FREIWILLIG
naturfreundin_3-16
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TITEL<br />
INTERVIEW<br />
„Der ‚neue Ehrenamtliche‘ ist unbequemer“<br />
Professor Sebastian Braun empfiehlt eine „Partizipationskultur“ für Engagierte<br />
eNATURFREUNDiN: Herr Professor Braun, Ihr<br />
Forschungsgebiet ist das „Bürgerschaftliche<br />
Engagement“. Was ist damit gemeint?<br />
Sebastian Braun: Vielfältige Formen des Engagements<br />
im öffentlichen Raum – vom ehrenamtlichen<br />
und freiwilligen Engagement über<br />
den sozialen oder karitativen Einsatz bis hin zu<br />
politischer Beteiligung. Es geht also um Engagementformen,<br />
die jenseits der Erwerbsarbeit, des<br />
staatlichen Verwaltungshandelns und der Privatsphäre<br />
erbracht werden.<br />
eDer aktuellen Freiwilligenstudie des Familienministeriums<br />
zufolge engagieren sich 43,6<br />
Prozent der Deutschen ab 14 Jahren freiwillig.<br />
Trotzdem klagen viele Vereine über Mitgliederschwund<br />
und mangelnde Bereitschaft, Ämter<br />
zu übernehmen. Wie passt das zusammen?<br />
Offenkundig binden sich viele Menschen nicht<br />
mehr so langfristig und intensiv an traditionelle<br />
Großorganisationen wie Parteien, Gewerkschaften<br />
oder Verbände. Eine langfristige, emotionale<br />
Bindung an die Ziele eines Verbandes ist vielfach<br />
aber wichtig, um über die reine Mitgliedschaft<br />
hinaus Zeit und Wissen zu spenden und<br />
Ämter wahrzunehmen. Die Organisationen können<br />
heute auch nicht mehr so weitreichend<br />
wie früher auf die klassische Ochsentour<br />
bauen. Zugleich hat das Selbstorganisationspotenzial<br />
der Menschen zugenommen<br />
und an Effektivität und Effizienz<br />
wie auch an gesellschaftspolitischem<br />
Einfluss gewonnen.<br />
eWie wirkt sich das auf den Engagementwillen<br />
der Bürger aus?<br />
Seit einigen Jahrzehnten beobachten wir einen<br />
Strukturwandel des Ehrenamts, der häufig mit<br />
den Begriffen „altes“ und „neues Ehrenamt“<br />
umschrieben wird. Idealtypisch wuchs der „alte<br />
Ehrenamtliche“ aus dem sozialen Milieu in eine<br />
Trägerorganisation hinein, in der er sich langfristig<br />
für die „gemeinsame Sache“ engagierte.<br />
eUnd der „neue Ehrenamtliche“?<br />
Der engagiert sich tendenziell projektbezogener im<br />
Kontext seiner biografischen Gelegenheiten. Dabei<br />
erscheint der „neue Ehrenamtliche“ aus der Perspektive<br />
traditioneller Verbände unbequemer. Er<br />
fragt nach dem persönlichen Sinn seines Engagements<br />
im Verein oder Verband und handelt seltener<br />
aus einer selbstverständlichen, eingelebten<br />
Gewohnheit heraus. Dieses selbstreflexive<br />
und rational motivierte Handeln macht es<br />
schwieriger, den „neuen Ehrenamtlichen“<br />
längerfristig an die Organisation<br />
zu binden.<br />
FRIEDENSSTIFTER<br />
Daniel Wölfle (42), Bogotá/Kolumbien<br />
eWie können sich traditionelle Vereine auf<br />
die veränderten Bedingungen einstellen?<br />
Eine längerfristige Bindung dürfte maßgeblich davon<br />
abhängen, ob es Strukturen gibt, die für Menschen<br />
attraktiv sind. Um nur einige Punkte anzudeuten:<br />
Werden den Engagierten und potenziell<br />
Engagementbereiten anspruchsvolle – und zugleich<br />
zeitlich und fachlich nicht überfordernde –<br />
Aufgabenfelder übertragen, in denen sie mit einer<br />
gewissen Eigenständigkeit und praktisch folgenreich<br />
agieren können? Gibt es verantwortliche<br />
Personen, mit denen sie ihre Vorstellungen vom<br />
Engagement diskutieren können, um auch neue<br />
Projektideen in die Vereinspolitik einzubringen?<br />
Gibt es Partizipationschancen, die auch tatsächlich<br />
wahrgenommen werden können?<br />
Nicht zuletzt braucht es neben einer „Willkommenskultur“<br />
für Engagierte auch eine „Verabschiedungskultur“,<br />
die es Engagierten ermöglicht,<br />
nach einem zeitlich definierten Projekt das<br />
Engagement auch wieder „im Guten“ einzustellen.c<br />
INTERVIEW MARION ANDERT<br />
Sebastian Braun (44) ist Professor für Sportsoziologie<br />
an der Berliner Humboldt-Universität und<br />
forscht seit langem über Bürgerschaftliches Engagement.<br />
Er war stellvertretender Vorsitzender<br />
der Sachverständigenkommission der Bundesregierung<br />
zur Erarbeitung des „Ersten Engagementberichts“.<br />
braun@hu-berlin.de<br />
„Ich habe Job und Wohnung gekündigt und gehe nach Kolumbien. Als Freiwilliger.“ Damit<br />
hatte niemand gerechnet. Schon gar nicht, dass Daniel in Regionen arbeiten würde, die seit<br />
Jahrzehnten von bewaffneten Konflikten betroffen sind. „In Kolumbien kann der Einsatz für<br />
die Menschenrechte lebensgefährlich sein", sagt er. Meine Organisation „peace brigades international<br />
begleitet kolumbianische Menschenrechtsverteidiger, die bedroht werden. Unsere<br />
Präsenz schützt diese Leute bei ihrer täglichen Arbeit.“<br />
Daniel trägt keine Waffe und ist auch kein Draufgänger. Drei Viertel seiner Arbeit verbringt<br />
er im Büro und informiert Behörden und Diplomaten. „Je mehr offizielle Stellen Bescheid<br />
wissen, desto sicherer sind wir auf unseren Begleitungen“, sagt er. „Wir setzen auf<br />
Gewaltfreiheit und mischen uns nicht in die Arbeit der begleiteten Personen ein.“<br />
Und warum macht er das? Daniel lebt seit zweieinhalb Jahren in einer Freiwilligen-WG,<br />
hat wenig Freizeit und bekommt nur ein kleines Taschengeld. „Mir gefällt der Ansatz“, sagt<br />
er. „Bei der Arbeit lerne ich Menschen kennen, deren Engagement für die Menschenrechte,<br />
gerade unter den großen Risiken hier, einfach beeindruckend ist.“c SAMUEL LEHMBERG<br />
www.pbideutschland.de<br />
SEITE 6 NATURFREUNDiN 3-2016