können. Der Bogen reicht vom<br />
„irgendwie irgendwann“ aufgeblitzten Interesse bis zur planmässigen (Über-)<br />
Erfüllung von Jugendträumen, vom sammelnden Schulmaitli bis zum Rentner.<br />
Es sind schlussendlich aber sicher die schwarzweissen Aufnahmen von<br />
Hansueli Trachsel, die dem Band sein besonderes Format geben: vordergründig<br />
schlichte, dabei mit grossem psychologischen und bildnerischen<br />
Feingefühl durchgestaltete Porträtstudien von Sammlern vor allem. Besser, als<br />
Texte das formulieren könnten, zeigt die gelassen-konzentrierte Heiterkeit,<br />
die aus den Blicken dieser Menschen inmitten ihrer Schätze spricht, dass Sammeln<br />
„persönliche Bereicherung“ ist - in einem sehr respektvollen und sehr<br />
wörtlichen Sinne. Sammeln scheint auch innere Sammlung zu bewirken.<br />
Die intensiven Bilder belegen aber darüber hinaus sehr direkt, um was es<br />
im tiefsten Kern dabei wohl immer geht: wichtige Qualitäten vor dem Untergang<br />
und dem Vergessen zu bewahren. In diesem Fall ist es die bedächtige<br />
Kunst des Fotografierens auf Film, die es – sieht man die Bilder von Hansueli<br />
Trachsel an – unbedingt vor den entfesselten Sturzbächen des digitalen Fotografierens<br />
zu bewahren gilt. Chip hin, Gigabyte her: es wäre ein Jammer,<br />
wenn dieser lichtvolle Reichtum an Tonwerten zwischen Schwarz und Weiss<br />
verloren ginge, den die Digitalisierung bei allem Aufwand wohl nie ganz wird<br />
„nachmachen“ können.<br />
Vielleicht keine so abwegige Idee: eine kleine feine Sammlung an „Coffeetable-books“<br />
zu beginnen? – Sammler-Glüc wäre kein schlechter Anfang<br />
dazu.<br />
jf
42 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
Neue CDs<br />
„piano e forte“. Music at the Medici Court on Cristofori’s early<br />
pianoforte (c. 1730)<br />
María Cristina Kiehr (Sopran), Edoardo Torbianelli (Pianoforte), Chiara Banchini<br />
(Violine), Rebeka Rusò (Viola da gamba), Daniele Caminiti (Archiliuto)<br />
GLOSSA / Schola Cantorum Basiliensis, GCD 922504<br />
Die Schola Cantorum Basiliensis hat in ihrer neuen CD-Serie beim spanischen<br />
Label Glossa eine Aufnahme mit Musik um Bartolomeo Cristoforis<br />
frühen Hammerflügel veröffentlicht (am „Cimbalo di piano e forte“ Edoardo<br />
Torbianelli). Während bei den wenigen anderen Aufnahmen mit Cristofori-<br />
Kopien der Fokus vor allem auf der Solomusik gelegen ist (z.B. mit Sonaten<br />
von Lodovico Giustini oder Domenico Scarlatti), versucht diese Aufnahme,<br />
das Potential des Instruments in der Kammermusik zu erproben, wie dies<br />
von zeitgenössischen Quellen beschrieben wird. Das Programm kreist um<br />
Komponisten, die um 1730 eine Verbindung zum Florentiner Hof hatten. Zu<br />
hören ist viel Vokalmusik von Alessandro Scarlatti und Alessandro Marcello<br />
(mit María Cristina Kiehr, Sopran). Letzterer besass nachweislich<br />
einen Flügel von Cristofori, der heute im Musikinstrumentenmuseum in Rom<br />
zu besichtigen ist. Flötensonaten von Bitti und Barsanti (Marc Hantaï, Traversflöte),<br />
eine Violinsonate von Veracini (Chiara Banchini, Violine) und als<br />
Introduktion die erste Sonate aus Giustinis Sonatensammlung sind zu einem<br />
konzertartigen Programm zusammengestellt, das ausserordentlich kurzweilig<br />
zu hören ist. Vor allem in der Kombination mit Archiliuto im Basso continuo<br />
sind ganz neuartige Klangkombinationen zu hören, die bisher in der alten<br />
Musik unbekannt waren.<br />
Der verwendete Nachbau des Cristofori-Instruments stammt von Denzil<br />
Wraight (2003) nach dem Vorbild im Museum für Musikinstrumente der Universität<br />
Leipzig (datiert 1726). Darüber hinaus sind bemerkenswerte Streichinstrumente<br />
zu hören. Die Violine stammt von Nicolò Amati (Cremona 1674),<br />
die Viola da gamba von Jacobus Stainer (Absam, 16??). Booklettexte von<br />
Edoardo Torbianelli/Kathrin Menzel sowie von Renato Meucci liefern<br />
ausführliche Hintergrundinformationen.<br />
td
Neue CDs 43<br />
Musique de la Grande Écurie & des Gardes Suisses<br />
ensemble arcimboldo, Trompetenensemble der Schola Cantorum Basiliensis<br />
Leitung: Thilo Hirsch<br />
Musique Suisse, MGB CD 6267 / Eine Koproduktion mit dem Schweizer Radio<br />
DRS / Mit Unterstützung der Schola Cantorum Basiliensis<br />
Auch in der Szene der Alten Musik kommt es selten vor, dass man wirklich<br />
„neue“ Klänge zu hören bekommt. Auf der hier besprochenen CD ist dies der<br />
Fall! Sie führt uns an einen - zumindest musikalisch - bisher wenig beachteten<br />
Ort des Französischen Hofs: die Grande Écurie (den Grossen Marstall), eine<br />
wichtige Abteilung der Hofhaltung, in der die Dressur-, Kriegs-, Reit- und<br />
Jagdpferde des Hofes untergebracht waren, an der aber auch musikalisches<br />
Personal tätig war. In einem mehrjährigen Forschungsprojekt des SNF hat die<br />
Schola Cantorum Basiliensis vor allem die mysteriösen Gruppierungen „Cromornes<br />
et Trompette Marines“ sowie „Fifres et Tambours“ untersucht. Als Ergebnis<br />
entstanden Nachbauten von Instrumenten, wie sie bisher noch nicht<br />
bekannt waren, so ein Ensemble von Doppelrohrblattinstrumenten - eben die<br />
„Cromornes“ -, noch vor der definitiven Ausprägung der „barocken“ Oboen,<br />
Fifres (Querpfeifen militärischer Tradition), die in dieser Art ebenfalls noch<br />
nicht rekonstruiert wurden und Tambours, die in ihrer Grösse und Machart<br />
Neuland bedeuteten. Fifre und Tambours wurden auch von der Leibgarde des<br />
Königs benutzt, den „Cent Suisse“ sowie von den militärischen Gardes Suisse.<br />
Auf diese Weise hatte das Projekt auch einen direkten Bezug zur Schweiz.<br />
Die rekonstruierten Instrumente werden auf der CD mit bereits zurück eroberten<br />
kombiniert (Trompettes Marines, Naturtrompeten französischer Prägung)<br />
und in einem ausführlichen und abwechslungsreichen Programm akustisch<br />
vorgestellt.<br />
Thilo Hirsch hat hierzu Musik aus der berühmten Sammlung von André<br />
Philidor ausgewählt und für die unterschiedlichen Besetzungen zusammengestellt.<br />
Die CD ist ein Fest an unterschiedlichen Klängen und Farben, garniert<br />
mit ausführlichen Informationen im Booklet. Unterhaltsam zu hören,<br />
mit überraschenden Klangerlebnissen und mitreissender Musik. Für alle, die<br />
an historischen Musikinstrumenten interessiert sind, geradezu ein „Muss“.<br />
Wer weitere Informationen zum Thema „Grande Écurie“ wünscht, sei auf folgende<br />
Website verwiesen: www.rimab.ch<br />
td
44 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
In Memoriam: Hannes Paul Scherrer<br />
(26. Okt. 1925 - 8. Jan. <strong>2011</strong>)<br />
von Georg F. Senn<br />
Am 14. Januar hat eine grosse Trauergemeinde Abschied genommen von<br />
Hannes Paul Scherrer, der nach kurzer, schwerer Krankheit am 8. Januar verstorben<br />
ist. Die barocke Kirche von Oberrieden, 1761 durch Johann Ulrich<br />
Grubenmann erbaut, hoch über dem Zürichsee gelegen mit weitem Blick hinüber<br />
in die Glarner Alpen, bot den würdigen Rahmen für die eindrückliche<br />
Feier im Gedenken an eine aussergewöhnliche Persönlichkeit. Geboren und<br />
aufgewachsen in Zürich verbrachte H.P. Scherrer im Kreise seiner vier älteren<br />
Geschwister eine glückliche Jugendzeit im väterlichen Haus am Zürichberg.<br />
Im Anschluss an die reguläre Schulzeit erfolgte eine Ausbildung zum Volksschullehrer.<br />
Diesen Beruf übte er 14 Jahre lang in Winterthur und Zürich mit<br />
grosser Hingabe aus. Daneben befasste er sich u.a. mit der Geschichte der<br />
Stadt Zürich und baute eine damals einmalige, von seinem Vater ins Leben<br />
gerufene Lichtbildersammlung über Altzürich aus. Es war dies wohl die erste<br />
Begegnung mit einer systematischen Sammlertätigkeit. Systematik war auch<br />
in seiner zweiten beruflichen Tätigkeit gefragt: Als bereits vierfacher Familienvater<br />
hatte H.P. Scherrer den Mut, aus der Schulstube „auszubrechen“ und<br />
nach einem neuen Beruf Ausschau zu halten, der ihn mit dem Wirtschaftsleben<br />
unseres Landes bekannt machen und zugleich eine soziale Aufgabe erfüllen<br />
lassen könnte. Dank seiner mathematischen Fähigkeiten konnte er sich bei<br />
der Rentenanstalt zum Pensionskassenexperten ausbilden lassen, wo ihm<br />
schliesslich als Mitglied des Direktoriums die Leitung bedeutender Kollektivversicherungsabteilungen<br />
übertragen wurde. Neben dieser anspruchsvollen<br />
Arbeit und weiteren sozialen Aufgaben fand er genügend Zeit für seine neue<br />
Sammlerleidenschaft. Bereits als Lehrer entdeckte er die von alten Musikinstrumenten<br />
ausgehende Faszination. Die GEFAM, der er als Mitglied seit 1952<br />
(kurz nach deren Gründung) angehörte, wurde ihm ein wichtiger Ort des<br />
Austauschs und der Pflege von Freundschaften mit Gleichgesinnten. Nach der<br />
selbst gewählten Frühpensionierung mit 61 Jahren konnte er sich seinem<br />
Hobby mit voller Intensität widmen, was 1987 zur Eröffnung des „DIVERTI-<br />
MENTO“ führte. In diesem „Kabinett für alte Musikinstrumente“, untergebracht<br />
in den Räumen eines stilvollen Bürgerhauses an der Seestrasse von
In Memoriam: Hannes Paul Scherrer 45<br />
Rüschlikon, konnte Hannes Paul Scherrer seine stattliche Sammlung der Öffentlichkeit<br />
zugänglich machen. Praktisch alle ausgestellten Instrumente waren<br />
spielbar und wurden von ihm selbst vorgeführt, durften aber auch von<br />
den Besuchern gespielt werden. Das DIVERTIMENTO wurde jährlich von<br />
rund 2000 Personen besucht und erfreute sich in der näheren und weiteren<br />
Umgebung grosser Beliebtheit auch zur Durchführung von Familien- und<br />
kleineren Betriebsanlässen. Daselbst wurden über 50 Hauskonzerte, zumeist<br />
in Verbindung mit literarischen Rezitationen, durchgeführt. Unvergessen sind<br />
Zusammenkünfte des GEFAM-Vorstandes, wo wir Hannes Pauls Begeisterung<br />
für die Materie miterleben durften. Es war ein Glücksfall, dass wir ihn 1986<br />
für die Führung der Vereinskasse gewinnen konnten. Seine spontane Bereitschaft<br />
dafür entsprach jedoch ganz seinem Wesen, in einer Gemeinschaft<br />
nicht nur „konsumierend“, sondern auch als aktiver Gestalter und Helfer mitzuwirken.<br />
Dieses Amt hatte Hannes Paul Scherrer 10 Jahre lang inne, und seine<br />
Verdienste hat Thomas Drescher im Jahresbericht 2006 der GEFAM anläss-
46 <strong>Glareana</strong> <strong>2011</strong> (Heft 1)<br />
lich des Rücktritts von Kassier und Revisor sehr treffend beschrieben: „Unter<br />
der Obhut dieses ,eingespielten Teams’ ” durfte der Vorstand sicher sein, dass<br />
die Finanzen in bester Ordnung sind. Während der Amtszeit der beiden konnte<br />
das Vermögen der Gesellschaft von rund <strong>60</strong>00 auf nun rund 14.000 Fr. gesteigert<br />
werden - eine Erfolgsbilanz. Zudem hat insbesondere Hannes Paul<br />
Scherrer die finanztechnisch aufwendigen Geschäfte der Edition des Buches<br />
von Walter Kälin und des Vertriebs von drei Nummern „musica instrumentalis”<br />
souverän bewältigt. Nicht zu vergessen den Sonderfonds für die Inventarisierung.<br />
Es ging zeitweise also um weit mehr, als nur die Mitgliederbeiträge<br />
zu verbuchen. Hannes Paul Scherrer hat mit Akribie und auch mit einer gewissen<br />
Hartnäckigkeit (wenn es etwa um das Einholen ausstehender Mitgliederbeiträge<br />
ging) die Finanzen der Gesellschaft ausgezeichnet geführt, vermehrt,<br />
und in einem hervorragenden Zustand übergeben. Für den Vorstand<br />
war es ein ausgesprochen gutes und entlastendes Gefühl, diese Aufgabe der<br />
Finanzverwaltung bei Hannes Paul Scherrer und Dr. Heinrich Kawinski in<br />
kompetenten und verlässlichen Händen zu wissen...<br />
Nach seinem Umzug von Rüschlikon nach Oberrieden und der damit verbundenen<br />
Schliessung und teilweisen Auflösung des „DIVERTIMENTO“ Ende<br />
1998 konnte H.P. Scherrer zusammen mit seiner zweiten Lebensgefährtin<br />
Myrtha Bosshard bei bester Gesundheit noch 12 Jahre relativen Ruhestandes,<br />
reisend, sportlich aktiv und wo immer nötig Hand anlegend, vollauf und<br />
dankbar geniessen. Die Krankheit trat völlig unerwartet ein und beendete<br />
nach kurzer Zeit das wertvolle irdische Dasein von Hannes Paul Scherrer. Die<br />
GEFAM hat ein langjähriges, treues und besonders aktives Mitglied verloren,<br />
dem wir stets in grosser Dankbarkeit gedenken werden.
Edelmann-Sammlung im Museum Ackerhus in Ebnat-Kappel 47<br />
Edelmann-Sammlung im Museum Ackerhus<br />
in Ebnat-Kappel<br />
von Peter Zünd<br />
An der Hauptversammlung der GEFAM in Seewen SO vom 2.4.<strong>2011</strong> machte<br />
der Unterzeichnete auf die drohende Liquidation des Museums Ackerhus aufmerksam.<br />
Für die GEFAM von höchstem Interesse sind die in der Albert Edelmann-Sammlung<br />
vorhandenen Hausorgeln, Halszithern, diversen andern historischen<br />
Instrumente und Musikalien. Zwei Tage nach unserm Treffen wurde<br />
bekannt, dass eine Toggenburger Initiativgruppe entstanden ist, welche zusammen<br />
mit der Gemeinde Ebnat-Kappel und der Edelmann-Stiftung nach einer<br />
Lösung sucht, damit die Sammlung erhalten und aktiviert wird. Sobald<br />
ein diesbezügliches Konzept erarbeitet ist – und das soll in den nächsten Monaten<br />
entstehen – wird die Suche nach einer erweiterten finanziellen Trägerschaft<br />
aktuell werden. Es ist vorgesehen, die GEFAM auf dem Laufenden zu<br />
halten.<br />
Peter Zünd, Museumsarchivar<br />
Buchenstrasse 4, 9463 Oberriet<br />
Zu verkaufen<br />
Tafelklavier unsigniert, ca. 1840/50.<br />
Umfang: FF - g'''' 6 Oktaven + 1 Ton.<br />
Stimmtonhöhe a = 430 Hz.<br />
Untertasten: Knochen / Obertasten:<br />
Birnbaum mit Ebenholz-Auflage.<br />
Oktavmass: 158 mm.<br />
Wienermechanik. Fortepedal.<br />
Gehäuse: Nussbaum Sägeschnitt- Furnier.<br />
Masse: Breite 164 cm, Tiefe 78,5 cm<br />
Korpushöhe: 31 cm.<br />
Totalrevidiert: 2001<br />
Kontaktadresse: Do und Andres Zeller, Kirchgasse 25, 8001 Zürich<br />
Tel: 044 251 72 58<br />
(Das Instrument steht jetzt in Ebnat-Kappel, Toggenburg)