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Laktation_und_Stillen_2016-3 DE Seiten 1-8

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<strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong><br />

Zeitschrift der Europäischen <strong>Laktation</strong>sberaterinnen Allianz • www.elacta.eu • ISSN 1614-807x<br />

TITELTHEMA<br />

Langzeitstillen – <strong>Stillen</strong> im<br />

zweiten <strong>und</strong> dritten Lebensjahr<br />

<strong>und</strong> danach – Seite 4<br />

TITELTHEMA<br />

Anklage einer länger<br />

stillenden Mutter in der<br />

Schweiz – Seite 11<br />

WISSENSCHAFT<br />

Stillquote nimmt leicht<br />

zu, Stilldauer stagniert<br />

– Seite 19<br />

3 • <strong>2016</strong> 28. Jahrgang<br />

Foto: Field exchange 48


2<br />

EDITORIAL<br />

EDITORIAL<br />

Liebe Leser, liebe Mitglieder,<br />

es ist mir ein Vergnügen <strong>und</strong> auch eine Ehre ein erstes Editorial<br />

für L&S/L&B zu schreiben.<br />

In dem Moment, in dem ich dies schreibe, sehen meine Familie<br />

<strong>und</strong> ich die Olympischen Spiele im Fernsehen an. Es fühlt<br />

sich für uns ein wenig seltsam an, denn wir sind gerade erst<br />

von unserem Urlaub in Brasilien zurückgekehrt <strong>und</strong> haben all<br />

diese Veranstaltungen auch in Rio gesehen. Wie viele von Euch<br />

aus Erfahrung wissen, ist die Urlaubszeit vor allem Familienzeit.<br />

Wir hatten eine w<strong>und</strong>ervolle Reise <strong>und</strong> sahen viele verschiedene Facetten<br />

Brasiliens. Von den geschäftigen Städten bis zu kleinen Dörfern, vom Dschungel<br />

bis zu den atemberaubenden Wasserfällen, von riesigen Ameisen bis zu Ameisenbären,<br />

von großen Menschenmengen bis zu einheimischen Familien, die Maniok,<br />

Bananen <strong>und</strong> Kokosnüsse essen.<br />

Während wir in einem Boot über den Amazonas flitzten, fiel mein Blick auf<br />

eine stolze brasilianische Mutter. Sie stillte ihr 2-jähriges Kind im spritzenden<br />

Wasser des Bootes. Während unserer zahlreichen Flüge (Brasilien ist riesig) sah<br />

ich eine Menge Mütter, die stillten. In Geschäften, auf dem Weg, an Warteplätzen,<br />

überall kuscheln sich die Babys an die Brust. Die meisten dieser Kinder waren keine<br />

Neugeborenen mehr. Ich empfand Sympathie, Freude <strong>und</strong> Zuneigung gegenüber<br />

diesen Müttern. Ich wagte es nicht, Bilder von den Stillpaaren zu machen, es<br />

wäre mir peinlich gewesen, denn es ist in ihrer Kultur ein völlig normales, natürliches<br />

<strong>und</strong> akzeptiertes Verhalten. Mit einem Lächeln klickten meine Augen auf<br />

„Speichere diese Erinnerung“ in meinem Gedächtnis <strong>und</strong> genau hier <strong>und</strong> jetzt ist<br />

der Moment, sie aufzuschreiben <strong>und</strong> mit Ihnen zu teilen. Jetzt ist Ihre eigene<br />

Vorstellungskraft gefragt!<br />

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen dieser Ausgabe, unter anderem<br />

zum Thema <strong>Stillen</strong> von größeren Kindern.<br />

Karin Tiktak , IBCLC<br />

Präsidentin von ELACTA<br />

IMPRESSUM<br />

Herausgeber:<br />

ELACTA Europäische<br />

<strong>Laktation</strong>sberaterinnen Allianz<br />

www.elacta.eu<br />

E-Mail: magazin@elacta.eu<br />

ZVR-Nr.: 708420941<br />

ELACTA Präsidentin:<br />

Karin Tiktak, IBCLC<br />

president@elacta.eu<br />

Redaktionelle Leitung <strong>und</strong><br />

Projektkoordination:<br />

Eva Bogensperger-Hezel, IBCLC<br />

E-Mail: magazin@elacta.eu<br />

Mitarbeiterinnen:<br />

Andrea Hemmelmayr, IBCLC<br />

Stefanie Frank, IBCLC<br />

Elke Cramer, Ärztin, IBCLC<br />

Kathrin Meier, IBCLC<br />

Bärbel Waldura, IBCLC<br />

Zsuzsa Bauer, Dr. phil<br />

Márta Gúoth-Gumberger, IBCLC<br />

Gudrun von der Ohe, Ärztin,<br />

IBCLC<br />

Übersetzungen:<br />

Márta Gúoth Gumberger, IBCLC<br />

Elizabeth Hormann, IBCLC<br />

Annika Cramer, Martina Hezel,<br />

Vera Bogensperger<br />

Einzelabonnements:<br />

E-Mail: abobestellung@elacta.eu<br />

Jahresabonnement: 41 €<br />

Einzelnummer: 12 €<br />

Fotos: © siehe Bilder;<br />

Titelfoto: iStock<br />

Layout: Christoph Rossmeissl<br />

Produktion: EinDRUCK<br />

Auflage: 2.500 Stück<br />

Erscheinungsweise 4-mal<br />

jährlich, jeweils Ende März, Juni,<br />

September, <strong>und</strong> Dezember<br />

Redaktionsschluss: 15. Jänner,<br />

15. April, 15. Juli, 15. Oktober<br />

<strong>Laktation</strong> <strong>und</strong> <strong>Stillen</strong> möchte<br />

mit seinen Beiträgen neben<br />

fachlichen Informationen<br />

r<strong>und</strong> um das <strong>Stillen</strong> auch zur<br />

Diskussion anregen. Wir freuen<br />

uns daher über Ihre Meinung -<br />

Leserbriefe schicken Sie bitte an<br />

folgende E-Mail:<br />

magazin@elacta.eu<br />

Die in <strong>Laktation</strong> <strong>und</strong> <strong>Stillen</strong><br />

veröffentlichten Artikel<br />

spiegeln nicht unbedingt die<br />

Meinung der Redaktion oder<br />

von ELACTA wider, sie fallen<br />

vielmehr in den persönlichen<br />

Verantwortungsbereich des<br />

Autors /der Autorin.<br />

www.elacta.eu <strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong> 3 • <strong>2016</strong>


INHALT<br />

3<br />

2 EDITORIAL<br />

4 TITELTHEMA<br />

Langzeitstillen – <strong>Stillen</strong> im zweiten <strong>und</strong><br />

dritten Lebensjahr <strong>und</strong> danach<br />

Anklage einer länger stillenden Mutter in<br />

der Schweiz<br />

© Enzenhofer<br />

9 HANDOUT<br />

<strong>Stillen</strong> – solange wir wollen<br />

12 AKTUELLES – AUS <strong>DE</strong>N<br />

LAN<strong>DE</strong>SVERBÄN<strong>DE</strong>N<br />

Fragebogen Stillempfehlungen in Europa<br />

16 ELACTA-NACHRICHTEN<br />

Kurzer Bericht der ELACTA-<br />

Generalversammlung<br />

CERPs International Fortbildungstage<br />

Treffen der Präsidentinnen<br />

MILK – kanadischer Dokumentarfilm von<br />

Noemi Weis, der aufklärt, anklagt <strong>und</strong><br />

berührt<br />

© BDL<br />

19 AUS <strong>DE</strong>R WISSENSCHAFT<br />

Stillquote nimmt leicht zu, Stilldauer<br />

stagniert<br />

21 VERNETZUNG<br />

WABA – Eine Historie ihrer Maßnahmen <strong>und</strong><br />

Erfolge<br />

22 WELTSTILLWOCHE<br />

Weltstillwoche <strong>2016</strong><br />

25 AUS <strong>DE</strong>N LAN<strong>DE</strong>SVERBÄN<strong>DE</strong>N: BDL<br />

BDL-Kurznachrichten<br />

Lange stillen ist relativ<br />

BDL-Regionaltreffen<br />

© Karl Grabherr<br />

29 INFORMATIONEN AUS <strong>DE</strong>UTSCHLAND<br />

Die Begrenzung der Stillzeiten im neuen<br />

Mutterschutzgesetz in Deutschland<br />

Stillempfehlung der nationalen<br />

Stillkommission Deutschland auf Arabisch<br />

30 AUS <strong>DE</strong>N LAN<strong>DE</strong>SVERBÄN<strong>DE</strong>N: VSLÖ<br />

<strong>Stillen</strong>, ein Fall für den Richter?<br />

R<strong>und</strong> ums Essen: Vom Kolostrum bis zur<br />

Beikost<br />

33 RUBRIK „OHNE WORTE“<br />

33 BUCHBESPRECHUNG<br />

Gewalt unter der Geburt<br />

Mutter, Vater, Kind – Geschlechterpraxen in<br />

der Elternschaft<br />

© Andrea Hemmelmayr<br />

35 AKTUELLES – EUROPÄISCHES<br />

INSTITUT FÜR STILLEN UND<br />

LAKTATION


4<br />

TITELTHEMA<br />

Langzeitstillen – <strong>Stillen</strong> im zweiten <strong>und</strong><br />

dritten Lebensjahr <strong>und</strong> danach<br />

Schon der Begriff Langzeitstillen ist missverständlich. Was bedeutet im Kontext des <strong>Stillen</strong>s „lang“?<br />

Autorin: Elizabeth Hormann<br />

Die Kontroverse beginnt mit der<br />

Diskussion über die optimale Dauer<br />

des ausschließlichen <strong>Stillen</strong>s. 2009<br />

sprach die WHO nach einer systematischen<br />

Durchsicht von 3000 Studien –<br />

sowohl aus Industriestaaten als auch<br />

aus Entwicklungsländern, darunter<br />

zwei kontrollierte Studien – ihre Empfehlung<br />

für sechs Monate ausschließliches<br />

<strong>Stillen</strong> [1] für alle Babys weltweit<br />

aus. Damit hätte das Thema abschließend<br />

geklärt sein sollen – aber daraus<br />

wurde nichts. Es vergingen keine zwei<br />

Jahre, bis das British Medical Journal<br />

(BMJ) einen Kommentar veröffentlichte,<br />

der diese Empfehlung in Frage stellte.<br />

Da dieser Kommentar in den Medien<br />

als neue Evidenz präsentiert wurde, [2]<br />

erwiderte Professorin Mary Renfrew,<br />

Direktorin der Forschungsabteilung<br />

Mutter <strong>und</strong> Säugling, University of<br />

York, Folgendes: „Dies [also der Kommentar<br />

im BMJ] ist kein Bericht über<br />

eine neue systematische Übersichtsarbeit,<br />

sondern eine Diskussion von<br />

Studien, die die Autoren nach ihrem<br />

eigenen Ermessen ausgesucht haben. Es<br />

werden keine methodologischen Einzelheiten<br />

angegeben: weder darüber, auf<br />

welcher Basis die Studien in die Analyse<br />

eingeschlossen wurden, noch darüber,<br />

wie sie deren Eignung <strong>und</strong> Qualität beurteilt<br />

haben“. [3]<br />

In einer Pressemeldung merkte Baby<br />

Milk Action an, dass „drei der vier Autoren<br />

dieses BMJ-Kommentars finanzielle<br />

Förderung von der Babynahrungsindustrie<br />

erhalten“ <strong>und</strong> kritisiert die Behauptung,<br />

dass die Einführung von Beikost zwischen<br />

vier <strong>und</strong> sechs Monaten den besten Schutz<br />

gegen Zöliakie bietet. [4]<br />

Die Evidenz zeigt, dass das Risiko für Zöliakie<br />

bei Kindern unter zwei Jahren verringert<br />

wird, wenn sie während der Einführung<br />

von glutenhaltiger Beikost noch<br />

gestillt werden. Die Fortsetzung des <strong>Stillen</strong>s<br />

während der Einführung kleiner Glutenmengen<br />

bietet noch mehr Schutz [5] .<br />

Im deutschsprachigen Raum wird folgendermaßen<br />

argumentiert: Weil Mütter<br />

ohnehin nicht sehr lange stillen, wäre<br />

eine allgemeine Empfehlung für Beikost<br />

ab Anfang des 5. Monats bis Anfang des<br />

7. Monats (in anderen Worten vier bis<br />

sechs Monate) sinnvoll, damit die Beikost<br />

zur Verringerung des Zöliakierisikos noch<br />

während der Stillzeit eingeführt werden<br />

kann. Die Gelegenheit, die Erkenntnisse<br />

aus der Zöliakieforschung mit der Empfehlung<br />

von sechs Monaten ausschließliches<br />

<strong>Stillen</strong> zu kombinieren, wurde versäumt.<br />

Leider übernahmen viele Berufsverbände<br />

<strong>und</strong> Organisationen, die ehemals die<br />

WHO-Empfehlung für ca. sechs Monate<br />

ausschließliches <strong>Stillen</strong> unterstützt haben,<br />

schnell diese neue Empfehlung. 2011 gab<br />

die WHO eine neue Erklärung heraus, die<br />

die Empfehlung aus dem Jahr 2009 bekräftigte<br />

[6] . Nach weiteren fünf Jahren sind die<br />

Meinungen immer noch gespalten.<br />

Zu den Empfehlungen zur optimalen<br />

Dauer jeglichen <strong>Stillen</strong>s (also <strong>Stillen</strong> neben<br />

fester Kost) gibt es – wie in der Vergangenheit<br />

– nach wie vor kontroverse Meinungen.<br />

Wie lange sollten Mütter stillen?<br />

Was ist zu lang?<br />

Die Situation der Mütter, die ein größeres<br />

Kind stillen, kann sich noch weiter<br />

zuspitzen. Es ist nur sieben Jahre her,<br />

dass eine Mutter in Deutschland wegen<br />

„sexuellem Missbrauch“ zu acht Monaten<br />

Freiheitsentzug auf Bewährung verurteilt<br />

wurde. [7] Die Mutter – erst wenige Monate<br />

vorher aus Vietnam gekommen – stillte<br />

ihren sechs Jahre alten Sohn <strong>und</strong> ab <strong>und</strong><br />

zu ihre acht Jahre alte Nichte. Sicherlich ist<br />

das in europäischen Kulturen ungewöhnlich<br />

– aber ist es sexueller Missbrauch?<br />

Internationale Empfehlungen <strong>und</strong> anthropologische<br />

Forschungsergebnisse weisen<br />

in eine andere Richtung.<br />

Quelle: Internet<br />

Dieses Bild zum <strong>Stillen</strong> eines Kleinkindes<br />

wird meistens als amüsant eingestuft.<br />

Das Bild rechts hingegen löste Empörung<br />

aus, als es als Titelbild des Time<br />

Magazins erschien. Dies ist ein absichtlich<br />

provozierendes Foto, das stillenden Müttern<br />

<strong>und</strong> gestillten Kleinkindern keinen Gefallen<br />

getan hat.<br />

© Time Magazine<br />

Internationale Empfehlungen<br />

Die Innocenti Deklaration aus dem Jahre<br />

1990 traf die Aussage, dass es allen Müttern<br />

„ermöglicht werden [sollte], ihre Säuglinge<br />

bis zum Alter von 4 – 6 Monaten ausschließlich<br />

zu stillen. Danach sollten die<br />

Kinder bis zum Alter von 2 Jahren <strong>und</strong><br />

darüber hinaus weiter gestillt werden <strong>und</strong><br />

zusätzlich ausreichend geeignete Beikost<br />

erhalten.“ [8] Weitere Studien [9, 10, 11] zeigten,<br />

dass 6 Monate ausschließliches <strong>Stillen</strong> –<br />

oder manchmal ein bisschen länger – für<br />

die meisten Säuglinge angemessen ist. Resolutionen<br />

der Weltges<strong>und</strong>heitsversammlung<br />

[12, 13, 14] <strong>und</strong> die überarbeitete Innocenti<br />

Deklaration 2005 bestätigten dies. [15]<br />

www.elacta.eu <strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong> 3 • <strong>2016</strong>


TITELTHEMA<br />

5<br />

„Wir haben die Vision einer Welt, in der<br />

Müttern, Familien <strong>und</strong> anderen Betreuungspersonen<br />

eine informierte Entscheidung<br />

zur optimalen Ernährung ermöglicht<br />

wird. Die optimale Ernährung wird folgendermaßen<br />

definiert: Ausschließliches<br />

<strong>Stillen</strong> in den ersten sechs Lebensmonaten<br />

mit daran anschließender Einführung<br />

von geeigneter Beikost <strong>und</strong> Fortsetzung<br />

des <strong>Stillen</strong>s bis zum Alter von zwei<br />

Jahren oder darüber hinaus.“<br />

Dies ist der internationale Standard.<br />

Regionale <strong>und</strong> nationale Standards <strong>und</strong> vor<br />

allem die Praxis sehen oft ganz anders aus.<br />

Wenn wir die Abstillkurven von 64 Entwicklungsländern<br />

[16] zu einer Zeit, als nur<br />

wenige kommerzielle oder westliche Einflüsse<br />

die traditionellen Ernährungsmuster<br />

störten, anschauen (siehe Grafik unten),<br />

sehen wir etwas ganz Interessantes: In fast<br />

keiner dieser Gesellschaften wurden die<br />

Babys vor dem Alter von einem Jahr abgestillt.<br />

Auch im Alter von zwei Jahren gab es<br />

nur eine relativ kleine Anzahl von Kindern,<br />

die keine Muttermilch mehr erhielten. Die<br />

Zahl der abgestillten Kinder stieg zwar in<br />

der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahres<br />

an, trotzdem wurde ein Viertel der Kinder<br />

bis zum dritten Geburtstag noch gestillt.<br />

Die meisten dieser Kinder beendeten<br />

das <strong>Stillen</strong> im Laufe des nächsten Lebensjahres.<br />

Einige wenige warteten bis irgendwann<br />

im fünften Lebensjahr, um sich ganz<br />

vom <strong>Stillen</strong> zu verabschieden.<br />

In der vergleichbaren Kurve für die<br />

USA gab es auch Kinder, die sehr lange gestillt<br />

wurden, die Proportionen waren aber<br />

ganz anders. Die überwiegende Mehrheit<br />

der Kinder wurde in den ersten Lebensmonaten<br />

abgestillt. An ihrem ersten Geburtstag<br />

wurden 90 % nicht mehr gestillt.<br />

Die Frage stellt sich: „Wie ist es dazu gekommen,<br />

dass sich Kinder in Industrieländern<br />

im Vergleich zu Kindern in anderen<br />

Verhältnis<br />

0,5 –<br />

0,4 –<br />

0,3 –<br />

0,2 –<br />

0,1 –<br />

Alter zum Zeitpunkt des Abstillens<br />

0,0 –<br />

| | | | |<br />

0 1 2 3 4<br />

Jahre<br />

Ländern der Welt <strong>und</strong> zu Kindern während<br />

der gesamten Menschheitsgeschichte so<br />

früh abstillen?“ Eine ausführliche Antwort<br />

würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.<br />

Aber ein Blick auf die wissenschaftliche<br />

Basis für die Fortsetzung des <strong>Stillen</strong>s<br />

nach den ersten Lebensmonaten – der<br />

Zeitspanne, in der die Unterlegenheit von<br />

künstlicher Säuglingsnahrung im Vergleich<br />

zum <strong>Stillen</strong> sehr gut dokumentiert <strong>und</strong> allgemein<br />

akzeptiert wird – gibt einige Hinweise<br />

darauf, was wir als „biologisch normal“<br />

betrachten können.<br />

<strong>Stillen</strong> im ersten Lebensjahr<br />

Etwa ab Mitte des ersten Lebensjahres zeigen<br />

die meisten Kinder großes Interesse an<br />

dem, was ihre Mitmenschen essen. Wird<br />

es ihnen nicht angeboten, drücken sie ihr<br />

Missfallen ganz deutlich aus. Dies ist ein<br />

Sprung in der intellektuellen Entwicklung,<br />

aber auch eine Reaktion auf Körpersignale,<br />

dass die Zeit gekommen ist, den gastronomischen<br />

Horizont etwas zu erweitern.<br />

Das bedeutet aber nicht, dass Muttermilch<br />

keinen Wert mehr hat. Sie bleibt für das gesamte<br />

erste Lebensjahr – <strong>und</strong> oft darüber<br />

hinaus – das wichtigste Nahrungsmittel<br />

<strong>und</strong> ist nach wie vor eine Quelle für hochwertige<br />

Kalorien, Eiweiß, Vitamine <strong>und</strong><br />

Mineralien. Die nächsten sechs Monate<br />

– oder länger – sind eine Zeit des Kennenlernens,<br />

in der feste Nahrung Muttermilch<br />

ergänzt, aber nicht ersetzt.<br />

Auch der Immunschutz [17] <strong>und</strong> die<br />

Unterstützung der Entwicklung des Zentralnervensystems<br />

werden im zweiten<br />

Halbjahr fortgesetzt <strong>und</strong> die Auswirkungen<br />

können während der gesamten Kindheit<br />

bis ins Erwachsenenalter beobachtet<br />

[18, 19, 20, 21]<br />

werden.<br />

Das Risiko künstlich ernährter Kinder<br />

im Vergleich zu gestillten Kindern an bestimmten<br />

Krankheiten zu erkranken, ist<br />

noch eindeutiger. Dies ist teilweise auf die<br />

Vereinigte Staaten<br />

Traditionelle Gesellschaften<br />

Quelle: Ford, C.S:<br />

A Comparative<br />

Study of Human<br />

Reproduction. Yale<br />

University Publications<br />

in Anthropology, No. 32,<br />

1945. New Haven,<br />

T: Human Relations<br />

Area Files Press.<br />

Schutzfaktoren in der Muttermilch zurückzuführen,<br />

die die Natur vorgesehen hat.<br />

Allergien<br />

Kinder, die kürzer als sechs Monate gestillt<br />

werden, haben mehr Ekzeme, mehr<br />

Lebensmittelintoleranz <strong>und</strong> mehr Allergien<br />

der Atemwege. Mit längerer Stilldauer<br />

steigt der Schutz gegen diese Krankheiten<br />

weiter an. Die Autoren einer Studie [22] , die<br />

Kinder bis zum Alter von 17 Jahren nachverfolgte,<br />

drückten es so aus: „Wir ziehen<br />

die Schlussfolgerung, dass <strong>Stillen</strong> gegen<br />

atopische Krankheiten – einschließlich<br />

atopischer Ekzeme, Lebensmittelintoleranz<br />

<strong>und</strong> Allergien der Atemwege – eine<br />

prophylaktische Wirkung hat. Die Wirkung<br />

ist bis in das junge Erwachsenenalter festzustellen.“<br />

Sie merkten an, dass sechs Monate<br />

<strong>Stillen</strong> erforderlich sind, um Ekzemen<br />

in den ersten drei Lebensjahren <strong>und</strong> möglicherweise<br />

auch schwerwiegenderen Atopien<br />

in der Pubertät vorzubeugen.<br />

Atemwegsinfekte <strong>und</strong> Otitis Media<br />

Viele Studien zeigen, dass das Risiko für<br />

Atemwegsinfekte steigt, wenn das Kind<br />

[23, 24]<br />

kürzer als sechs Monate gestillt wird.<br />

Und – nicht mindestens so lang zu stillen<br />

bedeutet ein höheres Risiko für Mittelohrentzündungen.<br />

[25]<br />

Diabetes<br />

Nichtstillen bedeutet ein höheres Risiko<br />

für Diabetes 2 (IDDM). Diese Korrelation<br />

ist dosisabhängig – sowohl für Kinder als<br />

[26, 27, 28, 29]<br />

auch für ihre Mütter.<br />

Adipositas<br />

Je kürzer ein Baby gestillt wird, desto<br />

höher ist das Risiko von Adipositas in der<br />

Kindheit. [30]<br />

Krebs in der Kindheit<br />

Eine Stilldauer von sechs Monaten reduziert<br />

das Risiko für Leukämie in der<br />

Kindheit [31] um 19 %. Der hohe Anteil von<br />

TNF-verwandten Apoptose-induzierenden<br />

Liganden (TRAIL) in Kolostrum <strong>und</strong> reifer<br />

Muttermilch wirken auch gegen andere<br />

Krebsarten in der Kindheit. [32]<br />

Zahnfehlstellung<br />

Der Zusammenhang zwischen <strong>Stillen</strong> <strong>und</strong><br />

normaler oraler Entwicklung ist noch nicht<br />

ganz geklärt – zum Teil wegen kleiner<br />

Probandengruppen <strong>und</strong> zum Teil wegen<br />

Störfaktoren wie Teilstillen <strong>und</strong> Schnullergebrauch.<br />

Nichtsdestotrotz zeigte eine<br />

Untersuchung neueren Datums, dass<br />

Kinder, die von 3 bis 5,9 Monate aus- ›


6 TITELTHEMA<br />

› schließlich gestillt wurden, ein um 41 %<br />

niedrigeres Risiko für Zahnfehlstellungen<br />

hatten als Kinder, die nie gestillt wurden.<br />

Die Kinder, die sechs Monate ausschließlich<br />

gestillt wurden, hatten ein um 72 %<br />

geringeres Risiko für Zahnfehlstellung. [33]<br />

Multiple Sklerose<br />

Es gibt immer noch sehr wenige Studien,<br />

die die Auswirkung des <strong>Stillen</strong>s auf die Entstehung<br />

von Multipler Sklerose im späteren<br />

Leben des Kindes erforschen. Nach<br />

einer Studie aus den 90er Jahren [34] erhöht<br />

sich das Risiko für Multiple Sklerose, wenn<br />

das Baby kürzer als sieben Monate (oder<br />

gar nicht) gestillt wird, um das Zwei- bis<br />

Dreifache. Neuere Forschung belegt, dass<br />

Babys, die wenigstens vier Monate gestillt<br />

wurden, im späteren Leben ein halb so hohes<br />

Risiko für Multiple Sklerose haben. [35]<br />

Langes <strong>Stillen</strong> ist auch für die Ges<strong>und</strong>heit<br />

der Mutter gut<br />

Für junge Frauen <strong>und</strong> Frauen im mittleren<br />

Alter erhöht eine kürzere Stillzeit das Risiko<br />

an Diabetes 2 zu erkranken. Für Frauen,<br />

die in den letzten 15 Jahren eine Geburt<br />

hatten, reduziert jedes Jahr Stillzeit<br />

das Risiko noch um weitere 15 %. [36]<br />

Eine Studie in China zeigte, dass eine<br />

Mutter, die weniger als sechs Monate stillt,<br />

im Vergleich zu einer Frau, die ein Kind<br />

zwei Jahre lang stillt, ein doppelt so hohes<br />

Risiko für Brustkrebs hat. [37] Auch eine<br />

Metaanalyse aus 30 Ländern bestätigt das<br />

erhöhte Risiko. [38] Das relative Risiko für<br />

Brustkrebs wird mit jedem Jahr, das eine<br />

Mutter stillt, um 4,3 % reduziert. Diese<br />

Studie zeigte auch, dass die Vorteile für<br />

Mütter, die in ihrer Lebenszeit ein Jahr<br />

stillten, im Vergleich zu Müttern, die mehr<br />

als zwei Jahre stillten, halb so groß waren.<br />

Mehr als zwei Jahre Stillzeit war mit noch<br />

mehr Schutz für die Mutter verb<strong>und</strong>en.<br />

Auch die Risiken für Eierstock- [39] <strong>und</strong><br />

Gebärmutterkrebs [40] sind für Frauen<br />

unter 55, die kürzer gestillt haben, erhöht.<br />

<strong>Stillen</strong> im zweiten Lebensjahr <strong>und</strong><br />

darüber hinaus<br />

Was spricht dafür, nach dem ersten Geburtstag<br />

zu stillen? Überraschend viel! Ernährung,<br />

zum Beispiel.<br />

Muttermilch liefert 70 [41] –75 [42] Kilokalorien<br />

pro 100 ml. Diese Kalorien können im<br />

Ernährungsstatus des Kleinkindes einen<br />

entscheidenden Unterschied machen – vor<br />

allem, aber nicht nur in Entwicklungsländern.<br />

Eine klassische <strong>und</strong> nach wie<br />

vor relevante Studie [43] auf diesem Gebiet<br />

zeigt, dass in manchen Gegenden Kinder,<br />

die nach dem Alter von 18 Monaten nicht<br />

mehr gestillt werden, eine um 17 % geringere<br />

Energiezufuhr haben könnten als Kinder,<br />

die feste Kost essen <strong>und</strong> noch gestillt<br />

werden. Zwischen dem 6. <strong>und</strong> dem 24. Lebensmonat<br />

beträgt die Muttermilchmenge<br />

ca. 500 ml täglich. Demzufolge enthält<br />

sie einen großen Teil der Kalorien, die ein<br />

Kind in diesem Alter braucht. Im Notfall<br />

kann die Milchmenge gesteigert werden,<br />

<strong>und</strong> auch ein Kind, das normalerweise Beikost<br />

isst, kann für eine kurze Zeit wieder<br />

ausschließlich mit Muttermilch ernährt<br />

werden.<br />

Zwischen dem 12. <strong>und</strong> 23. Monat decken<br />

448 ml Muttermilch pro Tag: [44]<br />

29 % des Energiebedarfs,<br />

43 % des Eiweißbedarfs,<br />

36 % des Kalziumbedarfs,<br />

75 % des Bedarfs an Vitamin A ,<br />

76 % des Folsäurebedarfs,<br />

94 % des Bedarfs an Vitamin B12,<br />

60 % des Bedarfs an Vitamin C.<br />

Bioverfügbarkeit, Vitamine <strong>und</strong><br />

Mineralien<br />

Die Kalorien der Muttermilch sind keine<br />

leeren Kalorien. Muttermilch bleibt eine<br />

wichtige Quelle für Eiweiß, Vitamine <strong>und</strong><br />

andere Nährstoffe – in hoher Qualität <strong>und</strong><br />

Bioverfügbarkeit. Wieviel eines Nährstoffs<br />

die Muttermilch enthält, ist nicht die zentrale<br />

Frage. Eher sollten wir uns fragen:<br />

„Wie gut ist die Bioverfügbarkeit?“ Es nutzt<br />

also nichts, wenn der Nährstoff zwar vorhanden<br />

ist, aber das Kind nicht darüber<br />

verfügen kann.<br />

Beispielsweise wird das Eiweiß der<br />

Muttermilch besonders gut absorbiert. Im<br />

zweiten Lebensjahr deckt Muttermilch ungefähr<br />

29 % des Eiweißbedarfes des Kindes.<br />

Und beim Thema Vitamine <strong>und</strong> Mineralien<br />

ist dieser Effekt noch ausgeprägter.<br />

Muttermilch deckt im zweiten Lebensjahr<br />

Dreiviertel des kindlichen Bedarfes an Vitamin<br />

A. In nicht industrialisierten Ländern<br />

kann dieser Effekt besonders wichtig sein.<br />

Besonders in Afrika haben nicht gestillte<br />

Kinder ein sechs- bis achtfach höheres Risiko,<br />

an Xerophthalmie, einer Vitamin-A-<br />

Mangelerkrankung des Auges, zu erkranken<br />

als gestillte Kinder [45] . Der Schutz bleibt<br />

während der ganzen Stillzeit erhalten.<br />

Etwa 43 % des Eisenbedarfes zwischen<br />

ein <strong>und</strong> zwei Jahren kann durch Muttermilch<br />

gedeckt werden. Der Eisengehalt<br />

der Muttermilch ist zwar niedriger als in<br />

Kuhmilch, aber das Eisen wird bis zu 50 %<br />

aus der Muttermilch absorbiert (zum Vergleich:<br />

4 % des Eisens in der Kuhmilch wird<br />

absorbiert) [46] , sodass ein nicht gestilltes<br />

Kind schlechter mit Eisen versorgt ist als<br />

ein gestilltes.<br />

Immunfaktoren<br />

Immunfaktoren bleiben auch im zweiten<br />

<strong>und</strong> dritten Lebensjahr <strong>und</strong> danach wichtig.<br />

Heute ist bekannt, dass der Anteil an<br />

Immunglobulinen nach dem sechsten<br />

Monat zunimmt – anscheinend als Reaktion<br />

auf die sinkende Milchmenge. In<br />

einer vor kurzem veröffentlichten Studie [47]<br />

schrieben die Autoren, dass “Frauenmilch<br />

im zweiten Jahr postpartum signifikant<br />

höhere Konzentrationen von Eiweiß, Laktoferrin,<br />

Lysozym <strong>und</strong> Immunglobuline A<br />

enthielt als Proben aus Frauenmilchsammelstellen<br />

…“. Dabei wurde die Frauenmilch<br />

aus dem zweiten Jahr postpartum<br />

mit gepoolten, nicht pasteurisierten Milchspenden<br />

von 51 überprüften Spenderinnen,<br />

bei denen weniger als 12 Monate seit<br />

der Geburt verstrichen waren, verglichen.<br />

Wenn wir darüber nachdenken, ist es<br />

auch ganz logisch, dass einige Schutzfaktoren<br />

gerade in dieser Phase ansteigen, weil<br />

Kinder ab dem Alter von sechs Monaten<br />

sehr mobil werden. Sie kommen überall<br />

hin <strong>und</strong> stecken alles in den M<strong>und</strong>. Sie benötigen<br />

so viel Schutz, wie wir ihnen nur<br />

anbieten können!<br />

Dieser Schutz erfolgt durch verschiedene<br />

Immunfaktoren, unter anderem durch<br />

die folgenden:<br />

› Lysoyzm, ein unspezifischer antimikrobieller<br />

Faktor, der in der Muttermilch<br />

angereichert wird, erreicht nach 6 Monaten<br />

die höchste Konzentration. [48]<br />

1 ml Muttermilch enthält r<strong>und</strong> 4000<br />

lebende Zellen (überwiegend Lymphozyten<br />

<strong>und</strong> Makrophagen), die das Wachstum<br />

von Bakterien, Viren, Pilzen <strong>und</strong><br />

Parasiten hemmen.<br />

› Der Bifidusfaktor in der Muttermilch<br />

fördert nach wie vor das Wachstum des<br />

Lactobacillus bifidus im kindlichen Darm,<br />

sodass sich Staphylokokken gar nicht<br />

erst ausbreiten können.<br />

› Interferon, ein Antivirusfaktor, <strong>und</strong> Laktoferrin,<br />

das das Wachstum von E. Coli,<br />

Salmonellen, Staphylokokkus aureus <strong>und</strong><br />

einigen Formen von Candida verhindert,<br />

sind ebenfalls in der Muttermilch<br />

enthalten.<br />

www.elacta.eu <strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong> 3 • <strong>2016</strong>


TITELTHEMA<br />

7<br />

Das „natürliche“ Abstillalter<br />

Aus der Forschung ist es bekannt, dass<br />

Muttermilch ihren Wert für die Ernährung<br />

<strong>und</strong> die Immunabwehr behält, solange sie<br />

gebildet wird. Trotzdem ist es irgendwann<br />

notwendig, dass die Stillbeziehung zu<br />

einem Ende kommt – aber wann?<br />

Die Anthropologin, Katherine Dettwyler,<br />

versuchte diese Frage durch vergleichende<br />

Studien von Kulturen <strong>und</strong> Primaten<br />

näherungsweise zu beantworten.<br />

Ich werde hier auf viele der Vergleiche mit<br />

Primaten verzichten – obwohl sie hochinteressant<br />

<strong>und</strong> überzeugend sind – <strong>und</strong><br />

meistens nur vergleichende Studien von<br />

Kulturen berücksichtigen. Auf ihrer Suche<br />

nach einem „hominiden Entwurf“ (hominide<br />

blueprint) für das „natürliche“ Abstillalter<br />

hat Dettwyler verschiedene Kriterien<br />

betrachtet:<br />

› Das Alter, in dem das Kind sein Geburtsgewicht<br />

vervierfacht [49]<br />

› Das Alter, in dem das Kind 1/3 des<br />

durchschnittlichen Erwachsenengewichts<br />

[50] erreicht<br />

› Vergleich mit der Schwangerschaftsdauer<br />

(6 x die Anzahl Schwangerschaftswochen<br />

eines zum Termin geborenen<br />

Babys, basierend auf vergleichenden<br />

Studien von Primaten) [51]<br />

› Das Alter beim Durchbrechen der ersten<br />

bleibenden Backenzähne [52]<br />

Nach keinem der Kriterien würde ein Kind<br />

unter 2,3 Jahren abgestillt <strong>und</strong> die Obergrenze<br />

wären 6 Jahre für Mädchen <strong>und</strong> 7<br />

Jahre für Jungen. Übrigens ist das Alter, ab<br />

dem das eigene Immunsystem des Kindes<br />

reif <strong>und</strong> unabhängig funktioniert, 6 Jahre.<br />

Bis zu diesem Alter, schreibt Dr. Dettwyler,<br />

können die Lymphokine in der Muttermilch<br />

die aktive Immunantwort – sowohl<br />

im Serum als auch in den sekretorischen<br />

Zellen – steigern. [53]<br />

Ist die Vorstellung, dass Muttermilch<br />

eine positive Auswirkung auf das Immunsystem<br />

des Kindes bis zum Alter von sechs<br />

Jahren haben könnte, so extrem? Eigentlich<br />

nicht. Bedenken wir Folgendes: Mittlerweile<br />

ist über den Einsatz gespendeter<br />

Frauenmilch für die Behandlung verschiedener<br />

Krankheitsbilder wiederholt berichtet<br />

worden:<br />

› Marinkovich [54] (1988) berichtete von<br />

der Behandlung mit täglich 100 ml frischer<br />

Frauenmilch bei IgA-Insuffizienz.<br />

› Merhave <strong>und</strong> Kollegen berichteten über<br />

die Behandlung eines Patienten mit<br />

einer Lebertransplantation für IgA-Insuffizienz<br />

mit ca. 340 ml Frauenmilch<br />

täglich. [55]<br />

› Asquith [56] berichtete über den Einsatz<br />

von Frauenmilch während einer Therapie<br />

für Leukämie <strong>und</strong> Knochenmarktransplantationen.<br />

› Young [57] berichtete über den Einsatz<br />

von Frauenmilch, um Kindern nach Verbrennungen<br />

eine Energiequelle bereitzustellen,<br />

die leicht metabolisiert wird <strong>und</strong><br />

zusätzlich dazu Immunglobuline, bakteriostatischen<br />

Schutz <strong>und</strong> Wachstumsfaktoren<br />

für die W<strong>und</strong>heilung enthält.<br />

› Wright benutzte für Erwachsene in den<br />

ersten Tagen nach Lebertransplantation<br />

frische Frauenmilch [58] <strong>und</strong><br />

› Wiggins and Arnold berichteten über<br />

den erfolgreichen Einsatz von Spendermilch<br />

für die Behandlung von gastroösophagealem<br />

Reflux bei einem erwachsenen<br />

Patienten. [59]<br />

Ist es vor diesem Hintergr<strong>und</strong> so schwierig<br />

einzusehen, dass die Milch der eigenen<br />

Mutter über eine lange Zeit – vielleicht<br />

sogar bis zum Schulalter – als effektiver<br />

Stimulus für das eigene Immunsystem<br />

des Kindes dienen kann? Aber sollten wir<br />

unsere Empfehlungen für ein angemessenes<br />

Abstillalter so hoch setzen? Nicht unbedingt.<br />

La Leche League sagt schon seit<br />

langem: „Im Idealfall wird die Stillbeziehung<br />

fortgesetzt, bis ihr das Kind entwachsen<br />

ist.“ [60] Das eine Kind wächst früher<br />

aus dieser Phase heraus, das andere später.<br />

Weil aber das <strong>Stillen</strong> eine Partnerschaft ist,<br />

spielen die Bedürfnisse <strong>und</strong> Wünsche der<br />

Mutter auch eine Rolle. Wir möchten hier<br />

keine neuen Vorschriften machen, sondern<br />

durch die Betrachtung der wissenschaftlichen<br />

<strong>und</strong> anthropologischen Forschungsergebnisse<br />

eine erweiterte Vorstellung des<br />

„normalen“ Abstillalters schaffen <strong>und</strong> damit<br />

eine größere Toleranz für die Mütter<br />

aufbauen, deren persönliche Umsetzung<br />

des <strong>Stillen</strong>s von der kulturellen Norm abweicht.<br />

Elizabeth Hormann<br />

Dipl.-Pädagogin, IBCLC,<br />

Autorin <strong>und</strong> Übersetzerin,<br />

in der Vergangenheit<br />

Jahrzehnte lang tätig als<br />

Psychotherapeutin, BFHI-<br />

Gutachterin <strong>und</strong> Referentin<br />

für ELACTA.<br />

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