GIG-Oktober 2016
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30<br />
MUSIK<br />
CDS VINYL & MP3<br />
ALBUM<br />
DES MONATS<br />
Wilco<br />
Schmilco<br />
Es ist schon erstaunlich,<br />
wie<br />
viel kreatives<br />
Feuer Wilco-Kopf<br />
Jeff Tweedy nach<br />
wie vor in seiner<br />
progressiven<br />
Americana-Combo lodern lässt. Welche<br />
stilistischen Haken er schlägt und<br />
welche unvermuteten Stellungswechsel<br />
er vornimmt. War „Star Wars“ von<br />
2015 ein kühnes, kühl komponiertes<br />
Indie-Rock-Album, speist sich das mit<br />
selbstironisch betitelte „Schmilco“<br />
von filigranem Folk und emotionsgeladenem<br />
Country. Und erinnert insofern<br />
phasenweise an die wunderbar<br />
gebrochenen Verwerfungen von Howe<br />
Gelbs Giant Sand. Allerdings lässt<br />
Tweedy mitunter Beatles-Reminiszenzen<br />
aufscheinen, die das Ganze sehr<br />
einladend machen. So scheint gleich<br />
im freudig verzückten „If I Ever Was<br />
A Child“ und dann im lakonisch sarkastischen<br />
„Nope“ der selige John<br />
Lennon mokant von seiner Wolke runterzulächeln,<br />
während in „Someone<br />
To Lose“ George Harrison mit seiner<br />
magischen Gitarre kurz vorbeischaut,<br />
und in der verwehten Wehmutsballade<br />
„Shrug & Destroy“ eine<br />
„Long And Winding Road“ in den Himmel<br />
führt. Wie Tweedy außerdem Anregungen<br />
von Lou Reed, Iggy Pop und<br />
Springsteen in sein Credo einflicht,<br />
macht „Schmilco“ zu einem der besten<br />
Wilco-Werke. Andreas Dewald<br />
DBpm/Anti;<br />
www.wilcoworld.net<br />
Regina Spektor<br />
Remember Us To Life<br />
Es ist seit dem Album „What We Saw<br />
From The Cheap Seats“ im Jahr 2012<br />
einiges passiert im Leben der großartigen<br />
Sängerin und Songschreiberin.<br />
Sie hat zum ersten Mal seit der Flucht<br />
ihrer Familie in der russischen Heimat<br />
gespielt und ist zum ebenfalls ersten<br />
Mal Mutter geworden. Trotzdem kann<br />
man nicht hören, dass sie von diesen<br />
Themen völlig überwältigt worden<br />
ist. Los geht es mit „Bleeding Heart“,<br />
wo sich Spektor gegen vorsichtigen<br />
Elektronik-Einsatz und selbstbewusstes<br />
Schlagzeugaufbrausen zur Wehr<br />
setzt. „Small Bill$“ ist ähnlich gestrickt,<br />
hier begeistern ein unkonventionelles<br />
Gesangsarrangement und<br />
orientalisch erscheinende Musikeinflüsse.<br />
Solche kräftig kolorierten<br />
Songs beherrschen nicht das ganze<br />
Album. Durch „Black And White“ zieht<br />
sich eine Mischung aus Piano-Pop und<br />
osteuropäischer Melancholie, die man<br />
für diese Künstlerin<br />
als typisch<br />
ansehen kann. An<br />
der Seite von<br />
Produzent Leo<br />
Abrahams hat sie<br />
im Studio The Village<br />
in Los Angeles sowohl an neuen<br />
und bewährten Elementen arbeiten<br />
können. Er schafft es, wie wir jetzt<br />
als Hörer genossen haben, mit beiden<br />
Seiten umzugehen. Thomas Weiland<br />
Sire/Warner Music;<br />
www.reginaspektor.com<br />
Pixies<br />
Head Carrier<br />
Es gibt immer was zu meckern. „Indie<br />
Cindy“, das vor zwei Jahren veröffentlichte<br />
Comebackalbum der Pixies,<br />
bescherte vielen Hörern gemischte<br />
Gefühle: Nicht übel - aber ohne Bassistin<br />
Kim Deal? Auch „Head Carrier“<br />
bringt Deal nicht zurück, hilft aber<br />
konservativen Fans deutlich auf euphorische<br />
Sprünge. Die Songs klingen<br />
bisweilen, als wären sie seinerzeit<br />
bei der Fahrt zu den „Doolittle“-Sessions<br />
aus dem Bandbus gefallen. Joey<br />
Santiagos Gitarrenfiguren, Black<br />
Francis’ zwischen<br />
schnodderigem<br />
Pop-Liebreiz und<br />
alttestamentarischem<br />
Höllenfeuer<br />
(„Baal’s Back“)<br />
oszillierende Dynamik<br />
und Liedkonstruktionen; die<br />
Harmonie- und Sologesänge („All I<br />
Think About Now“, eine Hommage an<br />
ihre Vorgängerin) der neuen Kraft am<br />
Bass, Paz Lenchantin, die der legendären<br />
Altherrentruppe den Spaß zurückgegeben<br />
hat - alles verweist auf<br />
die klassischen Tugenden der Pixies.<br />
Eine fehlt indes (noch): Der Mut zum<br />
Risiko. Denn die Macht des Gewohnten,<br />
die hier so gekonnt auftrumpft,<br />
ist auch ein wenig der Mühlstein, der<br />
den Höhenflug der Band bremst. Aber<br />
das ist Jammern auf hohem Niveau.<br />
Wolfgang A. Müller<br />
Pixiesmusic / PIAS;<br />
www.pixiesmusic.com<br />
Gonjasufi<br />
Callus<br />
Der wundervoll-schräge Dancefloor-<br />
Hit „Vinaigrette“ und dessen verrückte<br />
Sounds und Bilder im Video hauen<br />
Nick Cave & The Bad Seeds Skeleton Tree<br />
Die ihm zugeneigte Welt war gespannt, wie er nach<br />
dem tragischen Verlust seines Sohnes mit dem enormen<br />
Schicksalsschlag umgeht. Musikalisch und privat<br />
hatte sich bei ihm vorher alles eingependelt. Jetzt<br />
stand er vor einer neuen Herausforderung, es auf<br />
Basis der Intuition zu kreieren. Es mag schmerzhaft<br />
gewesen sein, das sieht man den Bildern in Andrew<br />
Dominiks Film „One More Time With Feeling“ deutlich<br />
an. Aber Cave hat das Projekt mit seinen Musikern am Ende mannhaft<br />
durchgezogen. In „Jesus Alone“ hört es sich an, als gleite Wind und<br />
aus Sergio-Leone-Filmen bekanntes Endzeitpfeifen hindurch, unterstützt<br />
von sanft brodelnden Streichern im Hintergrund. Cave flüstert, sinniert,<br />
spricht zum Teil ohne Punkt und Komma und kehrt den Schmerz heraus.<br />
Immer hilft ihm Warren Ellis mit atmosphärischem Beiwerk, so dass es<br />
kein Entrinnen aus dieser spartanischen und packenden Musik gibt. Ganz<br />
besonders in „Distant Sky“ nicht, da singt Else Torp im Duett, ist man<br />
machtlos ergriffen und genießt ehrliche Emotionen ohne künstlerische<br />
Prätentionen. Thomas Weiland<br />
Bad Seed Ltd./Rough Trade; www.nickcave.com<br />
einen bereits vom stabilen Hocker.<br />
Neben seinem Labelmate Flying Lotus<br />
ist der in San Diego geborene Sumach<br />
Ecks der wohl durchgeknallteste<br />
und gleichzeitig innovativste Vertreter<br />
einer in jeder Hinsicht viele<br />
Grenzen sprengenden neuen Pop-<br />
Musik. Während Lotus manchmal in<br />
Richtung Jazz abzudriften scheint,<br />
klingt Gonjasufi auch auf seinem fantastischen<br />
dritten Album für „Warp“<br />
eher wie eine bekiffte Psychedelic-<br />
Variante der Beastie Boys oder eine<br />
dunkle Homerecording-Hop-Ausgabe<br />
der Flaming<br />
Lips featuring<br />
George Clinton<br />
auf Melvins-Geschwindigkeit.<br />
Diese Musik verstört, reißt mit, lässt<br />
bei Titeln wie „The Kill“ oder „Poltergeist“<br />
Sonntagsdepressionen so<br />
richtig ans Tageslicht kommen und<br />
dort verglühen. Eine vollkommene,<br />
eklektizistische, kranky Ohrreinigung,<br />
die jeglichen Konservatismus<br />
aus dem Hirn bläst: Die Sitar trifft<br />
Industrial trifft Big Beats, die durch<br />
irgendeinen elektronisch-verfremdenden<br />
Fleischwolf gedreht werden.<br />
Dieser Typ ist musikalisch vollendet<br />
irre und spooky. Christoph Jacke<br />
Warp/Rough Trade;<br />
www.sufisays.com<br />
Danny Brown<br />
Atrocity Exhibition<br />
Sein letztes Album Old machte ihn<br />
unglaublich populär, nicht zuletzt<br />
dank der Hits „Dip“, „25 Bucks“ und<br />
„Kush Coma“. Andere Rapper hätten<br />
mit diesem Rezept weitergemacht,<br />
aber Danny Brown gehört nicht in<br />
diese Kategorie. „I gotta figure it<br />
out“ feuert er sich mit seiner quengelig-agilen<br />
Stimme in „Downward<br />
Spiral“ an, während im Hintergrund<br />
das Schlagzeug poltert und die Gitarre<br />
verstörte Akkorde von sich gibt.<br />
Er lässt sich in „Ain‘t It Funny“ nicht<br />
von einem zügigen<br />
Beat und<br />
querschießender<br />
Elektronik aus<br />
dem Konzept bringen.<br />
Auch nicht<br />
von einer metallischen<br />
Gitarre in „Golddust“ oder<br />
Gedanken an ein Lungenleiden in<br />
„Pneumonia“, die durch Glockenklänge<br />
und klappernde Särge verstärkt<br />
werden. An der Hinwendung<br />
zum düsteren Sound sind auffällig oft<br />
englische Quellen beteiligt. Als Label<br />
steht ihm der Indie-Klassiker<br />
Warp zur Seite, als Produzent arbeitete<br />
er erneut mit Paul White zusammen,<br />
und der Titel „Atrocity Exhibition“<br />
bezieht sich auf den Opener<br />
des Joy-Division-Klassikers Closer.<br />
Das ist für einen HipHop-Künstler alles<br />
nicht alltäglich, aber er hat genau<br />
die richtige Wahl getroffen.<br />
Thomas Weiland<br />
Warp/Rough Trade;<br />
www.xdannyxbrownx.com<br />
Jenny Hval<br />
Blood Bitch<br />
„Female Vampire“<br />
geistert bereits<br />
seit einigen<br />
Wochen als elektronischer<br />
Hit<br />
per Songtrack<br />
und Video durchs<br />
Netz, und alle wundern sich, wie eingängig<br />
und doch keinesfalls gefällig<br />
Jenny Hvals neue Stücke sind. Die<br />
mittlerweile 36-jährige Norwegerin<br />
begann in Bands während ihres Studiums<br />
in Australien und nach ihrer<br />
Rückkehr als Rockettothesky. Seit<br />
2011 veröffentlicht die Musikerin,<br />
Autorin und Komponistin unter ihrem<br />
Namen, seit „Apocalypse, Girl“ aus<br />
dem letzten Jahr bekommt Hval<br />
deutlich mehr Aufmerksamkeit als<br />
zuvor in der Nische. Einher geht das<br />
mit einer Entwicklung aus teilweise<br />
sehr experimentellen Soundgefil-<br />
l tragisch ll leicht daneben lll ganz ordentlich llll stark lllll Meilenstein