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IM LEBEN UNTERWEGS<br />

EMOTION, FANTASIE, WAHRHEIT<br />

ROTTEN VERLAGS AG, 2016


IM LEBEN<br />

UNTERWEGS<br />

EMOTION, FANTASIE, WAHRHEIT<br />

«JETZT BLÜHT ER WIEDER UNSER FLIEDER.<br />

ES IST ALS SINGE ER MIT LIEDER!<br />

SEIN DUFT BETÖRT FRECH MEINE SINNE!<br />

ICH FÜHL’ MAL HIN, HALTE MAL INNE!»<br />

- ELISE BREGY -<br />

ELISE BREGY


ÜBERRASCHUNGEN<br />

1<br />

Ein Morgen nicht wie jeder 8<br />

Der «Grüne Onkel» 13<br />

Der Zauber des Lächelns 17<br />

Bella Venezia 41<br />

Besser spät als nie 48<br />

Heimkehr58<br />

Der Mann mit der braunen Mappe 70<br />

MEINUNGEN UND TATSACHEN<br />

2<br />

Tierisches84<br />

Gedankenblitze87<br />

Kopfkino im Frühling 91<br />

© 2016, Elise Bregy<br />

Texte Elise Bregy, Raron<br />

Gestaltung Sven Frachebourg, Naters<br />

Verlag Rotten Verlags AG, Visp<br />

Druck Mengis Druck AG, Visp<br />

ISBN 978-3-906118-49-9<br />

ZWISCHEN HIMMEL UND ERDE<br />

3<br />

Seifenblasen94<br />

Karriere95<br />

Österliche Metamorphose 96<br />

Liebeserklärung98<br />

Intime Erfahrungen 99<br />

Abkühlung99<br />

Treffen im weltweiten Netz 100<br />

Und alles wird gut 102<br />

Gedruckt im Wallis<br />

5…


ÜBERRASCHUNGEN<br />

1


EIN MORGEN NICHT<br />

WIE JEDER<br />

Ausgerechnet heute fühlte Julian sich nicht ausgeruht! Nach<br />

Feierabend hatten zwei Arbeitskollegen bei ihm vorbeigeschaut.<br />

Eingeladen hätte er sie am Vortag seines besonderen Arbeitstages<br />

bestimmt nicht! Nun, sie waren halt gekommen, hatten<br />

sich einen Fussballmatch geschaut und darüber diskutiert. An<br />

solchen Abenden wurde es immer spät oder besser gesagt früh.<br />

Bis der zweite Kumpel gegangen war, war es 3 Uhr morgens<br />

geworden. Paul war der Letzte gewesen, der das Haus verlassen<br />

hatte. Julian konnte dann endlich schlafen gehen.<br />

Just als Julians Kollege Paul die Wohnung verlassen hatte, waren<br />

die ersten Regentropfen gefallen, immer schneller und immer<br />

mehr. Dann war ein Gewitter über die Gegend gezogen. Blitze<br />

waren durch die Luft gezischt und der Donner hatte seinen<br />

immensen Lärm dazu beigetragen. So hatte Julian den Schlaf<br />

vergebens gesucht. Zudem war er auch noch von der Diskussion<br />

aufgekratzt. Seine Mannschaft hatte schon wieder verloren.<br />

Er hatte versucht, sich in den Schlaf zu zählen, Schäfchen oder<br />

andere Herdentiere. «Wie naiv!», versuchte er sich dafür zu<br />

entschuldigen. Morgen, nein heute musste er in voller Frische<br />

in der Bank stehen, wenn seine anspruchsvollste Kundin kam.<br />

Nebelschwaden hingen noch über der Gegend, als die ersten<br />

Menschen erwachten. Es war noch feuchtkalt; wurde langsam<br />

frisch. Die Dunkelheit wich vorsichtig dem Tageslicht. Die<br />

Häuser öffneten ihre Augen, indem hier und dort ein Licht angezündet<br />

wurde. Die Welt war noch fast stumm; lediglich das<br />

erste Tram war vorbei gefahren; seine Bremsen quietschten –<br />

Julians Tagwache.<br />

Genau dieser Lärm weckte Julian jeden Morgen; damit war es<br />

Zeit, den Tag in Angriff zu nehmen. Er stand immer nach diesem<br />

Gequietsche auf. Das Tram tat ihm die Zeit kund; es war sein verlässlicher<br />

Wecker. Julian schätzte diese Pünktlichkeit; er schätzt<br />

die Pünktlichkeit im Allgemeinen. Etwas anderes wollte er sich<br />

gar nicht leisten. Ironischerweise gab es dann auch Menschen,<br />

die sich an Julians Arbeitsweg orientierten. Die erfuhren ihrerseits<br />

mit ihm auch die Uhrzeit.<br />

Heute wie jeden Tag lebte Julian seine Rituale. Nachdem das<br />

Tram vorbeigefahren war, schwang er sich aus dem Bett; holte<br />

die Morgenzeitung vor der Türe, warf sie auf den Tisch und ging<br />

anschliessend unter die Dusche. In der Küche bereitete er sich<br />

sein Frühstück vor. Er schmierte sich ein Honigbrot und setzte<br />

die kleine Kaffeemaschine in Betrieb. Zum Essen liess er sich wenig<br />

Zeit. Er nahm einen Bissen zu sich, streifte sich kauend das<br />

Hemd über – ein weisses Hemd. Dann schlug er die Zeitung auf.<br />

Er überflog die Schlagzeilen. «Wieder ein Terroranschlag! Was<br />

für eine fürchterliche Welt wir haben!», murmelte er zu sich selber.<br />

Dann blätterte er den Sportteil nach den Fussballresultaten<br />

durch. Zuletzt überflog er die letzten Börsenkurse.<br />

Sich anziehen und gleichzeitig essen, das war ein gefährliches<br />

Unterfangen; er wusste es, des weissen Hemdes wegen. Dennoch<br />

wagte Julian das Hemd zuzuknöpfen. «Nein!» Schon hatte<br />

ein Tropfen Honig eine klebrige Spur gelegt. Das warf ihn<br />

8…<br />

9…


in seinem Programm zurück. «Shit!», zischte er gereizt, was<br />

nicht seiner üblichen Wortwahl entsprach. Das Missgeschick<br />

bedeutete, dass er das zweite Hemd erst bügeln musste. Und<br />

wie er Bügeln hasste! «Das ist doch keine Arbeit für mich!»,<br />

schimpfte er lauthals.<br />

Am Arbeitsplatz waren weisse Hemden und Krawatte obligatorisch;<br />

quasi seine Arbeitskleidung. Die Krawatte band er sich vor<br />

dem Garderobenspiegel. Den Knoten hätte er sich auch blind<br />

binden können, so viel Übung hatte er bereits. Julian hasste es,<br />

wenn sein Morgenritual von irgendetwas gestört wurde. Das<br />

war heute der Fall – in doppelter Portion! Diese unsäglichen<br />

Zwischenfälle nagten an seinem Nervenkostüm.<br />

Endlich war die Krawatte gebunden, die braune Mappe unter<br />

dem Arm geklemmt. Heute fehlte das Pfeifen auf den Lippen;<br />

er war zu müde. Die Füsse trugen ihn mühsamer als sonst<br />

in Richtung Arbeitsplatz. Sein Weg verlangte bescheidene 15<br />

Minuten. Die lief er immer zu Fuss, fahren wollte er sie nicht.<br />

Laufen erfrischte normalerweise seinen Geist. Heute hingen Nebelschwaden<br />

auch noch in seinem Kopf; so kam es ihm vor. Sein<br />

Dienst begann um 07.30 Uhr. Um 08.00 Uhr, wenn die ersten<br />

Bankkunden kamen, musste das gesamte Team für den Empfang<br />

der Kunden bereitstehen. Ihnen sollte man ja mit strahlendem<br />

Lächeln und weissen Zähnen entgegentreten – auch mit<br />

weissen Hemden natürlich.<br />

Seit geraumer Zeit war der Montagmorgen für Julian ein besonderer<br />

Arbeitstag. Im Verlaufe des Vormittags kam nämlich eine<br />

Diva. So nannten sie seine Kollegen; bei Julian fühlte sich das<br />

abschätzig an. Er mochte den Begriff nicht. Für ihn kam Frau<br />

Opernsängerin. Er hatte grossen Respekt vor ihr. Schon dreimal<br />

hatte er sie im Opernhaus singen gehört. Ihretwegen war er in<br />

die Oper gegangen – nur ihretwegen.<br />

Seine Kundin – die Frau Opernsängerin hatte ihre Arien geschmettert.<br />

Manchmal waren die Töne so schneidend hell und<br />

hoch, dass sie jedes edle Glas zum Bersten gebracht hätten.<br />

So empfand Julian die Arie der «Königin der Nacht» aus Mozarts<br />

Zauberflöte. Leider war das nicht seine Lieblingsmusik.<br />

Doch, der Gentleman, wie es im Buche steht, hatte seiner<br />

Kundin später, bei ihrem Besuch auf der Bank Komplimente<br />

gemacht. Die Opernsängerin hatte sich dann immer überschwänglich<br />

dafür bedankt. Bei der Gelegenheit vergass sie<br />

nie, das Bankhaus ihres Vertrauens und speziell diesen Angestellten<br />

zu loben.<br />

Längst war Julian in allen Bankgeschäften der Vertraute von der<br />

Frau Opernsängerin geworden. Nur er durfte sich um ihre Belange<br />

und Wünsche kümmern. Am Montag brachte sie jeweils ihre<br />

Schmuckstücke zurück, die sie bei der Aufführung getragen hatte.<br />

Die Frau betrat die Bank immer zu gleichen Zeit, immer mit<br />

knallroten Lippen und einem dicken Seidenschal um den Hals,<br />

der ihre Stimmbänder schützen sollten. Ihr folgte eine süssliche<br />

und ziemlich penetrante Wolke. Den Gruss der Bankleute erwiderte<br />

sie mit einem theatralischen Nicken.<br />

Der üblichen Zeremonie folgend stieg Julian mit der Frau Opernsängerin<br />

in den Tresorraum hinunter. Obwohl er sich des Reglements<br />

wegen für einen Moment entfernen sollte, durfte er heute<br />

dabei bleiben, wenn Frau Opernsängerin, die mit üppigen Steinen<br />

besetzte Halskette, das edle Armband und die hochkarätigen<br />

10…<br />

11…


Ohrringe in die dafür vorgesehenen, mit Samt ausgelegten<br />

Schachteln und Schächtelchen legen wollte.<br />

Das Öffnen des Safes empfand Julian als ehrfürchtigen, fast heiligen<br />

Moment. «Eine Schatztruhe!» Dann – plötzlich ein Blitz in<br />

seinem Kopf! «Nein, dieses Gewitter und die Nebelschwaden<br />

noch immer!», glaubte er, seien schuld. «Oder – oder sehe ich<br />

das richtig?» Seine Augen weiteten sich. Das mit Brillanten besetze<br />

Collier, das feudale Armband und die angeblich wertvollen<br />

Ohrringe – das ganze Geschmeide – war lediglich billiger<br />

Modeschmuck!<br />

DER «G RÜNE ONKEL»<br />

Der dunkle Jeep bog nach rechts ab und fuhr die steile Bergstrasse<br />

hoch. Immer wieder kreuzten ihn andere Fahrzeuge. «Was<br />

ist denn das für ein Verkehr heute?», fragte er sich. Sonst störte<br />

er sich nicht daran. «Komisch!» Heute fand er jedes Auto zu viel,<br />

das ihm entgegenkam.<br />

Das Radio hatte am Morgen wärmere Temperaturen gemeldet,<br />

hatte er gehört. Dennoch fröstelte ihn. Hätte er doch bloss den<br />

grünen Schal mitgenommen, wünschte er sich. «Es wird hoffentlich<br />

wärmer werden, wenn die Leute da sind», murmelte er zu<br />

sich selber. Auf 1900 m ü. M. ist Ende August schon ziemlich frisch.<br />

Dieter fuhr sein Auto zügig die Bergstrasse hoch. Diese Strasse<br />

hatte er unzählige Male befahren. Er hatte sich immer gefreut,<br />

dort oben in der guten Luft und in der Natur sein zu können.<br />

Die Natur war ohnehin das Seine. Er kannte jeden Nadel – oder<br />

Laubbaum mit Namen. Er kannte jede Bergblume, jeden Strauch<br />

und er kannte jedes Tier. Manchmal gab er sogar einem Insekt<br />

seinen korrekten Namen. Bücher über Fauna und Flora gehörten<br />

zu seiner regelmässigen Lektüre. Nicht zuletzt deshalb mochten<br />

die jungen Leute aus der Verwandtschaft, wenn Onkel Dieter zu<br />

Besuch kam. Dann hatten sie tausend Fragen an ihn. Vor allem<br />

musste er ihnen Jagdgeschichten erzählen. Der «Grüne Onkel»,<br />

wie einige wenige ihn nannten, schwelgte dann in seinen Erinnerungen<br />

und genoss es, wenn die Jungen an seinen Lippen<br />

hingen. Er erzählte ihnen Geschichten von der Pirsch und den<br />

Abenteuern in der Natur.<br />

12…<br />

13…


Diese Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er durchfuhr den<br />

Laubwald. Birken, Eichen, Buchen. Im Vorbeifahren sah er eine<br />

geknickte Buche. «Wie das? Das letzte Unwetter konnte diesen<br />

stämmigen, alten Baum umlegen?», murrte er. Heute liess ihn<br />

das den Kopf schütteln und weiter fahren. Anderntags hätte er<br />

angehalten, um dies dem Förster telefonisch mitzuteilen. Heute<br />

waren seine Gedanken anderweitig beschäftigt.<br />

Bald würde er noch das letzte Bergdorf passieren. Nein, einkehren<br />

wollte er heute nicht; ihm war nicht danach. Dort wären<br />

Bekannte auf ihn zugekommen, um ihn nach seinem Befinden<br />

zu fragen und ein wenig mit ihm zu plaudern. Bei diesen Gesprächen<br />

drehte es sich fast ausschliesslich um die Natur und<br />

deren Erhalt. Und eben – bald würde ja die Jagd eröffnet und<br />

er würde doch sicher wieder einen Zehn – oder Zwölfender erlegen<br />

wollen.<br />

Dieter griff nach dem Umschlag auf seinem Beifahrersitz. Ob<br />

er wohl die richtige Entscheidung getroffen hatte? «Jetzt lässt<br />

sich ohnehin nichts mehr ändern», resümierte er. Er hatte überlegen<br />

müssen, was mit seinem Häuschen geschehen sollte. Der<br />

unverheiratete Onkel Dieter war ledig geblieben und hatte daher<br />

auch keine Kinder, denen er das Häuschen hätte vererben<br />

können.<br />

Die Auffahrt war grösstenteils geschafft. Jetzt galt es noch den<br />

Nadelwald zu durchfahren.<br />

Wie konnte das sein, dass die Arven schon die ersten Nadeln<br />

verloren? «Ach, die Jahreszeiten sind auch nicht mehr, was sie<br />

mal waren!», brummte er vor sich hin. Von seinem Vater hatte<br />

er damals gelernt, dass das frühe Nadeln der Arven einen<br />

strengen Winter voraussagte. Nach der Jagd würde er das Haus<br />

dementsprechend wintergerecht hinterlassen müssen, früher<br />

als sonst.<br />

Ein Sonnenstrahl fiel in den Bergbach, was Dieter erfreute. «Also<br />

doch! Ein bisschen Wärme brauchen wir schon noch!» Er beschloss<br />

anzuhalten, auszusteigen und an den Bach zu gehen.<br />

Das Wasser plätscherte heute irgendwie nervös, unregelmässig.<br />

Beim letzten Überlaufen des Staudammes musste der Bach besonders<br />

viel Geröll mitgeschoben haben. Das wird es wohl gewesen<br />

sein. Dieter versucht, im Bach sein Spiegelbild zu finden.<br />

«Du alter Knabe, das hast du jetzt davon!», flüsterte er dem<br />

Spiegelbild zu und erfrischte sich das Gesicht mit dem kalten<br />

Wasser. Er trocknete sich die Hände an der Hose ab, bestieg den<br />

Jeep und fuhr die letzten Kilometer zu seinem Häuschen. Sein<br />

Herz fühlte sich heute schwer an. Dieses Gefühl hatte er hier<br />

oben noch nie gehabt.<br />

Nach der letzten Kurve sah er schon zwei Kinder vor seinem<br />

Haus umherhüpfen. Sie konnten seine Ankunft wohl kaum erwarten.<br />

Dieter fühlte nicht das Gleiche, als er die Eltern der<br />

Kinder hinter dem Haus hervorkommen sah. Sie winkten dem<br />

heranfahrenden Auto zu. Ihre Neugier hielt sie kaum zurück; sie<br />

wussten nicht, warum sie genau heute, zu dieser bestimmten<br />

Zeit hier sein sollten.<br />

Die Kinder liefen auf Dieter zu: «Grüner Onkel, grüner Onkel!»,<br />

riefen sie, obwohl Dieter der Onkel ihrer Eltern war. Dieter<br />

nahm das Mädchen auf seine Arme; der Junge folgte den beiden<br />

in Richtung Eltern. «Oh, ich habe etwas vergessen!» Dieter<br />

14…<br />

15…


kehrte samt Kind zurück zum Auto, holte den Briefumschlag<br />

vom Beifahrersitz und ging zurück, seinem Neffen und dessen<br />

Frau die Hand schütteln. «Lasst uns setzen, ich habe euch etwas<br />

mitzuteilen!»<br />

Die Kinder waren neugierig, die Eltern nicht weniger. Dann öffnete<br />

Dieter den Briefumschlag und übergab ihn dem Vater der<br />

Kinder. Darin befand sich ein Auszug aus dem Register, der besagte,<br />

dass das Häuschen samt Umschwung, so wie es da stand,<br />

ab dem Ersten des nächsten Monats der Familie dieses Neffen<br />

gehörte. Hier habt ihr die Akte. Das Haus ist nun auf euren Namen<br />

eingetragen. Nun seid ihr die rechtmässigen Besitzer dieses<br />

kleinen Paradieses!»<br />

Der «Grüne Onkel» holte tief Luft. «Einen Wunsch und eine<br />

Bitte hätte ich noch. Ich möchte diesen Herbst und die mir<br />

verbleibenden Herbste, so Gott es will, während der Jagd,<br />

mit meinen Kollegen weiterhin in diesem Haus wohnen. Und<br />

– ganz wichtig! Hütet das Häuschen wie euren Augapfel. Es<br />

hat vielen lieben Menschen Freude bereitet und soll es auch<br />

weiterhin tun. Mit meinen etlichen Jahren mag ich nicht mehr<br />

dafür die Verantwortung tragen. Die passt nun viel besser in<br />

jüngere Hände!»<br />

Nach ein paar Sekunden fügte er hinzu: «Wer von meinen<br />

Nichten und Neffen das Haus erben sollte, habe ich mir nicht<br />

lange überlegen müssen. Ihr zwei», er wandte sich an die Kinder,<br />

«ihr seid die Einzigen, welche mich ausnahmslos ‹Grüner<br />

Onkel› rufen. Das mag ich sehr, denn dieser Name besagt, wie<br />

sehr ich die Natur liebe und wie sehr mein Herz an ihr und an<br />

euch hängt!»<br />

DER ZAUBER DES LÄCHELNS<br />

Das Lächeln sass traurig auf der Parkbank unter einer Trauerweide.<br />

Von den herabhängenden Ästen fühlte es sich getröstet.<br />

«Wenigstens kann dieser Baum verstehen, wie es mir geht»,<br />

anerkannte es das sanfte Streicheln der herabhängenden Äste.<br />

Komisch muss das traurige Lächeln ausgesehen haben. Seine<br />

Augen schauten traurig um sich; seine Mundwinkel waren<br />

nicht nach oben gezogen. Es fühlte sich verlassen. «Ich bin enttäuscht»,<br />

murmelte es. «Ich bin ganz alleine auf dieser Welt.<br />

Tagein, tagaus, ich sehe die Menschen kaum lächeln. So alleine<br />

lebt es sich nicht gut; zudem ist es nicht gut für die Menschen,<br />

wenn sie nicht mehr lächeln können.»<br />

Während es so dahinsinnierte, hörte es dem Gesang einer Amsel<br />

zu. Die Melodien waren in D-Dur, beinahe das gesamte Amsel-Repertoire<br />

durfte es sich anhören. «Wie gut das tut!», sagte<br />

sich das Lächeln. Die Mundwinkel hoben sich leicht und der<br />

Blick hellte sich auf. In dem Moment flog die Amsel neben das<br />

Lächeln auf die Rückenlehne der Parkbank. «Hallo, du», grüsste<br />

sie. «Was machst du hier so alleine? Solltest du dich nicht in der<br />

Welt bewegen und die Leute animieren zu lächeln?»<br />

«Was du da sagst, weiss ich selber», kam mehr mürrisch, denn<br />

höflich zurück. «Es wird immer schwieriger. Schau doch selber in<br />

die Welt. Wie viele Probleme wir haben, sogar Krieg, Krieg überall<br />

in der Welt und dieser fürchterliche Terrorismus. Ich existiere<br />

beinahe nicht mehr. Wer will schon bei den vielen Schwierigkeiten<br />

noch lächeln, obwohl – obwohl ein Lächeln hier und dort<br />

16…<br />

17…


sogar Wunder wirken könnte. Ein Lächeln löst zwar keine grossen<br />

Probleme und heilt keine Krankheiten, aber es entkrampft,<br />

gelegentlich heilt es sogar kleine Wunden, fiese Wunden der<br />

Seele. Diese sieht man nicht, sie schmerzen aber nicht weniger,<br />

als diejenigen des Körpers und mit einer Operation werden sie<br />

auch nicht geheilt.»<br />

«Wenn du einverstanden bist», begann die Amsel, «probieren<br />

wir gemeinsam, dem einen oder anderen Menschen ein Lächeln<br />

ins Gesicht zu zaubern.» «Wenn du meinst», rief das Lächeln<br />

begeistert. «Ich bin dabei. Unterstützung kann ich sehr gut gebrauchen;<br />

lass uns gleich loslegen!»<br />

Das Lächeln und die Amsel mussten nicht lange suchen, bis sie<br />

Menschen gefunden hatten, denen ein Lächeln guttun würde.<br />

So ging das Lächeln guten Mutes auf eine Parkbank zu, auf der<br />

ein älteres Paar sass. Beide trugen eine Schirmmütze, um sich<br />

vor den gleissenden Sonnenstrahlen zu schützen. Die Amsel war<br />

rausgeflogen; sie hatte die beiden ausfindig gemacht. Vorerst<br />

blieben das Lächeln und die Amsel in Reichweite der beiden<br />

stehen; lauschten dem Gespräch.<br />

«Weisst du, wie du heisst?», fragte der Mann die Frau. Diese<br />

schaute mit starren Augen auf den Boden. Dann wiederholte<br />

der Mann liebevoll: «Liebes, sag mal, wie du heisst.» Die Frau<br />

schaute ihn mit grossen Augen an: «Ich heisse Silvia.» «Aber<br />

nicht doch!», lehnte der Mann ab. «Silvia ist unsere Tochter;<br />

du heisst nicht Silvia. Überleg doch mal gut.» Die Frau antwortete<br />

nicht und schaute wieder auf den Boden; blieb stumm.<br />

Der Mann nahm ihre Hand in die seine und folgte ihrem Blick<br />

– ebenfalls auf den Boden.<br />

18…<br />

19…


«Es ist Zeit!», zwitscherte die Amsel. «Unsere Chance ist gekommen.»<br />

Dann flog sie – dem Blick der Frau folgend auf den<br />

Boden und begann zu singen. Zuerst zaghaft, dann etwas lauter.<br />

Die Melodie ähnelte einem bekannten, alten Volkslied. Bald<br />

nach den ersten Tönen hellte sich das Gesicht der Frau auf und<br />

sie begann, leise vor hin sich zu trällern: «Am Brunnen vor dem<br />

Tore, da steht ein Lindenbaum. Ich träumt’ in seinem Schatten…»<br />

Dann legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.<br />

Der Mann begann ebenfalls zu lächeln: «Wie heisst du denn?»<br />

«Dumme Frage», kam lächelnd zurück; ich heisse Anna.» «Ja,<br />

du heisst Anna!» Strahlend nahm der Mann seine alzheimerkranke<br />

Frau in die Arme; sein Lächeln wich nicht mehr von seinem<br />

Gesicht.<br />

2…<br />

Das Lächeln und die Amsel zogen weiter im Park, dorthin, wo<br />

Kinder spielten. Ihre Mütter unterhielten sich angeregt. Ihr Gewicht<br />

war das Hauptthema, denn ihre Körperfülle entsprach<br />

nicht der modernen, attraktiven Frau, die ja schlank und rank<br />

sein sollte. Sie schienen sich gegenseitig zu beklagen – vielleicht<br />

auch zu beraten. Vom Alter her waren sie sich sehr ähnlich; Alle<br />

waren wohl etwas über dreissig Jahre.<br />

«Was ich schon alles probiert habe», beklagte sich Hanna, die<br />

Frau mit dem Pferdeschwanz, besorgt. «Jede Diät, welche mir<br />

zu Ohren oder unter die Augen gekommen ist, habe ich ausprobiert.<br />

Nichts hat geholfen.» «Wem sagst du das», wusste<br />

Ines. Die Frauenzeitschriften sind voll von teuren Diäten, die<br />

nichts helfen. Wenn ich ein paar Kilos abnehme, sind sie in<br />

kurzer Zeit in doppelter Fülle wieder auf meiner Hüfte. Um von<br />

meinem Körpergewicht abzulenken, habe ich mir diese freche<br />

Frisur machen lassen.» Ihre kurzen, blonden Locken standen<br />

hochgekämmt auf dem Kopf, von Haargel glänzend.<br />

Sich mit ihren Gewichtsproblemen befassend, hatten die Frauen<br />

übersehen, dass die Kinder auf eine Arve geklettert waren – übrigens<br />

nicht der geeignetste Baum für einen Kinderspielplatz innerhalb<br />

der Parkanlage. Die beiden Knaben hatten sich gegenseitig<br />

dazu ermutigt, den Baum zu erklettern. Der gerade Stamm<br />

hatte ihnen das Vorhaben etwas erschwert, dennoch hatten<br />

die beiden es geschafft. Das dritte Kind, das Mädchen, hatte<br />

nicht den Mut gefunden, es den beiden Buben gleichzutun;<br />

20…<br />

21…


zudem klettern Mädchen nicht auf Bäume. So war Anja unter<br />

dem Baum geblieben. Mit Argusaugen hatte das Mädchen verfolgt,<br />

was die beiden Spielgenossen oben trieben.<br />

Während ihre Mütter sich gegenseitig den Frust von der Seele<br />

redeten, waren die beiden Buben immer höher geklettert. Dabei<br />

rissen sie links und rechts Nadelbüschel ab und warfen sie dem<br />

Mädchen zu, das unter dem Baum stand und hinaufschaute, um<br />

kichernd die Büschel aufzufangen. Die Gefahr für das Kind unter<br />

dem Baum, dass ihm eine Arvennadel in ein Auge fallen und das<br />

Auge verletzen könnte und das Risiko, dass eines der Kinder herunterfallen<br />

könnte, steigerte sich zusehends; die Kinder wurden<br />

immer übermütiger.<br />

Das Lächeln und die Amsel hatten die Gefahr erkannt und beschlossen<br />

zu handeln. Während die Amsel neben die beiden<br />

Frauen flog, blieb das Lächeln im Hintergrund. Es beobachtete<br />

die Kinder und behielt gleichzeitig die Frauen im Auge. Die Amsel<br />

begann vor den beiden Frauen hin und her zu tänzeln.<br />

«Lästiges Vieh!», meckerte Hanna. Sie hatte sich soeben die Lippen<br />

nachgezogen. «Was soll der Quatsch!», bekräftigte Ines.<br />

«Ach, weisst du, fuhr Hanna fort: «Bestimmt hat dieser Vogel<br />

hier irgendwo ein Nest und will es verteidigen. Vögel sind ähnlich<br />

wie Menschen; sie verteidigen ihre Brut mit allen Mitteln.»<br />

«Apropos Brut», fragte Ines. «Wo sind eigentlich unsere Kinder?»<br />

Als die Frauen suchend um sich blickten, trippelte die Amsel<br />

zur Arve und zurück, immer schneller und schneller, ihre Flügel<br />

begannen zu flattern, als ob sie wegfliegen wollte. Endlich abgelenkt<br />

von ihren Problemen erblickten die Mütter das dritte<br />

Kind unter dem Baum. Just in dem Moment fing es wieder ein<br />

Nadelbüschel auf, das von oben herabgeworfen worden war.<br />

Die Blicke der Frauen folgten dem Baumstamm nach oben ins<br />

Geäst. Dort sahen sie die Jungs, Nadelbüschel abbrechend, um<br />

sie Anja zuzuwerfen.<br />

«Oh mein Gott! Schau mal, wo die Kinder sind. Und dann werfen<br />

sie noch Arvennadeln nach unten. Wie schnell könnte so eine<br />

Nadel ein Auge treffen und es verletzen. Nicht zu denken, was<br />

passieren könnte!», schrie Hanna entsetzt. «Kinder! Kinder!»<br />

«Sven, Daniel, was macht ihr da oben; kommt sofort herunter!»,<br />

rief sie mit Angst in der Stimme. «Aber vorsichtig! Es ist doch<br />

nicht zu glauben. Kaum lässt man euch eine Minute aus den<br />

Augen, macht ihr schon Unsinn!» Hannas Stimme vibrierte.<br />

Die beiden Knaben kletterten vorsichtig etwas tiefer. Zuletzt<br />

hätten sie noch springen müssen. Weil sie sich das nicht getrauten,<br />

riefen sie ihre Mutter um Hilfe.» Mama, du musst uns<br />

helfen!» Beide Frauen mussten sich gegenseitig stützen, um<br />

die Knaben vom ersten Ast zu hieven. «Gott sei Dank!», Hanna<br />

atmete laut auf. «Das ist wieder mal gut gegangen.» Dann<br />

legte sich ein beruhigendes Lächeln auf ihr Gesicht. «Weisst<br />

du was?», fragte Ines. «Wir sollten uns mehr um unsere Kinder<br />

kümmern; die haben absolute Priorität; unsere Gewichtsprobleme<br />

sind zweitrangig.»<br />

«Wahrscheinlich hätte erst etwas passieren müssen, bevor wir<br />

uns wieder auf das Wesentliche konzentriert hätten! Übrigens<br />

sollten wir jetzt dem blöden Vieh danken», meinte Hanna. «Du<br />

meinst natürlich die flatternde Amsel», lächelte Ines.<br />

22…<br />

23…


3…<br />

Das Lächeln hatte aus dem Hintergrund das Geschehen verfolgt.<br />

«Gut gemacht!», sagte es zur Amsel. «Wir zwei sollten<br />

zusammen in die Welt hinaus gehen und den Menschen ein<br />

Lächeln auf ihre Gesichter zaubern.» «Das wirst du von nun an<br />

alleine tun müssen. Ich meinerseits, ich bleibe hier im Park. Du<br />

wirst dir andere Unterstützung suchen müssen. In der Welt der<br />

Menschen, der Tiere und der Pflanzen gibt es immer wieder einen<br />

Anstoss zum Lächeln. Achte auf die Zufälle; es gibt sie, die<br />

glücklichen Zufälle. Halt die Augen offen und nimm die Hilfen<br />

an, die sich dir bieten.» Damit entflog die Amsel aus dem Blickwinkel<br />

des Lächelns.<br />

«Dann werde ich mich wohl oder übel jetzt alleine auf den Weg<br />

machen», murmelte das Lächeln zu sich selber und bog ab in<br />

Richtung Stadt. Dabei kam es an einer Bank vorbei.<br />

Eine ältere Frau stand am Bankautomaten und wollte Geld beziehen.<br />

Sie hatte bereits dreimal einen falschen Code eingegeben,<br />

und jetzt wurde die Bankkarte eingezogen. Darüber erschrak<br />

sie sehr heftig und schaute ängstlich und ratlos um sich.<br />

«Hilfe!», formulierten ihre Lippen. «Was soll ich denn jetzt bloss<br />

tun?», fragten ihre ängstlichen Augen.<br />

herum, um den Leuten das Geld abzunehmen. Ich mache das<br />

zum ersten Mal. Ich wollte doch nicht, dass alles Neue an mir<br />

vorbeigeht. Mein Mann wollte nicht, dass ich bei diesem neumodischen<br />

Zeug mitmache. Dabei hielt sie ihre Handtasche verkrampft<br />

in der Hand. Das Lächeln setzte sein vertrauenswürdigstes<br />

Lächeln auf: «Kommen Sie, wir gehen zusammen in die<br />

Bank; dort wird man Ihnen weiterhelfen.»<br />

Zögernd betrat die Frau zusammen mit dem Lächeln die Bank.<br />

Ein Kundenschalter war frei. «Helfen Sie bitte dieser Frau, ihre<br />

Karte ist eingezogen worden», bat das Lächeln den Bankbeamten.<br />

Dieser sah in die dunklen Augen seiner Kundin. «Machen<br />

Sie sich keine Sorgen. Das ist ein kleines Problem, das<br />

schnell behoben wird; das kommt immer wieder vor. Nehmen<br />

Sie bitte auf dem Stuhl dort drüben Platz; ich werde Ihre Karte<br />

holen lassen.»<br />

Die Frau beruhigte sich etwas, was das Lächeln bemerkte und<br />

sich darüber freute. «Jetzt fehlt nur noch ihr befreiendes Lächeln»,<br />

dachte es. Dann sah es, wie der Beamte mit sehr gütigem<br />

Blick auf die Frau zukam. «Hier ist Ihre Karte. Kann ich Ihnen<br />

sonst noch irgendwie behilflich sein?» «Oh, vielen Dank!»,<br />

hörte das Lächeln die Frau sagen und es sah, wie sich erlösende<br />

Züge auf ihrem Gesicht breitmachten.<br />

Das Lächeln hatte diese Begebenheit bemerkt und nahm die<br />

Gelegenheit beim Schopf, die Frau anzusprechen. «Wie wollen<br />

Sie mir denn helfen?», fragte die Frau mit Angst in den Augen.<br />

«Ich kenne Sie doch nicht. Hier treiben sich doch immer Diebe<br />

24…<br />

25…


4…<br />

Befriedigt darüber, dass diese Frau wieder lächeln konnte, ging<br />

das Lächeln weiter. Es lief durch die Stadt und kam zum Bahnhof.<br />

«Oje! Hier wird es bestimmt Menschen geben, denen das<br />

Lächeln abhanden gekommen ist.» Es ging auf Bahnsteig Nummer<br />

vier eines Regionalzuges zu. «Vielleicht finden hier kleine<br />

Gespräche statt, die den Menschen ein Lächeln entlocken könnten.<br />

Mich würde das beruhigen.»<br />

Da standen die Menschen und warteten auf die Einfahrt des Zuges.<br />

Wenige unterhielten sich miteinander. Offensichtlich kannten<br />

sie sich nicht, was erstaunlich war. Das Lächeln begab sich<br />

in die Nähe zweier Männer, welche vertraut miteinander diskutierten.<br />

«Ich weiss nicht, ob ich meine Arbeit behalten kann;<br />

morgen wird uns die Geschäftsleitung darüber informieren; auf<br />

alle Fälle wird Kurzarbeit eingeführt!», gab sich der Jüngere der<br />

beiden besorgt. «Wenn ich weniger arbeiten kann oder sogar<br />

die Arbeit verliere, wird es sehr schwierig, das Haus zu halten.<br />

Vielleicht weisst du, dass wir vor zwei Jahren ein Haus gebaut<br />

haben. Dabei haben wir natürlich mit meinem festen Einkommen<br />

gerechnet. Meine Frau arbeitet ein paar Stunden pro Woche<br />

in einem Supermarkt, das bringt nur wenig ein. Dazu kommt,<br />

dass wir unsere Familie planen. Es ist unser sehnlichster Wunsch,<br />

Kinder zu haben, vor allem für sie haben wir den Hausbau auf<br />

uns genommen.» Seine Stimme war immer leiser geworden.<br />

arbeite schon über 30 Jahre in diesem Betrieb. Von heute auf<br />

morgen weiss ich nicht, ob ich meine Rente dort überhaupt<br />

noch erleben kann. Die Zeiten haben sich enorm geändert. Früher,<br />

als die Leute in diesem Betrieb angestellt wurden, wussten<br />

sie, dass sie einen sicheren Arbeitsplatz hatten. Heute ist alles<br />

anders; wer nicht spurt und die geplante Rendite einfährt, wird<br />

gleich vor die Türe gesetzt. Es fehlt uns schon bald die Freude,<br />

arbeiten zu gehen, und der Druck wird unerträglich!»<br />

«Es wird schwierig, diesen Männern ein Lächeln zu entlocken»,<br />

mutmasste das Lächeln. «Nun muss ich mir etwas einfallen lassen.<br />

Einen kleinen Input könnte mir der Zufall schon bescheren.<br />

Ich solle auf die Zufälle achten, hatte mich doch die Amsel angehalten!»<br />

In dem Moment hörte das Lächeln, wie der Jüngere<br />

fragte: «Sag mal. Hast du nicht heute Geburtstag?»<br />

Der ältere Mann schaute erstaunt. «Dass du dich daran erinnerst!»<br />

«Es gibt Menschen, deren Geburtstag ich nie vergessen<br />

werde. Zum Beispiel denjenigen meines Lehrmeisters.» Ein<br />

breites Lächeln setzte sich auf das Gesicht der beiden Männer.<br />

Der Zug fuhr im Bahnhof ein, die beiden stiegen ein und entschwanden<br />

aus den Augen des Lächelns.<br />

«Ich frage mich auch, was aus uns werden soll», fuhr der ältere<br />

Mann fort und band sich den Schal enger um den Hals. «Ich<br />

26…<br />

27…


5…<br />

Frohen Mutes schlenderte das Lächeln weiter, beide Hände in<br />

den Hosentaschen, ein kleines Liedchen pfeifend. Zufrieden<br />

mit dem Erlebten lief es die Strasse entlang, ohne zu wissen,<br />

wohin sie es führen würde. Es bog um eine Ecke, als dort ein<br />

Schild mit der Aufschrift «Krankenhaus» stand. «Da könnte<br />

ich auch einen Besuch machen. Bestimmt wird es dort Menschen<br />

geben, welchen das Lachen vergangen ist, und denen<br />

selbst die Kraft für ein Lächeln fehlt», sinnierte das Lächeln<br />

vor sich hin.<br />

Das Lächeln trat durch die automatische Eingangstür des Krankenhauses;<br />

dann stand es in der Eingangshalle. Dort herrschte<br />

hektisches Treiben. Einen unschlüssigen Moment lang blieb es<br />

stehen, setzte sich dann in der Ruhezone auf einen Polstersessel.<br />

«Das ist ja echtes Kino hier!», war es erstaunt. Leute<br />

kamen und gingen, einigen davon mit Gehhilfen, andere hielten<br />

sich am Arm ihrer Begleitperson, wieder andere waren<br />

im Rollstuhl unterwegs. Die Augen des Lächelns wurden sehr<br />

hell, als ein strahlender junger Vater mit einem Neugeborenen<br />

in der Tragtasche und seiner Frau am Arm das Krankenhaus<br />

verlassen konnte.<br />

Das Lächeln sah viele Richtungshinweise von seinem Sessel<br />

aus. Es sah den Fahrstuhl, der die Menschen in das betreffende<br />

Stockwerk und in die gewünschte Abteilung brachte.<br />

Da stand etwa zu lesen: «Chirurgie, Medizin, Intensivstation,<br />

Radiologie, Geburtstabteilung» und andere mehr. Einen<br />

Begriff kannte das Lächeln nicht und las ihn laut vor:<br />

« Onkologie. Was ist denn das?» Das Lächeln fasste gleich<br />

den Entschluss, der Sache auf den Grund zu gehen, und begab<br />

sich mit anderen Besuchern in den Fahrstuhl; dort drückte<br />

es auf den Knopf für den 5. Stock, «Onkologie.» Eine Frau<br />

schaute das Lächeln mit besorgtem Blick an. Es versuchte<br />

zu lächeln, aber die Augen der Frau blieben dunkel und die<br />

Mundwinkel wollten sich nicht heben.<br />

Im 5. Stock stiegen das Lächeln und die Frau aus. Die anderen<br />

Leute fuhren weiter. «Entschuldigung! Wissen Sie, was Onkologie<br />

ist?», fragte das Lächeln ganz vorsichtig die relativ junge<br />

Frau; sie trug ein Kopftuch. Diese schaute ihm in die Augen:<br />

«Das ist die Wissenschaft, die sich mit Krebskrankheiten befasst.<br />

Das heisst, die Leute, die hierher kommen, haben Krebs. Sind sie<br />

auch krank?», wollte die Frau vom Lächeln wissen.<br />

«Nein, ich bin nicht krank. Darf ich Sie fragen ob Sie denn Krebs<br />

haben? Was für ein eigenartiges Wort», fügte das Lächeln hinzu.<br />

«Ja», kam prompt die Antwort. «Ich habe Lungenkrebs und ich<br />

bin hier für meine heutige Chemotherapie. Ich bekomme eine<br />

Infusion, welche die Krebszellen abtöten soll. Leider tötet diese<br />

Chemie nicht nur die kranken Krebszellen, sondern auch gesunde<br />

Zellen ab. In der Forschung wird stark nach einem Medikament<br />

gesucht, welches die hässlichen Nebenwirkungen verhindern<br />

soll. Wissen Sie, die meisten Chemopatienten fühlen sich<br />

nach der Infusion miserabel, müde und beinahe alle verlieren<br />

ihre Haare. Dazu kommt manchmal noch Fieber und Durchfall.<br />

Noch etwas. Sie sind nicht der Einzige, der den Begriff «Krebs»<br />

komisch findet. Irgendwo gibt es in diesem Bereich einen kleinen<br />

Vergleich mit dem gleichnamigen Krustentier.»<br />

28…<br />

29…


Das Lächeln wurde sich stark seiner Mission bewusst und fragte<br />

sich, wie es wohl eine schwerkranke Frau zum Lächeln bringen<br />

könnte. «Das wird ein schwieriges Unterfangen!», dachte es bei<br />

sich. «Den Versuch muss ich wagen!» So setzte es sich in den<br />

Warteraum der Abteilung: «Arztbesuche Onkologie».<br />

Mehrere Menschen warteten dort; sie hatten kurz aufgeblickt,<br />

als das Lächeln den Raum betreten hatte. Dann schauten sie<br />

wieder in das Heftchen in ihren Händen oder starrten ein Loch<br />

in die Luft. Immer wieder wurde ein Patient vom Arzt oder von<br />

einer Ärztin gerufen; immer wieder kamen Menschen, um ihren<br />

späteren Termin wahrzunehmen.<br />

Mit einem Sprung war das Lächeln neben ihr, bückte sich nach<br />

dem Kopftuch und reichte es der Frau mit den Worten: «Was<br />

für ein schönes Tuch Sie haben.» Die Frau nahm das Tuch,<br />

wickelte es gekonnt um den Kopf; ihre Augen wurden heller.<br />

Sie lächelte. «Das stimmt, vielen Dank; das ist mein schönstes<br />

und wichtigstes Tuch. Wahrscheinlich werde ich es vermissen,<br />

wenn ich es nicht mehr brauche.» Die anderen Patienten im<br />

Raum hatten die Szene mitverfolgt und eine Frau hatte zaghaft<br />

applaudiert. Dieser erheiternde Moment erzeugte hier<br />

und dort ein Lächeln auf einem Gesicht, selbst dort hinten<br />

beim Mann auf dem letzten Sessel, dessen versteinertes Gesicht<br />

sanftere Züge annahm.<br />

«Aufgeben, hier? Nein, das werde ich nicht!», war das Lächeln<br />

überzeugt. «Ich brauche dringend einen Zufall, der mir hilft, dem<br />

einen oder anderen Menschen hier ein Lächeln auf das Gesicht<br />

zu zaubern. Es verfolgte mit Argusaugen jede Bewegung. Die<br />

Luft war zum Schneiden dick. Es kam ihm vor, als dürfe hier niemand<br />

so richtig atmen. Versteckte Blicke gingen gelegentlich<br />

von der einen Ecke in die andere, vor allem dann, wenn sich<br />

irgendwo jemand bewegte.<br />

Plötzlich stand die Frau auf, welche mit dem Lächeln gesprochen<br />

hatte. Am Bücherregal wollte sie sich Lektüre holen.<br />

Sie bückte sich, fasste nach unten nach einem Heft. In dem<br />

Moment fiel ihr buntes, kunstvoll um den Kopf gebundenes<br />

Kopftuch auf den Boden. Dann stand sie da, ohne Haare, kahl.<br />

Die Chemotherapie hatte ihr gesamtes Kopfhaar ausfallen lassen.<br />

Sie erschrak bis aufs Blut, wollte nach dem Tuch fassen.<br />

«Wie peinlich!»<br />

30…<br />

31…


6…<br />

«Was für wertvolle Momente das Leben uns bescheren kann, auch<br />

wenn es mit manchen Menschen sehr hart ins Gericht geht!»,<br />

sagte sich das Lächeln, während es auf den Knopf des Aufzuges<br />

drückte. «Ausgang» war das Ziel. Es musste an die frische Luft.<br />

Vielleicht würde es sogar die Amsel wieder treffen; daher musste<br />

es in den Park zurück. Es wollte ihr erzählen, was es erlebt hatte.<br />

Als die Amsel das Lächeln erblickt hatte, flog sie ihm entgegen.<br />

«Ich muss dir etwas erzählen», zwitscherte sie übermütig.<br />

«Auch ich kann dir über wunderschöne Erlebnisse berichten»,<br />

sprudelte es aus des Lächelns Munde. Menschen haben gelächelt,<br />

welche wahrscheinlich schon fast nicht mehr wussten,<br />

was es heisst, einen fröhlichen Moment zu erleben. Was hast<br />

denn du erlebt?», wollte das Lächeln wissen.<br />

«Du kommst gerade recht», begann die Amsel. Seit ein paar<br />

Tagen kommt eine Frau mit dunkler Brille und Blindenstock mit<br />

ihrem Hund hier spazieren. Ich schätze, die Frau ist zwischen 25<br />

und 30 Jahre alt. Ihr Wegbegleiter ist ein schwarzer Labrador.<br />

Seit beinahe einer Stunde gehen die beiden hier langsam auf<br />

und ab – passieren immer die gleich Stelle – bleiben immer<br />

wieder stehen, schauen nach rechts und nach links, als ob sie<br />

etwas suchen würden.<br />

«Es mutet komisch an, dass eine blinde Frau etwas sucht. Ich<br />

kann ihr Verhalten nicht so recht interpretieren. Der Blindenhund<br />

bleibt immer wieder stehen, schaut sein Frauchen mit<br />

grossen Augen an; er versteht nicht, was sie von ihm will. Offensichtlich<br />

kann das Frauchen dem Hund nicht erklären, was<br />

er suchen soll. Es scheint, als ob die zwei noch kein perfekt geschultes<br />

Team wären. Vielleicht können wir den beiden helfen.<br />

Bist du dabei?»<br />

«Klaro!», bejahte das Lächeln. «Komm, wie gehen in ihre Nähe,<br />

damit wir überhaupt erfahren, worum es sich handelt.» «Machen<br />

wir mal eine Ausnahme?» Die Amsel hatte – wie sie meinte<br />

– eine gute Idee. «Ausnahmsweise nehme ich dich auf meinem<br />

rechten Flügel mit, denn Zeit sollten wir keine verlieren. Es<br />

scheint sich um etwas sehr Wichtiges zu handeln.»<br />

Die Amsel landete wenige Meter hinter den beiden. Der Hund<br />

wurde unruhig, seine Rute hob sich. «Was ist denn los?»,<br />

sprach die Frau zum Hund und zog ihn energisch an der Leine.<br />

Sie hatte einen sorgenvollen Ausdruck im Gesicht. «Fuss!»<br />

Der Hund setzte sich neben sein Frauchen und winselte. «Was<br />

siehst du denn?» Ihre Stimme wurde unruhiger, fast ungehalten.<br />

«Siehst du etwa den Schlüsselbund? Den muss ich irgendwo<br />

hier verloren haben; der müsste doch hier liegen.» Ihre<br />

Stimme klang weinerlich. Der Hund wurde immer nervöser,<br />

liess den Blick nicht mehr von der Amsel, als ob er von ihr Hilfe<br />

erbeten würde.<br />

«Du…», sagte der Hund nach einer Weile. «Du, Vogel, weisst<br />

du, was ein Schlüsselbund ist? Mein Frauchen sucht einen<br />

Schlüsselbund. Der Verlust macht sie aggressiv und ungehalten.<br />

Sonst ist sie immer sehr lieb zu mir. Heute Vormittag hat<br />

sie die Schlüssel hier irgendwo verloren; jetzt kenne ich sie<br />

fast nicht mehr.»<br />

32…<br />

33…


«Bestimmt werde ich dir helfen können.» Die Amsel flatterte<br />

und flog weg. Sie drehte mehrere Runden und musste feststellen,<br />

dass an diesem Ort kein Schlüsselbund zu finden war. «Wir<br />

müssen weiter suchen», forderte die Amsel auf, «hier ist nichts<br />

zu finden.» «Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?», wandte<br />

sich die Amsel an die Frau. Setzen Sie sich da drüben auf die<br />

Parkbank. Ich fliege den Park ab und rufe Sie, wenn ich etwas<br />

gefunden habe. Wenn ich rufen sage, so meine ich natürlich,<br />

dass ich laut singen werde. Hören Sie dann auf meinen Gesang<br />

und folgen Sie ihm. Bereits an der Melodie werden Sie erkennen,<br />

ob ich Erfolg gehabt habe.» Dann flog die Amsel in die Lüfte.<br />

Das Lächeln schaute ihr genüsslich nach und freute sich bereits<br />

auf die schöne Melodie.<br />

Die Amsel flog Runde um Runde; sie wollte nicht aufgeben;<br />

fast hatte sie schon daran gedacht. «Es könnte sein, dass jemand<br />

die Schlüssel gefunden hat. In diesem Park tummeln sich<br />

viele Leute.» Während sie so dachte, sah sie etwas glänzen.<br />

Dort unten, neben dem Abfallkübel. Sofort steuerte sie darauf<br />

zu, setzte auf.<br />

«Du hast wohl auch Hunger», brummte der Obdachlose durch<br />

seinen Bart. «Hier findest du nichts mehr. Ich habe den Kübel<br />

schon durchsucht. Es war nichts Brauchbares darin. Das Einzige,<br />

was etwas hergeben könnte, ist dieser Schlüsselbund. Wie<br />

viel bezahlst du mir dafür? Ich möchte schon lange eine Flasche<br />

Whisky kaufen. Weisst du, das Wässerchen erwärmt mir<br />

nicht nur den Körper, sondern auch die Seele.» Dann kicherte<br />

er hämisch, wissend, dass ihm niemand einen fremden Schlüsselbund<br />

abkaufen würde.<br />

«Ich gebe dir dafür 5 Euro», unterbreitete die Amsel ihr Angebot.<br />

Der Clochard lachte laut. «5 Euro für einen Schlüsselbund! Der<br />

Whisky kostet 10 Euro, das Doppelte!» Dann begann die Amsel<br />

zu singen: «Warum bin ich so fröhlich, so fröhlich, so fröhlich,<br />

bin ausgesprochen fröhlich; so fröhlich war ich nie.»<br />

Bald schon sah die Amsel die Frau mit dem Hund herbeieilen.<br />

«Hast du die Schlüssel gefunden?», fragte sie hastig. «Eigentlich<br />

ja, aber es gibt ein kleines Problem.» «Ein Problem? Was<br />

für ein Problem? Ich brauche dringend meine Schlüssel, ansonsten<br />

stehe ich heute vor meiner verschlossenen Wohnungstüre.»<br />

«Dieser Mann», die Amsel schaute zum Clochard, «hat den<br />

Schlüsselbund im Abfallkübel gefunden. Er hat darin nach Essbarem<br />

gesucht. Jetzt will er die Schlüssel verkaufen. Ich habe<br />

ihm 5 Euro geboten, aber er ist nicht einverstanden.» «Was<br />

will er denn haben?», fragte die Frau hastig. «Er verlangt 10<br />

Euro, weil eine Flasche Whisky 10 Euro kostet. «Warten Sie<br />

mal!» Die Frau tastete in ihrer Handtasche nach dem Geldbeutel.<br />

«Ich weiss nicht, ob ich noch 10 Euro habe.» Ihre Finger<br />

ertasteten, was sich im Geldbeutel befand. «Leider habe ich<br />

nur noch 8 Euro!», sagte sie enttäuscht. «Würden Sie mir bitte<br />

meine Schlüssel für diese 8 Euro geben?», wandte sie sich an<br />

den Obdachlosen. Dieser blinzelte in die Sonne. «Da will ich mal<br />

eine Ausnahme machen. Weil Sie es sind und weil eine Flasche<br />

Whisky 6 Euro kostet.» Damit überreichte er der blinden Frau<br />

den Schlüsselbund. Sie gab ihm ihrerseits die 8 Euro und beide<br />

lächelten über das ganze Gesicht. «Komm Kim!» Die Frau<br />

zog ihren Hund vorsichtig an der Leine. «Bedank dich; wir zwei<br />

müssen nach Hause gehen.» Die Amsel und das Lächeln sahen,<br />

wie die zwei leichtfüssig den Park verliessen.<br />

34…<br />

35…


7…<br />

«Mission erfüllt!», lobte das Lächeln und strich der Amsel sanft<br />

über die Flügel. «Du müsstest mir noch bei einem anderen Auftrag<br />

behilflich sein. Hier in der Nähe gibt es ein Schulzentrum,<br />

wo multikulturelle Klassen unterrichtet werden. Und wie es bei<br />

den Schülern oft ist, da wird viel gemoppt, sogar von Rassismus<br />

ist die Rede.»<br />

Es war gerade Pause, als die beiden dort ankamen. Geschrei<br />

und Gelächter empfingen die Amsel und das Lächeln. Sie<br />

setzten sich auf die Schulmauer und schauten dem Treiben<br />

zu. Nicht weit entfernt von ihnen sass ein schwarzes Mädchen,<br />

ebenfalls auf der Mauer. Mit traurigen Augen schaute es<br />

zu, wie seine Klassenkameraden Ball spielten. «Wie heisst du<br />

denn?» «Magali!» Und warum spielst du nicht mit?», wurde<br />

es von der Amsel gefragt. «Sie lassen mich nicht mitspielen,<br />

weil ich schwarz bin. Sie haben gesagt, ich solle mich zuerst<br />

waschen.» Das Mädchen begann leise zu weinen. «Das habe<br />

ich gemacht. Ich habe mich jeden Tag mehrmals gewaschen,<br />

sogar mit einer Bürste geschrubbt, aber ich habe die Farbe<br />

nicht wegbekommen.»<br />

Diese Worte fühlten sich im Herzen des Lächelns und im Herzen<br />

der Amsel wie Messerstiche an. «Das kann nicht sein!», ergriff<br />

das Lächeln das Wort. «Hier ist dringend Handlungsbedarf angesagt.<br />

Die Schuldirektion wird das Problem kennen und sicherlich<br />

mit den Schülern darüber gesprochen haben.» «Und<br />

warum hat sich nichts geändert?», fragte die Amsel. «Weil die<br />

Schüler nicht ernst nehmen, was ihnen in theoretischen Lektionen<br />

erklärt wird. Die Kinder brauchen Beispiele, Beispiele aus<br />

dem Leben.» «Und was willst du nun tun?»<br />

Dann stand das Lächeln auf die Mauer. «He Amsel, komm auf<br />

meine Schulter, ich brauche dich. Sing Amsel, sing, so laut du<br />

kannst. Die Kinder sollen dich hören. Sing ein schönes englisches<br />

Lied, das gefällt ihnen bestimmt besser; es muss nicht<br />

gleich eins von Justin Bieber sein!» Und die Amsel sang, so<br />

laut sie konnte: «I like the flowers, I like the daffodiles!» «Sing<br />

lauter!», mahnte das Lächeln. «I like the mountains, I like the<br />

rollinghills. I like the fireplace…» Die fröhliche, rhytmische Musik<br />

liess die Schüler aufhorchen.<br />

Ein paar Schüler wagten sich in die Nähe der Amsel, die auf der<br />

Schulter des Lächelns sass. «Die fliegt ja gar nicht weg, wenn<br />

wir kommen!», rief ein Schüler. Damit machte er auch andere<br />

darauf aufmerksam und sie kamen immer näher und es kamen<br />

immer mehr nahe an die Mauer. Das Lächeln stellte das<br />

schwarze Mädchen neben sich auf die Mauer. «Was macht die<br />

da oben?», schrie ein vorlauter Schüler. «Ist die etwas Besseres,<br />

dass sie so von oben herab auf uns schauen kann?»<br />

Dann ergriff das Lächeln das Wort. «Nein, sie ist nichts Besseres,<br />

das stimmt; sie ist nur ein bisschen anders. Übrigens bist<br />

du auch ein bisschen anders als die andern. Das sind wir alle.»<br />

«Ich bin nicht anders!», konterte der Junge empört. «Doch!»,<br />

insistierte das Lächeln. «Du bist anders als dieses Mädchen.<br />

Somit bist du auch anders.» Der Junge senkte enttäuscht den<br />

Kopf, hob ihn nach wenigen Sekunden und schrie frech: «Aber<br />

sie ist eine Ausländerin!»<br />

36…<br />

37…


«Sag mal!», ergriff das Lächeln wieder das Wort. «Hast du schon<br />

mal Ferien gemacht?» «Ja klar!», kam die prompte Antwort des<br />

Jungen. «Wir waren schon mehrmals in Italien und in Spanien.<br />

Das war super!» «Dann hast du etwas nicht bemerkt», erklärte<br />

das Lächeln. «Wenn ihr in Italien und in Spanien gewesen seid,<br />

ward ihr Ausländer dort – die gesamte Familie. Hat man euch<br />

dort auch beschimpft?» «Aber nicht doch!», wusste der Knabe.<br />

«Wir haben dort alles bezahlt.»<br />

«Sicher habt ihr alles bezahlt. Das macht die Familie von Magali<br />

auch; sie bezahlt alles. Und ihre Familie ist hier, weil ihr Vater in<br />

unserem Land arbeitet. Er bezahlt hier Steuern wie deine Eltern.<br />

Und von seinen Steuerabgaben profitiert auch deine Familie.<br />

Das ist vielleicht noch schwierig zu verstehen. Ich will damit<br />

nur sagen: Wir brauchen alle einander», erklärte das Lächeln.<br />

Kevin, so hiess der Junge, hatte eine ganze Weile zugehört und<br />

war zur Überraschung aller wortlos geblieben. «Wenn dem so<br />

ist, Magali, komm herunter und spiel mit uns, uns fehlt sowieso<br />

immer ein Spieler beim Volleyballspiel.»<br />

Magali traute ihren Ohren nicht. Das Mädchen schaute zum<br />

Lächeln, dann zur Amsel und zuletzt zu Kevin. Ein breites Lächeln<br />

setzte sich auf sein Gesicht. «He mach schon!», schrie<br />

Kevin und lächelte, wir haben nicht bis morgen Zeit!» Er reichte<br />

dem Mädchen die Hand und half ihm so, von der Mauer<br />

herunterzuspringen.<br />

Die Amsel und das Lächeln blieben noch eine Weile auf der<br />

Mauer sitzen und schauten dem Ballspiel zu. Sie hörten, wie ein<br />

Lehrer zum anderen sagte: «Wie fröhlich die Kinder heute sind!»<br />

8…<br />

«Wie schön es ist, wenn wir ein Lächeln auf Gesichter zaubern<br />

können, wo Schmerz, Enttäuschung, Verbitterung oder auch<br />

Rassismus die Seelen überschatten. Bist jetzt haben wir überall<br />

Erfolg verbuchen können. Nun gehen wir noch an einen Ort, wo<br />

das noch schwieriger sein wird. Wir gehen an den Ort, wo sich<br />

die Menschen für immer verabschieden müssen», klärte das<br />

Lächeln die Amsel auf. «Spinnst du? Sag bloss nicht, dass wir<br />

auf einen Friedhof gehen. Wie wollen wir bei trauernden Menschen<br />

ein Lächeln herzaubern?» «Der Zufall wird uns bestimmt<br />

behilflich sein, den brauchen wir oft in einer ausweglosen Situation!»<br />

«Let’s go!»<br />

«Das wird doch hoffentlich nicht makaber!», meinte die Amsel.<br />

«Nein, auf keinen Fall. Stan Laurel soll gesagt haben: «Wenn jemand<br />

auf meinem Begräbnis ein langes Gesicht macht, spreche<br />

ich nie wieder mit ihm.» Die Amsel lachte laut auf. «Ja, wenn<br />

dem so ist, wollen wir es doch mal versuchen.»<br />

Weil es in jeder Stadt mehrere Friedhöfe gibt, wurden die beiden<br />

sehr schnell fündig. Beim Eingang des Friedhofs stand<br />

eine grosse Trauerweide. «Weisst du, dass dieser Baum unsere<br />

Freundschaft besiegelt?», erinnerte das Lächeln. «Seine<br />

herabhängenden Äste bieten Zuflucht und seine verknoteten<br />

Wurzeln verbreiten Kraft und Zuversicht.» «Du magst ja recht<br />

haben!», beteuerte die Amsel. «Aber diese Tatsachen erzeugen<br />

doch kein Lächeln.»<br />

38…<br />

39…


In der 28. Reihe des Friedhofs stand eine Gruppe trauernder<br />

Menschen in Schwarz gekleidet, ein Trauerzug, die Frauen mit<br />

Trauerschleier. «Es wird ein alter Mann beerdigt, ein ehemaliger<br />

Offizier der Armee, habe ich den Worten des Pfarrers entnehmen<br />

können,» flüsterte das Lächeln. «Ach so, darum tragen drei<br />

Männer eine Uniform?», die Amsel verstand. Der Pfarrer sprach<br />

vom reich erfüllten Leben des Mannes, würdigte ihn mit schönen<br />

Worten des Abschieds. Die Gesichter der Hinterbliebenen<br />

blieben reglos, keine Träne, keine Geste, nichts.<br />

«Die Trauer über das Ableben dieses Mannes scheint nicht gerade<br />

gross zu sein», stellte die Amsel fest. «Wahrscheinlich steht<br />

den Hinterbliebenen ein riesiger Erbschaftsstreit bevor.»<br />

«Du siehst das sicher richtig. Aber jetzt ist dein Einsatz gefragt»,<br />

eröffnete das Lächeln. «In deinem immensen Repertoire gibt es<br />

doch bestimmt auch Militärmusik. Leg los, gib dein Bestes!» Die<br />

Amsel flog auf das dritte Kreuz neben dem offenen Grab und<br />

sang die ersten Takte des Radetzky-Marsches. Die versammelte<br />

Trauergemeinde samt Pfarrer hob erstaunt den Kopf, die Menschen<br />

schauten zur Amsel, dann einander an und ein überraschtes<br />

Lächeln setzte sich auf ihre Gesichter. «Ich meine», sagte<br />

das Lächeln zur Amsel. «Ich meine Gefühle, bemerkt zu haben.»<br />

«Ich hoffe sehr, dass die Angehörigen heute noch das Gespräch<br />

suchen, auch wenn es sich dabei nur um diese eigenartige Begebenheit<br />

am Grab ihres Vaters handelt.»<br />

BELLA VENEZIA<br />

Ihr erster Blick fiel auf die Wasserstrasse, auf der die beiden Frauen<br />

viele Boote zu sehen glaubten. Viele Bote? Zumindest so hatten<br />

sie es angenommen. Christine schaute Carla an, ihre Freundin.<br />

«Findest du das nicht eigenartig, kaum ein Boot?», fragte sie.<br />

Carla blieb vorerst wortlos. Nach einer Weile hatte sie die Sprache<br />

wiedergefunden. «Hier stimmt doch etwas nicht!», bekräftigte sie.<br />

Nachdem ihre Augen sich vergewissert hatten, dass auch kein<br />

Wasserbus weit und breit zu sehen war, gingen sie zur Information.<br />

Dort wollten sie sich Aufklärung verschaffen, so hofften sie.<br />

Ihre Hoffnung sollte eine solche bleiben. Beim Eintreten wurde<br />

ihr freundliches «Buongiorno!» nicht registriert. «Prego, Signora!»,<br />

sagte Christine etwas lauter, um eine Angestellte auf sich<br />

aufmerksam zu machen.<br />

Ein strenger Blick traf die beiden und die Tatsache, dass an dem<br />

Tag nur Privatboote fahren würden. «Sciopero!», kam die lapidare<br />

Antwort. «Streik?» Die Frauen waren enttäuscht und entsetzt<br />

gleichzeitig. Wie sie zu ihrem Hotel kämen, fragte Christine<br />

noch in ihrem besten Italienisch. Die Signora wusste es nicht. Es<br />

war ihr auch piepegal; sie wandte sich desinteressiert ihrem PC<br />

zu. «Ausgerechnet heute!», lamentierten Christine und Carla<br />

gleichzeitig. «Also, kein Vaporetto! Was für ein blöder – was<br />

für ein saublöder Zufall!» Ihre Vorfreude auf den einwöchigen<br />

Aufenthalt in der Stadt der 450 Brücken sollte doch deswegen<br />

nicht zu sehr getrübt werden – hofften sie. Die beiden setzten<br />

sich auf die Stiege vor dem Bahnhofsgebäude, stellten ihre<br />

40…<br />

41…


Rollkoffer in Sichtweite neben sich. Sie waren nicht die Einzigen,<br />

die dort kopfschüttelnd nach einer Lösung suchten. Ihre<br />

gegenseitigen Blicke liessen die beiden Schultern gleichzeitig<br />

heben und senken. «Jetzt würde ich gerne ein hässliches Wort<br />

schreien!», eröffnete Christine. «Soll ich beginnen?», provozierte<br />

Carla. «Sch…» «Lass das besser!», unterbrach sie Christine.<br />

«Das hilft uns auch nicht weiter.»<br />

«Hast du überhaupt gefragt, wie lange gestreikt wird?», wandte<br />

sich Carla an Christine. «Scheibenkleister! Das habe ich prompt<br />

vergessen!», kam es zurück. Dann bemühte sie sich nochmals zur<br />

unfreundlichen Signora, um dies in Erfahrung zu bringen. «Auch<br />

das weiss sie nicht», rief Christine von der obersten Treppenstufe<br />

Carla zu. «Zudem hatte sie nicht mal einen Stadtplan, um unser<br />

Hotel zu orten!», folgte der zynische Nachsatz.<br />

«Lass uns einen Bootsbesitzer fragen!» Christine hatte die Reise<br />

gebucht und fühlte sich verantwortlich. Der Bootsbesitzer war<br />

ein Wassertaxifahrer. «Was für ein glücklicher Zufall!», jubelten<br />

die beiden snychron. «Fahren Sie uns bitte zum Hotel Domina<br />

Home Cà Zusto!» «Volentieri, belle donne!», schmeichelte der<br />

Bootsfahrer. Der designierte Gentleman verstaute ihre Rollkoffer<br />

im Innern des Bootes und fuhr pfeifend los.<br />

Christina und Carla wollten die Fahrt stehend geniessen, hielten<br />

sich am offenen Dach fest. Sie fuhren an malerischen Häusern<br />

vorbei, der Ausblick war bombastisch. Beim Vorbeiflitzen<br />

erkannten sie mehrere weltbekannte Postkartensujets. Nachdem<br />

sie unter der Seufzerbrücke hindurchgefahren waren, drosselte<br />

der Fahrer unerklärlicherweise das Tempo. «Ach, der will<br />

uns nur Eindruck machen», witzelte Carla. «Er amortisiert nur<br />

seinen Bootsführerschein.»«Ich bin gespannt, was daraus wird;<br />

ich habe ein ungutes Gefühl», konterte Christine.<br />

Offensichtlich genoss der Bootsführer die Fahrt auch. Der Wind<br />

zerriss sein gepfiffenes «O sole mio!». Ein paar Laute drangen<br />

nach hinten zu den Frauen. Immerhin konnten sie das Lied erkennen.<br />

Sie fanden plötzlich auch, dass sie mit dem gedrosselten<br />

Tempo mehr von der Lagunenstadt sehen konnten. Bald<br />

würden sie ja sicher ankommen; wollten sie doch noch gleichentags<br />

den Markusdom besichtigen.<br />

Nach gefühlten zwanzig Minuten fuhr der Wassertaxifahrer aus<br />

dem Kanal hinaus aufs Meer, um dort eine grosszügige Schleife<br />

zu fahren; was die beiden Frauen sehr erstaunte. Dann bog<br />

er in einen sehr engen Kanal ein. Links und rechts gab es nur<br />

hohe Häuserwände mit kleinen Fenstern zu sehen – kein einziges<br />

Boot weit und breit – nichts Sehenswertes – auch keine<br />

42…<br />

43…


Menschenseele. Dann hielt der Bootsfahrer vor einer schmalen<br />

Türe. Erst musste er die Frauen, dann die Rollkoffer regelrecht<br />

aus dem Boot zur Türe hieven. Bevor er sie dort stehen liess, kassierte<br />

er von ihnen 90 Euro. «Wow!», meinte Carla mit grossen<br />

Augen. «Diese Fahrt knabbert an unserem Budget!»<br />

Nun standen sie mit ihren Rollkoffern vor der vermeintlichen<br />

Hoteltüre und klingelten. Einmal, zweimal, mehrmals – kein<br />

Lebenszeichen! Carla nahm ihren ganzen Mut zusammen und<br />

hämmerte mit beiden Fäusten an die Türe. Dann – plötzlich<br />

Schritte von Weitem. «Uff!» Ein Mann öffnete die Tür und<br />

schaute die beiden erstaunt an, als ob sie von einem anderen<br />

Planeten kämen. Er erwarte keine Gäste, erklärte er ihnen und<br />

schon gar keine an der Hintertür des Hauses. Seine Meinung änderte<br />

er auch nicht, als die Frauen ihm ihre Buchungsunterlagen<br />

unter die Nase hielten. «Oh! Hotel Domina Home Cà Zusto!»,<br />

gab er sich erstaunt. Dem Erstaunen folgte ein kleines, süffisantes<br />

Lächeln. Offenbar waren Christina und Carla ins falsche Hotel<br />

gefahren und vor einem uralten, verriegelten Seiteneingang<br />

abgesetzt worden. «Wir haben doch dem Bootsfahrer dreimal<br />

den Hotelnamen gesagt, sogar gezeigt», beteuerte Christine.<br />

Ihre Stimme war erregt.<br />

«Oh, si!» Der Signore wusste Bescheid, erzwang sich eine besorgte<br />

Stirnfalte. Es gäbe noch ein Hotel derselben Hotelkette;<br />

das würde wohl das richtige Haus sein. «Und – wie kommen<br />

wir dahin?», schoss es aus Christine. «Es fährt ja heute kein<br />

Wasserbus, nessun Vaporetto weil Sciopero!» In dem Moment<br />

mischte sich eine Hotelangestellte ein. Sie habe soeben Feierabend<br />

und würde die beiden bis zum Hotel mitnehmen, weil ihr<br />

Nachhauseweg zufällig daran vorbeiführe.<br />

Froh über diesen glücklichen Zufall folgten Christine und Carla der<br />

jungen Frau, die sich Elena nannte. Ein einziges Mal brachte die<br />

drei ein Boot auf die andere Seite. Ansonsten hetzten die Frauen<br />

hinter Elena her, ihre Rollkoffer im Schlepptau. Elena lief extrem<br />

zügig. Die beiden waren ständig bemüht, sie nicht aus den Augen<br />

zu verlieren, und hetzten ihr nach über eine Buckelbrücke, dann<br />

über die nächste und noch eine und noch eine, dann überquerten<br />

sie einen Campus und der Buckelbrückenlauf begann von vorne.<br />

Bestimmt hatten sie über ein Dutzend Brücken geschafft, als ihnen<br />

Elena das Ziel ankündigte. Dass es noch ein paar Brücken<br />

zu überqueren galt, hatte sie wohl absichtlich verschwiegen.<br />

Zum Glück hatte Elena zu Beginn des Hürdenlaufs auf die vielen<br />

Hundehaufen aufmerksam gemacht. Neben ihrem Gehetze<br />

mussten die Frauen darauf achten ihre Schuhe und Rollkoffer<br />

davor zu bewahren.<br />

Unterwegs traf das Trio auf einen adrett gekleideten Mann, den<br />

Elena ansprach. Die beiden schienen sich gut zu kennen und<br />

unterhielten sich in moderatem Ton. Carla und Christine waren<br />

auf höflicher Distanz geblieben. Der Signore und Elena verabschiedeten<br />

sich nach einem kürzeren Gespräch lachend von einander.<br />

«Ancora un piccolo vicolo!», verkündete Elena. Nach<br />

der letzten kleinen Gasse sollten sie das Ziel erreicht haben. So<br />

war es dann auch.<br />

Die selbsternannte «Stadtführerin» Elena begleitete die Frauen an<br />

den Empfang ihres – diesmal richtigen Hotels. Auch dort an der<br />

Rezeption ergab sich ein kleines Schäkern in derselben moderaten<br />

Tonlage. Dann übergab Elena die Frauen dem Angestellten<br />

und verliess das Hotel. Der Hotelangestellte erklärte den Frauen<br />

44…<br />

45…


mit ernster Miene, dass sie einfach nur ins falsche Hotel gefahren<br />

wurden – leider. «Mi dispiace! Molto.» Christine und Carla hatten<br />

Mühe zu glauben, dass es ihm sehr leid tun würde. Sie glaubten<br />

in seinen Augen ein kleines Blitzen bemerkt zu haben.<br />

«Endlich im Zimmer!» Müde schmissen sich die beiden Frauen<br />

aufs Bett, obwohl es noch früher Nachmittag war. Ihre Füsse<br />

brannten wie Feuer. «Also», begann Christine. «Ich würde schon<br />

gerne wissen, was das alles für eine komische Nummer gewesen<br />

ist», sagte sie zu Carla. Die war bereits eingeschlafen. «Oh,<br />

scusa!», flüsterte sie ihr lächelnd zu.<br />

Dann kramte sie in ihrer Handtasche nach den Buchungsunterlagen,<br />

die sie aus dem Internet heruntergeladen und ausgedruckt<br />

hatte. «Nein! Das glaube ich jetzt aber nicht!», schoss<br />

es durch ihren Kopf. «Das gibt’s doch nicht! Wie peinlich!» Es<br />

blieb ihr nichts anderes übrig, als Carla die Blamage zu beichten.<br />

Doch sie nahm sich vor, sie erst am Abend über den Fauxpas<br />

zu informieren. Tun wollte sie das mit einer gebührenden<br />

Entschuldigung.<br />

Am späteren Nachmittag – nach der Besichtigung des Markusdoms<br />

– hatten die beiden am Markusplatz ein schönes Restaurant<br />

gefunden. Dass Christine gleich einen edlen Prosecco bestellt<br />

hatte, erstaunte Carla. Christine verlangte die Speisekarte.<br />

Weil sie die Vorlieben ihrer Freundin kannte, wählte sie gleich<br />

für beide eine feine Vorspeise, dann einen opulenten Hauptgang<br />

und als Nachspeise einen Tiramisu mit einem Espresso.<br />

begann Christine kleinlaut. «Irgendwie müssen wir doch unser<br />

Hiersein gebührend feiern! Wollen wir nachher über die Seufzerbrücke<br />

gehen?», versuchte sie abzulenken. «Ich verspreche<br />

dir, dass wir kein Schloss anbringen werden!», grinste sie.<br />

«Du hast zu viel Alkohol intus», sagte Carla und widersprach<br />

laut, als Christine die Rechnung alleine bezahlte. «Wir haben<br />

abgemacht, dass wir die Kosten jeweils teilen», erinnerte Carla.<br />

«Heute mache ich eine Ausnahme», begann Christine, um erst<br />

mal Luft holen zu können. «Ich muss dir etwas gestehen, wofür<br />

ich mich hiermit entschuldigen möchte, wenn das überhaupt<br />

möglich ist», begann sie.<br />

Carla schaute Christine mit fragenden Augen an. «Sag bloss<br />

nicht, dass du unsere teure Bootsfahrt inszeniert hast!» «Nein,<br />

nein!», beschwichtigte sie Christine. «Der Wassertaxifahrer und<br />

Elena haben uns hereingelegt; bestimmt gehören die zusammen.<br />

Ihnen ist der Trick gelungen, die falsche Fahrt, das war<br />

Absicht. Wir haben uns vom ‹Signore Wassertaxifahrer› ausnehmen<br />

lassen», klärte sie auf.<br />

«Und, was hast du damit zu tun?», fragte Carla überrascht.<br />

«Tja», begann Christine vorsichtig. «Als du schliefst, habe ich<br />

die Buchungsunterlagen durchgesehen und dann festgestellt,<br />

dass ich einen Plan für den 8-minütigen Fussweg zu unserem<br />

Hotel in den Unterlagen gehabt hätte. Entschuldige bitte, wenn<br />

du kannst!»<br />

«Wow!» Erstaunt schaute Carla Christine an: «Was ist denn in<br />

dich gefahren; ich habe mit einer Pizza gerechnet?» «Ach!»,<br />

46…<br />

47…


BESSER SPÄT ALS NIE<br />

Um Sabine auf die Einladung seiner Mutter anzusprechen,<br />

musste Georg Tage warten, bis er den Mut dazu fand. Warten<br />

musste er im Lokal dann auch noch, bis alle Gäste sich verabschiedet<br />

hatten. Als Letzter ging Beat, der es sich nicht verkneifen<br />

konnte, eine Bemerkung zu machen. «Du bist schon verflixt<br />

hartnäckig!», rief er Georg zu und ging zur Tür hinaus. Georg<br />

hatte in einer Ecke gesessen, vor sich hin gegrübelt und gewartet,<br />

bis Sabine Polizeistunde gemacht hatte.<br />

«Erschrick nicht!», hörte Sabine hinter sich Georgs Stimme.<br />

«Mutter hätte gerne, wenn du mal zu uns nach Hause kommen<br />

würdest», sagte er mutig. «Uff!» Das hatte er hinter sich. «Wir<br />

könnten zusammen Kaffee trinken und uns unterhalten. «Wenn<br />

du meinst», gab sich Sabine gekünstelt unbeeindruckt. Sie war<br />

froh, dass Georg ihr Herzklopfen nicht spüren konnte. «Wann<br />

würde es deiner Mutter denn passen?», wollte sie wissen. «Vielleicht<br />

am Sonntagnachmittag, wenn das Lokal geschlossen ist.»<br />

Georg wusste ja Bescheid.<br />

Schon am nächsten Sonntagnachmittag klingelte Sabine an der<br />

Türe von Georgs Haus. Er hatte mit klopfendem Herzen geöffnet.<br />

«Wie schön, dass du gekommen bist. Fast habe ich befürchtet,<br />

dass du mich versetzt», begrüsste er sie. «Aber nicht doch»,<br />

warf Sabine ein. «Ich bin doch gerne gekommen; hier wohnt<br />

also der Denker. Mir gefällt übrigens, dass man dir so sagt. Ich<br />

habe auch das Gefühl, dass du viel denkst, eben, dass du gut<br />

überlegen kannst. Ich glaube, dass sich in deinem Kopf sehr viel<br />

tut.», meinte Sabine lächelnd. Auch Georg lächelte nach diesem<br />

Bekenntnis. Damit war das Eis gebrochen.<br />

Georgs Mutter wartete mit einem Gugelhupf auf. «Der Lieblingskuchen<br />

meines Sohnes! Hoffentlich mögen Sie ihn auch. Sie heissen<br />

Sabine; das weiss ich von Georg. Sagen Sie Julia zu mir!»<br />

Nach einem vorerst oberflächlichen Gespräch wollte die Mutter<br />

mehr von Sabines Familie erfahren. Dass sie die Älteste von drei<br />

Kindern aus einer einfachen Familie war, gefiel Julia. Sabine kam<br />

aus einem Nachbardorf; ihr Vater arbeitete im gleichen Betrieb<br />

wie Georg; daher kannte er ihn. Mehrmals hatte er von Georg<br />

gesprochen. Es war halt aussergewöhnlich, dass ein so junger<br />

Mann bereits Verantwortung im Betrieb übernehmen konnte.<br />

Ob sie denn auch etwas von Georgs Familie erfahren könnte,<br />

wollte Sabine wissen. Julia erschrak leicht, was Sabine bemerkt<br />

hatte. «Entschuldigen Sie bitte, wenn ich darum bitte. Aber ich<br />

mag nicht, wenn über Georg dummes Zeug gequatscht wird»,<br />

sagte sie mit gesenktem Kopf. «Ja, ich weiss», begann Julia. Die<br />

Leute wissen nicht, wer Georgs Vater ist. Und – es gibt tatsächlich<br />

noch Leute, die deshalb ihren Seelenfrieden nicht finden. Das<br />

wird es wohl sein, was Sie dummes Zeug nennen. Aber das alles<br />

ist eine längere Geschichte. Wahrscheinlich ist die Gelegenheit<br />

heute passend, um zu erzählen, wie alles gekommen ist. Eine<br />

sehr wichtige Rolle in Georgs Leben spielt sein Vormund. Ihm<br />

verdankt Georg, dass er zwei Lehren machen konnte und in<br />

der Firma bereits zum Kader zählt. Georg selber kannte seinen<br />

Vater sehr lange nicht, weil ich dem Kindsvater immer wieder<br />

hatte schwören müssen, ihn nicht zu verraten. Sogar ein Papier<br />

hatte ich unterschreiben müssen. Ansonsten hätte er mir das<br />

48…<br />

49…


Kind wegnehmen lassen. Dass ich dann auch keine finanzielle<br />

Unterstützung mehr bekäme, war ja dann auch klar gewesen.»<br />

Julias Stimme war leiser geworden.<br />

Julia hatte sich wieder gefangen. «Setzt euch! Am besten ist es,<br />

wenn ihr die Augen schliesst. Dann könnte ihr auch das gutbürgerliche<br />

Wohnzimmer der Familie Müller besser vorstellen.<br />

Ich habe alle Bilder und Worte noch im Kopf. Meine damaligen<br />

Arbeitgeber oder eben Vorgesetzten, wie ich auch sagen könnte,<br />

unterhielten sich aufgeregt. Ich war in der Küche gewesen und<br />

hatte gehört, was sich im Wohnzimmer abgespielt hatte. Georg,<br />

zu dem Zeitpunkt warst du drei Wochen alt.»<br />

«Was ich euch jetzt erzähle, ist die Wahrheit und nichts als<br />

die Wahrheit! Ich habe die Stimmen noch in den Ohren, als<br />

ob es gestern gewesen ist.» Julia hatte sich aufrecht auf ihren<br />

Stuhl gesetzt und ihr Kleid mit beiden Händen über den Knien<br />

gerade gestrichen so, als ob sie Falten entfernen wollte, wo<br />

es keine gab.<br />

«‹Ausgeschlossen! Das Kind kann nicht bei uns bleiben!›, hatte<br />

ich Herrn Müller sagen hören. ‹Wir haben selber drei Kinder,<br />

womit du genug zu tun hast!› ‹Auf ein Kind mehr oder weniger<br />

kommt es doch nicht an›, hörte ich Frau Müller kontern. ‹Zudem<br />

wohnt Julia in unserem Haushalt. Sie kann sich selber um das<br />

Kind kümmern›, meinte sie noch. Das sah Herr Müller anders:<br />

‹Ein uneheliches Kind passt nicht in unsere Familie! Ich stehe in<br />

der Öffentlichkeit. Was würden denn die Leute von uns denken?<br />

Ich werde mich nicht zum Gespött machen lassen. Und – die<br />

nächsten Wahlen kann ich gleich vergessen!›»<br />

Einen Augenblick später hatte dann Frau Müller ihren Mann gefragt,<br />

ob er wisse, wer der Vater des Kindes sei. Er hatte schroff<br />

verneint. Ob es Lothar sein könnte, wollte Frau Müller wissen,<br />

zumindest würde das gemunkelt. Julia und Lothar seien am<br />

Oktoberfest zusammen gesehen worden. Er werde sich diesen<br />

Lothar vorknöpfen, hörte ich Herrn Müller wettern. Mir selber<br />

war angst und bange geworden.»<br />

Mit einem etwas benommenen Blick auf Sabine und Georg fuhr<br />

Julia fort: «Mitbekommen hatte ich diese Szene, weil ich den<br />

Nachmittagskaffee zubereiten musste. Nach dem Mittagessen<br />

hatten Herr und Frau Müller immer ihren Kaffee getrunken. Herr<br />

Müller trank ihn schwarz; Frau Müller verfeinerte ihn mit einem<br />

halben Kaffeelöffel Zucker. Die Kinder spielten während der Zeit<br />

in ihren Zimmern. Georg, du hattest dein kleines Bettchen neben<br />

meinem Bett in meinem Zimmer. Es war ein hübsches, ordentliches<br />

Zimmer, aber Herr Müller nannte es abschätzig die<br />

Angestelltenkammer. Mit zittrigen Beinen hatte ich dann die silberne<br />

Kaffeekanne auf dem Tablett ins Wohnzimmer getragen.<br />

Während ich den Kaffee eingoss blieben beide stumm. Plötzlich<br />

sagte mir Herr Müller, dass er sich um die Rechte meines Kindes<br />

kümmern würde und dass er für meinen Sohn einen passenden<br />

Platz suchen würde – so plötzlich – aus heiterem Himmel. Ich<br />

meinte, eine Ohrfeige zu spüren und mein Herz würde stillstehen.<br />

Ich war unendlich erschrocken. Stellt euch das mal vor! Herr<br />

Müller hatte meinen Sohn fremdplatzieren, weggeben wollen.<br />

‹Der Platz meines Kindes ist bei mir!›, hatte ich unter Tränen<br />

gestammelt und hinzugefügt, dass mein Kind immer bei mir<br />

bleiben würde. Eher würde ich das Haus verlassen und anderweitig<br />

Arbeit suchen.<br />

50…<br />

51…


‹Nein, um Himmels Willen!›, hatte Frau Müller entsetzt geschrien.<br />

‹Wir brauchen dich; wir werden niemanden wie dich finden. Unsere<br />

Kinder mögen dich und du machst deine Arbeit sehr gut. Du<br />

wirst bei uns bleiben, dafür werde ich schon sorgen!›<br />

Schon wenige Tage später hatte Herr Müller eine Lösung gefunden.<br />

Er wolle das Kind von Georgs Grossmutter, also von<br />

meiner Mutter grossziehen lassen; ihm werde es dort gut gehen.<br />

Damit würde das Kind aus seiner Familie entfernt sein.<br />

Das schien auch seiner Frau akzeptabel. Ich könne es ja immer<br />

dann sehen, wenn ich frei habe. Mir war nichts anderes übrig<br />

geblieben, als einzuwilligen. Am Schluss dieser Eröffnung hatte<br />

sich Herr Müller vor mich hingestellt und gesagt, dass er die<br />

Vormundschaft für das Kind übernehmen würde. Er sei eine<br />

öffentliche Person und deshalb vertrauenswürdig. Ich müsse<br />

mir keine Sorgen machen. Er würde dafür sorgen, dass es Georg<br />

an nichts fehlen würde.<br />

Ihr müsst wissen, dass ich wirklich nur alle zwei Wochen frei bekommen<br />

hatte. Meine Arbeitstage dauerten immer lange. Wenn<br />

Besuch gekommen war, hatte ich die Leute zu bedienen, bis sie<br />

gegangen waren. Das konnte dauern, manchmal bis zum frühen<br />

Morgen. Am Wochenende hatte ich dann einen Berg Wäsche zu<br />

machen und viele weisse Hemden zu bügeln. Einen Arbeitsvertrag<br />

oder Ähnliches hatte ich nicht. Ich war aber heilfroh, bei<br />

der Familie Müller arbeiten zu können. Mir gefiel der gepflegte<br />

Haushalt, das schöne Haus und ich liebte die Kinder; sie mich<br />

auch – glaube ich.»<br />

Georg und Sabine hatten schweigend zugehört. Nach einer Weile<br />

räusperte sich Sabine. «Julia, das muss eine sehr schwere Zeit<br />

für Sie gewesen sein.» «Das kann man wohl sagen.» Georgs<br />

Mutter holte tief Luft.<br />

Noch immer starrte Georg auf den Boden; Worte hatte er keine.<br />

«Der Denker denkt wieder mal», witzelte Sabine. «Aber ich<br />

weiss, dass sein Denken immer Gutes bewirken kann.» Sie lächelte<br />

und drückte seine Hand. Sie wollte ihm damit Mut machen,<br />

was ihr auch gelang.<br />

«Mutter», begann Georg. «Wie war das mit dem Vormund? Ich<br />

weiss, dass er uns immer wieder besuchen kam. «Das Wort<br />

‹Vormund› hatte er immer laut gesagt, aber ich hatte es damals<br />

noch nicht verstanden. Später wollte ich immer abhauen, wenn<br />

sein Auto vor unserem Hause hielt; er war eine sonderbare Respektperson.<br />

Ich mochte den Mann einfach nicht. Ich fühlte mich<br />

von ihm irgendwie bedroht oder sogar beherrscht. Später sollte<br />

ich dann recht bekommen.»<br />

Die Uhr hatte soeben dreimal geschlagen. «Eigentlich», sagte<br />

Georg «wäre das Wetter geeignet, um nach draussen zu gehen.<br />

«Aber», – zögerte er. «Eine kleine Frage hätte ich aber vorher.<br />

Habe ich Ähnlichkeiten mit dem Vormund?» Er duckte sich in<br />

Richtung Sabine und grinste spitzbübisch. «Aber Georg! Du hast<br />

eine ausgezeichnete Fantasie.» Sabine gab sich beschämt für ihn.<br />

Auch Julia lächelte. «Damals, als meine Mutter, also deine<br />

Grossmutter, noch lebte, war dein Vormund häufiger hier als<br />

später. Meistens kam er am Sonntagabend. Bei der Gelegenheit<br />

gab er ihr Geld mit den Worten: ‹Das kommt von der Vormundschaft!›<br />

Er müsse dafür sorgen, dass das Kind zu seinen<br />

Rechten käme, hatte er wiederholt verkündet.»<br />

52…<br />

53…


«Inzwischen sind so viele Dinge passiert», fuhr Julia fort. Georg<br />

kam in die Schule, hat sie mit Erfolg abgeschlossen, dann kam<br />

er in die Lehre, hat Maschinenzeichner gelernt. Weil er als Bester<br />

abgeschlossen hat, hat ihm der Direktor angeboten, noch eine<br />

Lehre anzuhängen. Er hatte gleicht zugesagt, denn er war immer<br />

ein exzellenter Schüler gewesen. Vielleicht weisst du, dass<br />

Georg anschliessend noch Kaufmann gelernt hat. Er war immer<br />

gerne zur Schule gegangen. Denken sei ohnehin sein liebstes<br />

Fach, hatte er manchmal aus Spass gesagt. Noch bevor er die<br />

zweite Lehre beendet hatte, ist meine Mutter gestorben. Seitdem<br />

leben Georg und ich alleine. Bald nach seinem zweiten<br />

Lehrabschluss konnte er bereits Verantwortung übernehmen.<br />

Dort hat Georg zufällig erfahren, wer sein Vater ist, wie er mir<br />

dann erzählt hat. Er hatte ein Gespräch zwischen dem Direktor<br />

und Herrn Müller mitbekommen. Sabine, Sie müssen wissen,<br />

dass Georgs Vater immer stolz auf ihn gewesen war, obwohl er<br />

ihm die Vaterschaft verschwiegen hatte. Es kommt dazu, dass er<br />

selber drei Töchter hatte und Georg dann eben… ja, Sie wissen,<br />

was ich meine. Auf alle Fälle hatte er sich für ihn im Betrieb stark<br />

gemacht, was ja nicht schwierig war. Georg war und ist halt sehr<br />

tüchtig. Ich bin auch sehr stolz auf ihn.»<br />

«Soll ich von früher weiter erzählen?» fragte Julia. Sie hatte Kaffee<br />

nachgeschenkt. «Sabine, wenn sie noch ein Stück Gugelhupf<br />

möchten …; von Georg weiss ich, dass er ja sagt.» Sie lächelte.<br />

Julia hatte zwei aufmerksame Zuhörer gefunden. «Wo bin ich<br />

stehengeblieben? Ach, ja! Georg hatte sich gut entwickelt. Zwar<br />

war er körperlich nicht sehr stark, im Kopf war er aber sehr rege.<br />

Er war – wie man so sagt – ein aufgewecktes Kind. Anlässlich<br />

eines jeden Besuches hatte ich dem Vormund schwören müssen,<br />

den Kindsvater nicht zu verraten; er las dies auch von meinen<br />

Augen ab, wenn wir die Worte unterdrücken mussten. Ansonsten<br />

würde die finanzielle Unterstützung gestrichen, war der jeweilige<br />

Nachsatz. Zudem müsste ich dann, samt Kind, vom Dorf<br />

wegziehen. Diese Drohungen waren tief in mein Herz gebrannt<br />

worden und sie haben Narben hinterlassen.»<br />

Plötzlich hielt Julia in ihrer Erzählung inne. «Ihr könnt euch nicht<br />

vorstellen, welche Angst ich all’ die Jahre ausgestanden habe.<br />

Ich war mir nie sicher gewesen, ob mir mein Sohn weggenommen<br />

würde. Er ist doch mein Ein und Alles. Was hätte ich denn<br />

ohne ihn gemacht? Die Frage, die ich so gefürchtet habe, hat<br />

Georg mir gestellt, als er etwa sechs Jahre alt war.»<br />

«Was haben Sie ihm geantwortet», fragte Sabine schnell. «Sein<br />

Vater werde ihm das selber sagen, er solle sich gedulden. Später<br />

habe ich ihm dann erklärt, dass ich auf ihn und auf meine<br />

Mutter schwören musste, den Vater nicht preiszugeben. Immer,<br />

wenn ich ihn nach dem Zeitpunkt gefragt habe, ist er ausgewichen.<br />

Es werde ein ganz besonderer Moment kommen. Dann<br />

werde er vor die Leute treten und ihnen lauthals verkünden,<br />

dass er Georgs Vater und – dass er sehr stolz auf ihn sei – schon<br />

immer stolz auf ihn gewesen sei, hatte er dann mit starker Stimme<br />

gesagt.»<br />

Dann mischte sich Georg ein: «Auf diese Offenbarung habe ich<br />

lange gewartet. Stell dir das mal vor, Sabine. Und nur zufällig<br />

habe ich die Wahrheit erfahren. Weil die Türe leicht offenstand,<br />

habe ich gehört, wie Herr Müller zum Direktor gesagt hat, dass<br />

er ihm seinen Sohn anvertraue – seinen einzigen Sohn – und<br />

dass er sehr stolz auf ihn sei.»<br />

54…<br />

55…


«Was hast du dann gemacht?», wollte Sabine wissen. «Ich habe<br />

die Türe aufgestossen und bin auf der Schwelle stehen geblieben.<br />

Worte hatte ich keine. Es war so komisch. Der Vater, den<br />

man mir Jahre lang vorenthalten hatte, stand plötzlich vor mir.<br />

Ich wollte es nicht glauben – obwohl ich es geahnt hatte. Denn<br />

ich erinnerte mich noch an diesen speziellen Sonntagabend.»<br />

«Auch meine Mutter», übernahm Julia das Wort, «hatte immer<br />

wieder nach dem Kindsvater gefragt. «Eines Sonntags hatte<br />

sie Herrn Müller mit den Worten provoziert: ‹Sie sind Georgs<br />

Vater!› Sie hatte nicht gefragt, sie hatte es einfach behauptet.<br />

Ich weiss noch, wie verdattert Herr Müller gewesen war, was er<br />

für grosse Augen gemacht hatte. Dann hatte ihm meine Mutter<br />

noch gesagt, dass ich ihr nie erzählt hätte, wie er zu mir ins<br />

Zimmer geschlichen sei.»<br />

dass der Vormund, also dieser Herr Müller, ein ziemlich wichtiges<br />

Verdienst an deinem Leben hat? Eine Beziehung zwischen<br />

Vater und Sohn kann zur genialen Verbindung werden. Auch<br />

wenn es Begebenheiten gibt, die der Sohn nicht akzeptieren<br />

kann. Toleranz ist dir angeboren und den Respekt vor Herrn<br />

Müller hattest du ja schon immer! Einen gebührenden Platz in<br />

euren Herzen solltet ihr euch gegenseitig einräumen! Besser<br />

spät, als nie!»<br />

«Herr Müller hatte sich auf dem Absatz umgedreht und das<br />

Haus verlassen. Als er vor der Haustüre stand, hatte er sich<br />

noch umgedreht und sehr laut gesagt: ‹Diese Behauptung wird<br />

ein Nachspiel haben. Es wird Sie noch reuen, so etwas zu behaupten!›»<br />

Dass Sabine und Georg sich schon seit einer Weile an der Hand<br />

hielten, gefiel Julia. Mit grosser Befriedigung hatte sie die Entwicklung<br />

in ihrer Stube wahrgenommen. Sie war dabei, den<br />

Raum zu verlassen. Just in dem Moment hatte der letzte Sonnenstrahl<br />

der Nachmittagssonne die Stube vereinnahmt.<br />

Dann, wie von der Tarantel gestochen, sprang Sabine auf, stellte<br />

sich ans Fenster, schaute ein paar Sekunden hinaus und<br />

drehte sich abrupt um. «Du, sag mal Georg; findest du nicht,<br />

56…<br />

57…


HEIMKEHR<br />

«Rote Wolken am Himmel, in den Bergen der Schnee, und ich<br />

freu’ mich und …», «Sing weiter; du singst doch so schön!»,<br />

sagte der Mann zum Kind und lief mit ihm weiter. Er hielt es<br />

an der Hand, liess sich vom Gesang des Kindes ablenken. Die<br />

Wolken waren heute tatsächlich rot und in den Bergen lag noch<br />

Schnee. Die beiden liefen im Takt des Liedes die Strasse entlang.<br />

«Und ich freu’ mich und ich freu’ mich, dass das Leben<br />

so schön!», sang das Kind weiter. «Wie geht das Lied weiter?»,<br />

fragte es dann mit einem Blick nach oben.<br />

«Wir werden heute Abend deinen grossen Bruder fragen, wie<br />

das Lied weitergeht. Er wird es dir sagen und dich am Klavier<br />

begleiten.» Es war, als ob der Mann eine Entschuldigung für etwas<br />

suchen müsste. Er wusste, dass er eben geschummelt hatte.<br />

Wenn der Plan aufging, würde heute Abend der grosse Bruder<br />

das Kind nicht am Klavier begleiten können. «Es wird nicht mehr<br />

lange dauern, dann sind wir da. Das Haus ist nicht mehr weit<br />

weg, ein paar Schritte müssen wir schon noch machen.»<br />

«Papa! Ich freue mich auf den Besuch bei Tante Sofie. Bestimmt<br />

ist das eine liebe Tante», war das Kind überzeugt. Der Mann<br />

schwieg, nahm das Kind fester an die Hand. «Du weisst doch,<br />

dass Tante Sofie nicht deine Tante ist.» «Ja, eigentlich weiss ich<br />

das schon», murrte die Kleine, aber…»<br />

Der Mann hatte übersehen, dass er zu grosse Schritte nahm. Der<br />

heutige Tag war nicht gerade sein liebster. Er merkte, wie das<br />

58…<br />

59…


Kind an seiner Hand schwerer wurde. «Bist du müde, Melanie?»<br />

Er schaute zum Kind. «Soll ich dich tragen?» «Aber nicht doch»,<br />

kam des Mädchens Antwort. «Ich bin doch schon 6 Jahre alt.»<br />

«Stimmt», erwiderte er, «wie schnell die Zeit vergeht.»<br />

«Wie schnell vergeht denn die Zeit?», wollte das aufgeweckte<br />

Kind wissen. «Ach!» Ein Seufzer wurde hörbar. «Es ist etwas<br />

weniger als fünf Jahre her, da habe ich dich diese Strasse hoch<br />

in mein Haus getragen und heute läufst du selber diesen Weg.<br />

So schnell vergeht die Zeit! Aber, das verstehst du nicht», erklärte<br />

er dem Kind. «Papa, was verstehe ich nicht?» «Es ist alles<br />

so kompliziert. Komm, wir sind gleich da. Dann kannst du mit<br />

Tante Sofies … Nein, dann kannst du mit den Kindern spielen.<br />

Peterchen wartet bestimmt schon auf dich.»<br />

Das weisse Haus leuchtete regelrecht in der Sonne, Bäume standen<br />

Spalier; die Blumen im Garten setzten bunte Farbtupfer.<br />

«Schau mal, Melanie!» Papa zeigte mit dem Zeigefinger. «Das<br />

weisse Haus neben dem braunen Haus, das ist dein Haus. Das<br />

ist euer Haus. Dort wohnen deine Eltern.» «Papa, du machst<br />

Spass.» Das Mädchen lachte. «Meine Eltern wohnen nicht dort.<br />

Ich wohne dort, wo du wohnst, und wir beide wohnen dort, wo<br />

meine grossen Brüder und Mama wohnen. Ich will, dass das so<br />

ist», fügte das Mädchen trotzig hinzu.<br />

Eine leichte Brise wehte. «Warum ist es heute so kalt?», fragte<br />

sich der Mann, Melanies Pflegevater. «Weisst du, Melanie, ich<br />

bin nur dein Pflegevater und Mama ist nur deine Pflegemutter.<br />

Aber, das ist wieder so kompliziert. Es kommt ab und zu mal vor,<br />

dass ein Kind bei verwandten Leuten aufwächst. Das geschieht<br />

zum Beispiel, wenn eine Familie mehrere Kinder hat und die<br />

Mutter der Kinder krank wird. Dann gibt sie ein Kind für eine<br />

Weile in eine andere Familie. So ähnlich ist es bei dir.»<br />

Das Mädchen begann leise zu weinen. «Nicht doch, Melanie!»<br />

Dabei spürte Papa einen Kloss im Hals. Schon standen sie vor<br />

der Haustüre. «Willst du klingeln oder soll ich das machen?»,<br />

fragte Papa. Melanie legte beide Hände auf ihren Rücken. Dann<br />

klingelte Papa. Ein Knabe, kaum älter als Melanie, öffnete die<br />

Tür und schrie: «Mutter, Mutter! Melanie ist gekommen!»<br />

• • •<br />

Die Kinder verschwanden in Peterchens Zimmer; die Türe<br />

fiel hinter ihnen ins Schloss. Sie wollten den Bauernhof aus<br />

Holzklötzchen aufstellen. Das war gut so. Es war ja alles im<br />

Vorfeld geplant worden. Tante Sofie und Melanies Pflegevater<br />

waren nach draussen in den Garten gegangen, dort<br />

spazierten sie den Rabatten entlang. Der Mann betrachtete<br />

hier und dort eine Blume etwas näher, als ob sie ihn interessieren<br />

würde.<br />

«Willst du oder soll ich es ihr sagen?», begann Sofie das Gespräch.<br />

«Ganz klar! Ich werde es Melanie sagen.» Ein Leuchten<br />

begleitete ihren Blick in Richtung des Mannes. War das ein<br />

Siegesblick? Eine emotionale Rivalität begleitete sie deshalb<br />

schon länger. «Ich hoffe sehr, dass ich Melanie überzeugen kann,<br />

dass ich ihre Mutter bin und sie wie meine anderen Kinder bei<br />

mir haben will. Auf diesen Moment warte ich sei fünf Jahren.<br />

Sie weiss es doch seit je her. Oder, hoffentlich hast du Melanie<br />

60…<br />

61…


immer gesagt, dass wir ihre richtigen Eltern sind.» Sofies Worte<br />

klangen sehr bestimmt.<br />

«Die Kleider habe ich noch nicht mitgebracht; ich wollte zuerst<br />

sicher sein, dass sie hier bleibt», entschuldigte sich der Mann.<br />

«Sag mal Roland, spielst du mit mir? Ich bin wieder gesund und<br />

zwar nicht erst seit heute und ich kann mich um meine Kinder<br />

jetzt wieder selber kümmern. Dass du und deine Frau mir in<br />

dieser schwierigen Zeit die Kleine abgenommen habt, dafür bin<br />

ich euch sehr dankbar und ich werde es immer sein. In einer<br />

halben Stunde kommt Toni nach Hause. Heute Morgen hat er<br />

gesagt, wie sehr er sich darauf freue, am Abend seine Melanie<br />

in die Arme nehmen zu können und vor allem, sie in der Nacht<br />

in seinem eigenen Haus zu wissen. Wir lassen die Kinder noch<br />

eine Weile spielen. Nach dem Essen, wenn Toni zu Hause ist,<br />

werden wir ihr sagen, dass sie jetzt hier bleibt.»<br />

Während sie so sprach, war Sofie zwischen zwei Rosenstöcken<br />

stehen geblieben. Ihre Überzeugung und Durchsetzungskraft<br />

hatte sie jetzt klar bekundet. Es gab kein Zurück mehr. Es war<br />

längst an der Zeit, dass sie ihr Kind zurückbekam. Nur eben,<br />

ihre Schwester und ihr Schwager samt Familie hatten etwas dagegen.<br />

Immer hatten Ausreden in der Luft gehangen. Diesmal<br />

sollte das Kind zurückkommen – für immer.<br />

Melanie hatte sich in der Familie ihres Onkels wunderbar eingelebt.<br />

Die grossen Brüder – wie Melanie sie nannte – hatten<br />

an der Kleinen ihre helle Freude. Sie hatten mit ihren Eltern vereinbart,<br />

das Kind, wenn irgendwie möglich zu behalten. Die Eltern<br />

waren so weit einverstanden gewesen. Aber die Mutter des<br />

Kindes pochte seit Wochen auf die Rückkehr ihrer Tochter. Dass<br />

es sich in seiner richtigen Familie nicht zu Hause fühlen würde,<br />

wie ihre Schwester angeführt hatte, hatte von der Kindsmutter<br />

als Argument nie gegolten.<br />

Der Mann, Melanies Onkel und Pflegevater, und Melanies Mutter<br />

gingen zurück ins Haus. Es war Teezeit. Die Mutter hatte<br />

einen Kuchen gebacken – zur Feier des Tages. Der Tag sollte<br />

gebührend gefeiert werden. Sobald Toni von der Arbeit käme,<br />

würde aufgetischt, was Minuten später auch geschah.<br />

Am Tisch herrschte betretenes Schweigen. Nur die Kinder<br />

schäkerten und lachten miteinander. Peterchen und Melanie<br />

sassen nebeneinander. «Das ist meine Schwester», bekundete<br />

er lauthals, indem er auf Melanie zeigte. Der beste Moment<br />

schien damit gekommen. «Melanie!», begann die Mutter.<br />

«Wie schön, dass ihr euch lieb habt und so gut versteht. Wir,<br />

Vater, ich und die anderen Kinder haben dich auch lieb, sehr<br />

lieb. Du kannst jetzt hier bei uns bleiben, hier ist dein richtiges<br />

Zuhause. Du wirst es hier sehr schön haben und du bist bei<br />

deiner richtigen Familie.»<br />

Melanies Augen verloren das Leuchten. Ihr Blick ging hilfesuchend<br />

zu Papa, der eigentlich ihr Onkel war. «Hier bleiben? Nein, ich will<br />

nicht hier bleiben. Ich gehe doch mit Papa nachher nach Hause.<br />

Mama und meine Brüder warten auf uns. Mein grosser Bruder will<br />

mir heute Abend am Klavier mein Lied spielen. Ich werde dann<br />

singen.» Die Stimme des Mädchens begann zu zittern.<br />

«Hör mal, Melanie», ergriff Toni, Melanies leiblicher Vater, das<br />

Wort. «Tante Sofie ist deine richtige Mutter und ich bin dein<br />

richtiger Vater. Als Mutter sehr krank war, hat dich dein Onkel<br />

62…<br />

63…


Roland zu sich geholt. Das sind jetzt schon fünf Jahre her. Und<br />

jetzt ist Mutter wieder gesund und wir möchten eine komplette<br />

Familie sein. Deine Geschwister, Mutter und ich, wir haben<br />

dich immer sehr vermisst. Du hast auch bei uns ein eigenes<br />

Zimmer. Peterchen kann es dir zeigen. Wir haben es schön<br />

hergerichtet.»<br />

Dicke Tränen kullerten aus Melanies Augen und über ihre erhitzten<br />

Bäckchen. Es senkte den Kopf; wollte seine Tränen verstecken.<br />

Nach einer bedrückenden Weile hob Melanie den Kopf<br />

in Richtung Pflegevater: «Papa, bitte komm, wir gehen jetzt<br />

nach Hause», flehte es mit erstarkter Stimme. «Mama wartet<br />

bestimmt schon auf uns!»<br />

Die flehenden Augen Melanies hatten den Onkel überzeugt.<br />

Papa erhob sich ruckartig vom Stuhl. «Tja! Der langen Rede kurzer<br />

Sinn, ich werde wohl das Kind mit mir zurücknehmen. Dass<br />

es mir leid tut, kann ich nicht behaupten. Der richtige Zeitpunkt<br />

ist noch nicht gekommen. Melanie, bedanke dich bei Tante Sofie<br />

und Onkel T… Nein, bedanke dich bei deinen Eltern und verabschiede<br />

dich. Wir werden bestimmt schon erwartet.»<br />

• • •<br />

Drei Jahre später: «Melanie, Melanie!» Das Mädchen drehte<br />

sich um, das musste doch Peterchens Stimme sein. «Warte doch<br />

auf mich, Melanie! Ich muss dir etwas sagen!» Melanie wartete<br />

am Ausgang der Schule. Was ihr Peterchen wohl sagen wollte?<br />

Der Knabe hatte Melanie eingeholt und ergriff sie am Arm.<br />

«Hör mal, Melanie!», begann Peter. «Du gehörst zu uns, nicht<br />

zu Onkel Roland. Du bist doch meine Schwester und ich<br />

möchte, dass du bei uns wohnst. Bei uns, dort, wo dein richtiges<br />

Zuhause ist.»<br />

Melanie war erstaunt, schaute Peterchen an, ob er das wirklich<br />

so meinte und lispelte: «Wenn du meinst. Dann werde ich das<br />

Mama und Papa sagen, dann komme ich morgen zu dir nach<br />

Hause.» «Super!», rief Peterchen. «Juhu! Wenn ich das heute<br />

Abend meiner Mutter sage.» Er hüpfte und sprang davon und<br />

rief. «Melanie kommt, Melanie kommt!»<br />

• • •<br />

«Guten Appetit!», begann Papa. «Guten Appetit!», kam das<br />

Echo zurück. Einer der beiden grossen Brüder war nicht am<br />

Tisch. Trotzdem wollte Melanie der Familie eröffnen, was sie<br />

vorhatte. Niemand sprach, nur Messer und Gabel gaben sich<br />

dem gewohnten Dialog hin, bis Melanie zu sprechen begann.<br />

«Ich werde nach Hause gehen!», sprudelte es aus dem Kind.<br />

«Ich werde morgen nach Hause gehen, dorthin wo meine richtigen<br />

Eltern sind. Peterchen hat mir gesagt, dass ich seine<br />

Schwester bin. Und – Peterchen ist nach meinen grossen Brüdern<br />

mein Lieblingsbruder.»<br />

Melanies Pflegeeltern schauten sich erschrocken und wortlos<br />

an. Nach einer kleinen Ewigkeit ergriff Papa das Wort. «Wenn<br />

du meinst, dass du nach Hause gehen willst, dann packen wir<br />

64…<br />

65…


deinen Koffer.» Melanie kam Papas Stimme eigenartig vor.<br />

«Papa, bist du erkältet», wollte das Mädchen wissen. Mama<br />

war aufgestanden und hatte den Raum verlassen.<br />

An diesem Abend sprach beinahe niemand mehr, was Melanie<br />

auffiel. «Dann wollen wir jetzt zu Bett gehen; morgen werden<br />

wir deinen Koffer packen», sagte Papa und verliess ebenfalls den<br />

Raum. Melanie bemerkte, dass die Teller auf dem Tisch stehen<br />

geblieben waren: «Wie komisch! Was hat denn Mama heute?<br />

Die lässt doch nie die Teller auf dem Tisch stehen!»<br />

• • •<br />

Die Turmuhr schlug siebenmal. «Klingelst du oder soll ich klingeln?»,<br />

fragte Papa. Diese Frage kam ihm bekannt vor. Den<br />

Koffer hatte er vor der Haustüre von Melanies Eltern abgestellt.<br />

«Ich klingle!», antwortete Melanie übermütig. Mama öffnete<br />

die Türe. «Da bist du ja!», rief sie und hob Melanie – immerhin<br />

schon neun Jahre alt – zu sich empor. Sie herzte das Kind mit<br />

Tränen in den Augen. Melanie sah nicht, dass auch die Augen<br />

von Papa Roland feucht waren. «Gut! Dann übergebe ich dir<br />

jetzt auch den Koffer, den ich ja diesmal dabei habe», meinte<br />

Papa Roland, drehte sich um und ging weg.<br />

Melanie war schon im Innern des Hauses verschwunden. Peterchen,<br />

der nicht mehr so genannt werden wollte, hatte sie an<br />

die Hand genommen und war mit ihr in ihr Zimmer gelaufen.<br />

Dort stand ein Blumenstrauss auf dem Tischchen an der Wand.<br />

Deckbett und Kissen waren bunt bezogen, das Fenster stand<br />

weit offen. «Das ist dein Zimmer», keuchte er vor Aufregung.<br />

«Gefällt es dir?» «Ja, ja. Es ist sehr schön», versuchte Melanie<br />

ihren Bruder zu überzeugen.<br />

«Es ist Zeit aufzustehen!», vernahm Melanie Mutters Stimme<br />

am Morgen. Schon klopfte sie an ihre Türe und öffnete. «Guten<br />

Morgen, Melanie. Hast du gut geschlafen?» Mutter bekam<br />

keine Antwort. Sie trat an Melanies Bett und setzte sich auf die<br />

Bettkante. «Guten Morgen, mein Mädchen. Wie schön, dass du<br />

jetzt zu Hause bist.» Noch immer war keine Reaktion von ihrer<br />

Tochter gekommen. Dann streichelte sie Melanie über den Kopf.<br />

«Oh!», du hast eine heisse Stirn. Bist du krank?»<br />

Mutter ging zurück in die Küche, setzte sich auf einen Stuhl und<br />

liess ihrem unguten Gefühl freien Lauf. «Was haben wir denn<br />

falsch gemacht?» Diese Frage würde sie sich später mehrmals<br />

wiederholen. Bestimmt hatte die Kleine Fieber. Dann nahm sie<br />

ein Tuch und Essig mit in Melanies Zimmer. Damit würde sie ihr<br />

Wadenwickel machen. Vielleicht war es nur eine kleine Grippe.<br />

Allerdings war das Thermometer fast auf 39 Grad gestiegen.<br />

«Hoffentlich wird sich das Fieber bald senken», murmelte sie.<br />

Morgen würde Melanie sicher wieder in die Schule gehen können.<br />

«Peter, Melanie hat Fieber und kommt heute nicht in die<br />

Schule. Kannst du das bitte ihrer Lehrerin ausrichten?» «Oh,<br />

schade!», murrte Peter und biss kräftig in sein Honigbrot.<br />

Im Verlaufe des Vormittags war das Fieber noch gestiegen.<br />

Melanies Mutter griff entschieden zum Telefon, um ärztlichen<br />

Rat einzuholen. Nach der genauen Schilderung der Situation<br />

beschloss ihr Hausarzt, nach Praxisschluss, beim Kind einen<br />

Krankenbesuch zu machen.<br />

66…<br />

67…


«Das Kind macht einen schweren Fieberschub, dessen Ursache<br />

ich nicht kenne. Es scheint keinerlei Entzündung im Mund – oder<br />

Rachenraum zu haben. Auch sonst kann ich keinerlei Symptome<br />

erkennen, was das Fieber erklären würde», klärte der Arzt auf.<br />

«Ich gebe Ihnen Fieberzäpfchen. Wenn das Kind morgen noch<br />

so hohes Fieber hat, muss ich es ins Krankenhaus zur Abklärung<br />

einweisen lassen.»<br />

Als Peter am nächsten Mittag von der Schule kam, war Melanie<br />

noch kränker gewesen. «Was hat sie denn?», fragte er seine<br />

Mutter. «Der Arzt konnte gestern Abend nichts feststellen.<br />

Wenn es nicht besser wird, müssen wir Melanie ins Krankenhaus<br />

bringen.»<br />

Roland und teilte ihm mit, dass er noch – am gleichen Abend<br />

– Melanie zurückbringen müsse. Was dann auch geschah.<br />

Am folgenden Tag wachte Melanie ihn ihrem Bett bei den Pflegeeltern<br />

auf. «Mama, Mama, komm mal. Ich muss dir meinen<br />

schlimmen Traum erzählen!», rief das Kind mit der bekannt fröhlichen<br />

Stimme. «Stell dir vor, ich habe geträumt, dass ich bei<br />

Tante Sofie und Onkel Toni gewohnt habe. Wie komisch das war.<br />

Ich habe die alle sehr lieb, aber ich will nicht dort wohnen! Oder,<br />

Mama?» «Ich denke auch, dass du hier richtig bist!», bejahte ihre<br />

Pflegemutter. «Nun bist du wieder heimgekehrt!»<br />

Peter schlich sich zu Melanie ins Zimmer, obwohl ihm die Mutter<br />

das verboten hatte. Melanie brauchte Ruhe und sollte schlafen<br />

können; Mutter hatte ihr wieder ein Fieberzäpfchen verabreicht.<br />

«Hei, Melanie, ich bin es», flüsterte Peter Melanie ins Ohr.<br />

«Hast du Bauchschmerzen?» «Ja», kam ganz leise von des<br />

Mädchens Lippen. «Papa, Mama und meine grossen Brüder<br />

sind in meinem Bauch. Das tut so schrecklich weh!» Dann war<br />

Peter zu seinen Eltern gelaufen. «Vater, Mutter! Melanie sagt,<br />

dass Papa Roland, Mama Irma und ihre grossen Brüder sie im<br />

Bauch schmerzen.»<br />

Die Blicke von Mutter Melanie und Vater Toni hatten sich gekreuzt.<br />

«Danke, Peter, wahrscheinlich hast du die richtige Diagnose<br />

gestellt. Melanie hat Heimweh, das ist es.» Er ging entschlossen<br />

zum Telefon, wählte die Nummer von seinem Schwager<br />

68…<br />

69…


DER MANN MIT DER<br />

BRAUNEN MAPPE<br />

In den nächsten Tagen sollte er wieder ins Dorf kommen. Am<br />

Bahnhof würde er den Jeep besteigen, um den Fussmarsch zu<br />

vermeiden. Von dieser Ankunft sprach nicht nur der Fahrer; das<br />

ganze Dorf erwartete den Mann. Sein Besuch brachte Bewegung,<br />

wohl eher Aufruhr, obwohl der Mann mit den Dorfbewohnern<br />

kaum oder gar nicht in Kontakt kam. Einmal pro Jahr<br />

kam er – schon seit ein paar Jahren – immer mit der braunen<br />

Mappe in der linken Hand.<br />

Jeweils in den ersten Septembertagen, zur Zeit der Reife der frühen<br />

Birnen und Äpfel fand dieses Ereignis statt. Dann waren die<br />

Leute bei der Ernte. Von einem Feld und oder Acker zum andern<br />

baute sich Spannung auf. Diejenigen, welche ihren Acker in der<br />

Nähe oder oberhalb der Strasse besassen, waren im Vorteil. Von<br />

dort liess sich das Geschehen prima kontrollieren.<br />

«Ist er noch nicht gekommen?», fragten sich Frauen schon am<br />

ersten Septembertag – von Fenster zu Fenster. Die Neugier verursachte<br />

regelrechte Metastasen. Ob er wohl kam wie immer?<br />

Diese noblen Kleider und dann immer diese braune Mappe!<br />

Darin musste sich ein Vermögen befinden. Wenn er das ganze<br />

Jahr über weg war, würde er jetzt seiner Olivia viel Geld mitbringen<br />

– wenn denn in der Mappe überhaupt wirklich Geld war.<br />

«Diebesgut vielleicht?» Barbaras Stimme war leiser geworden,<br />

da sie diesen Verdacht schon mal geäussert hatte.<br />

Die Strasse war staubig; das war sie immer. Schuld war die trockene<br />

Luft. Es fiel zu selten Regen, zum Leidwesen der Leute<br />

und der Natur. Die Menschen waren von dieser Strasse abhängig,<br />

die Verbindung zum Bahnhof. Dieser Bahnhof ermöglichte<br />

den Menschen kleine Reisen in die Umgebung, in die Kleinstadt<br />

oder auch weiter weg in die Fremde, wie sie das nannten.<br />

Mehrmals die Woche fuhr ein Jeep diese Strasse hoch. Er brachte<br />

den kleinen Lebensmittelläden die bestellten Waren, die per<br />

Eisenbahn angeliefert worden waren. «Franko Domizil!», sagte<br />

der Fahrer jeweils bei der Übergabe der Ware und des Lieferscheins<br />

und wiederholte: «Franko Domizil!», ohne das Reststück<br />

einer Billigzigarre aus dem Mund zu nehmen. Dieses Stück hing<br />

immer im linken Mundwinkel. Nicht selten verursachte es ein<br />

braunes Rinnsal auf dem Kinn.<br />

Dann bekam er aus der Schubladenkasse den geforderten Betrag.<br />

Am Bahnhof hatte er die Bahntransportkosten beim Empfang<br />

der Ware im Voraus bezahlen müssen. Sobald sein Konto<br />

ausgeglichen war, verliess er den ersten Dorfladen, um im zweiten<br />

Dorfladen die Ware abzuliefern und die Kosten für seine<br />

Dienstleistung einzutreiben.<br />

Wenn der Jeep – das beinahe ausrangierte Armeefahrzeug – die<br />

Strasse hoch fuhr, war er weiss vom Staub. Weiss waren auch die<br />

Kinder, welche mit Murmeln auf der trockenen Erde spielten. Dort<br />

kauerten und knieten sie in ihr Spiel vertieft, bis der Jeep – das<br />

einzige Fahrzeug im Dorf – die Kinder von der Strasse verscheuchte.<br />

Hier und dort hustete ein Kind, weil Staub seine Lunge belastete.<br />

Ein Kind unter ihnen hustete schon seit Tagen. «Du hast wieder<br />

70…<br />

71…


im kalten Wasser gespielt!», behauptete seine Mutter, wenn<br />

der Löffel Holunder – oder Tannenspitzensirup den Husten nicht<br />

zu stillen vermochte, den sie ihm als Medizin verabreicht hatte.<br />

«Heute Abend werde ich dir einen Polenta-Wickel machen und<br />

im Dorbrunnen spielst du nicht mehr, basta!»<br />

Es kam oft vor, dass der Jeep Personen vom Bahnhof herauf mitbrachte.<br />

«Personentransport!», nannte das der Fahrer. Ein Mitfahrer<br />

fand Platz neben ihm, die anderen installierten sich auf<br />

der Ladefläche auf Kisten und Paketen. Dabei lasen sie gerne die<br />

Absender, was zu eigenartigen Mutmassungen führte. Ihre Neugier<br />

liess sie vergessen, dass sie auf ihre Kleider aufpassen sollten.<br />

Dementsprechend sahen sie dann bei ihrer Ankunft im Dorf aus.<br />

Für die Kinder des Dorfes war deshalb nicht nur die Ankunft<br />

des Jeeps ein Ereignis. Die Leute, die dem Jeep entstiegen, waren<br />

mit dem Zug in eine grössere Agglomeration gefahren. Gut<br />

gelaunt kehrten sie am Abend nach Hause zurück; wenn dem<br />

Ausflug nicht gerade ein schmerzhafter Besuch beim Zahnarzt<br />

zu Grunde gelegen hatte. Meistens waren diese Menschen um<br />

ein interessantes Erlebnis reicher. Ein bisschen städtische Luft<br />

schnuppern, das tat ihnen gut; eine willkommene Abwechslung<br />

vom eintönigen Dorfleben.<br />

Im Dorf kannte jeder jeden. Wer sich ausserhalb des Dorfes oder<br />

gar in der Fremde aufhielt oder demnächst wegging, blieb selten<br />

ein Geheimnis. Alles wurde zum Tagesgespräch. Jede noch<br />

so kleine Veränderung ging wie ein Lauffeuer von Haus zu Haus.<br />

«Hast du schon gehört?», tuschelten die Frauen vor dem Dorfladen.<br />

«Aber, ich will dann nichts gesagt haben!», schlossen<br />

sie jeweils ihre Vermutung.<br />

So richtig Aufruhr kam ins Dorf, wenn der Jeep einen fremden<br />

Menschen mitbrachte. Das konnte ein Vertreter sein, der in den<br />

kleinen Dorfläden seine Angebote feilhielt. Nach Saisonende kamen<br />

auch Dorfbewohner zurück, welche in der Fremde ihr Geld<br />

verdienen konnten. Das war besonders spannend. Die Rückkehrer<br />

trugen andere Kleider. «Solche Kleider trägt man nur in<br />

der Stadt!», wusste Adelheid. Sie wusste ohnehin immer alles.<br />

Wenn etwa eine junge Frau nach der Sommersaison in einem<br />

Gastbetrieb nach Hause kam, war ihr Rock kürzer, als er noch vor<br />

ihrer Abreise gewesen war. So ein kurzer Rock veranlasste schon<br />

mal einen Mann dazu, der jungen Frau ein bisschen länger nachzuschauen.<br />

Seine Frau Gemahlin, die genau in dem Moment aus<br />

der Tür trat, war darüber nicht begeistert und schimpfte: «Diese<br />

72…<br />

73…


jungen Dinger, die sich nicht anständig kleiden, bringen unsere<br />

Männer auf dumme Gedanken!» Nach der kurzen Verurteilung<br />

dieser jungen Frauen verteidigte sich der Mann: «Ich habe mir<br />

doch nur Sorgen gemacht, dass sie sich erkälten könnte.»<br />

Der Fahrer mit dem Stück Billigstumpen im Mundwinkel fuhr<br />

immer schneller durchs Dorf, wenn eine Person sein Angebot,<br />

mitzufahren, abgelehnt hatte. Ihm war eine zusätzliche Einnahme<br />

entgangen. Das kam ab und zu mal vor. Nicht alle wollten<br />

auf dem alten Jeep mitgenommen werden; die Sonntagskleider<br />

waren ihnen halt doch zu schade.<br />

Die Sonne war im Begriff unterzugehen, als der erwartete Mann<br />

mit Hut, Stock und noblem Anzug im Dorf ankam – zu Fuss.<br />

Seine Schuhe waren weiss vom Staub, die braune Mappe trug<br />

er in der linken Hand – wie jedes Jahr – weil die rechte den<br />

Gehstock führen musste.<br />

Einen Anzug mit Hemd und Krawatte trugen die Männer im Dorf<br />

bei Hochzeiten, Beerdigungen oder kirchlichen Hochfesten. Aber<br />

doch nicht einfach so während der Woche und das ohne ersichtlichen<br />

Grund! An diesem Mann haftete Geheimnisvolles. Bis<br />

heute hatte im Dorf niemand dieses Geheimnis lüften können.<br />

«Geizkragen!», hatte der Fahrer geschimpft, als der Mann<br />

mit dem Zug am Nachmittag angekommen war und den Jeep<br />

nicht bestiegen hatte. «Du elender Geizkragen. Hast doch deine<br />

braune Mappe voller Geld, aber du gönnst dir nicht mal<br />

die Fahrt ins Dorf. Für zwei Franken würde ich dich mitnehmen!»,<br />

hatte er gewettert, sich umgedreht und geflüstert: «Du<br />

Krüppel, du!»<br />

Mit einer kurzen Handbewegung und einem freundlichen<br />

Kopfnicken hatte der Mann das Angebot, mit dem Jeep mitgenommen<br />

zu werden, dankend abgelehnt. Dann war er erhobenen<br />

Hauptes am Jeep vorbei in Richtung Dorf gelaufen,<br />

das eine Bein schwerfällig nachziehend. Sicher hatte er beweisen<br />

wollen, dass er trotz seines Handicaps und entgegen<br />

der allgemeinen Meinung, dass er ein Krüppel sei, ins Dorf<br />

gelangen konnte.<br />

Im Dorf angekommen trat er an den Dorfbrunnen, um sich zu<br />

erfrischen. Dort traf er auf Kinder, deren liebster Spielort der<br />

Brunnen war. Der Mann feuchtete die Hand an und kühlte sich<br />

die Stirn, dann versuchte er mit der hohlen Hand Wasser zu<br />

trinken, das ihm durch die Finger tröpfelte. So gab er seinen<br />

Stock einem Jungen: «Kannst du den mal kurz halten?», bat<br />

er den Knaben.<br />

«Wer bist du? Bist du Pan Tau?», fragte der Junge erstaunt und<br />

griff nach dem Stock. «Du siehst so komisch aus! Hast du heute<br />

Hochzeit?» Eiligst scharten sich mehrere Kinder um ihn.<br />

«Du liebe Güte, nein!», lachte der Mann. «Ich heisse Anton und<br />

ich komme aus der Stadt.» «Aus der Stadt?» «Ja, ich wohne<br />

in der Stadt, weit weg. Meine Frau ist die Olivia, die kennt ihr<br />

doch. Sie wohnt im kleinen Häuschen oberhalb der Mühle. Die<br />

Leute hier im Dorf nennen sie die fremde Olivia.»<br />

«Wie komisch!», rief Peter. «Du bist der Mann von der fremden<br />

Olivia! Die hat doch gar keinen Mann. Die schaut immer<br />

zum Fenster hinaus!» «Wer sagt denn, dass die Olivia keinen<br />

Mann hat?», wollte Anton wissen. «Meine Mutter!», kam<br />

74…<br />

75…


es zurück. «Und mein Vater hat gesagt, dass du immer eine<br />

Mappe voller Geld mitbringst, wenn du kommst», meinte der<br />

Junge, der noch immer den Stock in seiner Hand hielt. Dabei<br />

umfasste er mit beiden Händen den Stock. «Einen so schönen<br />

Stock habe ich noch nie gesehen! Ist der aus Eschenholz?»,<br />

wollte er wissen.<br />

«Wie heissen deine Eltern?», fragte Anton eine weitere Rotznase.<br />

«Hans und Fatima!», kam die prompte Antwort. «Hans und<br />

wie weiter?» «Meine Eltern heissen Hans und Fatima Müller»,<br />

klärte ihn Edi auf. «Ach so. Hans müsste der Sohn vom Paul<br />

sein und die Fatima? Die Fatima kenne ich nicht. Wie heisst<br />

denn ihr Vater, also dein Grossvater?», bohrte Anton weiter.<br />

«Mein Grossvater ist tot; er hat nicht hier gewohnt. Wenn wir<br />

zu ihm gefahren sind, war das sehr, sehr weit weg, das Land<br />

heisst Bosnien oder so.» «Ach so! Deine Mutter kommt aus<br />

Italien.» Anton verstand.<br />

«Peter, Anni, kommt sofort nach Hause! Edi, Susanne, ihr müsst<br />

bestimmt auch nach Hause gehen! Eure Eltern warten auf<br />

euch!», hörten die Kinder rufen. Anton kannte diese Situation;<br />

er hatte sie schon erlebt. Die Eltern duldeten keine Kinder in<br />

seiner Nähe, so, als ob er eine ansteckende Krankheit mit sich<br />

brächte. Sofort fühlte er diesen eigenartigen Schmerz wieder,<br />

den er jedes Mal empfand, wenn die Kinder von ihm fort gerufen<br />

wurden. Dieser Schmerz kam stark demjenigen gleich, den<br />

er von früher kannte.<br />

Missmutig trotteten die Kinder nach Hause. Sie hätten so gerne<br />

noch länger mit Anton geplaudert, vor allem hätten sie gerne<br />

mehr von ihm erfahren. Der Mann kam schliesslich aus einer<br />

Stadt, von dort, wo so viel Spannendes passierte, von dort, wo<br />

es Räuber und Gangster gab. Und – er hatte doch viel Geld<br />

mitgebracht! «Vielleicht bist du ein Zauberer!», hatte Edi beim<br />

Weglaufen noch zurückgerufen. «Du sieht doch so aus!»<br />

Die Neuigkeit über Antons Ankunft ging wie ein Lauffeuer<br />

durchs Dorf. Vieles sprach sich hinter der vorgehaltenen<br />

Hand der Erwachsenen herum. Dort wurde gemutmasst und<br />

getuschelt. Anton brachte Geld mit – in dieser braunen Mappe<br />

– das war das eine. Dann würde er sicher seinen Familienpflichten<br />

nachkommen; das war das andere. Dies falls –<br />

ja falls denn Olivia wirklich seine Frau war. Alle wussten es,<br />

niemand wollte darüber laut reden. Die gegenseitigen Blicke<br />

besagten alles.<br />

Die fremde Olivia hatte mal erzählt, dass Anton in einer Stadt<br />

leben würde. Ob das so stimmte, konnte niemand überprüfen.<br />

Wobei – der eine oder die andere hätte die Neugier beinahe<br />

dazu getrieben. Diese Geheimnistuerei wühlte die Leute jedes<br />

Jahr auf – regelmässig wiederkehrend mit dem Herbst. «Vielleicht<br />

meint Olivia mit der Grossstadt das Gefängnis!», hatte die<br />

Klara schon mal laut gemutmasst. «Aber, diese braune Mappe!»<br />

Die wollte nicht dazu passen, es sei denn…<br />

Auch für die Kinder war Anton, der wohl mit einem schönen<br />

Stock, aber eigenartigem Gang durchs Dorf nach Hause hinkte,<br />

ein komischer Fremder. Die Faltenhose verstand es gut, die<br />

Stützschiene am Bein zu verbergen. Ein Fuss steckte in einem<br />

Kinderschuh und war zusätzlich stark nach innen gebogen. Niemand<br />

im Dorf wusste, was es mit diesem Bein und dem Fuss auf<br />

sich hatte. Olivia war nie danach gefragt worden.<br />

76…<br />

77…


Olivia war auch nicht eine Frau, die sich mit den Frauen aus dem<br />

Dorf zusammentat, um über ihre Kinder oder über ihre Männer<br />

zu sprechen, schon gar nicht, um über die Ehemänner zu<br />

lästern. Nein, Antons Frau gesellte sich nicht zu ihnen. Sie ging<br />

ihre Wege, zum Einkaufen; lebte sehr zurückgezogen. Sehr oft<br />

stand sie am Fenster und schaute in die Ferne. Fast konnten die<br />

Leute ihre Gedanken lesen. Kinder hatte sie keine. Dass sie ab<br />

und zu ein neues Kleid trug, war aufgefallen. «Wahrscheinlich<br />

sind ihr die Kleider wichtiger als Kinder!», hatte Barbara auch<br />

schon in die Welt gesetzt.<br />

Selbst Olivias kleiner Garten war sonderbar. Er produzierte kein<br />

Gemüse, wie das in ausschliesslich allen anderen Gärten der<br />

Fall war, denn die meisten Dorfbewohner waren Selbstversorger.<br />

In Olivias Garten blühten Blumen; er war eine einzige Blumenpracht.<br />

Zu Olivias Vergnügen tummelten sich Schmetterlinge,<br />

Bienen, Hummeln und eine Vielzahl anderer Insekten<br />

auf den Blüten. Manchmal blätterte Olivia dort in einem Buch,<br />

betrachtete die Bilder, las etwas und beobachtete dann wieder<br />

das Insekt.<br />

«Ein Garten, in dem kein Gemüse wächst, ist doch kein richtiger<br />

Garten und schade ist es auch!», hatte sich ihre Nachbarin<br />

entrüstet. Die Bienen, ja, die wurden natürlich geduldet, aber<br />

Freude an den Hummeln und den anderen Insekten haben, das<br />

zeugte von einem wirren Kopf. Was keinen unverzüglichen Nutzen<br />

brachte, war unnötig, sinnlos.<br />

Olivia war von einem andern Ort, sogar aus einem andern Land<br />

gekommen und wurde nie in die Dorfgemeinschaft integriert.<br />

Das hatte sie immer geschmerzt. Deshalb hielt sie sich von der<br />

Gemeinschaft fern. Anton war vor Jahren mit ihr zusammen ins<br />

Dorf gekommen. Er hatte hier ein kleines Häuschen gefunden.<br />

Auch wusste niemand, ob er sie geheiratet hatte. Auch das gehörte<br />

zum grossen Geheimnis. Ohne Trauschein zusammenleben,<br />

das war ohnehin des Teufels.<br />

Bald nachdem Olivia und Anton das kleine Häuschen oberhalb<br />

der Mühle bezogen hatten, war Anton weggegangen; niemand<br />

hatte gewusst, wohin. Die Frau hatte er zurückgelassen. Zu fragen<br />

hatte sich niemand getraut. Auf alle Fälle sprach Olivia<br />

Schriftsprache mit einem starken Akzent. «Eine Fremde! Eine<br />

Ausländerin, wie schrecklich!»<br />

Nun war Anton wieder mal gekommen. Seine Ankunft glich<br />

dem Rhythmus von Weihnachten, worauf aber auch die Kinder<br />

warteten. Ein paar Frauen und Männer hatten sich am späteren<br />

Nachmittag – nach getaner Arbeit unter dem Lindenbaum<br />

eingefunden.<br />

Das kam dann vor, wenn die Arbeit verrichtet war und die Leute<br />

sich etwas Erholung von der strengen Arbeit gönnen konnten.<br />

«Ihr habt alle mitbekommen, dass er heute gekommen ist», begann<br />

Adelheid, die bekanntlich immer alles wusste, vor allem<br />

aber auch sehr gerne weitertrug. Er – alle wussten, wer damit<br />

gemeint war. «Wie immer hat er die geheimnisvolle, braune<br />

Mappe bei sich. Somit müsste er der Olivia wieder Geld mitgebracht<br />

haben. Es gibt da so Verschiedenes, was mir seit je her<br />

nicht geheuer ist», beendete sie ihre quasi Dorfrede. «Das mit<br />

dem Gefängnis, das ich mal gehört habe, könnte etwas Wahres<br />

an sich haben!», fügte sie noch hinzu.<br />

78…<br />

79…


Adelheid setzte sich, schaute kurz in die Runde, um gleich wieder<br />

aufzustehen. «Seit Jahren kommt dieser Mann, den Anton<br />

meine ich, jedes Jahr Anfang September ins Dorf. Ihr wisst<br />

selber, wie fragwürdig die ganze Sache ist. Wir wissen noch<br />

immer nichts über ihn und noch weniger über die fremde Olivia,<br />

diese Ausländerin. Ich denke», sie schaute in die Runde»,<br />

ich denke, dass es an der Zeit ist, die Sache aufzuklären. Wir<br />

werden diejenige Person bestimmen, welche diese Aufgabe<br />

übernimmt. Ich würde mich schon mal zur Verfügung stellen»,<br />

schloss sie ihre Worte.<br />

Dann öffnete Anton seine braune Mappe und entnahm dem<br />

Seidenpapier ein liebevoll gefaltetes blaues Kleid. «Danke!»,<br />

murmelte Olivia. «Es ist sehr schön. Es trägt die Handschrift<br />

eines Schneidermeisters, der das Dorf verlassen hat, weil er<br />

den Spott und das Getuschel hinter ihm – seines Geburtsgebrechens<br />

wegen – nicht ertragen konnte!» Dann flüsterte sie<br />

ganz leise: «Entschuldige bitte, dass ich auch noch eine Ausländerin<br />

bin!»<br />

Die Sonne war bereits untergegangen, als Paul sich erhob<br />

und seine Frau Fatima ansprach: «Komm, wie gehen», sagte<br />

er. «Vielleicht sollten wir mal aufhören über andere Leute zu<br />

spekulieren und zu urteilen. Und – was soll das schon heissen,<br />

wenn Olivia nicht von hier ist?» Er fasste seine Frau an der Hand<br />

und verliess mit ihr den Platz unter der Linde.<br />

Karl hatte die Szene beobachtet und forderte ebenfalls seine<br />

Frau auf mitzukommen; weitere taten es ihnen gleich – wortlos.<br />

Adelheid war alleine zurückgeblieben. Sie hatte den Kopf gesenkt,<br />

wohl sinnend, wie sie vorgehen könnte. Erst nach einer<br />

Weile hatte sie erstaunt bemerkt, dass sie alleine geblieben war.<br />

Inzwischen war Anton längst im kleinen Haus oberhalb der<br />

Mühle angekommen. Wie ausnahmslos immer, Olivia hatte ihn<br />

kommen sehen. Als er die Haustüre geöffnet hatte, hatte sie vor<br />

ihm gestanden. «Da bist du ja wieder. Bleibst du zwei oder drei<br />

Tage?», fragte sie schüchtern. «Ach, was soll’s? Hauptsache, du<br />

hast diesem langweiligen Dorf wieder mal Spannung und etwas<br />

Abwechslung mitgebracht.»<br />

80…<br />

81…


MEINUNGEN UND TATSACHEN<br />

2<br />

82…<br />

83…


TIERISCHES –<br />

ZWEI KÜHE<br />

DIE WÖLFIN UND DAS MUTTERSCHAF<br />

Eine gescheckte Milchkuh geht zum Rindkuhkampf und schaut<br />

den schwarzen Kampfkühen beim Kampf zu. Die Kuh<br />

staunt, wie die Kampfkühe von den Zuschauern bejubelt<br />

und von ihren Besitzern gehätschelt werden.<br />

Plötzlich führt ein Bauer eine Kampfkuh aus der Arena,<br />

bringt sie in einen Transporter. «Ach», sagt sich die<br />

gescheckte Kuh. «Wäre ich doch auch eine schwarze<br />

Kampfkuh, dann würde ich auch so verwöhnt.»<br />

Das hört die Kampfkuh im Transporter und ruft:<br />

«Ich wäre gerne eine gescheckte Milchkuh; denn mit nur<br />

einem Horn wartet nur noch der Metzger auf mich!»<br />

Eine Wölfin sucht Nahrung für ihre Jungen und schleicht zur<br />

Schafherde. Die Mutterschafe säugen ihre schönen, weissen<br />

Lämmer. «Genau so ein Lämmchen muss ich haben!»,<br />

sagt sich der Wolf und spricht ein Mutterschaf an. «Würdest<br />

du mir ein Lämmchen geben, ich möchte es meinen Jungen<br />

zeigen», heuchelte er. «Natürlich!», antwortete das Mutterschaf.<br />

Du kannst das schönste Lämmchen haben, aber es ist im Stall<br />

geblieben. Wir müssten schon dorthin gehen.»<br />

Beim Stall angekommen sagt das Mutterschaf: «Die Höflichkeit<br />

gebietet mir, dich vor mir eintreten zu lassen.»<br />

Dann schubst es den Wolf in den Stall und sperrt die Stalltüre zu.<br />

84…<br />

85…


GEDANKENBLITZE<br />

DIE BIENE UND DIE WESPE<br />

Sich erinnern ist gratis, kann jedoch sehr kostbar sein.<br />

Mein Problem ist, dass alles und jedes ein Problem sein soll.<br />

Eine Biene und eine Wespe treffen sich auf der<br />

Kirschblüte. «Von dir sagt man», beginnt die Wespe, «dass die Menschheit<br />

ohne dich nicht überleben würde. Ich möchte auch so wertvoll sein wie du.»<br />

«Das stimmt», antwortet die Biene, «aber dafür kannst du weiterleben,<br />

nachdem du einen Menschen gestochen hast, ich hingegen muss sterben.»<br />

Wer in seinem Leben nie um etwas kämpfen musste,<br />

ist um eine wertvolle Erfahrung ärmer.<br />

Ein Kind bereichert die Familie, den Staat, die Welt.<br />

Gibt es vielleicht deshalb keine Schneefrauen,<br />

weil der Schnee männlich ist?<br />

Verliebtheit reicht nicht für eine lebenslange Ehe.<br />

DIE SCHLANGE UND DIE MAUS<br />

Eine Schlange und eine Maus kreuzen sich beim Heuschober.<br />

«Ich möchte auch so einen eleganten Schwanz wie du haben», jammerte<br />

die Schlange. «Ich verstehe dein Gejammer nicht», erwidert die<br />

Maus zynisch. «Du bestehst doch nur aus Schwanz!»<br />

Der bescheidene Mitdenker geht das Risiko ein,<br />

dass seine guten Ideen geklaut werden.<br />

Die Kirche spricht von Öffnung,<br />

aber kann sich nicht vom Tunnelblick trennen.<br />

Wer denken kann, geht grössere Risiken ein.<br />

Der kranke Ehrgeiz einiger Eltern ist das Pech manches Kindes.<br />

Der Zufall ist der Bruder vom Glück.<br />

Jahre haben die Angewohnheit immer von vorne zu beginnen.<br />

86…<br />

87…


Neid zeichnet sich oft von Weitem ab.<br />

Werde krank, dann lernst du die Menschen kennen.<br />

Kitsch kann schön sein, wenn er echt ist.<br />

Warum haben die grossen Herrenhemden Querstreifen und zu<br />

kleine Brillentaschen?<br />

Wer irgendwo weggeht, will anderswo ankommen.<br />

Je länger man wartet, umso kürzer wird die Wartezeit.<br />

Erwarte nicht, dass der Mensch, den du nach langer Zeit<br />

wieder triffst, noch derselbe ist.<br />

Obwohl jeder Mensch über ein persönliches Unterbewusstsein<br />

verfügt, hat er kaum Zugriff dazu.<br />

Erfahrungen sammeln ist die einfachste Möglichkeit,<br />

sich Wissen anzueignen.<br />

Clever ist, dass der Haarausfall der Männer modisch in Szene<br />

gesetzt werden kann.<br />

Das Missverständnis ist das Alibi der Ausreden.<br />

Die Zeit hat es immer eilig – oder nie.<br />

Ursachenbekämpfung und nachhaltige Entwicklung werden<br />

wohl deshalb mit wenig Begeisterung angegangen –<br />

weil die dazu erforderlichen Gedankengänge und Überlegungen,<br />

nicht in der Aktualität liegen.<br />

In unserer Gedankenlosigkeit denken wir Menschen selten daran,<br />

dass unsere nicht bedenkenlosen Gedanken das Denken der<br />

anderen Menschen in bedenklicher Weise beeinflussen können.<br />

Gnadenlose Realität: Je länger man lebt, umso kürzer hat man<br />

noch zu leben.<br />

Ein Jahr, das man nicht verschenken möchte,<br />

hat einen mit Sicherheit weitergebracht.<br />

Dennoch gibt es Jahre – deren Art, uns weiterzubringen –<br />

einem hätten geschenkt bleiben können.<br />

Die Hoffnung begleitet dich nur bis zur Enttäuschung –<br />

dann streift sie ihre Verantwortung genüsslich ab.<br />

Der jüngere Bruder von Ernst heisst Humor.<br />

So unterschiedlich können Geschwister sein.<br />

Die Muttersprache gebiert im Bauch – nimmt Wohnsitz im<br />

Herzen – und spannt den Kopf für sich ein. Die Fremdsprache<br />

nimmt Einsitz im Kopf – aktiviert das Herz, aber kann kaum<br />

Anspruch auf den Bauch erheben.<br />

Verliebtheit lässt Übermut zu. Liebe pocht auf Vernunft.<br />

88…<br />

89…


Das verstehe, wer kann: Die Leistung soll gesteigert,<br />

die Qualität verbessert, der Gewinn optimiert werden und –<br />

diese Ziele können angeblich nur durch die Streichung von<br />

Arbeitsplätzen erreichbar sein.<br />

Ohne Dunkelheit verliert das Licht seine Existenzberechtigung.<br />

Wenn ein Gesicht Falten bekommt, wird dies vom Umfeld<br />

registriert. Wenn die Seele Falten bekommt, möchte das<br />

Umfeld nichts registriert haben.<br />

Geschriebene Worte sind mutiger als gesprochene,<br />

denn sie tragen den Charakter von Ewigkeit.<br />

Solltest du dich mit deinem Nachbarn nicht besonders gut<br />

verstehen, unterlasse es besser, seinen Hund zu streicheln.<br />

Obwohl Leben und Tod das gegensätzlichste Paar ist, spielen<br />

sie sich perfekt in die Hand.<br />

Wenn Frauen mit einer Aufgabe überfordert sind,<br />

sagen sie: «Das kann ich nicht!» Wenn Männer mit einer<br />

Aufgabe überfordert sind, sagen sie: «Das geht gar nicht!»<br />

Die Fantasie ist der Genuss des Geistes.<br />

Wenn sich die Berge im See spiegeln, lacht der Himmel vor<br />

lauter Übermut.<br />

KOPFKINO IM VORFRÜHLING<br />

• das frühere Einsetzen der Morgendämmerung<br />

• die kleiner werdenden Schneeflächen an den Hängen<br />

• die am Dorfbrunnen schmelzenden Eiskerzen<br />

• die sich auflösenden Eisblumen am Fenster<br />

• das heller plätschernde Wasser des Baches<br />

• die angenehm säuselnde Luft um die Nase<br />

• die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut<br />

• das Spriessen der frischen Gräser am Strassenrand<br />

• die blauen Veilchen unter der Felsplatte<br />

• die ersten Krokusse an der Hausmauer<br />

• das Topasblau des offenen Himmels<br />

• der Lockruf des brutschmarotzenden Kuckucks<br />

• der spazierende Grossvater mit dem Enkel an der Hand<br />

• die Kinderwagen schiebenden Jungmütter<br />

• die betagten, sich ausruhenden Menschen im Park<br />

• die lachenden Kinder auf dem Schulweg<br />

• die Hobbysportler joggen dem Flussufer entlang<br />

• die ersten Fahrräder auf den Strassen<br />

• die helleren Farben der Frühlingskleider<br />

• die verliebten Paare am Sonntagnachmittag<br />

• der erfrischende Atem, der Körper und Seele Kraft verleiht<br />

90…<br />

91…


ZWISCHEN HIMMEL UND ERDE<br />

3<br />

92…<br />

93…


SEIFENBLASEN<br />

Da schweben sie in dünner Luft<br />

Tänzeln bunt uns vor den Augen<br />

Verbreiten ihren frischen Duft<br />

Wollen zeigen, was sie taugen.<br />

Seifenblasen können lachen<br />

Bleiben stehen oder platzen<br />

Können schwebend Faxen machen<br />

Machen auch mal freche Fratzen.<br />

Seifenblasen sind durchsichtig<br />

Berühren bleibt für sie tabu<br />

Das ist Schicksal und so richtig<br />

Sie brauchen einfach ihre Ruh’.<br />

Seifenblasen, sie verschwinden<br />

Fliegen weg und lauschen zu<br />

Wie der Nebel in Gefilden<br />

Sind nicht mehr da, allein bleibst du.<br />

Uns wollen Seifenblasen sagen<br />

Du musst den Weg alleine geh’n<br />

Wir können dich doch gar nicht tragen<br />

Um uns ist es halt schnell gescheh’n.<br />

So schreit’ den Weg gemächlich weiter<br />

Mach Schritte täglich Richtung Ziel<br />

Behalt den Frohsinn als Begleiter<br />

Wir Seifenblasen sind nur Spiel.<br />

KARRIERE<br />

Ein Ei liegt in der frischen Erde<br />

Die Wurzeln neben ihm sind gut<br />

Damit es eine Larve werde<br />

Sich dort das Wesen gütlich tut.<br />

Sie schaut sich um, sucht wie besessen<br />

Nach saftig frischer Nahrung<br />

Sonst nichts im Kopf als neues Essen<br />

Schlägt in den Wind die kurze Warnung.<br />

Da! Plötzlich hakt ein Keil vorbei<br />

Das könnte ihr gefährlich werden<br />

Sie fühlt sich daher nicht mehr frei<br />

Muss sich ganz rasch viel tiefer erden.<br />

Dann, eines Tages welch’ ein Ding<br />

Mit gelbem Kopf und weissem Bauch<br />

Wurde aus ihr ein Engerling<br />

Das kann Metamorphose auch.<br />

Der Karrieresprung steht nun bevor<br />

Es ist schnell weg, das fette Fett<br />

Dann schlüpft ein Engerling hervor<br />

Und ist jetzt Maikäfer – äusserst adrett.<br />

94…<br />

95…


ÖSTERLICHE METAMORPHOSE<br />

Karfreitag<br />

Kahle Wiesen<br />

Verschlossene Knospen<br />

Aussagelose Farben<br />

Schmerzhafte Disharmonien<br />

Zögernde Temperaturen<br />

Rebellierende Winde<br />

Treibende Wolken<br />

Unruhiger Schlaf<br />

Durchwühlte Haare<br />

Gefesselte Gemüter<br />

Zweifelnde Menschen<br />

Karsamstag<br />

Schwächliche Gräser<br />

Zerbrechliche Aprikosenblüten<br />

Durchsichtige Pastelltöne<br />

Harmlose Melodien<br />

Unentschiedene Lüfte<br />

Erwachende Tümpel<br />

Zaghaftes Gezwitscher<br />

Unüberzeugtes Aufwachen<br />

Pflegebedürftige Frisuren<br />

Freiwerdende Gefühle<br />

Hoffende Menschen<br />

Ostersonntag<br />

Fette Kräuter<br />

Pralle Kirschblüten<br />

Schillernde Farben<br />

Händel’sche Klänge<br />

Wärmende Sonnenstrahlen<br />

Sonnendurchtränkte Osterglocken<br />

Übermütiges Frohlocken<br />

Befreite Seelen<br />

Meisterhafte Lockenpracht<br />

Pulsierendes Leben<br />

Siegessichere Menschen<br />

96…<br />

97…


LIEBESERKLÄRUNG<br />

INTIME ERFAHRUNGEN…<br />

Wenn du Hände brauchst,<br />

die sich eng mit deinen Fingern verknüpfen – nimm meine.<br />

Wenn du Hände brauchst,<br />

die deine Seele mit liebevollen Worten streicheln – nimm meine.<br />

Wenn du Hände brauchst,<br />

die deine heisse Stirne kühlen – nimm meine.<br />

Wenn du Hände brauchst,<br />

die dein Herzklopfen ertasten – nimm meine.<br />

Wenn du Hände brauchst,<br />

die dir Tränen vom Gesicht wischen – nimm meine.<br />

Wenn du Hände brauchst,<br />

die dir helfend unter die Arme greifen – nimm meine.<br />

Wenn du Hände brauchst,<br />

die deine Hände in der Dunkelheit ergreifen – nimm meine.<br />

Wenn du Hände brauchst,<br />

die deine verspannten Schultern massieren – nimm meine.<br />

Wenn du Hände brauchst,<br />

die dich wachrütteln aus Angst und Sorgen – nimm meine.<br />

Wenn du Hände brauchst,<br />

die sich betend für dich falten – nimm meine.<br />

Wenn du Hände brauchst,<br />

die sich segnend auf deine Stirn legen – nimm meine.<br />

• heiss, der dampfende Asphalt<br />

• frisch, die braune Erde<br />

• prickelnd, der rieselnde Sand<br />

• stachelig, der schmale Waldweg<br />

• klebrig, der dunkle Hausflur<br />

• rutschig, die nassen Steine<br />

• kühl, das sprudelnde Wasser<br />

• angenehm, das weiche Gras<br />

• glühend, das lodernde Feuer<br />

• eisig, der frische Schnee<br />

• schmerzhaft, die winzigen Glassplitter<br />

• … barfuss!<br />

ABKÜHLUNG<br />

• Die Wolken versperren dem Himmel die Sicht<br />

• Die Luft hängt erstickend herum<br />

• Der Donner formiert sein Rollen<br />

• Der Blitz schaltet auf Feuerwerk<br />

• Die Regentropfen prasseln gen Erde<br />

• Die Strassen dampfen unter dem erfrischenden Nass<br />

• Die Natur ergötzt sich an den Wasserperlen<br />

• Der Mensch atmet befreiend durch<br />

98…<br />

99…


TREFFEN IM WELTWEITEN NETZ<br />

Irgendwann<br />

Trifft man<br />

Irgendwo<br />

Irgendwen<br />

Auf der Internet-Autobahn<br />

Vorerst sagt man nur<br />

Irgendwas<br />

Denn<br />

Irgendwie<br />

Erzählt man<br />

Wenig<br />

Irgendwem<br />

Irgendwas<br />

Animiert<br />

Irgendwann<br />

Doch<br />

Irgendwie<br />

Mehr zu sagen<br />

Irgendwer<br />

Ist witzig und geistreich<br />

Denn<br />

Irgendwann<br />

Sagt man<br />

Irgendwem<br />

Nicht mehr<br />

Irgendwas<br />

Irgendwie<br />

Ist Irgendwann<br />

Irgendwer<br />

Nicht mehr<br />

Nur Irgendwer<br />

Sondern<br />

Ein wertvoller Mensch<br />

100…<br />

101…


UND ALLES WIRD GUT<br />

Ein Tag gibt dir auch was zu tragen<br />

Das fühlt sich schwer an, richtig blöd<br />

Das liegt dann schwer dir auf dem Magen<br />

Der guten Laune wird recht öd.<br />

Aktivität ist nur noch Schein<br />

Kaum schaffen kann man, nur knapp denken<br />

Verpflichtung wird zur argen Pein<br />

Es reicht nicht mal zum Lächeln schenken.<br />

Die Menschen fragen, was denn los ist<br />

Jetzt wiegt dein Herz erst richtig schwer<br />

Da du dich heute nicht, wie sonst gibst<br />

Tu’ was dagegen – bitte sehr.<br />

Frag’ die Sonne, wie sie’s macht<br />

Sag ihr, was dich heute stört<br />

Da sie jeden Tag nur lacht<br />

Dich vereinnahmt und betört<br />

Sie wird versteh’n und lächelnd fragen<br />

Hast du mir sonst denn nichts zu sagen?<br />

Dann schenk die Sorgen unsrer Sonne<br />

Sie wärmt dir Kopf und Herz mit Wonne.<br />

102…


Elise Bregy, 1949, Lehrerin.<br />

Neben dem Unterricht pflegte sie die Schreibe.<br />

Seit über 20 Jahren ist sie Kolumnistin bei der<br />

Tageszeitung «Walliser Bote». Auch schreibt sie<br />

seit Jahren für das Walliser Jahrbuch. In Zusammenarbeit<br />

mit anderen Frauen war sie an der<br />

Veröffentlichung von «Männergeschichten» und<br />

« Hotelgeschichten» beteiligt.<br />

Beim Eintritt in die Pension setzte sie sich zwei<br />

Ziele: Ein fundiertes Schreibstudium und die Veröffentlichung<br />

eines Buches, was schon lange ihr<br />

Traum war. Nun gingen ihre Träume in Erfüllung.<br />

104…

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