Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
IM LEBEN UNTERWEGS<br />
EMOTION, FANTASIE, WAHRHEIT<br />
ROTTEN VERLAGS AG, 2016
IM LEBEN<br />
UNTERWEGS<br />
EMOTION, FANTASIE, WAHRHEIT<br />
«JETZT BLÜHT ER WIEDER UNSER FLIEDER.<br />
ES IST ALS SINGE ER MIT LIEDER!<br />
SEIN DUFT BETÖRT FRECH MEINE SINNE!<br />
ICH FÜHL’ MAL HIN, HALTE MAL INNE!»<br />
- ELISE BREGY -<br />
ELISE BREGY
ÜBERRASCHUNGEN<br />
1<br />
Ein Morgen nicht wie jeder 8<br />
Der «Grüne Onkel» 13<br />
Der Zauber des Lächelns 17<br />
Bella Venezia 41<br />
Besser spät als nie 48<br />
Heimkehr58<br />
Der Mann mit der braunen Mappe 70<br />
MEINUNGEN UND TATSACHEN<br />
2<br />
Tierisches84<br />
Gedankenblitze87<br />
Kopfkino im Frühling 91<br />
© 2016, Elise Bregy<br />
Texte Elise Bregy, Raron<br />
Gestaltung Sven Frachebourg, Naters<br />
Verlag Rotten Verlags AG, Visp<br />
Druck Mengis Druck AG, Visp<br />
ISBN 978-3-906118-49-9<br />
ZWISCHEN HIMMEL UND ERDE<br />
3<br />
Seifenblasen94<br />
Karriere95<br />
Österliche Metamorphose 96<br />
Liebeserklärung98<br />
Intime Erfahrungen 99<br />
Abkühlung99<br />
Treffen im weltweiten Netz 100<br />
Und alles wird gut 102<br />
Gedruckt im Wallis<br />
5…
ÜBERRASCHUNGEN<br />
1
EIN MORGEN NICHT<br />
WIE JEDER<br />
Ausgerechnet heute fühlte Julian sich nicht ausgeruht! Nach<br />
Feierabend hatten zwei Arbeitskollegen bei ihm vorbeigeschaut.<br />
Eingeladen hätte er sie am Vortag seines besonderen Arbeitstages<br />
bestimmt nicht! Nun, sie waren halt gekommen, hatten<br />
sich einen Fussballmatch geschaut und darüber diskutiert. An<br />
solchen Abenden wurde es immer spät oder besser gesagt früh.<br />
Bis der zweite Kumpel gegangen war, war es 3 Uhr morgens<br />
geworden. Paul war der Letzte gewesen, der das Haus verlassen<br />
hatte. Julian konnte dann endlich schlafen gehen.<br />
Just als Julians Kollege Paul die Wohnung verlassen hatte, waren<br />
die ersten Regentropfen gefallen, immer schneller und immer<br />
mehr. Dann war ein Gewitter über die Gegend gezogen. Blitze<br />
waren durch die Luft gezischt und der Donner hatte seinen<br />
immensen Lärm dazu beigetragen. So hatte Julian den Schlaf<br />
vergebens gesucht. Zudem war er auch noch von der Diskussion<br />
aufgekratzt. Seine Mannschaft hatte schon wieder verloren.<br />
Er hatte versucht, sich in den Schlaf zu zählen, Schäfchen oder<br />
andere Herdentiere. «Wie naiv!», versuchte er sich dafür zu<br />
entschuldigen. Morgen, nein heute musste er in voller Frische<br />
in der Bank stehen, wenn seine anspruchsvollste Kundin kam.<br />
Nebelschwaden hingen noch über der Gegend, als die ersten<br />
Menschen erwachten. Es war noch feuchtkalt; wurde langsam<br />
frisch. Die Dunkelheit wich vorsichtig dem Tageslicht. Die<br />
Häuser öffneten ihre Augen, indem hier und dort ein Licht angezündet<br />
wurde. Die Welt war noch fast stumm; lediglich das<br />
erste Tram war vorbei gefahren; seine Bremsen quietschten –<br />
Julians Tagwache.<br />
Genau dieser Lärm weckte Julian jeden Morgen; damit war es<br />
Zeit, den Tag in Angriff zu nehmen. Er stand immer nach diesem<br />
Gequietsche auf. Das Tram tat ihm die Zeit kund; es war sein verlässlicher<br />
Wecker. Julian schätzte diese Pünktlichkeit; er schätzt<br />
die Pünktlichkeit im Allgemeinen. Etwas anderes wollte er sich<br />
gar nicht leisten. Ironischerweise gab es dann auch Menschen,<br />
die sich an Julians Arbeitsweg orientierten. Die erfuhren ihrerseits<br />
mit ihm auch die Uhrzeit.<br />
Heute wie jeden Tag lebte Julian seine Rituale. Nachdem das<br />
Tram vorbeigefahren war, schwang er sich aus dem Bett; holte<br />
die Morgenzeitung vor der Türe, warf sie auf den Tisch und ging<br />
anschliessend unter die Dusche. In der Küche bereitete er sich<br />
sein Frühstück vor. Er schmierte sich ein Honigbrot und setzte<br />
die kleine Kaffeemaschine in Betrieb. Zum Essen liess er sich wenig<br />
Zeit. Er nahm einen Bissen zu sich, streifte sich kauend das<br />
Hemd über – ein weisses Hemd. Dann schlug er die Zeitung auf.<br />
Er überflog die Schlagzeilen. «Wieder ein Terroranschlag! Was<br />
für eine fürchterliche Welt wir haben!», murmelte er zu sich selber.<br />
Dann blätterte er den Sportteil nach den Fussballresultaten<br />
durch. Zuletzt überflog er die letzten Börsenkurse.<br />
Sich anziehen und gleichzeitig essen, das war ein gefährliches<br />
Unterfangen; er wusste es, des weissen Hemdes wegen. Dennoch<br />
wagte Julian das Hemd zuzuknöpfen. «Nein!» Schon hatte<br />
ein Tropfen Honig eine klebrige Spur gelegt. Das warf ihn<br />
8…<br />
9…
in seinem Programm zurück. «Shit!», zischte er gereizt, was<br />
nicht seiner üblichen Wortwahl entsprach. Das Missgeschick<br />
bedeutete, dass er das zweite Hemd erst bügeln musste. Und<br />
wie er Bügeln hasste! «Das ist doch keine Arbeit für mich!»,<br />
schimpfte er lauthals.<br />
Am Arbeitsplatz waren weisse Hemden und Krawatte obligatorisch;<br />
quasi seine Arbeitskleidung. Die Krawatte band er sich vor<br />
dem Garderobenspiegel. Den Knoten hätte er sich auch blind<br />
binden können, so viel Übung hatte er bereits. Julian hasste es,<br />
wenn sein Morgenritual von irgendetwas gestört wurde. Das<br />
war heute der Fall – in doppelter Portion! Diese unsäglichen<br />
Zwischenfälle nagten an seinem Nervenkostüm.<br />
Endlich war die Krawatte gebunden, die braune Mappe unter<br />
dem Arm geklemmt. Heute fehlte das Pfeifen auf den Lippen;<br />
er war zu müde. Die Füsse trugen ihn mühsamer als sonst<br />
in Richtung Arbeitsplatz. Sein Weg verlangte bescheidene 15<br />
Minuten. Die lief er immer zu Fuss, fahren wollte er sie nicht.<br />
Laufen erfrischte normalerweise seinen Geist. Heute hingen Nebelschwaden<br />
auch noch in seinem Kopf; so kam es ihm vor. Sein<br />
Dienst begann um 07.30 Uhr. Um 08.00 Uhr, wenn die ersten<br />
Bankkunden kamen, musste das gesamte Team für den Empfang<br />
der Kunden bereitstehen. Ihnen sollte man ja mit strahlendem<br />
Lächeln und weissen Zähnen entgegentreten – auch mit<br />
weissen Hemden natürlich.<br />
Seit geraumer Zeit war der Montagmorgen für Julian ein besonderer<br />
Arbeitstag. Im Verlaufe des Vormittags kam nämlich eine<br />
Diva. So nannten sie seine Kollegen; bei Julian fühlte sich das<br />
abschätzig an. Er mochte den Begriff nicht. Für ihn kam Frau<br />
Opernsängerin. Er hatte grossen Respekt vor ihr. Schon dreimal<br />
hatte er sie im Opernhaus singen gehört. Ihretwegen war er in<br />
die Oper gegangen – nur ihretwegen.<br />
Seine Kundin – die Frau Opernsängerin hatte ihre Arien geschmettert.<br />
Manchmal waren die Töne so schneidend hell und<br />
hoch, dass sie jedes edle Glas zum Bersten gebracht hätten.<br />
So empfand Julian die Arie der «Königin der Nacht» aus Mozarts<br />
Zauberflöte. Leider war das nicht seine Lieblingsmusik.<br />
Doch, der Gentleman, wie es im Buche steht, hatte seiner<br />
Kundin später, bei ihrem Besuch auf der Bank Komplimente<br />
gemacht. Die Opernsängerin hatte sich dann immer überschwänglich<br />
dafür bedankt. Bei der Gelegenheit vergass sie<br />
nie, das Bankhaus ihres Vertrauens und speziell diesen Angestellten<br />
zu loben.<br />
Längst war Julian in allen Bankgeschäften der Vertraute von der<br />
Frau Opernsängerin geworden. Nur er durfte sich um ihre Belange<br />
und Wünsche kümmern. Am Montag brachte sie jeweils ihre<br />
Schmuckstücke zurück, die sie bei der Aufführung getragen hatte.<br />
Die Frau betrat die Bank immer zu gleichen Zeit, immer mit<br />
knallroten Lippen und einem dicken Seidenschal um den Hals,<br />
der ihre Stimmbänder schützen sollten. Ihr folgte eine süssliche<br />
und ziemlich penetrante Wolke. Den Gruss der Bankleute erwiderte<br />
sie mit einem theatralischen Nicken.<br />
Der üblichen Zeremonie folgend stieg Julian mit der Frau Opernsängerin<br />
in den Tresorraum hinunter. Obwohl er sich des Reglements<br />
wegen für einen Moment entfernen sollte, durfte er heute<br />
dabei bleiben, wenn Frau Opernsängerin, die mit üppigen Steinen<br />
besetzte Halskette, das edle Armband und die hochkarätigen<br />
10…<br />
11…
Ohrringe in die dafür vorgesehenen, mit Samt ausgelegten<br />
Schachteln und Schächtelchen legen wollte.<br />
Das Öffnen des Safes empfand Julian als ehrfürchtigen, fast heiligen<br />
Moment. «Eine Schatztruhe!» Dann – plötzlich ein Blitz in<br />
seinem Kopf! «Nein, dieses Gewitter und die Nebelschwaden<br />
noch immer!», glaubte er, seien schuld. «Oder – oder sehe ich<br />
das richtig?» Seine Augen weiteten sich. Das mit Brillanten besetze<br />
Collier, das feudale Armband und die angeblich wertvollen<br />
Ohrringe – das ganze Geschmeide – war lediglich billiger<br />
Modeschmuck!<br />
DER «G RÜNE ONKEL»<br />
Der dunkle Jeep bog nach rechts ab und fuhr die steile Bergstrasse<br />
hoch. Immer wieder kreuzten ihn andere Fahrzeuge. «Was<br />
ist denn das für ein Verkehr heute?», fragte er sich. Sonst störte<br />
er sich nicht daran. «Komisch!» Heute fand er jedes Auto zu viel,<br />
das ihm entgegenkam.<br />
Das Radio hatte am Morgen wärmere Temperaturen gemeldet,<br />
hatte er gehört. Dennoch fröstelte ihn. Hätte er doch bloss den<br />
grünen Schal mitgenommen, wünschte er sich. «Es wird hoffentlich<br />
wärmer werden, wenn die Leute da sind», murmelte er zu<br />
sich selber. Auf 1900 m ü. M. ist Ende August schon ziemlich frisch.<br />
Dieter fuhr sein Auto zügig die Bergstrasse hoch. Diese Strasse<br />
hatte er unzählige Male befahren. Er hatte sich immer gefreut,<br />
dort oben in der guten Luft und in der Natur sein zu können.<br />
Die Natur war ohnehin das Seine. Er kannte jeden Nadel – oder<br />
Laubbaum mit Namen. Er kannte jede Bergblume, jeden Strauch<br />
und er kannte jedes Tier. Manchmal gab er sogar einem Insekt<br />
seinen korrekten Namen. Bücher über Fauna und Flora gehörten<br />
zu seiner regelmässigen Lektüre. Nicht zuletzt deshalb mochten<br />
die jungen Leute aus der Verwandtschaft, wenn Onkel Dieter zu<br />
Besuch kam. Dann hatten sie tausend Fragen an ihn. Vor allem<br />
musste er ihnen Jagdgeschichten erzählen. Der «Grüne Onkel»,<br />
wie einige wenige ihn nannten, schwelgte dann in seinen Erinnerungen<br />
und genoss es, wenn die Jungen an seinen Lippen<br />
hingen. Er erzählte ihnen Geschichten von der Pirsch und den<br />
Abenteuern in der Natur.<br />
12…<br />
13…
Diese Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er durchfuhr den<br />
Laubwald. Birken, Eichen, Buchen. Im Vorbeifahren sah er eine<br />
geknickte Buche. «Wie das? Das letzte Unwetter konnte diesen<br />
stämmigen, alten Baum umlegen?», murrte er. Heute liess ihn<br />
das den Kopf schütteln und weiter fahren. Anderntags hätte er<br />
angehalten, um dies dem Förster telefonisch mitzuteilen. Heute<br />
waren seine Gedanken anderweitig beschäftigt.<br />
Bald würde er noch das letzte Bergdorf passieren. Nein, einkehren<br />
wollte er heute nicht; ihm war nicht danach. Dort wären<br />
Bekannte auf ihn zugekommen, um ihn nach seinem Befinden<br />
zu fragen und ein wenig mit ihm zu plaudern. Bei diesen Gesprächen<br />
drehte es sich fast ausschliesslich um die Natur und<br />
deren Erhalt. Und eben – bald würde ja die Jagd eröffnet und<br />
er würde doch sicher wieder einen Zehn – oder Zwölfender erlegen<br />
wollen.<br />
Dieter griff nach dem Umschlag auf seinem Beifahrersitz. Ob<br />
er wohl die richtige Entscheidung getroffen hatte? «Jetzt lässt<br />
sich ohnehin nichts mehr ändern», resümierte er. Er hatte überlegen<br />
müssen, was mit seinem Häuschen geschehen sollte. Der<br />
unverheiratete Onkel Dieter war ledig geblieben und hatte daher<br />
auch keine Kinder, denen er das Häuschen hätte vererben<br />
können.<br />
Die Auffahrt war grösstenteils geschafft. Jetzt galt es noch den<br />
Nadelwald zu durchfahren.<br />
Wie konnte das sein, dass die Arven schon die ersten Nadeln<br />
verloren? «Ach, die Jahreszeiten sind auch nicht mehr, was sie<br />
mal waren!», brummte er vor sich hin. Von seinem Vater hatte<br />
er damals gelernt, dass das frühe Nadeln der Arven einen<br />
strengen Winter voraussagte. Nach der Jagd würde er das Haus<br />
dementsprechend wintergerecht hinterlassen müssen, früher<br />
als sonst.<br />
Ein Sonnenstrahl fiel in den Bergbach, was Dieter erfreute. «Also<br />
doch! Ein bisschen Wärme brauchen wir schon noch!» Er beschloss<br />
anzuhalten, auszusteigen und an den Bach zu gehen.<br />
Das Wasser plätscherte heute irgendwie nervös, unregelmässig.<br />
Beim letzten Überlaufen des Staudammes musste der Bach besonders<br />
viel Geröll mitgeschoben haben. Das wird es wohl gewesen<br />
sein. Dieter versucht, im Bach sein Spiegelbild zu finden.<br />
«Du alter Knabe, das hast du jetzt davon!», flüsterte er dem<br />
Spiegelbild zu und erfrischte sich das Gesicht mit dem kalten<br />
Wasser. Er trocknete sich die Hände an der Hose ab, bestieg den<br />
Jeep und fuhr die letzten Kilometer zu seinem Häuschen. Sein<br />
Herz fühlte sich heute schwer an. Dieses Gefühl hatte er hier<br />
oben noch nie gehabt.<br />
Nach der letzten Kurve sah er schon zwei Kinder vor seinem<br />
Haus umherhüpfen. Sie konnten seine Ankunft wohl kaum erwarten.<br />
Dieter fühlte nicht das Gleiche, als er die Eltern der<br />
Kinder hinter dem Haus hervorkommen sah. Sie winkten dem<br />
heranfahrenden Auto zu. Ihre Neugier hielt sie kaum zurück; sie<br />
wussten nicht, warum sie genau heute, zu dieser bestimmten<br />
Zeit hier sein sollten.<br />
Die Kinder liefen auf Dieter zu: «Grüner Onkel, grüner Onkel!»,<br />
riefen sie, obwohl Dieter der Onkel ihrer Eltern war. Dieter<br />
nahm das Mädchen auf seine Arme; der Junge folgte den beiden<br />
in Richtung Eltern. «Oh, ich habe etwas vergessen!» Dieter<br />
14…<br />
15…
kehrte samt Kind zurück zum Auto, holte den Briefumschlag<br />
vom Beifahrersitz und ging zurück, seinem Neffen und dessen<br />
Frau die Hand schütteln. «Lasst uns setzen, ich habe euch etwas<br />
mitzuteilen!»<br />
Die Kinder waren neugierig, die Eltern nicht weniger. Dann öffnete<br />
Dieter den Briefumschlag und übergab ihn dem Vater der<br />
Kinder. Darin befand sich ein Auszug aus dem Register, der besagte,<br />
dass das Häuschen samt Umschwung, so wie es da stand,<br />
ab dem Ersten des nächsten Monats der Familie dieses Neffen<br />
gehörte. Hier habt ihr die Akte. Das Haus ist nun auf euren Namen<br />
eingetragen. Nun seid ihr die rechtmässigen Besitzer dieses<br />
kleinen Paradieses!»<br />
Der «Grüne Onkel» holte tief Luft. «Einen Wunsch und eine<br />
Bitte hätte ich noch. Ich möchte diesen Herbst und die mir<br />
verbleibenden Herbste, so Gott es will, während der Jagd,<br />
mit meinen Kollegen weiterhin in diesem Haus wohnen. Und<br />
– ganz wichtig! Hütet das Häuschen wie euren Augapfel. Es<br />
hat vielen lieben Menschen Freude bereitet und soll es auch<br />
weiterhin tun. Mit meinen etlichen Jahren mag ich nicht mehr<br />
dafür die Verantwortung tragen. Die passt nun viel besser in<br />
jüngere Hände!»<br />
Nach ein paar Sekunden fügte er hinzu: «Wer von meinen<br />
Nichten und Neffen das Haus erben sollte, habe ich mir nicht<br />
lange überlegen müssen. Ihr zwei», er wandte sich an die Kinder,<br />
«ihr seid die Einzigen, welche mich ausnahmslos ‹Grüner<br />
Onkel› rufen. Das mag ich sehr, denn dieser Name besagt, wie<br />
sehr ich die Natur liebe und wie sehr mein Herz an ihr und an<br />
euch hängt!»<br />
DER ZAUBER DES LÄCHELNS<br />
Das Lächeln sass traurig auf der Parkbank unter einer Trauerweide.<br />
Von den herabhängenden Ästen fühlte es sich getröstet.<br />
«Wenigstens kann dieser Baum verstehen, wie es mir geht»,<br />
anerkannte es das sanfte Streicheln der herabhängenden Äste.<br />
Komisch muss das traurige Lächeln ausgesehen haben. Seine<br />
Augen schauten traurig um sich; seine Mundwinkel waren<br />
nicht nach oben gezogen. Es fühlte sich verlassen. «Ich bin enttäuscht»,<br />
murmelte es. «Ich bin ganz alleine auf dieser Welt.<br />
Tagein, tagaus, ich sehe die Menschen kaum lächeln. So alleine<br />
lebt es sich nicht gut; zudem ist es nicht gut für die Menschen,<br />
wenn sie nicht mehr lächeln können.»<br />
Während es so dahinsinnierte, hörte es dem Gesang einer Amsel<br />
zu. Die Melodien waren in D-Dur, beinahe das gesamte Amsel-Repertoire<br />
durfte es sich anhören. «Wie gut das tut!», sagte<br />
sich das Lächeln. Die Mundwinkel hoben sich leicht und der<br />
Blick hellte sich auf. In dem Moment flog die Amsel neben das<br />
Lächeln auf die Rückenlehne der Parkbank. «Hallo, du», grüsste<br />
sie. «Was machst du hier so alleine? Solltest du dich nicht in der<br />
Welt bewegen und die Leute animieren zu lächeln?»<br />
«Was du da sagst, weiss ich selber», kam mehr mürrisch, denn<br />
höflich zurück. «Es wird immer schwieriger. Schau doch selber in<br />
die Welt. Wie viele Probleme wir haben, sogar Krieg, Krieg überall<br />
in der Welt und dieser fürchterliche Terrorismus. Ich existiere<br />
beinahe nicht mehr. Wer will schon bei den vielen Schwierigkeiten<br />
noch lächeln, obwohl – obwohl ein Lächeln hier und dort<br />
16…<br />
17…
sogar Wunder wirken könnte. Ein Lächeln löst zwar keine grossen<br />
Probleme und heilt keine Krankheiten, aber es entkrampft,<br />
gelegentlich heilt es sogar kleine Wunden, fiese Wunden der<br />
Seele. Diese sieht man nicht, sie schmerzen aber nicht weniger,<br />
als diejenigen des Körpers und mit einer Operation werden sie<br />
auch nicht geheilt.»<br />
«Wenn du einverstanden bist», begann die Amsel, «probieren<br />
wir gemeinsam, dem einen oder anderen Menschen ein Lächeln<br />
ins Gesicht zu zaubern.» «Wenn du meinst», rief das Lächeln<br />
begeistert. «Ich bin dabei. Unterstützung kann ich sehr gut gebrauchen;<br />
lass uns gleich loslegen!»<br />
Das Lächeln und die Amsel mussten nicht lange suchen, bis sie<br />
Menschen gefunden hatten, denen ein Lächeln guttun würde.<br />
So ging das Lächeln guten Mutes auf eine Parkbank zu, auf der<br />
ein älteres Paar sass. Beide trugen eine Schirmmütze, um sich<br />
vor den gleissenden Sonnenstrahlen zu schützen. Die Amsel war<br />
rausgeflogen; sie hatte die beiden ausfindig gemacht. Vorerst<br />
blieben das Lächeln und die Amsel in Reichweite der beiden<br />
stehen; lauschten dem Gespräch.<br />
«Weisst du, wie du heisst?», fragte der Mann die Frau. Diese<br />
schaute mit starren Augen auf den Boden. Dann wiederholte<br />
der Mann liebevoll: «Liebes, sag mal, wie du heisst.» Die Frau<br />
schaute ihn mit grossen Augen an: «Ich heisse Silvia.» «Aber<br />
nicht doch!», lehnte der Mann ab. «Silvia ist unsere Tochter;<br />
du heisst nicht Silvia. Überleg doch mal gut.» Die Frau antwortete<br />
nicht und schaute wieder auf den Boden; blieb stumm.<br />
Der Mann nahm ihre Hand in die seine und folgte ihrem Blick<br />
– ebenfalls auf den Boden.<br />
18…<br />
19…
«Es ist Zeit!», zwitscherte die Amsel. «Unsere Chance ist gekommen.»<br />
Dann flog sie – dem Blick der Frau folgend auf den<br />
Boden und begann zu singen. Zuerst zaghaft, dann etwas lauter.<br />
Die Melodie ähnelte einem bekannten, alten Volkslied. Bald<br />
nach den ersten Tönen hellte sich das Gesicht der Frau auf und<br />
sie begann, leise vor hin sich zu trällern: «Am Brunnen vor dem<br />
Tore, da steht ein Lindenbaum. Ich träumt’ in seinem Schatten…»<br />
Dann legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.<br />
Der Mann begann ebenfalls zu lächeln: «Wie heisst du denn?»<br />
«Dumme Frage», kam lächelnd zurück; ich heisse Anna.» «Ja,<br />
du heisst Anna!» Strahlend nahm der Mann seine alzheimerkranke<br />
Frau in die Arme; sein Lächeln wich nicht mehr von seinem<br />
Gesicht.<br />
2…<br />
Das Lächeln und die Amsel zogen weiter im Park, dorthin, wo<br />
Kinder spielten. Ihre Mütter unterhielten sich angeregt. Ihr Gewicht<br />
war das Hauptthema, denn ihre Körperfülle entsprach<br />
nicht der modernen, attraktiven Frau, die ja schlank und rank<br />
sein sollte. Sie schienen sich gegenseitig zu beklagen – vielleicht<br />
auch zu beraten. Vom Alter her waren sie sich sehr ähnlich; Alle<br />
waren wohl etwas über dreissig Jahre.<br />
«Was ich schon alles probiert habe», beklagte sich Hanna, die<br />
Frau mit dem Pferdeschwanz, besorgt. «Jede Diät, welche mir<br />
zu Ohren oder unter die Augen gekommen ist, habe ich ausprobiert.<br />
Nichts hat geholfen.» «Wem sagst du das», wusste<br />
Ines. Die Frauenzeitschriften sind voll von teuren Diäten, die<br />
nichts helfen. Wenn ich ein paar Kilos abnehme, sind sie in<br />
kurzer Zeit in doppelter Fülle wieder auf meiner Hüfte. Um von<br />
meinem Körpergewicht abzulenken, habe ich mir diese freche<br />
Frisur machen lassen.» Ihre kurzen, blonden Locken standen<br />
hochgekämmt auf dem Kopf, von Haargel glänzend.<br />
Sich mit ihren Gewichtsproblemen befassend, hatten die Frauen<br />
übersehen, dass die Kinder auf eine Arve geklettert waren – übrigens<br />
nicht der geeignetste Baum für einen Kinderspielplatz innerhalb<br />
der Parkanlage. Die beiden Knaben hatten sich gegenseitig<br />
dazu ermutigt, den Baum zu erklettern. Der gerade Stamm<br />
hatte ihnen das Vorhaben etwas erschwert, dennoch hatten<br />
die beiden es geschafft. Das dritte Kind, das Mädchen, hatte<br />
nicht den Mut gefunden, es den beiden Buben gleichzutun;<br />
20…<br />
21…
zudem klettern Mädchen nicht auf Bäume. So war Anja unter<br />
dem Baum geblieben. Mit Argusaugen hatte das Mädchen verfolgt,<br />
was die beiden Spielgenossen oben trieben.<br />
Während ihre Mütter sich gegenseitig den Frust von der Seele<br />
redeten, waren die beiden Buben immer höher geklettert. Dabei<br />
rissen sie links und rechts Nadelbüschel ab und warfen sie dem<br />
Mädchen zu, das unter dem Baum stand und hinaufschaute, um<br />
kichernd die Büschel aufzufangen. Die Gefahr für das Kind unter<br />
dem Baum, dass ihm eine Arvennadel in ein Auge fallen und das<br />
Auge verletzen könnte und das Risiko, dass eines der Kinder herunterfallen<br />
könnte, steigerte sich zusehends; die Kinder wurden<br />
immer übermütiger.<br />
Das Lächeln und die Amsel hatten die Gefahr erkannt und beschlossen<br />
zu handeln. Während die Amsel neben die beiden<br />
Frauen flog, blieb das Lächeln im Hintergrund. Es beobachtete<br />
die Kinder und behielt gleichzeitig die Frauen im Auge. Die Amsel<br />
begann vor den beiden Frauen hin und her zu tänzeln.<br />
«Lästiges Vieh!», meckerte Hanna. Sie hatte sich soeben die Lippen<br />
nachgezogen. «Was soll der Quatsch!», bekräftigte Ines.<br />
«Ach, weisst du, fuhr Hanna fort: «Bestimmt hat dieser Vogel<br />
hier irgendwo ein Nest und will es verteidigen. Vögel sind ähnlich<br />
wie Menschen; sie verteidigen ihre Brut mit allen Mitteln.»<br />
«Apropos Brut», fragte Ines. «Wo sind eigentlich unsere Kinder?»<br />
Als die Frauen suchend um sich blickten, trippelte die Amsel<br />
zur Arve und zurück, immer schneller und schneller, ihre Flügel<br />
begannen zu flattern, als ob sie wegfliegen wollte. Endlich abgelenkt<br />
von ihren Problemen erblickten die Mütter das dritte<br />
Kind unter dem Baum. Just in dem Moment fing es wieder ein<br />
Nadelbüschel auf, das von oben herabgeworfen worden war.<br />
Die Blicke der Frauen folgten dem Baumstamm nach oben ins<br />
Geäst. Dort sahen sie die Jungs, Nadelbüschel abbrechend, um<br />
sie Anja zuzuwerfen.<br />
«Oh mein Gott! Schau mal, wo die Kinder sind. Und dann werfen<br />
sie noch Arvennadeln nach unten. Wie schnell könnte so eine<br />
Nadel ein Auge treffen und es verletzen. Nicht zu denken, was<br />
passieren könnte!», schrie Hanna entsetzt. «Kinder! Kinder!»<br />
«Sven, Daniel, was macht ihr da oben; kommt sofort herunter!»,<br />
rief sie mit Angst in der Stimme. «Aber vorsichtig! Es ist doch<br />
nicht zu glauben. Kaum lässt man euch eine Minute aus den<br />
Augen, macht ihr schon Unsinn!» Hannas Stimme vibrierte.<br />
Die beiden Knaben kletterten vorsichtig etwas tiefer. Zuletzt<br />
hätten sie noch springen müssen. Weil sie sich das nicht getrauten,<br />
riefen sie ihre Mutter um Hilfe.» Mama, du musst uns<br />
helfen!» Beide Frauen mussten sich gegenseitig stützen, um<br />
die Knaben vom ersten Ast zu hieven. «Gott sei Dank!», Hanna<br />
atmete laut auf. «Das ist wieder mal gut gegangen.» Dann<br />
legte sich ein beruhigendes Lächeln auf ihr Gesicht. «Weisst<br />
du was?», fragte Ines. «Wir sollten uns mehr um unsere Kinder<br />
kümmern; die haben absolute Priorität; unsere Gewichtsprobleme<br />
sind zweitrangig.»<br />
«Wahrscheinlich hätte erst etwas passieren müssen, bevor wir<br />
uns wieder auf das Wesentliche konzentriert hätten! Übrigens<br />
sollten wir jetzt dem blöden Vieh danken», meinte Hanna. «Du<br />
meinst natürlich die flatternde Amsel», lächelte Ines.<br />
22…<br />
23…
3…<br />
Das Lächeln hatte aus dem Hintergrund das Geschehen verfolgt.<br />
«Gut gemacht!», sagte es zur Amsel. «Wir zwei sollten<br />
zusammen in die Welt hinaus gehen und den Menschen ein<br />
Lächeln auf ihre Gesichter zaubern.» «Das wirst du von nun an<br />
alleine tun müssen. Ich meinerseits, ich bleibe hier im Park. Du<br />
wirst dir andere Unterstützung suchen müssen. In der Welt der<br />
Menschen, der Tiere und der Pflanzen gibt es immer wieder einen<br />
Anstoss zum Lächeln. Achte auf die Zufälle; es gibt sie, die<br />
glücklichen Zufälle. Halt die Augen offen und nimm die Hilfen<br />
an, die sich dir bieten.» Damit entflog die Amsel aus dem Blickwinkel<br />
des Lächelns.<br />
«Dann werde ich mich wohl oder übel jetzt alleine auf den Weg<br />
machen», murmelte das Lächeln zu sich selber und bog ab in<br />
Richtung Stadt. Dabei kam es an einer Bank vorbei.<br />
Eine ältere Frau stand am Bankautomaten und wollte Geld beziehen.<br />
Sie hatte bereits dreimal einen falschen Code eingegeben,<br />
und jetzt wurde die Bankkarte eingezogen. Darüber erschrak<br />
sie sehr heftig und schaute ängstlich und ratlos um sich.<br />
«Hilfe!», formulierten ihre Lippen. «Was soll ich denn jetzt bloss<br />
tun?», fragten ihre ängstlichen Augen.<br />
herum, um den Leuten das Geld abzunehmen. Ich mache das<br />
zum ersten Mal. Ich wollte doch nicht, dass alles Neue an mir<br />
vorbeigeht. Mein Mann wollte nicht, dass ich bei diesem neumodischen<br />
Zeug mitmache. Dabei hielt sie ihre Handtasche verkrampft<br />
in der Hand. Das Lächeln setzte sein vertrauenswürdigstes<br />
Lächeln auf: «Kommen Sie, wir gehen zusammen in die<br />
Bank; dort wird man Ihnen weiterhelfen.»<br />
Zögernd betrat die Frau zusammen mit dem Lächeln die Bank.<br />
Ein Kundenschalter war frei. «Helfen Sie bitte dieser Frau, ihre<br />
Karte ist eingezogen worden», bat das Lächeln den Bankbeamten.<br />
Dieser sah in die dunklen Augen seiner Kundin. «Machen<br />
Sie sich keine Sorgen. Das ist ein kleines Problem, das<br />
schnell behoben wird; das kommt immer wieder vor. Nehmen<br />
Sie bitte auf dem Stuhl dort drüben Platz; ich werde Ihre Karte<br />
holen lassen.»<br />
Die Frau beruhigte sich etwas, was das Lächeln bemerkte und<br />
sich darüber freute. «Jetzt fehlt nur noch ihr befreiendes Lächeln»,<br />
dachte es. Dann sah es, wie der Beamte mit sehr gütigem<br />
Blick auf die Frau zukam. «Hier ist Ihre Karte. Kann ich Ihnen<br />
sonst noch irgendwie behilflich sein?» «Oh, vielen Dank!»,<br />
hörte das Lächeln die Frau sagen und es sah, wie sich erlösende<br />
Züge auf ihrem Gesicht breitmachten.<br />
Das Lächeln hatte diese Begebenheit bemerkt und nahm die<br />
Gelegenheit beim Schopf, die Frau anzusprechen. «Wie wollen<br />
Sie mir denn helfen?», fragte die Frau mit Angst in den Augen.<br />
«Ich kenne Sie doch nicht. Hier treiben sich doch immer Diebe<br />
24…<br />
25…
4…<br />
Befriedigt darüber, dass diese Frau wieder lächeln konnte, ging<br />
das Lächeln weiter. Es lief durch die Stadt und kam zum Bahnhof.<br />
«Oje! Hier wird es bestimmt Menschen geben, denen das<br />
Lächeln abhanden gekommen ist.» Es ging auf Bahnsteig Nummer<br />
vier eines Regionalzuges zu. «Vielleicht finden hier kleine<br />
Gespräche statt, die den Menschen ein Lächeln entlocken könnten.<br />
Mich würde das beruhigen.»<br />
Da standen die Menschen und warteten auf die Einfahrt des Zuges.<br />
Wenige unterhielten sich miteinander. Offensichtlich kannten<br />
sie sich nicht, was erstaunlich war. Das Lächeln begab sich<br />
in die Nähe zweier Männer, welche vertraut miteinander diskutierten.<br />
«Ich weiss nicht, ob ich meine Arbeit behalten kann;<br />
morgen wird uns die Geschäftsleitung darüber informieren; auf<br />
alle Fälle wird Kurzarbeit eingeführt!», gab sich der Jüngere der<br />
beiden besorgt. «Wenn ich weniger arbeiten kann oder sogar<br />
die Arbeit verliere, wird es sehr schwierig, das Haus zu halten.<br />
Vielleicht weisst du, dass wir vor zwei Jahren ein Haus gebaut<br />
haben. Dabei haben wir natürlich mit meinem festen Einkommen<br />
gerechnet. Meine Frau arbeitet ein paar Stunden pro Woche<br />
in einem Supermarkt, das bringt nur wenig ein. Dazu kommt,<br />
dass wir unsere Familie planen. Es ist unser sehnlichster Wunsch,<br />
Kinder zu haben, vor allem für sie haben wir den Hausbau auf<br />
uns genommen.» Seine Stimme war immer leiser geworden.<br />
arbeite schon über 30 Jahre in diesem Betrieb. Von heute auf<br />
morgen weiss ich nicht, ob ich meine Rente dort überhaupt<br />
noch erleben kann. Die Zeiten haben sich enorm geändert. Früher,<br />
als die Leute in diesem Betrieb angestellt wurden, wussten<br />
sie, dass sie einen sicheren Arbeitsplatz hatten. Heute ist alles<br />
anders; wer nicht spurt und die geplante Rendite einfährt, wird<br />
gleich vor die Türe gesetzt. Es fehlt uns schon bald die Freude,<br />
arbeiten zu gehen, und der Druck wird unerträglich!»<br />
«Es wird schwierig, diesen Männern ein Lächeln zu entlocken»,<br />
mutmasste das Lächeln. «Nun muss ich mir etwas einfallen lassen.<br />
Einen kleinen Input könnte mir der Zufall schon bescheren.<br />
Ich solle auf die Zufälle achten, hatte mich doch die Amsel angehalten!»<br />
In dem Moment hörte das Lächeln, wie der Jüngere<br />
fragte: «Sag mal. Hast du nicht heute Geburtstag?»<br />
Der ältere Mann schaute erstaunt. «Dass du dich daran erinnerst!»<br />
«Es gibt Menschen, deren Geburtstag ich nie vergessen<br />
werde. Zum Beispiel denjenigen meines Lehrmeisters.» Ein<br />
breites Lächeln setzte sich auf das Gesicht der beiden Männer.<br />
Der Zug fuhr im Bahnhof ein, die beiden stiegen ein und entschwanden<br />
aus den Augen des Lächelns.<br />
«Ich frage mich auch, was aus uns werden soll», fuhr der ältere<br />
Mann fort und band sich den Schal enger um den Hals. «Ich<br />
26…<br />
27…
5…<br />
Frohen Mutes schlenderte das Lächeln weiter, beide Hände in<br />
den Hosentaschen, ein kleines Liedchen pfeifend. Zufrieden<br />
mit dem Erlebten lief es die Strasse entlang, ohne zu wissen,<br />
wohin sie es führen würde. Es bog um eine Ecke, als dort ein<br />
Schild mit der Aufschrift «Krankenhaus» stand. «Da könnte<br />
ich auch einen Besuch machen. Bestimmt wird es dort Menschen<br />
geben, welchen das Lachen vergangen ist, und denen<br />
selbst die Kraft für ein Lächeln fehlt», sinnierte das Lächeln<br />
vor sich hin.<br />
Das Lächeln trat durch die automatische Eingangstür des Krankenhauses;<br />
dann stand es in der Eingangshalle. Dort herrschte<br />
hektisches Treiben. Einen unschlüssigen Moment lang blieb es<br />
stehen, setzte sich dann in der Ruhezone auf einen Polstersessel.<br />
«Das ist ja echtes Kino hier!», war es erstaunt. Leute<br />
kamen und gingen, einigen davon mit Gehhilfen, andere hielten<br />
sich am Arm ihrer Begleitperson, wieder andere waren<br />
im Rollstuhl unterwegs. Die Augen des Lächelns wurden sehr<br />
hell, als ein strahlender junger Vater mit einem Neugeborenen<br />
in der Tragtasche und seiner Frau am Arm das Krankenhaus<br />
verlassen konnte.<br />
Das Lächeln sah viele Richtungshinweise von seinem Sessel<br />
aus. Es sah den Fahrstuhl, der die Menschen in das betreffende<br />
Stockwerk und in die gewünschte Abteilung brachte.<br />
Da stand etwa zu lesen: «Chirurgie, Medizin, Intensivstation,<br />
Radiologie, Geburtstabteilung» und andere mehr. Einen<br />
Begriff kannte das Lächeln nicht und las ihn laut vor:<br />
« Onkologie. Was ist denn das?» Das Lächeln fasste gleich<br />
den Entschluss, der Sache auf den Grund zu gehen, und begab<br />
sich mit anderen Besuchern in den Fahrstuhl; dort drückte<br />
es auf den Knopf für den 5. Stock, «Onkologie.» Eine Frau<br />
schaute das Lächeln mit besorgtem Blick an. Es versuchte<br />
zu lächeln, aber die Augen der Frau blieben dunkel und die<br />
Mundwinkel wollten sich nicht heben.<br />
Im 5. Stock stiegen das Lächeln und die Frau aus. Die anderen<br />
Leute fuhren weiter. «Entschuldigung! Wissen Sie, was Onkologie<br />
ist?», fragte das Lächeln ganz vorsichtig die relativ junge<br />
Frau; sie trug ein Kopftuch. Diese schaute ihm in die Augen:<br />
«Das ist die Wissenschaft, die sich mit Krebskrankheiten befasst.<br />
Das heisst, die Leute, die hierher kommen, haben Krebs. Sind sie<br />
auch krank?», wollte die Frau vom Lächeln wissen.<br />
«Nein, ich bin nicht krank. Darf ich Sie fragen ob Sie denn Krebs<br />
haben? Was für ein eigenartiges Wort», fügte das Lächeln hinzu.<br />
«Ja», kam prompt die Antwort. «Ich habe Lungenkrebs und ich<br />
bin hier für meine heutige Chemotherapie. Ich bekomme eine<br />
Infusion, welche die Krebszellen abtöten soll. Leider tötet diese<br />
Chemie nicht nur die kranken Krebszellen, sondern auch gesunde<br />
Zellen ab. In der Forschung wird stark nach einem Medikament<br />
gesucht, welches die hässlichen Nebenwirkungen verhindern<br />
soll. Wissen Sie, die meisten Chemopatienten fühlen sich<br />
nach der Infusion miserabel, müde und beinahe alle verlieren<br />
ihre Haare. Dazu kommt manchmal noch Fieber und Durchfall.<br />
Noch etwas. Sie sind nicht der Einzige, der den Begriff «Krebs»<br />
komisch findet. Irgendwo gibt es in diesem Bereich einen kleinen<br />
Vergleich mit dem gleichnamigen Krustentier.»<br />
28…<br />
29…
Das Lächeln wurde sich stark seiner Mission bewusst und fragte<br />
sich, wie es wohl eine schwerkranke Frau zum Lächeln bringen<br />
könnte. «Das wird ein schwieriges Unterfangen!», dachte es bei<br />
sich. «Den Versuch muss ich wagen!» So setzte es sich in den<br />
Warteraum der Abteilung: «Arztbesuche Onkologie».<br />
Mehrere Menschen warteten dort; sie hatten kurz aufgeblickt,<br />
als das Lächeln den Raum betreten hatte. Dann schauten sie<br />
wieder in das Heftchen in ihren Händen oder starrten ein Loch<br />
in die Luft. Immer wieder wurde ein Patient vom Arzt oder von<br />
einer Ärztin gerufen; immer wieder kamen Menschen, um ihren<br />
späteren Termin wahrzunehmen.<br />
Mit einem Sprung war das Lächeln neben ihr, bückte sich nach<br />
dem Kopftuch und reichte es der Frau mit den Worten: «Was<br />
für ein schönes Tuch Sie haben.» Die Frau nahm das Tuch,<br />
wickelte es gekonnt um den Kopf; ihre Augen wurden heller.<br />
Sie lächelte. «Das stimmt, vielen Dank; das ist mein schönstes<br />
und wichtigstes Tuch. Wahrscheinlich werde ich es vermissen,<br />
wenn ich es nicht mehr brauche.» Die anderen Patienten im<br />
Raum hatten die Szene mitverfolgt und eine Frau hatte zaghaft<br />
applaudiert. Dieser erheiternde Moment erzeugte hier<br />
und dort ein Lächeln auf einem Gesicht, selbst dort hinten<br />
beim Mann auf dem letzten Sessel, dessen versteinertes Gesicht<br />
sanftere Züge annahm.<br />
«Aufgeben, hier? Nein, das werde ich nicht!», war das Lächeln<br />
überzeugt. «Ich brauche dringend einen Zufall, der mir hilft, dem<br />
einen oder anderen Menschen hier ein Lächeln auf das Gesicht<br />
zu zaubern. Es verfolgte mit Argusaugen jede Bewegung. Die<br />
Luft war zum Schneiden dick. Es kam ihm vor, als dürfe hier niemand<br />
so richtig atmen. Versteckte Blicke gingen gelegentlich<br />
von der einen Ecke in die andere, vor allem dann, wenn sich<br />
irgendwo jemand bewegte.<br />
Plötzlich stand die Frau auf, welche mit dem Lächeln gesprochen<br />
hatte. Am Bücherregal wollte sie sich Lektüre holen.<br />
Sie bückte sich, fasste nach unten nach einem Heft. In dem<br />
Moment fiel ihr buntes, kunstvoll um den Kopf gebundenes<br />
Kopftuch auf den Boden. Dann stand sie da, ohne Haare, kahl.<br />
Die Chemotherapie hatte ihr gesamtes Kopfhaar ausfallen lassen.<br />
Sie erschrak bis aufs Blut, wollte nach dem Tuch fassen.<br />
«Wie peinlich!»<br />
30…<br />
31…
6…<br />
«Was für wertvolle Momente das Leben uns bescheren kann, auch<br />
wenn es mit manchen Menschen sehr hart ins Gericht geht!»,<br />
sagte sich das Lächeln, während es auf den Knopf des Aufzuges<br />
drückte. «Ausgang» war das Ziel. Es musste an die frische Luft.<br />
Vielleicht würde es sogar die Amsel wieder treffen; daher musste<br />
es in den Park zurück. Es wollte ihr erzählen, was es erlebt hatte.<br />
Als die Amsel das Lächeln erblickt hatte, flog sie ihm entgegen.<br />
«Ich muss dir etwas erzählen», zwitscherte sie übermütig.<br />
«Auch ich kann dir über wunderschöne Erlebnisse berichten»,<br />
sprudelte es aus des Lächelns Munde. Menschen haben gelächelt,<br />
welche wahrscheinlich schon fast nicht mehr wussten,<br />
was es heisst, einen fröhlichen Moment zu erleben. Was hast<br />
denn du erlebt?», wollte das Lächeln wissen.<br />
«Du kommst gerade recht», begann die Amsel. Seit ein paar<br />
Tagen kommt eine Frau mit dunkler Brille und Blindenstock mit<br />
ihrem Hund hier spazieren. Ich schätze, die Frau ist zwischen 25<br />
und 30 Jahre alt. Ihr Wegbegleiter ist ein schwarzer Labrador.<br />
Seit beinahe einer Stunde gehen die beiden hier langsam auf<br />
und ab – passieren immer die gleich Stelle – bleiben immer<br />
wieder stehen, schauen nach rechts und nach links, als ob sie<br />
etwas suchen würden.<br />
«Es mutet komisch an, dass eine blinde Frau etwas sucht. Ich<br />
kann ihr Verhalten nicht so recht interpretieren. Der Blindenhund<br />
bleibt immer wieder stehen, schaut sein Frauchen mit<br />
grossen Augen an; er versteht nicht, was sie von ihm will. Offensichtlich<br />
kann das Frauchen dem Hund nicht erklären, was<br />
er suchen soll. Es scheint, als ob die zwei noch kein perfekt geschultes<br />
Team wären. Vielleicht können wir den beiden helfen.<br />
Bist du dabei?»<br />
«Klaro!», bejahte das Lächeln. «Komm, wie gehen in ihre Nähe,<br />
damit wir überhaupt erfahren, worum es sich handelt.» «Machen<br />
wir mal eine Ausnahme?» Die Amsel hatte – wie sie meinte<br />
– eine gute Idee. «Ausnahmsweise nehme ich dich auf meinem<br />
rechten Flügel mit, denn Zeit sollten wir keine verlieren. Es<br />
scheint sich um etwas sehr Wichtiges zu handeln.»<br />
Die Amsel landete wenige Meter hinter den beiden. Der Hund<br />
wurde unruhig, seine Rute hob sich. «Was ist denn los?»,<br />
sprach die Frau zum Hund und zog ihn energisch an der Leine.<br />
Sie hatte einen sorgenvollen Ausdruck im Gesicht. «Fuss!»<br />
Der Hund setzte sich neben sein Frauchen und winselte. «Was<br />
siehst du denn?» Ihre Stimme wurde unruhiger, fast ungehalten.<br />
«Siehst du etwa den Schlüsselbund? Den muss ich irgendwo<br />
hier verloren haben; der müsste doch hier liegen.» Ihre<br />
Stimme klang weinerlich. Der Hund wurde immer nervöser,<br />
liess den Blick nicht mehr von der Amsel, als ob er von ihr Hilfe<br />
erbeten würde.<br />
«Du…», sagte der Hund nach einer Weile. «Du, Vogel, weisst<br />
du, was ein Schlüsselbund ist? Mein Frauchen sucht einen<br />
Schlüsselbund. Der Verlust macht sie aggressiv und ungehalten.<br />
Sonst ist sie immer sehr lieb zu mir. Heute Vormittag hat<br />
sie die Schlüssel hier irgendwo verloren; jetzt kenne ich sie<br />
fast nicht mehr.»<br />
32…<br />
33…
«Bestimmt werde ich dir helfen können.» Die Amsel flatterte<br />
und flog weg. Sie drehte mehrere Runden und musste feststellen,<br />
dass an diesem Ort kein Schlüsselbund zu finden war. «Wir<br />
müssen weiter suchen», forderte die Amsel auf, «hier ist nichts<br />
zu finden.» «Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?», wandte<br />
sich die Amsel an die Frau. Setzen Sie sich da drüben auf die<br />
Parkbank. Ich fliege den Park ab und rufe Sie, wenn ich etwas<br />
gefunden habe. Wenn ich rufen sage, so meine ich natürlich,<br />
dass ich laut singen werde. Hören Sie dann auf meinen Gesang<br />
und folgen Sie ihm. Bereits an der Melodie werden Sie erkennen,<br />
ob ich Erfolg gehabt habe.» Dann flog die Amsel in die Lüfte.<br />
Das Lächeln schaute ihr genüsslich nach und freute sich bereits<br />
auf die schöne Melodie.<br />
Die Amsel flog Runde um Runde; sie wollte nicht aufgeben;<br />
fast hatte sie schon daran gedacht. «Es könnte sein, dass jemand<br />
die Schlüssel gefunden hat. In diesem Park tummeln sich<br />
viele Leute.» Während sie so dachte, sah sie etwas glänzen.<br />
Dort unten, neben dem Abfallkübel. Sofort steuerte sie darauf<br />
zu, setzte auf.<br />
«Du hast wohl auch Hunger», brummte der Obdachlose durch<br />
seinen Bart. «Hier findest du nichts mehr. Ich habe den Kübel<br />
schon durchsucht. Es war nichts Brauchbares darin. Das Einzige,<br />
was etwas hergeben könnte, ist dieser Schlüsselbund. Wie<br />
viel bezahlst du mir dafür? Ich möchte schon lange eine Flasche<br />
Whisky kaufen. Weisst du, das Wässerchen erwärmt mir<br />
nicht nur den Körper, sondern auch die Seele.» Dann kicherte<br />
er hämisch, wissend, dass ihm niemand einen fremden Schlüsselbund<br />
abkaufen würde.<br />
«Ich gebe dir dafür 5 Euro», unterbreitete die Amsel ihr Angebot.<br />
Der Clochard lachte laut. «5 Euro für einen Schlüsselbund! Der<br />
Whisky kostet 10 Euro, das Doppelte!» Dann begann die Amsel<br />
zu singen: «Warum bin ich so fröhlich, so fröhlich, so fröhlich,<br />
bin ausgesprochen fröhlich; so fröhlich war ich nie.»<br />
Bald schon sah die Amsel die Frau mit dem Hund herbeieilen.<br />
«Hast du die Schlüssel gefunden?», fragte sie hastig. «Eigentlich<br />
ja, aber es gibt ein kleines Problem.» «Ein Problem? Was<br />
für ein Problem? Ich brauche dringend meine Schlüssel, ansonsten<br />
stehe ich heute vor meiner verschlossenen Wohnungstüre.»<br />
«Dieser Mann», die Amsel schaute zum Clochard, «hat den<br />
Schlüsselbund im Abfallkübel gefunden. Er hat darin nach Essbarem<br />
gesucht. Jetzt will er die Schlüssel verkaufen. Ich habe<br />
ihm 5 Euro geboten, aber er ist nicht einverstanden.» «Was<br />
will er denn haben?», fragte die Frau hastig. «Er verlangt 10<br />
Euro, weil eine Flasche Whisky 10 Euro kostet. «Warten Sie<br />
mal!» Die Frau tastete in ihrer Handtasche nach dem Geldbeutel.<br />
«Ich weiss nicht, ob ich noch 10 Euro habe.» Ihre Finger<br />
ertasteten, was sich im Geldbeutel befand. «Leider habe ich<br />
nur noch 8 Euro!», sagte sie enttäuscht. «Würden Sie mir bitte<br />
meine Schlüssel für diese 8 Euro geben?», wandte sie sich an<br />
den Obdachlosen. Dieser blinzelte in die Sonne. «Da will ich mal<br />
eine Ausnahme machen. Weil Sie es sind und weil eine Flasche<br />
Whisky 6 Euro kostet.» Damit überreichte er der blinden Frau<br />
den Schlüsselbund. Sie gab ihm ihrerseits die 8 Euro und beide<br />
lächelten über das ganze Gesicht. «Komm Kim!» Die Frau<br />
zog ihren Hund vorsichtig an der Leine. «Bedank dich; wir zwei<br />
müssen nach Hause gehen.» Die Amsel und das Lächeln sahen,<br />
wie die zwei leichtfüssig den Park verliessen.<br />
34…<br />
35…
7…<br />
«Mission erfüllt!», lobte das Lächeln und strich der Amsel sanft<br />
über die Flügel. «Du müsstest mir noch bei einem anderen Auftrag<br />
behilflich sein. Hier in der Nähe gibt es ein Schulzentrum,<br />
wo multikulturelle Klassen unterrichtet werden. Und wie es bei<br />
den Schülern oft ist, da wird viel gemoppt, sogar von Rassismus<br />
ist die Rede.»<br />
Es war gerade Pause, als die beiden dort ankamen. Geschrei<br />
und Gelächter empfingen die Amsel und das Lächeln. Sie<br />
setzten sich auf die Schulmauer und schauten dem Treiben<br />
zu. Nicht weit entfernt von ihnen sass ein schwarzes Mädchen,<br />
ebenfalls auf der Mauer. Mit traurigen Augen schaute es<br />
zu, wie seine Klassenkameraden Ball spielten. «Wie heisst du<br />
denn?» «Magali!» Und warum spielst du nicht mit?», wurde<br />
es von der Amsel gefragt. «Sie lassen mich nicht mitspielen,<br />
weil ich schwarz bin. Sie haben gesagt, ich solle mich zuerst<br />
waschen.» Das Mädchen begann leise zu weinen. «Das habe<br />
ich gemacht. Ich habe mich jeden Tag mehrmals gewaschen,<br />
sogar mit einer Bürste geschrubbt, aber ich habe die Farbe<br />
nicht wegbekommen.»<br />
Diese Worte fühlten sich im Herzen des Lächelns und im Herzen<br />
der Amsel wie Messerstiche an. «Das kann nicht sein!», ergriff<br />
das Lächeln das Wort. «Hier ist dringend Handlungsbedarf angesagt.<br />
Die Schuldirektion wird das Problem kennen und sicherlich<br />
mit den Schülern darüber gesprochen haben.» «Und<br />
warum hat sich nichts geändert?», fragte die Amsel. «Weil die<br />
Schüler nicht ernst nehmen, was ihnen in theoretischen Lektionen<br />
erklärt wird. Die Kinder brauchen Beispiele, Beispiele aus<br />
dem Leben.» «Und was willst du nun tun?»<br />
Dann stand das Lächeln auf die Mauer. «He Amsel, komm auf<br />
meine Schulter, ich brauche dich. Sing Amsel, sing, so laut du<br />
kannst. Die Kinder sollen dich hören. Sing ein schönes englisches<br />
Lied, das gefällt ihnen bestimmt besser; es muss nicht<br />
gleich eins von Justin Bieber sein!» Und die Amsel sang, so<br />
laut sie konnte: «I like the flowers, I like the daffodiles!» «Sing<br />
lauter!», mahnte das Lächeln. «I like the mountains, I like the<br />
rollinghills. I like the fireplace…» Die fröhliche, rhytmische Musik<br />
liess die Schüler aufhorchen.<br />
Ein paar Schüler wagten sich in die Nähe der Amsel, die auf der<br />
Schulter des Lächelns sass. «Die fliegt ja gar nicht weg, wenn<br />
wir kommen!», rief ein Schüler. Damit machte er auch andere<br />
darauf aufmerksam und sie kamen immer näher und es kamen<br />
immer mehr nahe an die Mauer. Das Lächeln stellte das<br />
schwarze Mädchen neben sich auf die Mauer. «Was macht die<br />
da oben?», schrie ein vorlauter Schüler. «Ist die etwas Besseres,<br />
dass sie so von oben herab auf uns schauen kann?»<br />
Dann ergriff das Lächeln das Wort. «Nein, sie ist nichts Besseres,<br />
das stimmt; sie ist nur ein bisschen anders. Übrigens bist<br />
du auch ein bisschen anders als die andern. Das sind wir alle.»<br />
«Ich bin nicht anders!», konterte der Junge empört. «Doch!»,<br />
insistierte das Lächeln. «Du bist anders als dieses Mädchen.<br />
Somit bist du auch anders.» Der Junge senkte enttäuscht den<br />
Kopf, hob ihn nach wenigen Sekunden und schrie frech: «Aber<br />
sie ist eine Ausländerin!»<br />
36…<br />
37…
«Sag mal!», ergriff das Lächeln wieder das Wort. «Hast du schon<br />
mal Ferien gemacht?» «Ja klar!», kam die prompte Antwort des<br />
Jungen. «Wir waren schon mehrmals in Italien und in Spanien.<br />
Das war super!» «Dann hast du etwas nicht bemerkt», erklärte<br />
das Lächeln. «Wenn ihr in Italien und in Spanien gewesen seid,<br />
ward ihr Ausländer dort – die gesamte Familie. Hat man euch<br />
dort auch beschimpft?» «Aber nicht doch!», wusste der Knabe.<br />
«Wir haben dort alles bezahlt.»<br />
«Sicher habt ihr alles bezahlt. Das macht die Familie von Magali<br />
auch; sie bezahlt alles. Und ihre Familie ist hier, weil ihr Vater in<br />
unserem Land arbeitet. Er bezahlt hier Steuern wie deine Eltern.<br />
Und von seinen Steuerabgaben profitiert auch deine Familie.<br />
Das ist vielleicht noch schwierig zu verstehen. Ich will damit<br />
nur sagen: Wir brauchen alle einander», erklärte das Lächeln.<br />
Kevin, so hiess der Junge, hatte eine ganze Weile zugehört und<br />
war zur Überraschung aller wortlos geblieben. «Wenn dem so<br />
ist, Magali, komm herunter und spiel mit uns, uns fehlt sowieso<br />
immer ein Spieler beim Volleyballspiel.»<br />
Magali traute ihren Ohren nicht. Das Mädchen schaute zum<br />
Lächeln, dann zur Amsel und zuletzt zu Kevin. Ein breites Lächeln<br />
setzte sich auf sein Gesicht. «He mach schon!», schrie<br />
Kevin und lächelte, wir haben nicht bis morgen Zeit!» Er reichte<br />
dem Mädchen die Hand und half ihm so, von der Mauer<br />
herunterzuspringen.<br />
Die Amsel und das Lächeln blieben noch eine Weile auf der<br />
Mauer sitzen und schauten dem Ballspiel zu. Sie hörten, wie ein<br />
Lehrer zum anderen sagte: «Wie fröhlich die Kinder heute sind!»<br />
8…<br />
«Wie schön es ist, wenn wir ein Lächeln auf Gesichter zaubern<br />
können, wo Schmerz, Enttäuschung, Verbitterung oder auch<br />
Rassismus die Seelen überschatten. Bist jetzt haben wir überall<br />
Erfolg verbuchen können. Nun gehen wir noch an einen Ort, wo<br />
das noch schwieriger sein wird. Wir gehen an den Ort, wo sich<br />
die Menschen für immer verabschieden müssen», klärte das<br />
Lächeln die Amsel auf. «Spinnst du? Sag bloss nicht, dass wir<br />
auf einen Friedhof gehen. Wie wollen wir bei trauernden Menschen<br />
ein Lächeln herzaubern?» «Der Zufall wird uns bestimmt<br />
behilflich sein, den brauchen wir oft in einer ausweglosen Situation!»<br />
«Let’s go!»<br />
«Das wird doch hoffentlich nicht makaber!», meinte die Amsel.<br />
«Nein, auf keinen Fall. Stan Laurel soll gesagt haben: «Wenn jemand<br />
auf meinem Begräbnis ein langes Gesicht macht, spreche<br />
ich nie wieder mit ihm.» Die Amsel lachte laut auf. «Ja, wenn<br />
dem so ist, wollen wir es doch mal versuchen.»<br />
Weil es in jeder Stadt mehrere Friedhöfe gibt, wurden die beiden<br />
sehr schnell fündig. Beim Eingang des Friedhofs stand<br />
eine grosse Trauerweide. «Weisst du, dass dieser Baum unsere<br />
Freundschaft besiegelt?», erinnerte das Lächeln. «Seine<br />
herabhängenden Äste bieten Zuflucht und seine verknoteten<br />
Wurzeln verbreiten Kraft und Zuversicht.» «Du magst ja recht<br />
haben!», beteuerte die Amsel. «Aber diese Tatsachen erzeugen<br />
doch kein Lächeln.»<br />
38…<br />
39…
In der 28. Reihe des Friedhofs stand eine Gruppe trauernder<br />
Menschen in Schwarz gekleidet, ein Trauerzug, die Frauen mit<br />
Trauerschleier. «Es wird ein alter Mann beerdigt, ein ehemaliger<br />
Offizier der Armee, habe ich den Worten des Pfarrers entnehmen<br />
können,» flüsterte das Lächeln. «Ach so, darum tragen drei<br />
Männer eine Uniform?», die Amsel verstand. Der Pfarrer sprach<br />
vom reich erfüllten Leben des Mannes, würdigte ihn mit schönen<br />
Worten des Abschieds. Die Gesichter der Hinterbliebenen<br />
blieben reglos, keine Träne, keine Geste, nichts.<br />
«Die Trauer über das Ableben dieses Mannes scheint nicht gerade<br />
gross zu sein», stellte die Amsel fest. «Wahrscheinlich steht<br />
den Hinterbliebenen ein riesiger Erbschaftsstreit bevor.»<br />
«Du siehst das sicher richtig. Aber jetzt ist dein Einsatz gefragt»,<br />
eröffnete das Lächeln. «In deinem immensen Repertoire gibt es<br />
doch bestimmt auch Militärmusik. Leg los, gib dein Bestes!» Die<br />
Amsel flog auf das dritte Kreuz neben dem offenen Grab und<br />
sang die ersten Takte des Radetzky-Marsches. Die versammelte<br />
Trauergemeinde samt Pfarrer hob erstaunt den Kopf, die Menschen<br />
schauten zur Amsel, dann einander an und ein überraschtes<br />
Lächeln setzte sich auf ihre Gesichter. «Ich meine», sagte<br />
das Lächeln zur Amsel. «Ich meine Gefühle, bemerkt zu haben.»<br />
«Ich hoffe sehr, dass die Angehörigen heute noch das Gespräch<br />
suchen, auch wenn es sich dabei nur um diese eigenartige Begebenheit<br />
am Grab ihres Vaters handelt.»<br />
BELLA VENEZIA<br />
Ihr erster Blick fiel auf die Wasserstrasse, auf der die beiden Frauen<br />
viele Boote zu sehen glaubten. Viele Bote? Zumindest so hatten<br />
sie es angenommen. Christine schaute Carla an, ihre Freundin.<br />
«Findest du das nicht eigenartig, kaum ein Boot?», fragte sie.<br />
Carla blieb vorerst wortlos. Nach einer Weile hatte sie die Sprache<br />
wiedergefunden. «Hier stimmt doch etwas nicht!», bekräftigte sie.<br />
Nachdem ihre Augen sich vergewissert hatten, dass auch kein<br />
Wasserbus weit und breit zu sehen war, gingen sie zur Information.<br />
Dort wollten sie sich Aufklärung verschaffen, so hofften sie.<br />
Ihre Hoffnung sollte eine solche bleiben. Beim Eintreten wurde<br />
ihr freundliches «Buongiorno!» nicht registriert. «Prego, Signora!»,<br />
sagte Christine etwas lauter, um eine Angestellte auf sich<br />
aufmerksam zu machen.<br />
Ein strenger Blick traf die beiden und die Tatsache, dass an dem<br />
Tag nur Privatboote fahren würden. «Sciopero!», kam die lapidare<br />
Antwort. «Streik?» Die Frauen waren enttäuscht und entsetzt<br />
gleichzeitig. Wie sie zu ihrem Hotel kämen, fragte Christine<br />
noch in ihrem besten Italienisch. Die Signora wusste es nicht. Es<br />
war ihr auch piepegal; sie wandte sich desinteressiert ihrem PC<br />
zu. «Ausgerechnet heute!», lamentierten Christine und Carla<br />
gleichzeitig. «Also, kein Vaporetto! Was für ein blöder – was<br />
für ein saublöder Zufall!» Ihre Vorfreude auf den einwöchigen<br />
Aufenthalt in der Stadt der 450 Brücken sollte doch deswegen<br />
nicht zu sehr getrübt werden – hofften sie. Die beiden setzten<br />
sich auf die Stiege vor dem Bahnhofsgebäude, stellten ihre<br />
40…<br />
41…
Rollkoffer in Sichtweite neben sich. Sie waren nicht die Einzigen,<br />
die dort kopfschüttelnd nach einer Lösung suchten. Ihre<br />
gegenseitigen Blicke liessen die beiden Schultern gleichzeitig<br />
heben und senken. «Jetzt würde ich gerne ein hässliches Wort<br />
schreien!», eröffnete Christine. «Soll ich beginnen?», provozierte<br />
Carla. «Sch…» «Lass das besser!», unterbrach sie Christine.<br />
«Das hilft uns auch nicht weiter.»<br />
«Hast du überhaupt gefragt, wie lange gestreikt wird?», wandte<br />
sich Carla an Christine. «Scheibenkleister! Das habe ich prompt<br />
vergessen!», kam es zurück. Dann bemühte sie sich nochmals zur<br />
unfreundlichen Signora, um dies in Erfahrung zu bringen. «Auch<br />
das weiss sie nicht», rief Christine von der obersten Treppenstufe<br />
Carla zu. «Zudem hatte sie nicht mal einen Stadtplan, um unser<br />
Hotel zu orten!», folgte der zynische Nachsatz.<br />
«Lass uns einen Bootsbesitzer fragen!» Christine hatte die Reise<br />
gebucht und fühlte sich verantwortlich. Der Bootsbesitzer war<br />
ein Wassertaxifahrer. «Was für ein glücklicher Zufall!», jubelten<br />
die beiden snychron. «Fahren Sie uns bitte zum Hotel Domina<br />
Home Cà Zusto!» «Volentieri, belle donne!», schmeichelte der<br />
Bootsfahrer. Der designierte Gentleman verstaute ihre Rollkoffer<br />
im Innern des Bootes und fuhr pfeifend los.<br />
Christina und Carla wollten die Fahrt stehend geniessen, hielten<br />
sich am offenen Dach fest. Sie fuhren an malerischen Häusern<br />
vorbei, der Ausblick war bombastisch. Beim Vorbeiflitzen<br />
erkannten sie mehrere weltbekannte Postkartensujets. Nachdem<br />
sie unter der Seufzerbrücke hindurchgefahren waren, drosselte<br />
der Fahrer unerklärlicherweise das Tempo. «Ach, der will<br />
uns nur Eindruck machen», witzelte Carla. «Er amortisiert nur<br />
seinen Bootsführerschein.»«Ich bin gespannt, was daraus wird;<br />
ich habe ein ungutes Gefühl», konterte Christine.<br />
Offensichtlich genoss der Bootsführer die Fahrt auch. Der Wind<br />
zerriss sein gepfiffenes «O sole mio!». Ein paar Laute drangen<br />
nach hinten zu den Frauen. Immerhin konnten sie das Lied erkennen.<br />
Sie fanden plötzlich auch, dass sie mit dem gedrosselten<br />
Tempo mehr von der Lagunenstadt sehen konnten. Bald<br />
würden sie ja sicher ankommen; wollten sie doch noch gleichentags<br />
den Markusdom besichtigen.<br />
Nach gefühlten zwanzig Minuten fuhr der Wassertaxifahrer aus<br />
dem Kanal hinaus aufs Meer, um dort eine grosszügige Schleife<br />
zu fahren; was die beiden Frauen sehr erstaunte. Dann bog<br />
er in einen sehr engen Kanal ein. Links und rechts gab es nur<br />
hohe Häuserwände mit kleinen Fenstern zu sehen – kein einziges<br />
Boot weit und breit – nichts Sehenswertes – auch keine<br />
42…<br />
43…
Menschenseele. Dann hielt der Bootsfahrer vor einer schmalen<br />
Türe. Erst musste er die Frauen, dann die Rollkoffer regelrecht<br />
aus dem Boot zur Türe hieven. Bevor er sie dort stehen liess, kassierte<br />
er von ihnen 90 Euro. «Wow!», meinte Carla mit grossen<br />
Augen. «Diese Fahrt knabbert an unserem Budget!»<br />
Nun standen sie mit ihren Rollkoffern vor der vermeintlichen<br />
Hoteltüre und klingelten. Einmal, zweimal, mehrmals – kein<br />
Lebenszeichen! Carla nahm ihren ganzen Mut zusammen und<br />
hämmerte mit beiden Fäusten an die Türe. Dann – plötzlich<br />
Schritte von Weitem. «Uff!» Ein Mann öffnete die Tür und<br />
schaute die beiden erstaunt an, als ob sie von einem anderen<br />
Planeten kämen. Er erwarte keine Gäste, erklärte er ihnen und<br />
schon gar keine an der Hintertür des Hauses. Seine Meinung änderte<br />
er auch nicht, als die Frauen ihm ihre Buchungsunterlagen<br />
unter die Nase hielten. «Oh! Hotel Domina Home Cà Zusto!»,<br />
gab er sich erstaunt. Dem Erstaunen folgte ein kleines, süffisantes<br />
Lächeln. Offenbar waren Christina und Carla ins falsche Hotel<br />
gefahren und vor einem uralten, verriegelten Seiteneingang<br />
abgesetzt worden. «Wir haben doch dem Bootsfahrer dreimal<br />
den Hotelnamen gesagt, sogar gezeigt», beteuerte Christine.<br />
Ihre Stimme war erregt.<br />
«Oh, si!» Der Signore wusste Bescheid, erzwang sich eine besorgte<br />
Stirnfalte. Es gäbe noch ein Hotel derselben Hotelkette;<br />
das würde wohl das richtige Haus sein. «Und – wie kommen<br />
wir dahin?», schoss es aus Christine. «Es fährt ja heute kein<br />
Wasserbus, nessun Vaporetto weil Sciopero!» In dem Moment<br />
mischte sich eine Hotelangestellte ein. Sie habe soeben Feierabend<br />
und würde die beiden bis zum Hotel mitnehmen, weil ihr<br />
Nachhauseweg zufällig daran vorbeiführe.<br />
Froh über diesen glücklichen Zufall folgten Christine und Carla der<br />
jungen Frau, die sich Elena nannte. Ein einziges Mal brachte die<br />
drei ein Boot auf die andere Seite. Ansonsten hetzten die Frauen<br />
hinter Elena her, ihre Rollkoffer im Schlepptau. Elena lief extrem<br />
zügig. Die beiden waren ständig bemüht, sie nicht aus den Augen<br />
zu verlieren, und hetzten ihr nach über eine Buckelbrücke, dann<br />
über die nächste und noch eine und noch eine, dann überquerten<br />
sie einen Campus und der Buckelbrückenlauf begann von vorne.<br />
Bestimmt hatten sie über ein Dutzend Brücken geschafft, als ihnen<br />
Elena das Ziel ankündigte. Dass es noch ein paar Brücken<br />
zu überqueren galt, hatte sie wohl absichtlich verschwiegen.<br />
Zum Glück hatte Elena zu Beginn des Hürdenlaufs auf die vielen<br />
Hundehaufen aufmerksam gemacht. Neben ihrem Gehetze<br />
mussten die Frauen darauf achten ihre Schuhe und Rollkoffer<br />
davor zu bewahren.<br />
Unterwegs traf das Trio auf einen adrett gekleideten Mann, den<br />
Elena ansprach. Die beiden schienen sich gut zu kennen und<br />
unterhielten sich in moderatem Ton. Carla und Christine waren<br />
auf höflicher Distanz geblieben. Der Signore und Elena verabschiedeten<br />
sich nach einem kürzeren Gespräch lachend von einander.<br />
«Ancora un piccolo vicolo!», verkündete Elena. Nach<br />
der letzten kleinen Gasse sollten sie das Ziel erreicht haben. So<br />
war es dann auch.<br />
Die selbsternannte «Stadtführerin» Elena begleitete die Frauen an<br />
den Empfang ihres – diesmal richtigen Hotels. Auch dort an der<br />
Rezeption ergab sich ein kleines Schäkern in derselben moderaten<br />
Tonlage. Dann übergab Elena die Frauen dem Angestellten<br />
und verliess das Hotel. Der Hotelangestellte erklärte den Frauen<br />
44…<br />
45…
mit ernster Miene, dass sie einfach nur ins falsche Hotel gefahren<br />
wurden – leider. «Mi dispiace! Molto.» Christine und Carla hatten<br />
Mühe zu glauben, dass es ihm sehr leid tun würde. Sie glaubten<br />
in seinen Augen ein kleines Blitzen bemerkt zu haben.<br />
«Endlich im Zimmer!» Müde schmissen sich die beiden Frauen<br />
aufs Bett, obwohl es noch früher Nachmittag war. Ihre Füsse<br />
brannten wie Feuer. «Also», begann Christine. «Ich würde schon<br />
gerne wissen, was das alles für eine komische Nummer gewesen<br />
ist», sagte sie zu Carla. Die war bereits eingeschlafen. «Oh,<br />
scusa!», flüsterte sie ihr lächelnd zu.<br />
Dann kramte sie in ihrer Handtasche nach den Buchungsunterlagen,<br />
die sie aus dem Internet heruntergeladen und ausgedruckt<br />
hatte. «Nein! Das glaube ich jetzt aber nicht!», schoss<br />
es durch ihren Kopf. «Das gibt’s doch nicht! Wie peinlich!» Es<br />
blieb ihr nichts anderes übrig, als Carla die Blamage zu beichten.<br />
Doch sie nahm sich vor, sie erst am Abend über den Fauxpas<br />
zu informieren. Tun wollte sie das mit einer gebührenden<br />
Entschuldigung.<br />
Am späteren Nachmittag – nach der Besichtigung des Markusdoms<br />
– hatten die beiden am Markusplatz ein schönes Restaurant<br />
gefunden. Dass Christine gleich einen edlen Prosecco bestellt<br />
hatte, erstaunte Carla. Christine verlangte die Speisekarte.<br />
Weil sie die Vorlieben ihrer Freundin kannte, wählte sie gleich<br />
für beide eine feine Vorspeise, dann einen opulenten Hauptgang<br />
und als Nachspeise einen Tiramisu mit einem Espresso.<br />
begann Christine kleinlaut. «Irgendwie müssen wir doch unser<br />
Hiersein gebührend feiern! Wollen wir nachher über die Seufzerbrücke<br />
gehen?», versuchte sie abzulenken. «Ich verspreche<br />
dir, dass wir kein Schloss anbringen werden!», grinste sie.<br />
«Du hast zu viel Alkohol intus», sagte Carla und widersprach<br />
laut, als Christine die Rechnung alleine bezahlte. «Wir haben<br />
abgemacht, dass wir die Kosten jeweils teilen», erinnerte Carla.<br />
«Heute mache ich eine Ausnahme», begann Christine, um erst<br />
mal Luft holen zu können. «Ich muss dir etwas gestehen, wofür<br />
ich mich hiermit entschuldigen möchte, wenn das überhaupt<br />
möglich ist», begann sie.<br />
Carla schaute Christine mit fragenden Augen an. «Sag bloss<br />
nicht, dass du unsere teure Bootsfahrt inszeniert hast!» «Nein,<br />
nein!», beschwichtigte sie Christine. «Der Wassertaxifahrer und<br />
Elena haben uns hereingelegt; bestimmt gehören die zusammen.<br />
Ihnen ist der Trick gelungen, die falsche Fahrt, das war<br />
Absicht. Wir haben uns vom ‹Signore Wassertaxifahrer› ausnehmen<br />
lassen», klärte sie auf.<br />
«Und, was hast du damit zu tun?», fragte Carla überrascht.<br />
«Tja», begann Christine vorsichtig. «Als du schliefst, habe ich<br />
die Buchungsunterlagen durchgesehen und dann festgestellt,<br />
dass ich einen Plan für den 8-minütigen Fussweg zu unserem<br />
Hotel in den Unterlagen gehabt hätte. Entschuldige bitte, wenn<br />
du kannst!»<br />
«Wow!» Erstaunt schaute Carla Christine an: «Was ist denn in<br />
dich gefahren; ich habe mit einer Pizza gerechnet?» «Ach!»,<br />
46…<br />
47…
BESSER SPÄT ALS NIE<br />
Um Sabine auf die Einladung seiner Mutter anzusprechen,<br />
musste Georg Tage warten, bis er den Mut dazu fand. Warten<br />
musste er im Lokal dann auch noch, bis alle Gäste sich verabschiedet<br />
hatten. Als Letzter ging Beat, der es sich nicht verkneifen<br />
konnte, eine Bemerkung zu machen. «Du bist schon verflixt<br />
hartnäckig!», rief er Georg zu und ging zur Tür hinaus. Georg<br />
hatte in einer Ecke gesessen, vor sich hin gegrübelt und gewartet,<br />
bis Sabine Polizeistunde gemacht hatte.<br />
«Erschrick nicht!», hörte Sabine hinter sich Georgs Stimme.<br />
«Mutter hätte gerne, wenn du mal zu uns nach Hause kommen<br />
würdest», sagte er mutig. «Uff!» Das hatte er hinter sich. «Wir<br />
könnten zusammen Kaffee trinken und uns unterhalten. «Wenn<br />
du meinst», gab sich Sabine gekünstelt unbeeindruckt. Sie war<br />
froh, dass Georg ihr Herzklopfen nicht spüren konnte. «Wann<br />
würde es deiner Mutter denn passen?», wollte sie wissen. «Vielleicht<br />
am Sonntagnachmittag, wenn das Lokal geschlossen ist.»<br />
Georg wusste ja Bescheid.<br />
Schon am nächsten Sonntagnachmittag klingelte Sabine an der<br />
Türe von Georgs Haus. Er hatte mit klopfendem Herzen geöffnet.<br />
«Wie schön, dass du gekommen bist. Fast habe ich befürchtet,<br />
dass du mich versetzt», begrüsste er sie. «Aber nicht doch»,<br />
warf Sabine ein. «Ich bin doch gerne gekommen; hier wohnt<br />
also der Denker. Mir gefällt übrigens, dass man dir so sagt. Ich<br />
habe auch das Gefühl, dass du viel denkst, eben, dass du gut<br />
überlegen kannst. Ich glaube, dass sich in deinem Kopf sehr viel<br />
tut.», meinte Sabine lächelnd. Auch Georg lächelte nach diesem<br />
Bekenntnis. Damit war das Eis gebrochen.<br />
Georgs Mutter wartete mit einem Gugelhupf auf. «Der Lieblingskuchen<br />
meines Sohnes! Hoffentlich mögen Sie ihn auch. Sie heissen<br />
Sabine; das weiss ich von Georg. Sagen Sie Julia zu mir!»<br />
Nach einem vorerst oberflächlichen Gespräch wollte die Mutter<br />
mehr von Sabines Familie erfahren. Dass sie die Älteste von drei<br />
Kindern aus einer einfachen Familie war, gefiel Julia. Sabine kam<br />
aus einem Nachbardorf; ihr Vater arbeitete im gleichen Betrieb<br />
wie Georg; daher kannte er ihn. Mehrmals hatte er von Georg<br />
gesprochen. Es war halt aussergewöhnlich, dass ein so junger<br />
Mann bereits Verantwortung im Betrieb übernehmen konnte.<br />
Ob sie denn auch etwas von Georgs Familie erfahren könnte,<br />
wollte Sabine wissen. Julia erschrak leicht, was Sabine bemerkt<br />
hatte. «Entschuldigen Sie bitte, wenn ich darum bitte. Aber ich<br />
mag nicht, wenn über Georg dummes Zeug gequatscht wird»,<br />
sagte sie mit gesenktem Kopf. «Ja, ich weiss», begann Julia. Die<br />
Leute wissen nicht, wer Georgs Vater ist. Und – es gibt tatsächlich<br />
noch Leute, die deshalb ihren Seelenfrieden nicht finden. Das<br />
wird es wohl sein, was Sie dummes Zeug nennen. Aber das alles<br />
ist eine längere Geschichte. Wahrscheinlich ist die Gelegenheit<br />
heute passend, um zu erzählen, wie alles gekommen ist. Eine<br />
sehr wichtige Rolle in Georgs Leben spielt sein Vormund. Ihm<br />
verdankt Georg, dass er zwei Lehren machen konnte und in<br />
der Firma bereits zum Kader zählt. Georg selber kannte seinen<br />
Vater sehr lange nicht, weil ich dem Kindsvater immer wieder<br />
hatte schwören müssen, ihn nicht zu verraten. Sogar ein Papier<br />
hatte ich unterschreiben müssen. Ansonsten hätte er mir das<br />
48…<br />
49…
Kind wegnehmen lassen. Dass ich dann auch keine finanzielle<br />
Unterstützung mehr bekäme, war ja dann auch klar gewesen.»<br />
Julias Stimme war leiser geworden.<br />
Julia hatte sich wieder gefangen. «Setzt euch! Am besten ist es,<br />
wenn ihr die Augen schliesst. Dann könnte ihr auch das gutbürgerliche<br />
Wohnzimmer der Familie Müller besser vorstellen.<br />
Ich habe alle Bilder und Worte noch im Kopf. Meine damaligen<br />
Arbeitgeber oder eben Vorgesetzten, wie ich auch sagen könnte,<br />
unterhielten sich aufgeregt. Ich war in der Küche gewesen und<br />
hatte gehört, was sich im Wohnzimmer abgespielt hatte. Georg,<br />
zu dem Zeitpunkt warst du drei Wochen alt.»<br />
«Was ich euch jetzt erzähle, ist die Wahrheit und nichts als<br />
die Wahrheit! Ich habe die Stimmen noch in den Ohren, als<br />
ob es gestern gewesen ist.» Julia hatte sich aufrecht auf ihren<br />
Stuhl gesetzt und ihr Kleid mit beiden Händen über den Knien<br />
gerade gestrichen so, als ob sie Falten entfernen wollte, wo<br />
es keine gab.<br />
«‹Ausgeschlossen! Das Kind kann nicht bei uns bleiben!›, hatte<br />
ich Herrn Müller sagen hören. ‹Wir haben selber drei Kinder,<br />
womit du genug zu tun hast!› ‹Auf ein Kind mehr oder weniger<br />
kommt es doch nicht an›, hörte ich Frau Müller kontern. ‹Zudem<br />
wohnt Julia in unserem Haushalt. Sie kann sich selber um das<br />
Kind kümmern›, meinte sie noch. Das sah Herr Müller anders:<br />
‹Ein uneheliches Kind passt nicht in unsere Familie! Ich stehe in<br />
der Öffentlichkeit. Was würden denn die Leute von uns denken?<br />
Ich werde mich nicht zum Gespött machen lassen. Und – die<br />
nächsten Wahlen kann ich gleich vergessen!›»<br />
Einen Augenblick später hatte dann Frau Müller ihren Mann gefragt,<br />
ob er wisse, wer der Vater des Kindes sei. Er hatte schroff<br />
verneint. Ob es Lothar sein könnte, wollte Frau Müller wissen,<br />
zumindest würde das gemunkelt. Julia und Lothar seien am<br />
Oktoberfest zusammen gesehen worden. Er werde sich diesen<br />
Lothar vorknöpfen, hörte ich Herrn Müller wettern. Mir selber<br />
war angst und bange geworden.»<br />
Mit einem etwas benommenen Blick auf Sabine und Georg fuhr<br />
Julia fort: «Mitbekommen hatte ich diese Szene, weil ich den<br />
Nachmittagskaffee zubereiten musste. Nach dem Mittagessen<br />
hatten Herr und Frau Müller immer ihren Kaffee getrunken. Herr<br />
Müller trank ihn schwarz; Frau Müller verfeinerte ihn mit einem<br />
halben Kaffeelöffel Zucker. Die Kinder spielten während der Zeit<br />
in ihren Zimmern. Georg, du hattest dein kleines Bettchen neben<br />
meinem Bett in meinem Zimmer. Es war ein hübsches, ordentliches<br />
Zimmer, aber Herr Müller nannte es abschätzig die<br />
Angestelltenkammer. Mit zittrigen Beinen hatte ich dann die silberne<br />
Kaffeekanne auf dem Tablett ins Wohnzimmer getragen.<br />
Während ich den Kaffee eingoss blieben beide stumm. Plötzlich<br />
sagte mir Herr Müller, dass er sich um die Rechte meines Kindes<br />
kümmern würde und dass er für meinen Sohn einen passenden<br />
Platz suchen würde – so plötzlich – aus heiterem Himmel. Ich<br />
meinte, eine Ohrfeige zu spüren und mein Herz würde stillstehen.<br />
Ich war unendlich erschrocken. Stellt euch das mal vor! Herr<br />
Müller hatte meinen Sohn fremdplatzieren, weggeben wollen.<br />
‹Der Platz meines Kindes ist bei mir!›, hatte ich unter Tränen<br />
gestammelt und hinzugefügt, dass mein Kind immer bei mir<br />
bleiben würde. Eher würde ich das Haus verlassen und anderweitig<br />
Arbeit suchen.<br />
50…<br />
51…
‹Nein, um Himmels Willen!›, hatte Frau Müller entsetzt geschrien.<br />
‹Wir brauchen dich; wir werden niemanden wie dich finden. Unsere<br />
Kinder mögen dich und du machst deine Arbeit sehr gut. Du<br />
wirst bei uns bleiben, dafür werde ich schon sorgen!›<br />
Schon wenige Tage später hatte Herr Müller eine Lösung gefunden.<br />
Er wolle das Kind von Georgs Grossmutter, also von<br />
meiner Mutter grossziehen lassen; ihm werde es dort gut gehen.<br />
Damit würde das Kind aus seiner Familie entfernt sein.<br />
Das schien auch seiner Frau akzeptabel. Ich könne es ja immer<br />
dann sehen, wenn ich frei habe. Mir war nichts anderes übrig<br />
geblieben, als einzuwilligen. Am Schluss dieser Eröffnung hatte<br />
sich Herr Müller vor mich hingestellt und gesagt, dass er die<br />
Vormundschaft für das Kind übernehmen würde. Er sei eine<br />
öffentliche Person und deshalb vertrauenswürdig. Ich müsse<br />
mir keine Sorgen machen. Er würde dafür sorgen, dass es Georg<br />
an nichts fehlen würde.<br />
Ihr müsst wissen, dass ich wirklich nur alle zwei Wochen frei bekommen<br />
hatte. Meine Arbeitstage dauerten immer lange. Wenn<br />
Besuch gekommen war, hatte ich die Leute zu bedienen, bis sie<br />
gegangen waren. Das konnte dauern, manchmal bis zum frühen<br />
Morgen. Am Wochenende hatte ich dann einen Berg Wäsche zu<br />
machen und viele weisse Hemden zu bügeln. Einen Arbeitsvertrag<br />
oder Ähnliches hatte ich nicht. Ich war aber heilfroh, bei<br />
der Familie Müller arbeiten zu können. Mir gefiel der gepflegte<br />
Haushalt, das schöne Haus und ich liebte die Kinder; sie mich<br />
auch – glaube ich.»<br />
Georg und Sabine hatten schweigend zugehört. Nach einer Weile<br />
räusperte sich Sabine. «Julia, das muss eine sehr schwere Zeit<br />
für Sie gewesen sein.» «Das kann man wohl sagen.» Georgs<br />
Mutter holte tief Luft.<br />
Noch immer starrte Georg auf den Boden; Worte hatte er keine.<br />
«Der Denker denkt wieder mal», witzelte Sabine. «Aber ich<br />
weiss, dass sein Denken immer Gutes bewirken kann.» Sie lächelte<br />
und drückte seine Hand. Sie wollte ihm damit Mut machen,<br />
was ihr auch gelang.<br />
«Mutter», begann Georg. «Wie war das mit dem Vormund? Ich<br />
weiss, dass er uns immer wieder besuchen kam. «Das Wort<br />
‹Vormund› hatte er immer laut gesagt, aber ich hatte es damals<br />
noch nicht verstanden. Später wollte ich immer abhauen, wenn<br />
sein Auto vor unserem Hause hielt; er war eine sonderbare Respektperson.<br />
Ich mochte den Mann einfach nicht. Ich fühlte mich<br />
von ihm irgendwie bedroht oder sogar beherrscht. Später sollte<br />
ich dann recht bekommen.»<br />
Die Uhr hatte soeben dreimal geschlagen. «Eigentlich», sagte<br />
Georg «wäre das Wetter geeignet, um nach draussen zu gehen.<br />
«Aber», – zögerte er. «Eine kleine Frage hätte ich aber vorher.<br />
Habe ich Ähnlichkeiten mit dem Vormund?» Er duckte sich in<br />
Richtung Sabine und grinste spitzbübisch. «Aber Georg! Du hast<br />
eine ausgezeichnete Fantasie.» Sabine gab sich beschämt für ihn.<br />
Auch Julia lächelte. «Damals, als meine Mutter, also deine<br />
Grossmutter, noch lebte, war dein Vormund häufiger hier als<br />
später. Meistens kam er am Sonntagabend. Bei der Gelegenheit<br />
gab er ihr Geld mit den Worten: ‹Das kommt von der Vormundschaft!›<br />
Er müsse dafür sorgen, dass das Kind zu seinen<br />
Rechten käme, hatte er wiederholt verkündet.»<br />
52…<br />
53…
«Inzwischen sind so viele Dinge passiert», fuhr Julia fort. Georg<br />
kam in die Schule, hat sie mit Erfolg abgeschlossen, dann kam<br />
er in die Lehre, hat Maschinenzeichner gelernt. Weil er als Bester<br />
abgeschlossen hat, hat ihm der Direktor angeboten, noch eine<br />
Lehre anzuhängen. Er hatte gleicht zugesagt, denn er war immer<br />
ein exzellenter Schüler gewesen. Vielleicht weisst du, dass<br />
Georg anschliessend noch Kaufmann gelernt hat. Er war immer<br />
gerne zur Schule gegangen. Denken sei ohnehin sein liebstes<br />
Fach, hatte er manchmal aus Spass gesagt. Noch bevor er die<br />
zweite Lehre beendet hatte, ist meine Mutter gestorben. Seitdem<br />
leben Georg und ich alleine. Bald nach seinem zweiten<br />
Lehrabschluss konnte er bereits Verantwortung übernehmen.<br />
Dort hat Georg zufällig erfahren, wer sein Vater ist, wie er mir<br />
dann erzählt hat. Er hatte ein Gespräch zwischen dem Direktor<br />
und Herrn Müller mitbekommen. Sabine, Sie müssen wissen,<br />
dass Georgs Vater immer stolz auf ihn gewesen war, obwohl er<br />
ihm die Vaterschaft verschwiegen hatte. Es kommt dazu, dass er<br />
selber drei Töchter hatte und Georg dann eben… ja, Sie wissen,<br />
was ich meine. Auf alle Fälle hatte er sich für ihn im Betrieb stark<br />
gemacht, was ja nicht schwierig war. Georg war und ist halt sehr<br />
tüchtig. Ich bin auch sehr stolz auf ihn.»<br />
«Soll ich von früher weiter erzählen?» fragte Julia. Sie hatte Kaffee<br />
nachgeschenkt. «Sabine, wenn sie noch ein Stück Gugelhupf<br />
möchten …; von Georg weiss ich, dass er ja sagt.» Sie lächelte.<br />
Julia hatte zwei aufmerksame Zuhörer gefunden. «Wo bin ich<br />
stehengeblieben? Ach, ja! Georg hatte sich gut entwickelt. Zwar<br />
war er körperlich nicht sehr stark, im Kopf war er aber sehr rege.<br />
Er war – wie man so sagt – ein aufgewecktes Kind. Anlässlich<br />
eines jeden Besuches hatte ich dem Vormund schwören müssen,<br />
den Kindsvater nicht zu verraten; er las dies auch von meinen<br />
Augen ab, wenn wir die Worte unterdrücken mussten. Ansonsten<br />
würde die finanzielle Unterstützung gestrichen, war der jeweilige<br />
Nachsatz. Zudem müsste ich dann, samt Kind, vom Dorf<br />
wegziehen. Diese Drohungen waren tief in mein Herz gebrannt<br />
worden und sie haben Narben hinterlassen.»<br />
Plötzlich hielt Julia in ihrer Erzählung inne. «Ihr könnt euch nicht<br />
vorstellen, welche Angst ich all’ die Jahre ausgestanden habe.<br />
Ich war mir nie sicher gewesen, ob mir mein Sohn weggenommen<br />
würde. Er ist doch mein Ein und Alles. Was hätte ich denn<br />
ohne ihn gemacht? Die Frage, die ich so gefürchtet habe, hat<br />
Georg mir gestellt, als er etwa sechs Jahre alt war.»<br />
«Was haben Sie ihm geantwortet», fragte Sabine schnell. «Sein<br />
Vater werde ihm das selber sagen, er solle sich gedulden. Später<br />
habe ich ihm dann erklärt, dass ich auf ihn und auf meine<br />
Mutter schwören musste, den Vater nicht preiszugeben. Immer,<br />
wenn ich ihn nach dem Zeitpunkt gefragt habe, ist er ausgewichen.<br />
Es werde ein ganz besonderer Moment kommen. Dann<br />
werde er vor die Leute treten und ihnen lauthals verkünden,<br />
dass er Georgs Vater und – dass er sehr stolz auf ihn sei – schon<br />
immer stolz auf ihn gewesen sei, hatte er dann mit starker Stimme<br />
gesagt.»<br />
Dann mischte sich Georg ein: «Auf diese Offenbarung habe ich<br />
lange gewartet. Stell dir das mal vor, Sabine. Und nur zufällig<br />
habe ich die Wahrheit erfahren. Weil die Türe leicht offenstand,<br />
habe ich gehört, wie Herr Müller zum Direktor gesagt hat, dass<br />
er ihm seinen Sohn anvertraue – seinen einzigen Sohn – und<br />
dass er sehr stolz auf ihn sei.»<br />
54…<br />
55…
«Was hast du dann gemacht?», wollte Sabine wissen. «Ich habe<br />
die Türe aufgestossen und bin auf der Schwelle stehen geblieben.<br />
Worte hatte ich keine. Es war so komisch. Der Vater, den<br />
man mir Jahre lang vorenthalten hatte, stand plötzlich vor mir.<br />
Ich wollte es nicht glauben – obwohl ich es geahnt hatte. Denn<br />
ich erinnerte mich noch an diesen speziellen Sonntagabend.»<br />
«Auch meine Mutter», übernahm Julia das Wort, «hatte immer<br />
wieder nach dem Kindsvater gefragt. «Eines Sonntags hatte<br />
sie Herrn Müller mit den Worten provoziert: ‹Sie sind Georgs<br />
Vater!› Sie hatte nicht gefragt, sie hatte es einfach behauptet.<br />
Ich weiss noch, wie verdattert Herr Müller gewesen war, was er<br />
für grosse Augen gemacht hatte. Dann hatte ihm meine Mutter<br />
noch gesagt, dass ich ihr nie erzählt hätte, wie er zu mir ins<br />
Zimmer geschlichen sei.»<br />
dass der Vormund, also dieser Herr Müller, ein ziemlich wichtiges<br />
Verdienst an deinem Leben hat? Eine Beziehung zwischen<br />
Vater und Sohn kann zur genialen Verbindung werden. Auch<br />
wenn es Begebenheiten gibt, die der Sohn nicht akzeptieren<br />
kann. Toleranz ist dir angeboren und den Respekt vor Herrn<br />
Müller hattest du ja schon immer! Einen gebührenden Platz in<br />
euren Herzen solltet ihr euch gegenseitig einräumen! Besser<br />
spät, als nie!»<br />
«Herr Müller hatte sich auf dem Absatz umgedreht und das<br />
Haus verlassen. Als er vor der Haustüre stand, hatte er sich<br />
noch umgedreht und sehr laut gesagt: ‹Diese Behauptung wird<br />
ein Nachspiel haben. Es wird Sie noch reuen, so etwas zu behaupten!›»<br />
Dass Sabine und Georg sich schon seit einer Weile an der Hand<br />
hielten, gefiel Julia. Mit grosser Befriedigung hatte sie die Entwicklung<br />
in ihrer Stube wahrgenommen. Sie war dabei, den<br />
Raum zu verlassen. Just in dem Moment hatte der letzte Sonnenstrahl<br />
der Nachmittagssonne die Stube vereinnahmt.<br />
Dann, wie von der Tarantel gestochen, sprang Sabine auf, stellte<br />
sich ans Fenster, schaute ein paar Sekunden hinaus und<br />
drehte sich abrupt um. «Du, sag mal Georg; findest du nicht,<br />
56…<br />
57…
HEIMKEHR<br />
«Rote Wolken am Himmel, in den Bergen der Schnee, und ich<br />
freu’ mich und …», «Sing weiter; du singst doch so schön!»,<br />
sagte der Mann zum Kind und lief mit ihm weiter. Er hielt es<br />
an der Hand, liess sich vom Gesang des Kindes ablenken. Die<br />
Wolken waren heute tatsächlich rot und in den Bergen lag noch<br />
Schnee. Die beiden liefen im Takt des Liedes die Strasse entlang.<br />
«Und ich freu’ mich und ich freu’ mich, dass das Leben<br />
so schön!», sang das Kind weiter. «Wie geht das Lied weiter?»,<br />
fragte es dann mit einem Blick nach oben.<br />
«Wir werden heute Abend deinen grossen Bruder fragen, wie<br />
das Lied weitergeht. Er wird es dir sagen und dich am Klavier<br />
begleiten.» Es war, als ob der Mann eine Entschuldigung für etwas<br />
suchen müsste. Er wusste, dass er eben geschummelt hatte.<br />
Wenn der Plan aufging, würde heute Abend der grosse Bruder<br />
das Kind nicht am Klavier begleiten können. «Es wird nicht mehr<br />
lange dauern, dann sind wir da. Das Haus ist nicht mehr weit<br />
weg, ein paar Schritte müssen wir schon noch machen.»<br />
«Papa! Ich freue mich auf den Besuch bei Tante Sofie. Bestimmt<br />
ist das eine liebe Tante», war das Kind überzeugt. Der Mann<br />
schwieg, nahm das Kind fester an die Hand. «Du weisst doch,<br />
dass Tante Sofie nicht deine Tante ist.» «Ja, eigentlich weiss ich<br />
das schon», murrte die Kleine, aber…»<br />
Der Mann hatte übersehen, dass er zu grosse Schritte nahm. Der<br />
heutige Tag war nicht gerade sein liebster. Er merkte, wie das<br />
58…<br />
59…
Kind an seiner Hand schwerer wurde. «Bist du müde, Melanie?»<br />
Er schaute zum Kind. «Soll ich dich tragen?» «Aber nicht doch»,<br />
kam des Mädchens Antwort. «Ich bin doch schon 6 Jahre alt.»<br />
«Stimmt», erwiderte er, «wie schnell die Zeit vergeht.»<br />
«Wie schnell vergeht denn die Zeit?», wollte das aufgeweckte<br />
Kind wissen. «Ach!» Ein Seufzer wurde hörbar. «Es ist etwas<br />
weniger als fünf Jahre her, da habe ich dich diese Strasse hoch<br />
in mein Haus getragen und heute läufst du selber diesen Weg.<br />
So schnell vergeht die Zeit! Aber, das verstehst du nicht», erklärte<br />
er dem Kind. «Papa, was verstehe ich nicht?» «Es ist alles<br />
so kompliziert. Komm, wir sind gleich da. Dann kannst du mit<br />
Tante Sofies … Nein, dann kannst du mit den Kindern spielen.<br />
Peterchen wartet bestimmt schon auf dich.»<br />
Das weisse Haus leuchtete regelrecht in der Sonne, Bäume standen<br />
Spalier; die Blumen im Garten setzten bunte Farbtupfer.<br />
«Schau mal, Melanie!» Papa zeigte mit dem Zeigefinger. «Das<br />
weisse Haus neben dem braunen Haus, das ist dein Haus. Das<br />
ist euer Haus. Dort wohnen deine Eltern.» «Papa, du machst<br />
Spass.» Das Mädchen lachte. «Meine Eltern wohnen nicht dort.<br />
Ich wohne dort, wo du wohnst, und wir beide wohnen dort, wo<br />
meine grossen Brüder und Mama wohnen. Ich will, dass das so<br />
ist», fügte das Mädchen trotzig hinzu.<br />
Eine leichte Brise wehte. «Warum ist es heute so kalt?», fragte<br />
sich der Mann, Melanies Pflegevater. «Weisst du, Melanie, ich<br />
bin nur dein Pflegevater und Mama ist nur deine Pflegemutter.<br />
Aber, das ist wieder so kompliziert. Es kommt ab und zu mal vor,<br />
dass ein Kind bei verwandten Leuten aufwächst. Das geschieht<br />
zum Beispiel, wenn eine Familie mehrere Kinder hat und die<br />
Mutter der Kinder krank wird. Dann gibt sie ein Kind für eine<br />
Weile in eine andere Familie. So ähnlich ist es bei dir.»<br />
Das Mädchen begann leise zu weinen. «Nicht doch, Melanie!»<br />
Dabei spürte Papa einen Kloss im Hals. Schon standen sie vor<br />
der Haustüre. «Willst du klingeln oder soll ich das machen?»,<br />
fragte Papa. Melanie legte beide Hände auf ihren Rücken. Dann<br />
klingelte Papa. Ein Knabe, kaum älter als Melanie, öffnete die<br />
Tür und schrie: «Mutter, Mutter! Melanie ist gekommen!»<br />
• • •<br />
Die Kinder verschwanden in Peterchens Zimmer; die Türe<br />
fiel hinter ihnen ins Schloss. Sie wollten den Bauernhof aus<br />
Holzklötzchen aufstellen. Das war gut so. Es war ja alles im<br />
Vorfeld geplant worden. Tante Sofie und Melanies Pflegevater<br />
waren nach draussen in den Garten gegangen, dort<br />
spazierten sie den Rabatten entlang. Der Mann betrachtete<br />
hier und dort eine Blume etwas näher, als ob sie ihn interessieren<br />
würde.<br />
«Willst du oder soll ich es ihr sagen?», begann Sofie das Gespräch.<br />
«Ganz klar! Ich werde es Melanie sagen.» Ein Leuchten<br />
begleitete ihren Blick in Richtung des Mannes. War das ein<br />
Siegesblick? Eine emotionale Rivalität begleitete sie deshalb<br />
schon länger. «Ich hoffe sehr, dass ich Melanie überzeugen kann,<br />
dass ich ihre Mutter bin und sie wie meine anderen Kinder bei<br />
mir haben will. Auf diesen Moment warte ich sei fünf Jahren.<br />
Sie weiss es doch seit je her. Oder, hoffentlich hast du Melanie<br />
60…<br />
61…
immer gesagt, dass wir ihre richtigen Eltern sind.» Sofies Worte<br />
klangen sehr bestimmt.<br />
«Die Kleider habe ich noch nicht mitgebracht; ich wollte zuerst<br />
sicher sein, dass sie hier bleibt», entschuldigte sich der Mann.<br />
«Sag mal Roland, spielst du mit mir? Ich bin wieder gesund und<br />
zwar nicht erst seit heute und ich kann mich um meine Kinder<br />
jetzt wieder selber kümmern. Dass du und deine Frau mir in<br />
dieser schwierigen Zeit die Kleine abgenommen habt, dafür bin<br />
ich euch sehr dankbar und ich werde es immer sein. In einer<br />
halben Stunde kommt Toni nach Hause. Heute Morgen hat er<br />
gesagt, wie sehr er sich darauf freue, am Abend seine Melanie<br />
in die Arme nehmen zu können und vor allem, sie in der Nacht<br />
in seinem eigenen Haus zu wissen. Wir lassen die Kinder noch<br />
eine Weile spielen. Nach dem Essen, wenn Toni zu Hause ist,<br />
werden wir ihr sagen, dass sie jetzt hier bleibt.»<br />
Während sie so sprach, war Sofie zwischen zwei Rosenstöcken<br />
stehen geblieben. Ihre Überzeugung und Durchsetzungskraft<br />
hatte sie jetzt klar bekundet. Es gab kein Zurück mehr. Es war<br />
längst an der Zeit, dass sie ihr Kind zurückbekam. Nur eben,<br />
ihre Schwester und ihr Schwager samt Familie hatten etwas dagegen.<br />
Immer hatten Ausreden in der Luft gehangen. Diesmal<br />
sollte das Kind zurückkommen – für immer.<br />
Melanie hatte sich in der Familie ihres Onkels wunderbar eingelebt.<br />
Die grossen Brüder – wie Melanie sie nannte – hatten<br />
an der Kleinen ihre helle Freude. Sie hatten mit ihren Eltern vereinbart,<br />
das Kind, wenn irgendwie möglich zu behalten. Die Eltern<br />
waren so weit einverstanden gewesen. Aber die Mutter des<br />
Kindes pochte seit Wochen auf die Rückkehr ihrer Tochter. Dass<br />
es sich in seiner richtigen Familie nicht zu Hause fühlen würde,<br />
wie ihre Schwester angeführt hatte, hatte von der Kindsmutter<br />
als Argument nie gegolten.<br />
Der Mann, Melanies Onkel und Pflegevater, und Melanies Mutter<br />
gingen zurück ins Haus. Es war Teezeit. Die Mutter hatte<br />
einen Kuchen gebacken – zur Feier des Tages. Der Tag sollte<br />
gebührend gefeiert werden. Sobald Toni von der Arbeit käme,<br />
würde aufgetischt, was Minuten später auch geschah.<br />
Am Tisch herrschte betretenes Schweigen. Nur die Kinder<br />
schäkerten und lachten miteinander. Peterchen und Melanie<br />
sassen nebeneinander. «Das ist meine Schwester», bekundete<br />
er lauthals, indem er auf Melanie zeigte. Der beste Moment<br />
schien damit gekommen. «Melanie!», begann die Mutter.<br />
«Wie schön, dass ihr euch lieb habt und so gut versteht. Wir,<br />
Vater, ich und die anderen Kinder haben dich auch lieb, sehr<br />
lieb. Du kannst jetzt hier bei uns bleiben, hier ist dein richtiges<br />
Zuhause. Du wirst es hier sehr schön haben und du bist bei<br />
deiner richtigen Familie.»<br />
Melanies Augen verloren das Leuchten. Ihr Blick ging hilfesuchend<br />
zu Papa, der eigentlich ihr Onkel war. «Hier bleiben? Nein, ich will<br />
nicht hier bleiben. Ich gehe doch mit Papa nachher nach Hause.<br />
Mama und meine Brüder warten auf uns. Mein grosser Bruder will<br />
mir heute Abend am Klavier mein Lied spielen. Ich werde dann<br />
singen.» Die Stimme des Mädchens begann zu zittern.<br />
«Hör mal, Melanie», ergriff Toni, Melanies leiblicher Vater, das<br />
Wort. «Tante Sofie ist deine richtige Mutter und ich bin dein<br />
richtiger Vater. Als Mutter sehr krank war, hat dich dein Onkel<br />
62…<br />
63…
Roland zu sich geholt. Das sind jetzt schon fünf Jahre her. Und<br />
jetzt ist Mutter wieder gesund und wir möchten eine komplette<br />
Familie sein. Deine Geschwister, Mutter und ich, wir haben<br />
dich immer sehr vermisst. Du hast auch bei uns ein eigenes<br />
Zimmer. Peterchen kann es dir zeigen. Wir haben es schön<br />
hergerichtet.»<br />
Dicke Tränen kullerten aus Melanies Augen und über ihre erhitzten<br />
Bäckchen. Es senkte den Kopf; wollte seine Tränen verstecken.<br />
Nach einer bedrückenden Weile hob Melanie den Kopf<br />
in Richtung Pflegevater: «Papa, bitte komm, wir gehen jetzt<br />
nach Hause», flehte es mit erstarkter Stimme. «Mama wartet<br />
bestimmt schon auf uns!»<br />
Die flehenden Augen Melanies hatten den Onkel überzeugt.<br />
Papa erhob sich ruckartig vom Stuhl. «Tja! Der langen Rede kurzer<br />
Sinn, ich werde wohl das Kind mit mir zurücknehmen. Dass<br />
es mir leid tut, kann ich nicht behaupten. Der richtige Zeitpunkt<br />
ist noch nicht gekommen. Melanie, bedanke dich bei Tante Sofie<br />
und Onkel T… Nein, bedanke dich bei deinen Eltern und verabschiede<br />
dich. Wir werden bestimmt schon erwartet.»<br />
• • •<br />
Drei Jahre später: «Melanie, Melanie!» Das Mädchen drehte<br />
sich um, das musste doch Peterchens Stimme sein. «Warte doch<br />
auf mich, Melanie! Ich muss dir etwas sagen!» Melanie wartete<br />
am Ausgang der Schule. Was ihr Peterchen wohl sagen wollte?<br />
Der Knabe hatte Melanie eingeholt und ergriff sie am Arm.<br />
«Hör mal, Melanie!», begann Peter. «Du gehörst zu uns, nicht<br />
zu Onkel Roland. Du bist doch meine Schwester und ich<br />
möchte, dass du bei uns wohnst. Bei uns, dort, wo dein richtiges<br />
Zuhause ist.»<br />
Melanie war erstaunt, schaute Peterchen an, ob er das wirklich<br />
so meinte und lispelte: «Wenn du meinst. Dann werde ich das<br />
Mama und Papa sagen, dann komme ich morgen zu dir nach<br />
Hause.» «Super!», rief Peterchen. «Juhu! Wenn ich das heute<br />
Abend meiner Mutter sage.» Er hüpfte und sprang davon und<br />
rief. «Melanie kommt, Melanie kommt!»<br />
• • •<br />
«Guten Appetit!», begann Papa. «Guten Appetit!», kam das<br />
Echo zurück. Einer der beiden grossen Brüder war nicht am<br />
Tisch. Trotzdem wollte Melanie der Familie eröffnen, was sie<br />
vorhatte. Niemand sprach, nur Messer und Gabel gaben sich<br />
dem gewohnten Dialog hin, bis Melanie zu sprechen begann.<br />
«Ich werde nach Hause gehen!», sprudelte es aus dem Kind.<br />
«Ich werde morgen nach Hause gehen, dorthin wo meine richtigen<br />
Eltern sind. Peterchen hat mir gesagt, dass ich seine<br />
Schwester bin. Und – Peterchen ist nach meinen grossen Brüdern<br />
mein Lieblingsbruder.»<br />
Melanies Pflegeeltern schauten sich erschrocken und wortlos<br />
an. Nach einer kleinen Ewigkeit ergriff Papa das Wort. «Wenn<br />
du meinst, dass du nach Hause gehen willst, dann packen wir<br />
64…<br />
65…
deinen Koffer.» Melanie kam Papas Stimme eigenartig vor.<br />
«Papa, bist du erkältet», wollte das Mädchen wissen. Mama<br />
war aufgestanden und hatte den Raum verlassen.<br />
An diesem Abend sprach beinahe niemand mehr, was Melanie<br />
auffiel. «Dann wollen wir jetzt zu Bett gehen; morgen werden<br />
wir deinen Koffer packen», sagte Papa und verliess ebenfalls den<br />
Raum. Melanie bemerkte, dass die Teller auf dem Tisch stehen<br />
geblieben waren: «Wie komisch! Was hat denn Mama heute?<br />
Die lässt doch nie die Teller auf dem Tisch stehen!»<br />
• • •<br />
Die Turmuhr schlug siebenmal. «Klingelst du oder soll ich klingeln?»,<br />
fragte Papa. Diese Frage kam ihm bekannt vor. Den<br />
Koffer hatte er vor der Haustüre von Melanies Eltern abgestellt.<br />
«Ich klingle!», antwortete Melanie übermütig. Mama öffnete<br />
die Türe. «Da bist du ja!», rief sie und hob Melanie – immerhin<br />
schon neun Jahre alt – zu sich empor. Sie herzte das Kind mit<br />
Tränen in den Augen. Melanie sah nicht, dass auch die Augen<br />
von Papa Roland feucht waren. «Gut! Dann übergebe ich dir<br />
jetzt auch den Koffer, den ich ja diesmal dabei habe», meinte<br />
Papa Roland, drehte sich um und ging weg.<br />
Melanie war schon im Innern des Hauses verschwunden. Peterchen,<br />
der nicht mehr so genannt werden wollte, hatte sie an<br />
die Hand genommen und war mit ihr in ihr Zimmer gelaufen.<br />
Dort stand ein Blumenstrauss auf dem Tischchen an der Wand.<br />
Deckbett und Kissen waren bunt bezogen, das Fenster stand<br />
weit offen. «Das ist dein Zimmer», keuchte er vor Aufregung.<br />
«Gefällt es dir?» «Ja, ja. Es ist sehr schön», versuchte Melanie<br />
ihren Bruder zu überzeugen.<br />
«Es ist Zeit aufzustehen!», vernahm Melanie Mutters Stimme<br />
am Morgen. Schon klopfte sie an ihre Türe und öffnete. «Guten<br />
Morgen, Melanie. Hast du gut geschlafen?» Mutter bekam<br />
keine Antwort. Sie trat an Melanies Bett und setzte sich auf die<br />
Bettkante. «Guten Morgen, mein Mädchen. Wie schön, dass du<br />
jetzt zu Hause bist.» Noch immer war keine Reaktion von ihrer<br />
Tochter gekommen. Dann streichelte sie Melanie über den Kopf.<br />
«Oh!», du hast eine heisse Stirn. Bist du krank?»<br />
Mutter ging zurück in die Küche, setzte sich auf einen Stuhl und<br />
liess ihrem unguten Gefühl freien Lauf. «Was haben wir denn<br />
falsch gemacht?» Diese Frage würde sie sich später mehrmals<br />
wiederholen. Bestimmt hatte die Kleine Fieber. Dann nahm sie<br />
ein Tuch und Essig mit in Melanies Zimmer. Damit würde sie ihr<br />
Wadenwickel machen. Vielleicht war es nur eine kleine Grippe.<br />
Allerdings war das Thermometer fast auf 39 Grad gestiegen.<br />
«Hoffentlich wird sich das Fieber bald senken», murmelte sie.<br />
Morgen würde Melanie sicher wieder in die Schule gehen können.<br />
«Peter, Melanie hat Fieber und kommt heute nicht in die<br />
Schule. Kannst du das bitte ihrer Lehrerin ausrichten?» «Oh,<br />
schade!», murrte Peter und biss kräftig in sein Honigbrot.<br />
Im Verlaufe des Vormittags war das Fieber noch gestiegen.<br />
Melanies Mutter griff entschieden zum Telefon, um ärztlichen<br />
Rat einzuholen. Nach der genauen Schilderung der Situation<br />
beschloss ihr Hausarzt, nach Praxisschluss, beim Kind einen<br />
Krankenbesuch zu machen.<br />
66…<br />
67…
«Das Kind macht einen schweren Fieberschub, dessen Ursache<br />
ich nicht kenne. Es scheint keinerlei Entzündung im Mund – oder<br />
Rachenraum zu haben. Auch sonst kann ich keinerlei Symptome<br />
erkennen, was das Fieber erklären würde», klärte der Arzt auf.<br />
«Ich gebe Ihnen Fieberzäpfchen. Wenn das Kind morgen noch<br />
so hohes Fieber hat, muss ich es ins Krankenhaus zur Abklärung<br />
einweisen lassen.»<br />
Als Peter am nächsten Mittag von der Schule kam, war Melanie<br />
noch kränker gewesen. «Was hat sie denn?», fragte er seine<br />
Mutter. «Der Arzt konnte gestern Abend nichts feststellen.<br />
Wenn es nicht besser wird, müssen wir Melanie ins Krankenhaus<br />
bringen.»<br />
Roland und teilte ihm mit, dass er noch – am gleichen Abend<br />
– Melanie zurückbringen müsse. Was dann auch geschah.<br />
Am folgenden Tag wachte Melanie ihn ihrem Bett bei den Pflegeeltern<br />
auf. «Mama, Mama, komm mal. Ich muss dir meinen<br />
schlimmen Traum erzählen!», rief das Kind mit der bekannt fröhlichen<br />
Stimme. «Stell dir vor, ich habe geträumt, dass ich bei<br />
Tante Sofie und Onkel Toni gewohnt habe. Wie komisch das war.<br />
Ich habe die alle sehr lieb, aber ich will nicht dort wohnen! Oder,<br />
Mama?» «Ich denke auch, dass du hier richtig bist!», bejahte ihre<br />
Pflegemutter. «Nun bist du wieder heimgekehrt!»<br />
Peter schlich sich zu Melanie ins Zimmer, obwohl ihm die Mutter<br />
das verboten hatte. Melanie brauchte Ruhe und sollte schlafen<br />
können; Mutter hatte ihr wieder ein Fieberzäpfchen verabreicht.<br />
«Hei, Melanie, ich bin es», flüsterte Peter Melanie ins Ohr.<br />
«Hast du Bauchschmerzen?» «Ja», kam ganz leise von des<br />
Mädchens Lippen. «Papa, Mama und meine grossen Brüder<br />
sind in meinem Bauch. Das tut so schrecklich weh!» Dann war<br />
Peter zu seinen Eltern gelaufen. «Vater, Mutter! Melanie sagt,<br />
dass Papa Roland, Mama Irma und ihre grossen Brüder sie im<br />
Bauch schmerzen.»<br />
Die Blicke von Mutter Melanie und Vater Toni hatten sich gekreuzt.<br />
«Danke, Peter, wahrscheinlich hast du die richtige Diagnose<br />
gestellt. Melanie hat Heimweh, das ist es.» Er ging entschlossen<br />
zum Telefon, wählte die Nummer von seinem Schwager<br />
68…<br />
69…
DER MANN MIT DER<br />
BRAUNEN MAPPE<br />
In den nächsten Tagen sollte er wieder ins Dorf kommen. Am<br />
Bahnhof würde er den Jeep besteigen, um den Fussmarsch zu<br />
vermeiden. Von dieser Ankunft sprach nicht nur der Fahrer; das<br />
ganze Dorf erwartete den Mann. Sein Besuch brachte Bewegung,<br />
wohl eher Aufruhr, obwohl der Mann mit den Dorfbewohnern<br />
kaum oder gar nicht in Kontakt kam. Einmal pro Jahr<br />
kam er – schon seit ein paar Jahren – immer mit der braunen<br />
Mappe in der linken Hand.<br />
Jeweils in den ersten Septembertagen, zur Zeit der Reife der frühen<br />
Birnen und Äpfel fand dieses Ereignis statt. Dann waren die<br />
Leute bei der Ernte. Von einem Feld und oder Acker zum andern<br />
baute sich Spannung auf. Diejenigen, welche ihren Acker in der<br />
Nähe oder oberhalb der Strasse besassen, waren im Vorteil. Von<br />
dort liess sich das Geschehen prima kontrollieren.<br />
«Ist er noch nicht gekommen?», fragten sich Frauen schon am<br />
ersten Septembertag – von Fenster zu Fenster. Die Neugier verursachte<br />
regelrechte Metastasen. Ob er wohl kam wie immer?<br />
Diese noblen Kleider und dann immer diese braune Mappe!<br />
Darin musste sich ein Vermögen befinden. Wenn er das ganze<br />
Jahr über weg war, würde er jetzt seiner Olivia viel Geld mitbringen<br />
– wenn denn in der Mappe überhaupt wirklich Geld war.<br />
«Diebesgut vielleicht?» Barbaras Stimme war leiser geworden,<br />
da sie diesen Verdacht schon mal geäussert hatte.<br />
Die Strasse war staubig; das war sie immer. Schuld war die trockene<br />
Luft. Es fiel zu selten Regen, zum Leidwesen der Leute<br />
und der Natur. Die Menschen waren von dieser Strasse abhängig,<br />
die Verbindung zum Bahnhof. Dieser Bahnhof ermöglichte<br />
den Menschen kleine Reisen in die Umgebung, in die Kleinstadt<br />
oder auch weiter weg in die Fremde, wie sie das nannten.<br />
Mehrmals die Woche fuhr ein Jeep diese Strasse hoch. Er brachte<br />
den kleinen Lebensmittelläden die bestellten Waren, die per<br />
Eisenbahn angeliefert worden waren. «Franko Domizil!», sagte<br />
der Fahrer jeweils bei der Übergabe der Ware und des Lieferscheins<br />
und wiederholte: «Franko Domizil!», ohne das Reststück<br />
einer Billigzigarre aus dem Mund zu nehmen. Dieses Stück hing<br />
immer im linken Mundwinkel. Nicht selten verursachte es ein<br />
braunes Rinnsal auf dem Kinn.<br />
Dann bekam er aus der Schubladenkasse den geforderten Betrag.<br />
Am Bahnhof hatte er die Bahntransportkosten beim Empfang<br />
der Ware im Voraus bezahlen müssen. Sobald sein Konto<br />
ausgeglichen war, verliess er den ersten Dorfladen, um im zweiten<br />
Dorfladen die Ware abzuliefern und die Kosten für seine<br />
Dienstleistung einzutreiben.<br />
Wenn der Jeep – das beinahe ausrangierte Armeefahrzeug – die<br />
Strasse hoch fuhr, war er weiss vom Staub. Weiss waren auch die<br />
Kinder, welche mit Murmeln auf der trockenen Erde spielten. Dort<br />
kauerten und knieten sie in ihr Spiel vertieft, bis der Jeep – das<br />
einzige Fahrzeug im Dorf – die Kinder von der Strasse verscheuchte.<br />
Hier und dort hustete ein Kind, weil Staub seine Lunge belastete.<br />
Ein Kind unter ihnen hustete schon seit Tagen. «Du hast wieder<br />
70…<br />
71…
im kalten Wasser gespielt!», behauptete seine Mutter, wenn<br />
der Löffel Holunder – oder Tannenspitzensirup den Husten nicht<br />
zu stillen vermochte, den sie ihm als Medizin verabreicht hatte.<br />
«Heute Abend werde ich dir einen Polenta-Wickel machen und<br />
im Dorbrunnen spielst du nicht mehr, basta!»<br />
Es kam oft vor, dass der Jeep Personen vom Bahnhof herauf mitbrachte.<br />
«Personentransport!», nannte das der Fahrer. Ein Mitfahrer<br />
fand Platz neben ihm, die anderen installierten sich auf<br />
der Ladefläche auf Kisten und Paketen. Dabei lasen sie gerne die<br />
Absender, was zu eigenartigen Mutmassungen führte. Ihre Neugier<br />
liess sie vergessen, dass sie auf ihre Kleider aufpassen sollten.<br />
Dementsprechend sahen sie dann bei ihrer Ankunft im Dorf aus.<br />
Für die Kinder des Dorfes war deshalb nicht nur die Ankunft<br />
des Jeeps ein Ereignis. Die Leute, die dem Jeep entstiegen, waren<br />
mit dem Zug in eine grössere Agglomeration gefahren. Gut<br />
gelaunt kehrten sie am Abend nach Hause zurück; wenn dem<br />
Ausflug nicht gerade ein schmerzhafter Besuch beim Zahnarzt<br />
zu Grunde gelegen hatte. Meistens waren diese Menschen um<br />
ein interessantes Erlebnis reicher. Ein bisschen städtische Luft<br />
schnuppern, das tat ihnen gut; eine willkommene Abwechslung<br />
vom eintönigen Dorfleben.<br />
Im Dorf kannte jeder jeden. Wer sich ausserhalb des Dorfes oder<br />
gar in der Fremde aufhielt oder demnächst wegging, blieb selten<br />
ein Geheimnis. Alles wurde zum Tagesgespräch. Jede noch<br />
so kleine Veränderung ging wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus.<br />
«Hast du schon gehört?», tuschelten die Frauen vor dem Dorfladen.<br />
«Aber, ich will dann nichts gesagt haben!», schlossen<br />
sie jeweils ihre Vermutung.<br />
So richtig Aufruhr kam ins Dorf, wenn der Jeep einen fremden<br />
Menschen mitbrachte. Das konnte ein Vertreter sein, der in den<br />
kleinen Dorfläden seine Angebote feilhielt. Nach Saisonende kamen<br />
auch Dorfbewohner zurück, welche in der Fremde ihr Geld<br />
verdienen konnten. Das war besonders spannend. Die Rückkehrer<br />
trugen andere Kleider. «Solche Kleider trägt man nur in<br />
der Stadt!», wusste Adelheid. Sie wusste ohnehin immer alles.<br />
Wenn etwa eine junge Frau nach der Sommersaison in einem<br />
Gastbetrieb nach Hause kam, war ihr Rock kürzer, als er noch vor<br />
ihrer Abreise gewesen war. So ein kurzer Rock veranlasste schon<br />
mal einen Mann dazu, der jungen Frau ein bisschen länger nachzuschauen.<br />
Seine Frau Gemahlin, die genau in dem Moment aus<br />
der Tür trat, war darüber nicht begeistert und schimpfte: «Diese<br />
72…<br />
73…
jungen Dinger, die sich nicht anständig kleiden, bringen unsere<br />
Männer auf dumme Gedanken!» Nach der kurzen Verurteilung<br />
dieser jungen Frauen verteidigte sich der Mann: «Ich habe mir<br />
doch nur Sorgen gemacht, dass sie sich erkälten könnte.»<br />
Der Fahrer mit dem Stück Billigstumpen im Mundwinkel fuhr<br />
immer schneller durchs Dorf, wenn eine Person sein Angebot,<br />
mitzufahren, abgelehnt hatte. Ihm war eine zusätzliche Einnahme<br />
entgangen. Das kam ab und zu mal vor. Nicht alle wollten<br />
auf dem alten Jeep mitgenommen werden; die Sonntagskleider<br />
waren ihnen halt doch zu schade.<br />
Die Sonne war im Begriff unterzugehen, als der erwartete Mann<br />
mit Hut, Stock und noblem Anzug im Dorf ankam – zu Fuss.<br />
Seine Schuhe waren weiss vom Staub, die braune Mappe trug<br />
er in der linken Hand – wie jedes Jahr – weil die rechte den<br />
Gehstock führen musste.<br />
Einen Anzug mit Hemd und Krawatte trugen die Männer im Dorf<br />
bei Hochzeiten, Beerdigungen oder kirchlichen Hochfesten. Aber<br />
doch nicht einfach so während der Woche und das ohne ersichtlichen<br />
Grund! An diesem Mann haftete Geheimnisvolles. Bis<br />
heute hatte im Dorf niemand dieses Geheimnis lüften können.<br />
«Geizkragen!», hatte der Fahrer geschimpft, als der Mann<br />
mit dem Zug am Nachmittag angekommen war und den Jeep<br />
nicht bestiegen hatte. «Du elender Geizkragen. Hast doch deine<br />
braune Mappe voller Geld, aber du gönnst dir nicht mal<br />
die Fahrt ins Dorf. Für zwei Franken würde ich dich mitnehmen!»,<br />
hatte er gewettert, sich umgedreht und geflüstert: «Du<br />
Krüppel, du!»<br />
Mit einer kurzen Handbewegung und einem freundlichen<br />
Kopfnicken hatte der Mann das Angebot, mit dem Jeep mitgenommen<br />
zu werden, dankend abgelehnt. Dann war er erhobenen<br />
Hauptes am Jeep vorbei in Richtung Dorf gelaufen,<br />
das eine Bein schwerfällig nachziehend. Sicher hatte er beweisen<br />
wollen, dass er trotz seines Handicaps und entgegen<br />
der allgemeinen Meinung, dass er ein Krüppel sei, ins Dorf<br />
gelangen konnte.<br />
Im Dorf angekommen trat er an den Dorfbrunnen, um sich zu<br />
erfrischen. Dort traf er auf Kinder, deren liebster Spielort der<br />
Brunnen war. Der Mann feuchtete die Hand an und kühlte sich<br />
die Stirn, dann versuchte er mit der hohlen Hand Wasser zu<br />
trinken, das ihm durch die Finger tröpfelte. So gab er seinen<br />
Stock einem Jungen: «Kannst du den mal kurz halten?», bat<br />
er den Knaben.<br />
«Wer bist du? Bist du Pan Tau?», fragte der Junge erstaunt und<br />
griff nach dem Stock. «Du siehst so komisch aus! Hast du heute<br />
Hochzeit?» Eiligst scharten sich mehrere Kinder um ihn.<br />
«Du liebe Güte, nein!», lachte der Mann. «Ich heisse Anton und<br />
ich komme aus der Stadt.» «Aus der Stadt?» «Ja, ich wohne<br />
in der Stadt, weit weg. Meine Frau ist die Olivia, die kennt ihr<br />
doch. Sie wohnt im kleinen Häuschen oberhalb der Mühle. Die<br />
Leute hier im Dorf nennen sie die fremde Olivia.»<br />
«Wie komisch!», rief Peter. «Du bist der Mann von der fremden<br />
Olivia! Die hat doch gar keinen Mann. Die schaut immer<br />
zum Fenster hinaus!» «Wer sagt denn, dass die Olivia keinen<br />
Mann hat?», wollte Anton wissen. «Meine Mutter!», kam<br />
74…<br />
75…
es zurück. «Und mein Vater hat gesagt, dass du immer eine<br />
Mappe voller Geld mitbringst, wenn du kommst», meinte der<br />
Junge, der noch immer den Stock in seiner Hand hielt. Dabei<br />
umfasste er mit beiden Händen den Stock. «Einen so schönen<br />
Stock habe ich noch nie gesehen! Ist der aus Eschenholz?»,<br />
wollte er wissen.<br />
«Wie heissen deine Eltern?», fragte Anton eine weitere Rotznase.<br />
«Hans und Fatima!», kam die prompte Antwort. «Hans und<br />
wie weiter?» «Meine Eltern heissen Hans und Fatima Müller»,<br />
klärte ihn Edi auf. «Ach so. Hans müsste der Sohn vom Paul<br />
sein und die Fatima? Die Fatima kenne ich nicht. Wie heisst<br />
denn ihr Vater, also dein Grossvater?», bohrte Anton weiter.<br />
«Mein Grossvater ist tot; er hat nicht hier gewohnt. Wenn wir<br />
zu ihm gefahren sind, war das sehr, sehr weit weg, das Land<br />
heisst Bosnien oder so.» «Ach so! Deine Mutter kommt aus<br />
Italien.» Anton verstand.<br />
«Peter, Anni, kommt sofort nach Hause! Edi, Susanne, ihr müsst<br />
bestimmt auch nach Hause gehen! Eure Eltern warten auf<br />
euch!», hörten die Kinder rufen. Anton kannte diese Situation;<br />
er hatte sie schon erlebt. Die Eltern duldeten keine Kinder in<br />
seiner Nähe, so, als ob er eine ansteckende Krankheit mit sich<br />
brächte. Sofort fühlte er diesen eigenartigen Schmerz wieder,<br />
den er jedes Mal empfand, wenn die Kinder von ihm fort gerufen<br />
wurden. Dieser Schmerz kam stark demjenigen gleich, den<br />
er von früher kannte.<br />
Missmutig trotteten die Kinder nach Hause. Sie hätten so gerne<br />
noch länger mit Anton geplaudert, vor allem hätten sie gerne<br />
mehr von ihm erfahren. Der Mann kam schliesslich aus einer<br />
Stadt, von dort, wo so viel Spannendes passierte, von dort, wo<br />
es Räuber und Gangster gab. Und – er hatte doch viel Geld<br />
mitgebracht! «Vielleicht bist du ein Zauberer!», hatte Edi beim<br />
Weglaufen noch zurückgerufen. «Du sieht doch so aus!»<br />
Die Neuigkeit über Antons Ankunft ging wie ein Lauffeuer<br />
durchs Dorf. Vieles sprach sich hinter der vorgehaltenen<br />
Hand der Erwachsenen herum. Dort wurde gemutmasst und<br />
getuschelt. Anton brachte Geld mit – in dieser braunen Mappe<br />
– das war das eine. Dann würde er sicher seinen Familienpflichten<br />
nachkommen; das war das andere. Dies falls –<br />
ja falls denn Olivia wirklich seine Frau war. Alle wussten es,<br />
niemand wollte darüber laut reden. Die gegenseitigen Blicke<br />
besagten alles.<br />
Die fremde Olivia hatte mal erzählt, dass Anton in einer Stadt<br />
leben würde. Ob das so stimmte, konnte niemand überprüfen.<br />
Wobei – der eine oder die andere hätte die Neugier beinahe<br />
dazu getrieben. Diese Geheimnistuerei wühlte die Leute jedes<br />
Jahr auf – regelmässig wiederkehrend mit dem Herbst. «Vielleicht<br />
meint Olivia mit der Grossstadt das Gefängnis!», hatte die<br />
Klara schon mal laut gemutmasst. «Aber, diese braune Mappe!»<br />
Die wollte nicht dazu passen, es sei denn…<br />
Auch für die Kinder war Anton, der wohl mit einem schönen<br />
Stock, aber eigenartigem Gang durchs Dorf nach Hause hinkte,<br />
ein komischer Fremder. Die Faltenhose verstand es gut, die<br />
Stützschiene am Bein zu verbergen. Ein Fuss steckte in einem<br />
Kinderschuh und war zusätzlich stark nach innen gebogen. Niemand<br />
im Dorf wusste, was es mit diesem Bein und dem Fuss auf<br />
sich hatte. Olivia war nie danach gefragt worden.<br />
76…<br />
77…
Olivia war auch nicht eine Frau, die sich mit den Frauen aus dem<br />
Dorf zusammentat, um über ihre Kinder oder über ihre Männer<br />
zu sprechen, schon gar nicht, um über die Ehemänner zu<br />
lästern. Nein, Antons Frau gesellte sich nicht zu ihnen. Sie ging<br />
ihre Wege, zum Einkaufen; lebte sehr zurückgezogen. Sehr oft<br />
stand sie am Fenster und schaute in die Ferne. Fast konnten die<br />
Leute ihre Gedanken lesen. Kinder hatte sie keine. Dass sie ab<br />
und zu ein neues Kleid trug, war aufgefallen. «Wahrscheinlich<br />
sind ihr die Kleider wichtiger als Kinder!», hatte Barbara auch<br />
schon in die Welt gesetzt.<br />
Selbst Olivias kleiner Garten war sonderbar. Er produzierte kein<br />
Gemüse, wie das in ausschliesslich allen anderen Gärten der<br />
Fall war, denn die meisten Dorfbewohner waren Selbstversorger.<br />
In Olivias Garten blühten Blumen; er war eine einzige Blumenpracht.<br />
Zu Olivias Vergnügen tummelten sich Schmetterlinge,<br />
Bienen, Hummeln und eine Vielzahl anderer Insekten<br />
auf den Blüten. Manchmal blätterte Olivia dort in einem Buch,<br />
betrachtete die Bilder, las etwas und beobachtete dann wieder<br />
das Insekt.<br />
«Ein Garten, in dem kein Gemüse wächst, ist doch kein richtiger<br />
Garten und schade ist es auch!», hatte sich ihre Nachbarin<br />
entrüstet. Die Bienen, ja, die wurden natürlich geduldet, aber<br />
Freude an den Hummeln und den anderen Insekten haben, das<br />
zeugte von einem wirren Kopf. Was keinen unverzüglichen Nutzen<br />
brachte, war unnötig, sinnlos.<br />
Olivia war von einem andern Ort, sogar aus einem andern Land<br />
gekommen und wurde nie in die Dorfgemeinschaft integriert.<br />
Das hatte sie immer geschmerzt. Deshalb hielt sie sich von der<br />
Gemeinschaft fern. Anton war vor Jahren mit ihr zusammen ins<br />
Dorf gekommen. Er hatte hier ein kleines Häuschen gefunden.<br />
Auch wusste niemand, ob er sie geheiratet hatte. Auch das gehörte<br />
zum grossen Geheimnis. Ohne Trauschein zusammenleben,<br />
das war ohnehin des Teufels.<br />
Bald nachdem Olivia und Anton das kleine Häuschen oberhalb<br />
der Mühle bezogen hatten, war Anton weggegangen; niemand<br />
hatte gewusst, wohin. Die Frau hatte er zurückgelassen. Zu fragen<br />
hatte sich niemand getraut. Auf alle Fälle sprach Olivia<br />
Schriftsprache mit einem starken Akzent. «Eine Fremde! Eine<br />
Ausländerin, wie schrecklich!»<br />
Nun war Anton wieder mal gekommen. Seine Ankunft glich<br />
dem Rhythmus von Weihnachten, worauf aber auch die Kinder<br />
warteten. Ein paar Frauen und Männer hatten sich am späteren<br />
Nachmittag – nach getaner Arbeit unter dem Lindenbaum<br />
eingefunden.<br />
Das kam dann vor, wenn die Arbeit verrichtet war und die Leute<br />
sich etwas Erholung von der strengen Arbeit gönnen konnten.<br />
«Ihr habt alle mitbekommen, dass er heute gekommen ist», begann<br />
Adelheid, die bekanntlich immer alles wusste, vor allem<br />
aber auch sehr gerne weitertrug. Er – alle wussten, wer damit<br />
gemeint war. «Wie immer hat er die geheimnisvolle, braune<br />
Mappe bei sich. Somit müsste er der Olivia wieder Geld mitgebracht<br />
haben. Es gibt da so Verschiedenes, was mir seit je her<br />
nicht geheuer ist», beendete sie ihre quasi Dorfrede. «Das mit<br />
dem Gefängnis, das ich mal gehört habe, könnte etwas Wahres<br />
an sich haben!», fügte sie noch hinzu.<br />
78…<br />
79…
Adelheid setzte sich, schaute kurz in die Runde, um gleich wieder<br />
aufzustehen. «Seit Jahren kommt dieser Mann, den Anton<br />
meine ich, jedes Jahr Anfang September ins Dorf. Ihr wisst<br />
selber, wie fragwürdig die ganze Sache ist. Wir wissen noch<br />
immer nichts über ihn und noch weniger über die fremde Olivia,<br />
diese Ausländerin. Ich denke», sie schaute in die Runde»,<br />
ich denke, dass es an der Zeit ist, die Sache aufzuklären. Wir<br />
werden diejenige Person bestimmen, welche diese Aufgabe<br />
übernimmt. Ich würde mich schon mal zur Verfügung stellen»,<br />
schloss sie ihre Worte.<br />
Dann öffnete Anton seine braune Mappe und entnahm dem<br />
Seidenpapier ein liebevoll gefaltetes blaues Kleid. «Danke!»,<br />
murmelte Olivia. «Es ist sehr schön. Es trägt die Handschrift<br />
eines Schneidermeisters, der das Dorf verlassen hat, weil er<br />
den Spott und das Getuschel hinter ihm – seines Geburtsgebrechens<br />
wegen – nicht ertragen konnte!» Dann flüsterte sie<br />
ganz leise: «Entschuldige bitte, dass ich auch noch eine Ausländerin<br />
bin!»<br />
Die Sonne war bereits untergegangen, als Paul sich erhob<br />
und seine Frau Fatima ansprach: «Komm, wie gehen», sagte<br />
er. «Vielleicht sollten wir mal aufhören über andere Leute zu<br />
spekulieren und zu urteilen. Und – was soll das schon heissen,<br />
wenn Olivia nicht von hier ist?» Er fasste seine Frau an der Hand<br />
und verliess mit ihr den Platz unter der Linde.<br />
Karl hatte die Szene beobachtet und forderte ebenfalls seine<br />
Frau auf mitzukommen; weitere taten es ihnen gleich – wortlos.<br />
Adelheid war alleine zurückgeblieben. Sie hatte den Kopf gesenkt,<br />
wohl sinnend, wie sie vorgehen könnte. Erst nach einer<br />
Weile hatte sie erstaunt bemerkt, dass sie alleine geblieben war.<br />
Inzwischen war Anton längst im kleinen Haus oberhalb der<br />
Mühle angekommen. Wie ausnahmslos immer, Olivia hatte ihn<br />
kommen sehen. Als er die Haustüre geöffnet hatte, hatte sie vor<br />
ihm gestanden. «Da bist du ja wieder. Bleibst du zwei oder drei<br />
Tage?», fragte sie schüchtern. «Ach, was soll’s? Hauptsache, du<br />
hast diesem langweiligen Dorf wieder mal Spannung und etwas<br />
Abwechslung mitgebracht.»<br />
80…<br />
81…
MEINUNGEN UND TATSACHEN<br />
2<br />
82…<br />
83…
TIERISCHES –<br />
ZWEI KÜHE<br />
DIE WÖLFIN UND DAS MUTTERSCHAF<br />
Eine gescheckte Milchkuh geht zum Rindkuhkampf und schaut<br />
den schwarzen Kampfkühen beim Kampf zu. Die Kuh<br />
staunt, wie die Kampfkühe von den Zuschauern bejubelt<br />
und von ihren Besitzern gehätschelt werden.<br />
Plötzlich führt ein Bauer eine Kampfkuh aus der Arena,<br />
bringt sie in einen Transporter. «Ach», sagt sich die<br />
gescheckte Kuh. «Wäre ich doch auch eine schwarze<br />
Kampfkuh, dann würde ich auch so verwöhnt.»<br />
Das hört die Kampfkuh im Transporter und ruft:<br />
«Ich wäre gerne eine gescheckte Milchkuh; denn mit nur<br />
einem Horn wartet nur noch der Metzger auf mich!»<br />
Eine Wölfin sucht Nahrung für ihre Jungen und schleicht zur<br />
Schafherde. Die Mutterschafe säugen ihre schönen, weissen<br />
Lämmer. «Genau so ein Lämmchen muss ich haben!»,<br />
sagt sich der Wolf und spricht ein Mutterschaf an. «Würdest<br />
du mir ein Lämmchen geben, ich möchte es meinen Jungen<br />
zeigen», heuchelte er. «Natürlich!», antwortete das Mutterschaf.<br />
Du kannst das schönste Lämmchen haben, aber es ist im Stall<br />
geblieben. Wir müssten schon dorthin gehen.»<br />
Beim Stall angekommen sagt das Mutterschaf: «Die Höflichkeit<br />
gebietet mir, dich vor mir eintreten zu lassen.»<br />
Dann schubst es den Wolf in den Stall und sperrt die Stalltüre zu.<br />
84…<br />
85…
GEDANKENBLITZE<br />
DIE BIENE UND DIE WESPE<br />
Sich erinnern ist gratis, kann jedoch sehr kostbar sein.<br />
Mein Problem ist, dass alles und jedes ein Problem sein soll.<br />
Eine Biene und eine Wespe treffen sich auf der<br />
Kirschblüte. «Von dir sagt man», beginnt die Wespe, «dass die Menschheit<br />
ohne dich nicht überleben würde. Ich möchte auch so wertvoll sein wie du.»<br />
«Das stimmt», antwortet die Biene, «aber dafür kannst du weiterleben,<br />
nachdem du einen Menschen gestochen hast, ich hingegen muss sterben.»<br />
Wer in seinem Leben nie um etwas kämpfen musste,<br />
ist um eine wertvolle Erfahrung ärmer.<br />
Ein Kind bereichert die Familie, den Staat, die Welt.<br />
Gibt es vielleicht deshalb keine Schneefrauen,<br />
weil der Schnee männlich ist?<br />
Verliebtheit reicht nicht für eine lebenslange Ehe.<br />
DIE SCHLANGE UND DIE MAUS<br />
Eine Schlange und eine Maus kreuzen sich beim Heuschober.<br />
«Ich möchte auch so einen eleganten Schwanz wie du haben», jammerte<br />
die Schlange. «Ich verstehe dein Gejammer nicht», erwidert die<br />
Maus zynisch. «Du bestehst doch nur aus Schwanz!»<br />
Der bescheidene Mitdenker geht das Risiko ein,<br />
dass seine guten Ideen geklaut werden.<br />
Die Kirche spricht von Öffnung,<br />
aber kann sich nicht vom Tunnelblick trennen.<br />
Wer denken kann, geht grössere Risiken ein.<br />
Der kranke Ehrgeiz einiger Eltern ist das Pech manches Kindes.<br />
Der Zufall ist der Bruder vom Glück.<br />
Jahre haben die Angewohnheit immer von vorne zu beginnen.<br />
86…<br />
87…
Neid zeichnet sich oft von Weitem ab.<br />
Werde krank, dann lernst du die Menschen kennen.<br />
Kitsch kann schön sein, wenn er echt ist.<br />
Warum haben die grossen Herrenhemden Querstreifen und zu<br />
kleine Brillentaschen?<br />
Wer irgendwo weggeht, will anderswo ankommen.<br />
Je länger man wartet, umso kürzer wird die Wartezeit.<br />
Erwarte nicht, dass der Mensch, den du nach langer Zeit<br />
wieder triffst, noch derselbe ist.<br />
Obwohl jeder Mensch über ein persönliches Unterbewusstsein<br />
verfügt, hat er kaum Zugriff dazu.<br />
Erfahrungen sammeln ist die einfachste Möglichkeit,<br />
sich Wissen anzueignen.<br />
Clever ist, dass der Haarausfall der Männer modisch in Szene<br />
gesetzt werden kann.<br />
Das Missverständnis ist das Alibi der Ausreden.<br />
Die Zeit hat es immer eilig – oder nie.<br />
Ursachenbekämpfung und nachhaltige Entwicklung werden<br />
wohl deshalb mit wenig Begeisterung angegangen –<br />
weil die dazu erforderlichen Gedankengänge und Überlegungen,<br />
nicht in der Aktualität liegen.<br />
In unserer Gedankenlosigkeit denken wir Menschen selten daran,<br />
dass unsere nicht bedenkenlosen Gedanken das Denken der<br />
anderen Menschen in bedenklicher Weise beeinflussen können.<br />
Gnadenlose Realität: Je länger man lebt, umso kürzer hat man<br />
noch zu leben.<br />
Ein Jahr, das man nicht verschenken möchte,<br />
hat einen mit Sicherheit weitergebracht.<br />
Dennoch gibt es Jahre – deren Art, uns weiterzubringen –<br />
einem hätten geschenkt bleiben können.<br />
Die Hoffnung begleitet dich nur bis zur Enttäuschung –<br />
dann streift sie ihre Verantwortung genüsslich ab.<br />
Der jüngere Bruder von Ernst heisst Humor.<br />
So unterschiedlich können Geschwister sein.<br />
Die Muttersprache gebiert im Bauch – nimmt Wohnsitz im<br />
Herzen – und spannt den Kopf für sich ein. Die Fremdsprache<br />
nimmt Einsitz im Kopf – aktiviert das Herz, aber kann kaum<br />
Anspruch auf den Bauch erheben.<br />
Verliebtheit lässt Übermut zu. Liebe pocht auf Vernunft.<br />
88…<br />
89…
Das verstehe, wer kann: Die Leistung soll gesteigert,<br />
die Qualität verbessert, der Gewinn optimiert werden und –<br />
diese Ziele können angeblich nur durch die Streichung von<br />
Arbeitsplätzen erreichbar sein.<br />
Ohne Dunkelheit verliert das Licht seine Existenzberechtigung.<br />
Wenn ein Gesicht Falten bekommt, wird dies vom Umfeld<br />
registriert. Wenn die Seele Falten bekommt, möchte das<br />
Umfeld nichts registriert haben.<br />
Geschriebene Worte sind mutiger als gesprochene,<br />
denn sie tragen den Charakter von Ewigkeit.<br />
Solltest du dich mit deinem Nachbarn nicht besonders gut<br />
verstehen, unterlasse es besser, seinen Hund zu streicheln.<br />
Obwohl Leben und Tod das gegensätzlichste Paar ist, spielen<br />
sie sich perfekt in die Hand.<br />
Wenn Frauen mit einer Aufgabe überfordert sind,<br />
sagen sie: «Das kann ich nicht!» Wenn Männer mit einer<br />
Aufgabe überfordert sind, sagen sie: «Das geht gar nicht!»<br />
Die Fantasie ist der Genuss des Geistes.<br />
Wenn sich die Berge im See spiegeln, lacht der Himmel vor<br />
lauter Übermut.<br />
KOPFKINO IM VORFRÜHLING<br />
• das frühere Einsetzen der Morgendämmerung<br />
• die kleiner werdenden Schneeflächen an den Hängen<br />
• die am Dorfbrunnen schmelzenden Eiskerzen<br />
• die sich auflösenden Eisblumen am Fenster<br />
• das heller plätschernde Wasser des Baches<br />
• die angenehm säuselnde Luft um die Nase<br />
• die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut<br />
• das Spriessen der frischen Gräser am Strassenrand<br />
• die blauen Veilchen unter der Felsplatte<br />
• die ersten Krokusse an der Hausmauer<br />
• das Topasblau des offenen Himmels<br />
• der Lockruf des brutschmarotzenden Kuckucks<br />
• der spazierende Grossvater mit dem Enkel an der Hand<br />
• die Kinderwagen schiebenden Jungmütter<br />
• die betagten, sich ausruhenden Menschen im Park<br />
• die lachenden Kinder auf dem Schulweg<br />
• die Hobbysportler joggen dem Flussufer entlang<br />
• die ersten Fahrräder auf den Strassen<br />
• die helleren Farben der Frühlingskleider<br />
• die verliebten Paare am Sonntagnachmittag<br />
• der erfrischende Atem, der Körper und Seele Kraft verleiht<br />
90…<br />
91…
ZWISCHEN HIMMEL UND ERDE<br />
3<br />
92…<br />
93…
SEIFENBLASEN<br />
Da schweben sie in dünner Luft<br />
Tänzeln bunt uns vor den Augen<br />
Verbreiten ihren frischen Duft<br />
Wollen zeigen, was sie taugen.<br />
Seifenblasen können lachen<br />
Bleiben stehen oder platzen<br />
Können schwebend Faxen machen<br />
Machen auch mal freche Fratzen.<br />
Seifenblasen sind durchsichtig<br />
Berühren bleibt für sie tabu<br />
Das ist Schicksal und so richtig<br />
Sie brauchen einfach ihre Ruh’.<br />
Seifenblasen, sie verschwinden<br />
Fliegen weg und lauschen zu<br />
Wie der Nebel in Gefilden<br />
Sind nicht mehr da, allein bleibst du.<br />
Uns wollen Seifenblasen sagen<br />
Du musst den Weg alleine geh’n<br />
Wir können dich doch gar nicht tragen<br />
Um uns ist es halt schnell gescheh’n.<br />
So schreit’ den Weg gemächlich weiter<br />
Mach Schritte täglich Richtung Ziel<br />
Behalt den Frohsinn als Begleiter<br />
Wir Seifenblasen sind nur Spiel.<br />
KARRIERE<br />
Ein Ei liegt in der frischen Erde<br />
Die Wurzeln neben ihm sind gut<br />
Damit es eine Larve werde<br />
Sich dort das Wesen gütlich tut.<br />
Sie schaut sich um, sucht wie besessen<br />
Nach saftig frischer Nahrung<br />
Sonst nichts im Kopf als neues Essen<br />
Schlägt in den Wind die kurze Warnung.<br />
Da! Plötzlich hakt ein Keil vorbei<br />
Das könnte ihr gefährlich werden<br />
Sie fühlt sich daher nicht mehr frei<br />
Muss sich ganz rasch viel tiefer erden.<br />
Dann, eines Tages welch’ ein Ding<br />
Mit gelbem Kopf und weissem Bauch<br />
Wurde aus ihr ein Engerling<br />
Das kann Metamorphose auch.<br />
Der Karrieresprung steht nun bevor<br />
Es ist schnell weg, das fette Fett<br />
Dann schlüpft ein Engerling hervor<br />
Und ist jetzt Maikäfer – äusserst adrett.<br />
94…<br />
95…
ÖSTERLICHE METAMORPHOSE<br />
Karfreitag<br />
Kahle Wiesen<br />
Verschlossene Knospen<br />
Aussagelose Farben<br />
Schmerzhafte Disharmonien<br />
Zögernde Temperaturen<br />
Rebellierende Winde<br />
Treibende Wolken<br />
Unruhiger Schlaf<br />
Durchwühlte Haare<br />
Gefesselte Gemüter<br />
Zweifelnde Menschen<br />
Karsamstag<br />
Schwächliche Gräser<br />
Zerbrechliche Aprikosenblüten<br />
Durchsichtige Pastelltöne<br />
Harmlose Melodien<br />
Unentschiedene Lüfte<br />
Erwachende Tümpel<br />
Zaghaftes Gezwitscher<br />
Unüberzeugtes Aufwachen<br />
Pflegebedürftige Frisuren<br />
Freiwerdende Gefühle<br />
Hoffende Menschen<br />
Ostersonntag<br />
Fette Kräuter<br />
Pralle Kirschblüten<br />
Schillernde Farben<br />
Händel’sche Klänge<br />
Wärmende Sonnenstrahlen<br />
Sonnendurchtränkte Osterglocken<br />
Übermütiges Frohlocken<br />
Befreite Seelen<br />
Meisterhafte Lockenpracht<br />
Pulsierendes Leben<br />
Siegessichere Menschen<br />
96…<br />
97…
LIEBESERKLÄRUNG<br />
INTIME ERFAHRUNGEN…<br />
Wenn du Hände brauchst,<br />
die sich eng mit deinen Fingern verknüpfen – nimm meine.<br />
Wenn du Hände brauchst,<br />
die deine Seele mit liebevollen Worten streicheln – nimm meine.<br />
Wenn du Hände brauchst,<br />
die deine heisse Stirne kühlen – nimm meine.<br />
Wenn du Hände brauchst,<br />
die dein Herzklopfen ertasten – nimm meine.<br />
Wenn du Hände brauchst,<br />
die dir Tränen vom Gesicht wischen – nimm meine.<br />
Wenn du Hände brauchst,<br />
die dir helfend unter die Arme greifen – nimm meine.<br />
Wenn du Hände brauchst,<br />
die deine Hände in der Dunkelheit ergreifen – nimm meine.<br />
Wenn du Hände brauchst,<br />
die deine verspannten Schultern massieren – nimm meine.<br />
Wenn du Hände brauchst,<br />
die dich wachrütteln aus Angst und Sorgen – nimm meine.<br />
Wenn du Hände brauchst,<br />
die sich betend für dich falten – nimm meine.<br />
Wenn du Hände brauchst,<br />
die sich segnend auf deine Stirn legen – nimm meine.<br />
• heiss, der dampfende Asphalt<br />
• frisch, die braune Erde<br />
• prickelnd, der rieselnde Sand<br />
• stachelig, der schmale Waldweg<br />
• klebrig, der dunkle Hausflur<br />
• rutschig, die nassen Steine<br />
• kühl, das sprudelnde Wasser<br />
• angenehm, das weiche Gras<br />
• glühend, das lodernde Feuer<br />
• eisig, der frische Schnee<br />
• schmerzhaft, die winzigen Glassplitter<br />
• … barfuss!<br />
ABKÜHLUNG<br />
• Die Wolken versperren dem Himmel die Sicht<br />
• Die Luft hängt erstickend herum<br />
• Der Donner formiert sein Rollen<br />
• Der Blitz schaltet auf Feuerwerk<br />
• Die Regentropfen prasseln gen Erde<br />
• Die Strassen dampfen unter dem erfrischenden Nass<br />
• Die Natur ergötzt sich an den Wasserperlen<br />
• Der Mensch atmet befreiend durch<br />
98…<br />
99…
TREFFEN IM WELTWEITEN NETZ<br />
Irgendwann<br />
Trifft man<br />
Irgendwo<br />
Irgendwen<br />
Auf der Internet-Autobahn<br />
Vorerst sagt man nur<br />
Irgendwas<br />
Denn<br />
Irgendwie<br />
Erzählt man<br />
Wenig<br />
Irgendwem<br />
Irgendwas<br />
Animiert<br />
Irgendwann<br />
Doch<br />
Irgendwie<br />
Mehr zu sagen<br />
Irgendwer<br />
Ist witzig und geistreich<br />
Denn<br />
Irgendwann<br />
Sagt man<br />
Irgendwem<br />
Nicht mehr<br />
Irgendwas<br />
Irgendwie<br />
Ist Irgendwann<br />
Irgendwer<br />
Nicht mehr<br />
Nur Irgendwer<br />
Sondern<br />
Ein wertvoller Mensch<br />
100…<br />
101…
UND ALLES WIRD GUT<br />
Ein Tag gibt dir auch was zu tragen<br />
Das fühlt sich schwer an, richtig blöd<br />
Das liegt dann schwer dir auf dem Magen<br />
Der guten Laune wird recht öd.<br />
Aktivität ist nur noch Schein<br />
Kaum schaffen kann man, nur knapp denken<br />
Verpflichtung wird zur argen Pein<br />
Es reicht nicht mal zum Lächeln schenken.<br />
Die Menschen fragen, was denn los ist<br />
Jetzt wiegt dein Herz erst richtig schwer<br />
Da du dich heute nicht, wie sonst gibst<br />
Tu’ was dagegen – bitte sehr.<br />
Frag’ die Sonne, wie sie’s macht<br />
Sag ihr, was dich heute stört<br />
Da sie jeden Tag nur lacht<br />
Dich vereinnahmt und betört<br />
Sie wird versteh’n und lächelnd fragen<br />
Hast du mir sonst denn nichts zu sagen?<br />
Dann schenk die Sorgen unsrer Sonne<br />
Sie wärmt dir Kopf und Herz mit Wonne.<br />
102…
Elise Bregy, 1949, Lehrerin.<br />
Neben dem Unterricht pflegte sie die Schreibe.<br />
Seit über 20 Jahren ist sie Kolumnistin bei der<br />
Tageszeitung «Walliser Bote». Auch schreibt sie<br />
seit Jahren für das Walliser Jahrbuch. In Zusammenarbeit<br />
mit anderen Frauen war sie an der<br />
Veröffentlichung von «Männergeschichten» und<br />
« Hotelgeschichten» beteiligt.<br />
Beim Eintritt in die Pension setzte sie sich zwei<br />
Ziele: Ein fundiertes Schreibstudium und die Veröffentlichung<br />
eines Buches, was schon lange ihr<br />
Traum war. Nun gingen ihre Träume in Erfüllung.<br />
104…