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Laktation_und_Stillen_2015-4 S1-11

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<strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong><br />

Zeitschrift der Europäischen <strong>Laktation</strong>sberaterinnen Allianz • www.elacta.eu • ISSN 1614-807x<br />

AUS DER PRAXIS<br />

Hürden in der ärztlichen<br />

Stillförderung – Seite 4<br />

AUS DER PRAXIS<br />

Erster Lehrstuhl für Muttermilchforschung<br />

in der Medizin – Seite 8<br />

TITELTHEMA<br />

Muttermilchspenden –<br />

Seite 9<br />

4 • <strong>2015</strong> 28. Jahrgang


2<br />

EDITORIAL<br />

EDITORIAL<br />

Liebe Mitglieder, liebe Leserinnen<br />

<strong>und</strong> Leser,<br />

Die Legislaturperiode des ELACTA Vorstandes neigt sich dem Ende zu. Es<br />

stellen sich die Fragen, was wurde erledigt, was konnte erreicht werden, was<br />

bleibt im verbleibenden halben Jahr noch zu tun, was muss verschoben werden<br />

auf die nächste Periode. Natürlich braucht es stets ein wenig frischen Wind. In<br />

diesem Sinne: Bitte beachten Sie unseren „Call for Boardmembers“ <strong>und</strong> nehmen<br />

Sie bei Interesse an dieser spannenden Aufgabe Kontakt auf mit ihrem eigenen<br />

Landesverband <strong>und</strong> mit dem ELACTA Vorstand.<br />

Europa bewegte in den letzten Monaten wohl am meisten die Flüchtlingskrise.<br />

Genau zur rechten Zeit beschäftigte sich die Ausgabe 2/<strong>2015</strong> mit diesem<br />

Thema. Besonderen Anklang fand <strong>und</strong> findet das gezeichnete Handout, das wir in<br />

17 verschiedenen Sprachen (Stand Ende Oktober 15) anbieten können. Wir arbeiten<br />

weiter daran <strong>und</strong> freuen uns über Übersetzungen in weitere Sprachen. Bitte<br />

besuchen sie unsere Homepage www.elacta.eu. Im Menüpunkt „Fachzeitschrift“<br />

finden sie unter dem Unterpunkt Downloads neben all den andern nützlichen<br />

Handouts auch dieses praktische Hilfsmittel.<br />

Außerdem finden sie auf unserer Homepage Informationen <strong>und</strong> Anmeldemöglichkeiten<br />

für den ELACTA/Galaxias Stillkongress 2016 in Athen.<br />

ELACTA ist ein länderübergreifendes, interessantes <strong>und</strong> spannendes Netzwerk,<br />

so ist es uns, ergänzend zur letzten Ausgabe mit dem Schwerpunkt BFHI,<br />

gelungen die Situation von BFHI in <strong>11</strong> verschiedenen europäischen Ländern zu<br />

erheben <strong>und</strong> gegenüberzustellen. Alleine aus dieser Aufzählung wird die Vielfalt<br />

der Stillberatung innerhalb Europas ersichtlich, aber auch wie wichtig es wäre <strong>Stillen</strong><br />

als Ges<strong>und</strong>heitsprävention innerhalb der EU besser zur verankern <strong>und</strong> zu koordinieren.<br />

Diese Ausgabe beschäftigt sich mit ausgesprochen umstrittenen Themen in<br />

der Stillberatung – wir freuen uns auf weitere Diskussionen darüber:<br />

› Ein Lehrstuhl für Muttermilchforschung in der Medizin wird uns in den<br />

nächsten Jahren sicherlich mit neuen Informationen versorgen.<br />

Finanziert wird der Lehrstuhl durch eine private Stiftung – auch wenn der<br />

Stiftungsrat Michael Larsson (u. a. Verwaltungspräsident der Firma Medela)<br />

betont, dass die Universität volle Forschungs- <strong>und</strong> Lehrfreiheit habe, ist ein<br />

Interessenkonflikt nicht ausgeschlossen.<br />

› Stillhütchen – ein täglich vielfach benutztes Hilfsmittel – Dr. Beate Pietschnig<br />

geht in einer Studie der Frage nach, ob Stillhütchen die Stilldauer beeinflussen.<br />

› Muttermilchbörsen: Von einigen als Rückschritt in eine längst vergangene Zeit<br />

gesehen. Gibt es eine Möglichkeit diese gelebte Frauengemeinschaft <strong>und</strong> Müttersolidarität<br />

sicher zu gestalten, sodass mehr Kinder, deren Mütter keine oder<br />

nicht ausreichend Muttermilch zur Verfügung stellen können, mit Frauenmilch<br />

ernährt werden können?<br />

› Stillberatung in der ärztlichen Praxis – drei deutsche Gynäkologinnen informieren<br />

darüber, dass die Erwartungen der jungen Mütter kaum in der gelebten<br />

Praxis erfüllt werden können.<br />

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lesezeit<br />

Andrea Hemmelmayr, IBCLC<br />

Präsidentin von ELACTA<br />

IMPRESSUM<br />

Herausgeber:<br />

ELACTA Europäische<br />

<strong>Laktation</strong>sberaterinnen Allianz<br />

www.elacta.eu<br />

E-Mail: magazin@elacta.eu<br />

ZVR-Nr.: 708420941<br />

ELACTA Präsidentin:<br />

Andrea Hemmelmayr, IBCLC<br />

Wigretsberg 15<br />

A-4175 Herzogsdorf<br />

Redaktionelle Leitung <strong>und</strong><br />

Projektkoordination:<br />

Eva Bogensperger-Hezel, IBCLC<br />

E-Mail: magazin@elacta.eu<br />

Mitarbeiterinnen:<br />

Andrea Hemmelmayr, IBCLC,<br />

Stefanie Frank, IBCLC, Elke<br />

Cramer, Ärztin, IBCLC, Kathrin<br />

Meier, IBCLC, Bärbel Waldura,<br />

IBCLC, Márta Gúoth-Gumberger,<br />

IBCLC, Gudrun von der Ohe,<br />

Ärztin, IBCLC<br />

Übersetzungen:<br />

Márta Gúoth Gumberger, IBCLC,<br />

Elizabeth Hormann, IBCLC,<br />

Annika Cramer, Martina Hezel,<br />

Vera Bogensperger<br />

Einzelabonnements:<br />

E-Mail: magazin@elacta.eu<br />

Jahresabonnement: 41,– €<br />

Einzelnummer: 12,– €<br />

Fotos: © siehe Bilder;<br />

Titelfoto: iStock<br />

Layout: Christoph Rossmeissl<br />

Produktion: EinDRUCK<br />

Auflage: 2.500 Stück<br />

Erscheinungsweise 4-mal<br />

jährlich, jeweils Ende März, Juni,<br />

September <strong>und</strong> Dezember<br />

Redaktionsschluss: 15. Januar,<br />

15. April, 15. Juli, 15. Oktober<br />

Leserbriefe<br />

Liebe Leserinnen <strong>und</strong> Leser!<br />

Ihre Meinung ist uns wichtig.<br />

Leserbriefe schicken Sie bitte<br />

an folgende E-Mail:<br />

magazin@elacta.eu<br />

www.elacta.eu <strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong> 4 • <strong>2015</strong>


INHALT<br />

3<br />

Foto: iStock<br />

2 EDITORIAL<br />

4 AUS DER PRAXIS<br />

Hürden in der ärztlichen Stillförderung<br />

Erster Lehrstuhl für Muttermilchforschung<br />

in der Medizin<br />

9 TITELTHEMA<br />

Muttermilchspenden<br />

12 VERNETZUNG<br />

ILCA<br />

Foto: Eva Bogensperger<br />

13 HANDOUT<br />

15 ELACTA-NACHRICHTEN<br />

Bericht von der ILCA-Konferenz<br />

Der ELACTA/GALAXIAS Kongress in Athen<br />

rückt näher!<br />

Aus den Landesverbänden<br />

Call for new boardmembers!<br />

18 BFHI IN EUROPA<br />

BFHI in Europa<br />

20 WISSENSCHAFT<br />

Beeinflusst die Verwendung von<br />

Saughütchen die Stilldauer?<br />

Foto: Anfrea Hemmelmayr<br />

25 BUCHBESPRECHUNG INTERNATIONAL<br />

Sheila Kitzinger. A Passion for Birth:<br />

My Life. Anthropology, Family and Feminism.<br />

26 LESERBRIEFE<br />

26 AUS DEN LANDESVERBÄNDEN: BDL<br />

Familienpolitik aktuell – europaweit<br />

einheitliche Regelung des Mutterschutzes<br />

vorerst gescheitert<br />

Wo finden Regionaltreffen des BDL statt?<br />

28 AUS DEN LANDESVERBÄNDEN: VSLÖ<br />

Neues vom VSLÖ<br />

29 BUCHBESPRECHUNG<br />

Ohne Deutsch im Kreißsaal<br />

Foto: Karl Grabherr<br />

30 AKTUELLES – EUROPÄISCHES<br />

INSTITUT FÜR STILLEN UND<br />

LAKTATION


4<br />

AUS DER PRAXIS<br />

Hürden in der ärztlichen<br />

Stillförderung<br />

Nur individuell empf<strong>und</strong>en oder tatsächlich vorhanden? Elke Cramer, IBCLC, Dr. med. Alexandra Glaß, IBCLC <strong>und</strong> Jeanette Vocht, IBCLC<br />

Ausgangspunkt der Betrachtung<br />

zur Situation der gynäkologischen<br />

Patientin mit Stillwunsch bzw. Stillproblemen<br />

in der Sprechst<strong>und</strong>e ihres<br />

betreuenden Frauenarztes sind Daten,<br />

die der BDL in Kooperation mit der Universität<br />

Osnabrück, Forschungsschwerpunkt<br />

Maternal and Child Health im<br />

Jahre 2010 erhoben hat: Es besteht eine<br />

Diskrepanz zwischen dem Beratungswunsch<br />

der Frau – 48,5 % der Befragten<br />

halten Stillberatung in der Frauenarztpraxis<br />

für sehr wichtig – <strong>und</strong> der Realität:<br />

Nur 18,3 % der Frauen gaben in der<br />

Umfrage an, tatsächlich zum <strong>Stillen</strong> beraten<br />

worden zu sein.<br />

Von den Frauen, die keine Beratung erhalten<br />

hatten, hätten sich laut BDL Umfrage<br />

60 % diese aber gewünscht. Offenbar sprechen<br />

die Frauen das drängende Thema also<br />

nicht von sich aus an, signalisieren damit<br />

den vorhandenen Bedarf nicht, sodass der<br />

Frauenarzt schlussfolgern kann, dass die<br />

schwangere bzw. stillende Patientin bereits<br />

ausreichend informiert ist. Macht er<br />

allerdings ein aktives Gesprächsangebot,<br />

in dem er mit offenen Fragen spezielle Bedürfnisse<br />

aufdeckt, so könnte die knappe<br />

Ressource Zeit in der gynäkologischen<br />

Sprechst<strong>und</strong>e optimal genutzt werden, um<br />

gezielte Informationen zu vermitteln <strong>und</strong><br />

Lösungsstrategien anzubieten: Während<br />

Abb. 1: Knapp die Hälfte aller Befragten erachtet eine Stillberatung in der Frauenarztpraxis<br />

für sehr wichtig.<br />

die berufstätige Patientin vielleicht v.a.<br />

Sorge hat um die Vereinbarkeit von <strong>Stillen</strong><br />

<strong>und</strong> Erwerbstätigkeit, belasten die Zweitgebärende<br />

möglicherweise negative Erfahrungen<br />

aus der vorangegangenen Stillzeit.<br />

Amerikanische Daten zeigten 2004,<br />

dass für 39 % der Mütter der Rat ihres<br />

Gynäkologen sehr wichtig war, während<br />

nur 8 % der Gynäkologen dieser Einfluss<br />

bewusst war. Während 91 % der Gynäkologen<br />

angaben, immer anzusprechen, ob<br />

die Mutter nach der Rückkehr in den Beruf<br />

weiter stillen möchte, bestätigten nur 55 %<br />

der Mütter, dass dieses Thema angesprochen<br />

wurde. 1<br />

Wir haben also ein Kommunikationsproblem<br />

zwischen dem Frauenarzt <strong>und</strong><br />

der (werdenden) Mutter <strong>und</strong> mehr noch:<br />

Dieses wirkt sich negativ auf das Stillverhalten<br />

aus. Daten aus dem Jahre 2003 zeigen,<br />

dass 6 Wochen nach der Geburt noch<br />

70 % der Frauen stillten, die glaubten,<br />

dass ihr Gynäkologe <strong>Stillen</strong> befürwortet.<br />

Der Anteil der Frauen, die glaubten, ihr<br />

Gynäkologe habe keine Präferenz, betrug<br />

demgegenüber nur 54 %. 2 Was sind aber<br />

die Indikatoren, die eine Frau abschätzen<br />

lassen, welche Präferenz der betreuende<br />

Frauenarzt hat, wenn von Seiten des Gynäkologen<br />

kein aktives Gesprächsangebot<br />

zum Thema <strong>Stillen</strong> erfolgt? Hier sei das<br />

Positionspapier der American Academy of<br />

Family Physicians aus dem Jahre 2014 als<br />

Hinweis genannt, denn als „Hausärzte der<br />

Frauen“ erreicht der Gynäkologe nicht nur<br />

die Mütter, sondern oft auch die (werdenden)<br />

Großmütter: Die US amerikanischen<br />

Hausärzte werden hierin aufgefordert, eine<br />

stillfre<strong>und</strong>liche Praxisatmosphäre zu schaffen,<br />

in der <strong>Stillen</strong> als natürliche <strong>und</strong> beste<br />

Ernährung unserer Babys in Wort- <strong>und</strong><br />

Bildbotschaften vermittelt wird. (Siehe das<br />

Wartezimmerposter, Abb. 3)<br />

Abb. 2: Nur wenige Frauen gaben an, in der Frauenarztpraxis eine<br />

Stillberatung erhalten zu haben.<br />

Quelle: Frauenarzt 52 (20<strong>11</strong>) Nr.9 Stillberatung als wichtiger Teil der Schwangerenvorsorge, B.Borrmann,<br />

E.Cramer, M. Steffens<br />

www.elacta.eu <strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong> 4 • <strong>2015</strong>


AUS DER PRAXIS<br />

5<br />

Abb. 3:<br />

Wartezimmerposter<br />

der AAFP<br />

(American Academy of<br />

Family Physicians)<br />

Was sind nun die Gründe, warum FrauenärztInnen<br />

in Deutschland dem vorhandenen<br />

Bedarf ihrer Patientinnen nicht gerecht<br />

werden?<br />

Zunächst einmal stehen FrauenärztInnen<br />

in dem generellen Spannungsfeld,<br />

dass die ärztlichen Leistungen vor, während<br />

<strong>und</strong> nach der Schwangerschaft sich<br />

auf die Pathologie der Brust konzentrieren<br />

<strong>und</strong> wenig geeignet sind, das Vertrauen der<br />

Mutter in ihren Körper zu stärken.<br />

In der gynäkologischen Praxis zeigt<br />

sich dies an folgenden Stellen besonders<br />

markant:<br />

Wir wissen, dass es sowohl vor als auch<br />

während der Schwangerschaft wichtig ist,<br />

die potentiellen Mütter über das <strong>Stillen</strong> aufzuklären.<br />

In der Realität ist im Rahmen der<br />

Vorsorgeuntersuchungen kein Gespräch<br />

über das <strong>Stillen</strong> vorgesehen <strong>und</strong> wird auch<br />

nicht vergütet. Bei der Wochenbettuntersuchung<br />

6–8 Wochen post partum ist es<br />

häufig schon zu spät für Stillberatung, viele<br />

Mütter haben zu diesem Zeitpunkt bereits<br />

zugefüttert oder abgestillt, oft aufgr<strong>und</strong><br />

mangelnder Unterstützung.<br />

Wir wissen, dass Stillberatung Zeit <strong>und</strong><br />

Ruhe braucht. In der Realität bedeutet Zeitdruck<br />

in der Praxis, dass für eine Patientin<br />

exakt 10 Minuten Zeit zur Verfügung stehen,<br />

um wirtschaftlich arbeiten zu können.<br />

In der Regel rechnen die Krankenkassen<br />

pauschal pro Quartal ab, viele Besuche<br />

einer Patientin „rentieren“ sich nicht. Wer<br />

gut <strong>und</strong> gründlich berät, tut dies also größtenteils<br />

„ehrenamtlich“.<br />

Der Zeitaufwand, den die eigene Fort<strong>und</strong><br />

Weiterbildung zu Fragen der <strong>Laktation</strong><br />

umfassen würde <strong>und</strong> den eine kompetente<br />

Beratung der Frau mit Stillwunsch oder<br />

Stillproblemen fordern würde, wird im<br />

fachärztlichen Abrechnungssystem nicht<br />

angemessen vergütet: Nach Abrechnungsziffern<br />

für Stillberatung sucht man in der<br />

ärztlichen Praxisgebührenordnung vergeblich.<br />

Unter 20€ kann der Gynäkologe<br />

im Quartal für alle Kontakte derselben Patientin<br />

in seiner Praxis zulasten derselben<br />

Krankenkasse abrechnen (Leistungsziffer<br />

Breastfeeding<br />

is welcome here.<br />

Your family medicine team supports your healthy choice<br />

to breastfeed. If you prefer a private space, please ask<br />

at the front desk.<br />

082<strong>11</strong> <strong>und</strong> 08220 als Zuschlag zur gynäkologischen<br />

Gr<strong>und</strong>versorgung). Die zusätzliche<br />

Position 01770 für die Betreuung einer<br />

Schwangeren im Laufe eines Quartals kann<br />

nur von einem Vertragsarzt abgerechnet<br />

werden, auch dann, wenn durch Vertretung,<br />

Notfall oder bei Mit- <strong>und</strong> Weiterbehandlung<br />

mehrere Vertragsärzte in die<br />

Betreuung eingeb<strong>und</strong>en sind. Wenn diese<br />

Ziffer auch im auf die Entbindung folgenden<br />

Quartal abgerechnet werden kann bei<br />

Stillproblemen, Brustentzündung oder<br />

Rückbildungsstörung, kann die Vergütung<br />

in Höhe von knapp 100 € nur der erste im<br />

rechtlich zulässigen Zeitraum abrechnende<br />

Arzt in Anspruch nehmen. Andernfalls<br />

besteht die gesetzliche Verpflichtung, die<br />

Abrechnungsdaten auf Plausibilität zu prüfen<br />

<strong>und</strong> den zweiten abrechnenden Arzt in<br />

Regress zu nehmen. Dieser müsste also,<br />

um am Ende nicht „leer“ auszugehen, die<br />

beratene Patientin eine Erklärung unterschreiben<br />

lassen, dass er im Falle eines Regresses<br />

privat mit ihr abrechnen darf. Dem<br />

Ges<strong>und</strong>heitssystem in Deutschland ist also<br />

eine umfassende ärztliche Begleitung <strong>und</strong><br />

Beratung der stillwilligen Patientin durch<br />

einen speziell ausgebildeten Arzt max.<br />

etwa 120 € pro Quartal wert, d.h. einen<br />

finanziellen Anreiz, sich als Gynäkologe<br />

weiterzubilden <strong>und</strong> zu spezialisieren auf<br />

dem Gebiet der <strong>Laktation</strong>smedizin, gibt es<br />

nicht. Darüber hinaus erfordert eine kompetente<br />

Beratung, sowohl im Vorfeld als<br />

auch bei konkreten Stillhindernissen einen<br />

Zeitaufwand, der in der täglichen Sprechst<strong>und</strong>e<br />

bei nahezu fehlender Vergütung<br />

nicht zu leisten ist.<br />

In dem Spagat zwischen Wissen <strong>und</strong><br />

Realität können wir jedoch einige Kompromisse<br />

finden:<br />

Im Rahmen der Krebsvorsorge können<br />

wir bei der regulären Tastuntersuchung<br />

der Brust <strong>und</strong> Anleitung zur Selbstuntersuchung<br />

die Frauen über Bau <strong>und</strong> Funktion<br />

der Brust bzw. die werdenden Mütter<br />

über die Veränderungen der Brust in der<br />

Schwangerschaft <strong>und</strong> das <strong>Stillen</strong> aufklären.<br />

Bei den 3 Ultraschalluntersuchungen<br />

können wir den häufig anwesenden Vater<br />

mit einbeziehen <strong>und</strong> versuchen, dabei auch<br />

das <strong>Stillen</strong> anzusprechen, z.B. wenn wir beobachten,<br />

dass das Kind am Daumen saugt<br />

oder schluckt.<br />

Vor der Geburt existiert die Möglichkeit,<br />

die Schwangere über die Abrechnungsziffer<br />

01780 vorgeburtlich in der Entbindungsklinik<br />

vorzustellen: Zum einen zur<br />

Geburtsplanung bei Risikofaktoren (Z.n.<br />

Sectio, Makrosomie, BEL, Gemini…) mit<br />

Untersuchung <strong>und</strong> Ultraschall, aber auch<br />

zum vorgeburtlichen Gespräch ohne Ultraschall<br />

beim Fehlen von Risikofaktoren.<br />

Bei der Überweisung zu dieser Vorstellung<br />

können wir die Schwangere sensibilisieren,<br />

in der Klinik Routinen im Kreißsaal <strong>und</strong><br />

auf der Wochenstation zu erfragen <strong>und</strong> auf<br />

ihre Stillfre<strong>und</strong>lichkeit zu überprüfen.<br />

Auch in der Klinik ergeben sich ähnliche<br />

Spannungsfelder:<br />

Ein Teil der Frauen, die zur Geburt<br />

kommen, hat keinen Geburtsvorbereitungskurs<br />

besucht <strong>und</strong> ist nicht informiert<br />

über die Abläufe im Kreißsaal <strong>und</strong> auf der<br />

Wochenstation.<br />

Es ist hilfreich, diese Abläufe bereits in<br />

der Schwangerschaft bei der Kreißsaalführung,<br />

beim Infoabend oder bei stationären<br />

Aufenthalten durch speziell geschulte Hebammen,<br />

Pflegekräfte <strong>und</strong> Ärzte zu thematisieren,<br />

wofür in der Praxis wenig Zeit bleibt.<br />

Einzig im Kreißsaal ist der ärztliche<br />

Beitrag zur Förderung von <strong>Stillen</strong> <strong>und</strong> Bonding<br />

überschaubar, er beschränkt sich in<br />

der Regel auf das Nicht-Stören <strong>und</strong><br />

ermutigendes Interesse. ›


6<br />

AUS DER PRAXIS<br />

›<br />

Auf der Wochenstation wissen wir, dass<br />

bei der Visite ärztliche Erklärungen <strong>und</strong><br />

Anregungen zum <strong>Stillen</strong> erheblich dazu<br />

beitragen können, dass die Vorschläge von<br />

Schwestern <strong>und</strong> Hebammen akzeptiert<br />

<strong>und</strong> umgesetzt werden.<br />

In der Realität ist für die Wochenbettvisite<br />

(„ges<strong>und</strong>e Frauen <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>e Kinder“)<br />

in der Regel wenig Zeit vorhanden.<br />

Der einzige Kompromiss, den wir momentan<br />

finden können, ist zu akzeptieren,<br />

dass ärztliche Stillberatung auf der Wochenstation<br />

zum großen Teil „ehrenamtlich“<br />

ist.<br />

Wir haben uns gefreut, dass es mittlerweile<br />

für die ausführliche Stillberatung<br />

im Rahmen des „Entbindungsfalles“ einen<br />

Prozeduren-Code gibt, der verschlüsselt<br />

werden kann, wenn die Frau insgesamt<br />

zwei St<strong>und</strong>en oder länger zum <strong>Stillen</strong> beraten<br />

wird (egal durch wen: 9-500.0). In der<br />

Realität ändert dieser Code jedoch, auch<br />

wenn er verschlüsselt <strong>und</strong> der Krankenkasse<br />

übermittelt wird, weder die Fallpauschale<br />

(Statistik) noch die Vergütung des<br />

Klinikaufenthaltes.<br />

Auch hier ist der einzig mögliche Kompromiss:<br />

Stillberatung durch alle Berufsgruppen<br />

auf der Wochenstation ist zum<br />

großen Teil „ehrenamtlich“.<br />

Beispiele aus der Praxis: welche<br />

zusätzlichen Hürden erwarten den<br />

Gynäkologen, der dennoch fähig <strong>und</strong><br />

bereit ist, zum <strong>Stillen</strong> zu beraten?<br />

Was bedeuten diese Hürden nun konkret<br />

in der täglichen Praxis? Verdeutlicht werden<br />

soll dies an zwei Beispielen aus der täglichen<br />

Praxis:<br />

› Off-label-use am Beispiel Domperidon<br />

mittels verstanden, d.h. wenn wir ein Medikament<br />

für etwas nutzen, für das es gar<br />

nicht zugelassen ist.<br />

Der off-label-use ist also keine „normale“<br />

Rezeptierung eines Medikaments:<br />

› Er kann nicht auf Kassenrezept erfolgen,<br />

sondern die Patientin erhält<br />

ein Privatrezept <strong>und</strong> muss die Kosten<br />

selber tragen. Denn ein Medikament<br />

kann nur dann zu Lasten der gesetzlichen<br />

Krankenversicherung verordnet<br />

werden, wenn es zur Behandlung von<br />

Erkrankungen eingesetzt wird, für die<br />

ein Pharmaunternehmen die Zulassung<br />

erworben hat. 3<br />

› Die Haftung liegt jedoch nach wie vor<br />

beim Arzt. Der behandelnde Arzt haftet<br />

für die medizinische Richtigkeit bzw. für<br />

evtl. Nebenwirkungen. Es wird empfohlen,<br />

Off-Label-Use nur auf Basis von<br />

gültigen Leitlinien, Empfehlungen oder<br />

anerkannter wissenschaftlicher Literatur<br />

durchzuführen. Der Patient muss<br />

aufgeklärt werden. An die Aufklärung<br />

werden ebenfalls zusätzliche Anforderungen<br />

gestellt.<br />

› Off-label darf nur verschrieben werden,<br />

wenn die Krankheit schwerwiegend (lebensbedrohlich<br />

oder die Lebensqualität<br />

auf Dauer nachhaltig beeinträchtigend)<br />

ist <strong>und</strong> keine andere Therapie verfügbar<br />

ist (also kein label-use zur Verfügung<br />

steht bzw. schon versucht wurde <strong>und</strong><br />

versagt hat).<br />

› Aufgr<strong>und</strong> der Datenlage muss berechtigte<br />

Hoffnung bestehen, dass ein Therapieerfolg<br />

erzielt werden kann. 4<br />

haltens <strong>und</strong> Kontrolle der oralen Anatomie<br />

des Säuglings selbst für einen Gynäkologen<br />

mit IBCLC-Zertifikat schlichtweg<br />

unmöglich. Und bei zu kurzem Zungenband<br />

oder schlechtem Stillmanagement<br />

wird auch Domperidon keine W<strong>und</strong>er bewirken<br />

– es ist immer nur ein Baustein in<br />

der Behandlung der Hypogalaktie oder der<br />

Gedeihstörung, der nur im Rahmen einer<br />

ausführlichen Beratung <strong>und</strong> Optimierung<br />

des Stillmanagements Erfolg bringen kann<br />

<strong>und</strong> dann aber oft auch wird.<br />

Zusammenfassend kann man sagen,<br />

dass die korrekte Anwendung von Domperidon<br />

off-label bei Hypogalaktie <strong>und</strong> Gedeihstörung<br />

durchaus oft indiziert ist <strong>und</strong><br />

dazu auch eine ausreichende Datenlage besteht.<br />

Dies optimal zu eruieren <strong>und</strong> zu dokumentieren<br />

ist aber im normalen Praxisalltag<br />

kaum möglich.<br />

Zudem gibt es seit 2014 noch einen<br />

Rote Hand Brief zum Domperidon, der besagt<br />

(Auszüge):<br />

› „Das Nutzen-Risiko-Verhältnis von<br />

Domperidon bleibt nur positiv in der<br />

Indikation ‚Besserung der Symptome<br />

Übelkeit <strong>und</strong> Erbrechen‘“<br />

› „Die Höchstdauer der Einnahme sollte<br />

nicht länger als eine Woche betragen.“<br />

› „Risiko schwerwiegender kardialer<br />

Nebenwirkungen im Zusammenhang<br />

mit der Einnahme von Domperidon“<br />

› „Dosierungsempfehlung: 10 mg bis zu<br />

3x/d“ 5 (übliche Dosierungsempfehlungen<br />

zur Milchbildungssteigerung siehe<br />

Kasten).<br />

› Behandlung der Soormastitis mit<br />

Fluconazol<br />

Die meisten von uns kennen die Anwendung<br />

von Domperidon zur Steigerung<br />

der Milchbildung, immer wieder kommen<br />

Frauen mit diesem Anliegen in die Praxis<br />

<strong>und</strong> wünschen sich ein Rezept. Oft haben<br />

sie sich vorher im Internet informiert.<br />

Lesen wir dann den Beipackzettel von<br />

Domperidon, finden wir „Domperidon<br />

wird angewendet zur Symptomlinderung<br />

bei Übelkeit <strong>und</strong> Erbrechen.“<br />

Domperidon ist also zur Steigerung der<br />

Milchbildung gar nicht zugelassen, d.h. diese<br />

Anwendung fällt unter den sogenannten<br />

off-label-use.<br />

Unter „Off-Label-Use“ wird der zulassungsüberschreitende<br />

Einsatz eines Arznei-<br />

Ist zu wenig Muttermilch zu haben<br />

schwerwiegend? Für die Frau sicherlich,<br />

jedoch stehen in unserer Gesellschaft ausreichend<br />

Möglichkeiten zur Verfügung,<br />

ein Kind mit Formula (zusätzlich) zu ernähren.<br />

Hier könnte bereits jemand argumentieren,<br />

die Anwendung von Domperidon<br />

off-label sei nicht indiziert, da es im<br />

Endeffekt nicht lebensbedrohlich für das<br />

Kind sei. Die Lebensqualität einschränkend<br />

für Mutter <strong>und</strong> Kind ist ein Milchmangel<br />

mit Sicherheit. Aber woher soll ein<br />

Niedergelassener wissen, ob alle anderen<br />

notwendigen Maßnahmen bereits mit<br />

nicht ausreichendem Erfolg angewandt<br />

wurden (wenn ihm diese Maßnahmen<br />

überhaupt bekannt sind)? Bei besagten<br />

10 Min pro Patientin ist eine ausführliche<br />

Stillanamnese mit Kontrolle des Saugver-<br />

DOSIERUNGSEMPFEHLUNGEN<br />

FÜR DOMPERIDON ZUR<br />

MILCHBILDUNGSSTEIGERUNG<br />

Embryotox:<br />

30mg/d für 1-2 Wochen<br />

Quelle: embryotox.de<br />

ABM:<br />

10-20mg 3-4x/d für 3-8 Wochen<br />

Quelle: ABM Protocol # 9<br />

Dr. Jack Newman:<br />

Normale Dosierung 30mg 3x am Tag<br />

für 3-8 Wochen, bei Bedarf länger.<br />

Mitunter auch 4x 40mg.<br />

Quelle: breastfeedinginc.ca<br />

www.elacta.eu <strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong> 4 • <strong>2015</strong>


AUS DER PRAXIS<br />

7<br />

Da ist eine ablehnende Haltung eines<br />

nicht-stillk<strong>und</strong>igen Gynäkologen quasi<br />

vorprogrammiert. Und auch für den stillk<strong>und</strong>igen<br />

Gynäkologen gibt es viel zu berücksichtigen.<br />

Ganz anders gelagert, aber nicht weniger<br />

anspruchsvoll ist das zweite Beispiel:<br />

Fluconazol bei Soormastitis<br />

Differentialdiagnostisch bekanntermaßen<br />

komplex. Was löst die Schmerzen aus?<br />

Schlechte Trinktechnik, Vasospasmen?<br />

Auch in diesem Fall ist eine ausführliche<br />

Anamnese, Kontrolle des Stillmanagements<br />

<strong>und</strong> Beobachtung eines kompletten<br />

Stillvorgangs von Anlegen bis Loslassen<br />

eigentlich essentiell.<br />

Und selbst wenn man sich als Arzt dann<br />

auf die Diagnose Soor einlässt - die empfohlene<br />

Therapie bei Soormastitis „Initialdosis<br />

von 200–400 mg Fluconazol gefolgt<br />

von einer mehrtägigen bis mehrwöchigen<br />

Einnahme von 100–200 mg Fluconazol<br />

täglich, einige Tage über die Beschwerdefreiheit<br />

hinaus“ kostet in dieser Form weit<br />

über 100 Euro, in diesem Fall auf Kassenrezept<br />

für die Patientin <strong>und</strong> in Zeiten reglementierter<br />

Budgets für den Gynäkologen<br />

hochgradig unrentabel.<br />

Dies sind nur zwei Beispiele aus der<br />

Praxis, es gäbe noch viele weitere. Bei vielen<br />

Ärzten bestehen bekanntermaßen<br />

große Wissenslücken im Bereich <strong>Laktation</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Stillen</strong>. Doch auch den in diesem<br />

Bereich versierten Ärzten wird es schwer<br />

gemacht, der Patientin die Behandlung,<br />

die ihr zweifelsfrei zusteht, zukommen zu<br />

lassen <strong>und</strong> gleichzeitig dabei wirtschaftlich<br />

arbeiten zu können.<br />

Denkbare Lösungsansätze für das geschilderte<br />

Dilemma der ärztlichen Stillberatung<br />

in Klinik <strong>und</strong> Praxis könnten sein:<br />

› FrauenärztInnen stark machen durch<br />

maßgeschneiderte Fortbildungsangebote<br />

<strong>und</strong> Bereitstellung geeigneten Informationsmaterials<br />

› PatientInnenbindung fördern durch<br />

Optimierung verbaler <strong>und</strong> nonverbaler<br />

Kommunikation<br />

› Netzwerke fördern, um die Ressourcen<br />

aller Berufsgruppen optimal zu nutzen<br />

zum Wohle von Mutter <strong>und</strong> Kind.<br />

Hoffnung machen Nachrichten wie diese<br />

vom 13. 10. <strong>2015</strong>: 6<br />

Wie einer Presseinformation des Netzwerks<br />

Ges<strong>und</strong> ins Leben vom 13.10.<strong>2015</strong> zu entnehmen<br />

ist, bietet das vor wenigen Wochen<br />

in Kraft getretene Präventionsgesetz Chancen<br />

für präventive Beratungen in Schwangerschaft<br />

<strong>und</strong> erstem Lebensjahr. Das Bündnis<br />

Frühkindliche Prävention aus den IN FORM<br />

Projekten „9+12 Gemeinsam ges<strong>und</strong> in<br />

Schwangerschaft <strong>und</strong> erstem Lebensjahr“ <strong>und</strong><br />

„Ges<strong>und</strong> ins Leben – Netzwerk Junge Familie“,<br />

dem Berufsverband der Frauenärzte <strong>und</strong><br />

dem Berufsverband der Kinder- <strong>und</strong> Jugendärzte<br />

ist gestartet mit dem Ziel, das Bewusstsein<br />

für die Bedeutung der frühkindlichen<br />

Prävention zu den Themen Ernährung <strong>und</strong><br />

Bewegung zu steigern <strong>und</strong> wichtige Vertreter<br />

des Ges<strong>und</strong>heitswesens für die Nutzung dieses<br />

wichtigen Präventionspotentials zu gewinnen.<br />

Die gesetzlich verankerten Vorsorgeuntersuchungen<br />

in Schwangerschaft <strong>und</strong> erstem Lebensjahr<br />

können um präventive Beratungen<br />

erweitert werden. Bevor aber ein verpflichtendes<br />

Beratungsangebot durch Gynäkologen <strong>und</strong><br />

Pädiater eingeführt werden kann, sind Erprobungsstudien<br />

durch den G-BA (Gemeinsamer<br />

B<strong>und</strong>esausschuss) denkbar, falls die Evidenz<br />

bereits vorgelegter Studien nicht ausreicht.<br />

QUELLEN<br />

› [1] Mothers‘ and Clinicians‘<br />

Perspectives on Breastfeeding<br />

Counseling During Routine<br />

Preventive Visits, Taveras et al.<br />

Pediatrics Vol. <strong>11</strong>3 No- 5 May 2004<br />

› [2] Do perceived attitudes of<br />

physicians and hospital staff<br />

affect breastfeeding decisions? Di<br />

Girolamo AM et al Birth 2003 Jun,<br />

30 (2):94-100<br />

› [3] G-BA 1/15<br />

› [4] Frauenheilk<strong>und</strong>e up2date,<br />

1/2010, Off-label-use: Konflikt<br />

zwischen medizinischer<br />

Notwendigkeit <strong>und</strong><br />

Rechtssprechung.<br />

› [5] Rote Hand Brief 20.August 2014<br />

› [6] www.ges<strong>und</strong>-ins-leben.de/<br />

Fachtagung-Fruehkindliche-<br />

Praevention<br />

Elke Cramer, IBCLC<br />

Angestellte Fachärztin für<br />

Frauenheilk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Geburtshilfe<br />

Dr. med. Alexandra Glaß, IBCLC<br />

Angestellte Fachärztin für<br />

Frauenheilk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Geburtshilfe<br />

Jeanette Vocht, IBCLC<br />

Angestellte Fachärztin für<br />

Frauenheilk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Geburtshilfe<br />

in der Praxis Joachim Kuhl in<br />

Hofgeismar sowie der gynäkologischgeburtshilflichen<br />

Belegabteilung der<br />

Kreisklinik Hofgeismar


8<br />

AUS DER PRAXIS<br />

Erster Lehrstuhl für Muttermilchforschung in der Medizin<br />

Über den ges<strong>und</strong>heitlichen Nutzen von Muttermilch ist Vieles bekannt. Wenig weiß man dagegen<br />

über die Hintergründe <strong>und</strong> Zusammenhänge. Der weltweit erste Lehrstuhl für Muttermilchforschung<br />

in Zürich soll Wissenslücken schließen helfen. Autorin: Christine Brennan, Geschäftsführerin „Stillförderung Schweiz“, www.stillfoerderung.ch<br />

Dass Muttermilch ges<strong>und</strong> ist, ist<br />

längst kein Geheimnis mehr. Zahlreiche<br />

Studien aus aller Welt weisen<br />

ges<strong>und</strong>heitliche Vorteile des <strong>Stillen</strong>s<br />

sowohl für die Säuglinge als auch für<br />

deren Mütter nach. So fördert <strong>Stillen</strong><br />

das gute Wachstum <strong>und</strong> Gedeihen des<br />

Kindes <strong>und</strong> beeinflusst die Entwicklung<br />

der Immunabwehr positiv, was besonders<br />

auch für Frühgeborene wichtig ist.<br />

Ausschließliches <strong>Stillen</strong> in den ersten<br />

vier bis sechs Monaten 1 reduziert die<br />

Anzahl von Infektionen im Säuglingsalter<br />

um 40 bis 70 % <strong>und</strong> vermindert<br />

Krankenhausaufnahmen der Säuglinge<br />

im ersten Lebensjahr um mehr als<br />

50 %. Beispielsweise wird das Risiko<br />

für Infekte der unteren Atemwege bei<br />

Säuglingen durch <strong>Stillen</strong> um über 70 %<br />

gesenkt. Weitere Krankheiten, die bei<br />

gestillten Kindern weniger häufig auftreten,<br />

sind Mittelohrentzündungen<br />

<strong>und</strong> Magen-Darm-Infektionen. Hinweise<br />

gibt es zudem dafür, dass gestillte<br />

Kinder später seltener an Allergien,<br />

Fettleibigkeit <strong>und</strong> Diabetes erkranken.<br />

Auch scheint erwiesen, dass stillende<br />

Mütter nach dem Wochenbett schneller<br />

zu ihrem Normalgewicht zurückfinden<br />

<strong>und</strong> ein niedrigeres Risiko haben, später<br />

an Brustkrebs zu erkranken.<br />

Hohe Komplexität der Muttermilch<br />

Mehr Geheimnisse als die Frage nach dem<br />

ges<strong>und</strong>heitlichen Nutzen der Muttermilch<br />

birgt freilich die Frage nach den Ursachen<br />

<strong>und</strong> Hintergründen dieser positiven Wirkungen.<br />

So wies etwa die Nationale Stillkommission<br />

des deutschen B<strong>und</strong>esinstituts<br />

für Risikobewertung (BfR) 2012 in<br />

einer Stellungnahme darauf hin, dass es<br />

nicht etwa ein Stoff oder ein Faktor ist, der<br />

über die Muttermilch die Ges<strong>und</strong>heit des<br />

Säuglings beeinflusst, sondern das Zusammenspiel<br />

vieler, sich gegenseitig ergänzender<br />

Komponenten. Unter anderem enthält<br />

Muttermilch zahlreiche immunologisch<br />

wirksame Substanzen, die, so die Stillkommission,<br />

in industriell hergestellter<br />

Säuglingsnahrung gar nicht enthalten sein<br />

1<br />

Der internationale (UNICEF/WHO) Standard ist<br />

sechs Monate ausschließliches <strong>Stillen</strong><br />

können, da sie durch das Immunsystem der<br />

Mutter geprägt sind. Diese hohe Komplexität<br />

<strong>und</strong> Variabilität der Zusammensetzung<br />

der Muttermilch macht es schwierig<br />

zu verstehen, weshalb <strong>und</strong> unter welchen<br />

Voraussetzungen Muttermilch ihre Wirkungen<br />

entfaltet <strong>und</strong> mit welchen Faktoren<br />

diese Wirkungen beeinflusst werden<br />

können.<br />

Bisherige Studienergebnisse<br />

schließen Kontroversen nicht aus<br />

Was wir heute über Muttermilch wissen,<br />

beruht weitestgehend auf Beobachtungsstudien.<br />

Diese geben uns wohl Aufschluss<br />

über mehr oder weniger unmittelbare<br />

Wirkungen, jedoch nur bedingt über Langzeiteffekte<br />

<strong>und</strong> wenig über Ursachen <strong>und</strong><br />

komplexere Zusammenhänge. Es bleibt<br />

somit reichlich Raum für Interpretationen<br />

<strong>und</strong> Spekulationen <strong>und</strong> damit für Kontroversen.<br />

Andere Einflussfaktoren könnten<br />

unter Umständen entscheidender sein als<br />

diejenigen, die beobachtet wurden. Ein<br />

Beispiel liefert die erst kürzlich wieder aufgeflackerte<br />

alte Kontroverse um die Auswirkungen<br />

des <strong>Stillen</strong>s auf die Intelligenz.<br />

Einer These zufolge sollen gestillte Kinder<br />

vor allem dank der langkettigen gesättigten<br />

Fettsäuren der Muttermilch im Erwachsenenalter<br />

intelligenter sein <strong>und</strong> ein<br />

höheres Einkommen erzielen als nicht<br />

Gestillte. Viele Studien haben dies untersucht.<br />

Manche von ihnen fanden Beweise<br />

für die These, andere nicht. Kritisiert wird<br />

immer wieder, dass einige von ihnen den<br />

Einfluss der Eltern oder des Umfelds ausklammern.<br />

Der höhere IQ der Beobachtungspersonen<br />

könnte also beispielsweise<br />

auch auf einer besseren Erziehung oder<br />

einer Vererbung der Intelligenz beruhen.<br />

Dieser Einwand trifft allerdings auf die<br />

im Frühling <strong>2015</strong> in der Zeitschrift The<br />

Lancet Global Health veröffentlichte Langzeitstudie<br />

mit einer Kohorte von 1982 in<br />

Brasilien geborenen Kindern nicht zu. Diese<br />

weist für zwölf Monate oder länger gestillte<br />

Kinder im Alter von 30 Jahren einen<br />

Intelligenzquotienten nach, der um fast<br />

vier Punkte über demjenigen von nicht-gestillten<br />

Vergleichspersonen lag. Die Stillquote<br />

war zum damaligen Zeitpunkt laut<br />

den Berichtsverfassern nicht abhängig von<br />

der sozialen Schicht der Mütter. Die Studie<br />

erregte grosses Aufsehen, reicht aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer Einmaligkeit aber nicht aus, die Skepsis<br />

auszuräumen.<br />

Lehrstuhl ermöglicht Forschung für<br />

25 Jahre<br />

Das Beispiel zeigt: Nebst Gr<strong>und</strong>lagenforschung<br />

nach dem Wirkmechanismus der<br />

Muttermilch ist es auch wichtig, die in<br />

Beobachtungsstudien gef<strong>und</strong>enen Resultate<br />

durch Langzeitstudien überprüfen zu<br />

lassen. Dazu braucht es ähnlich der oben<br />

erwähnten IQ-Studie eine Begleitung der<br />

Kinder über viele Jahre <strong>und</strong> die Möglichkeit,<br />

andere Einflussfaktoren auszuschließen.<br />

An solchen Forschungsprojekten<br />

herrscht jedoch Mangel. Weltweit soll es<br />

Schätzungen zufolge nur gerade etwa 300<br />

Forscherinnen <strong>und</strong> Forscher geben, die<br />

sich ausschließlich oder vorwiegend mit<br />

der Muttermilch beschäftigen.<br />

Das soll jetzt der weltweit erste Lehrstuhl<br />

für Muttermilchforschung in der<br />

Medizin ändern. Er wird an der Universität<br />

Zürich eingerichtet <strong>und</strong> soll Mitte 2016<br />

seine Tätigkeit aufnehmen. Ermöglicht<br />

wird er durch eine Spende der „Familie<br />

Larsson-Rosenquist-Stiftung“ 2 in der Höhe<br />

von 20 Millionen Schweizer Franken. Diese<br />

gemeinnützige Organisation mit Sitz in<br />

Zug/Schweiz wurde durch die Olle Larsson<br />

Holding, ein Familienunternehmen,<br />

besser bekannt unter dem Firmennamen<br />

Medela, 2013 gegründet <strong>und</strong> stellt sich<br />

auf ihrer Website als „die einzige Stiftung<br />

weltweit“ dar, „die sich primär der Förderung<br />

<strong>und</strong> Unterstützung des <strong>Stillen</strong>s <strong>und</strong><br />

der Ernährung mit Muttermilch widmet“.<br />

Dabei arbeitet sie mit führenden Universitäten<br />

zusammen mit dem Ziel, Lehrstühle<br />

für Muttermilchforschung aufzubauen.<br />

Der erste wird nun in Zürich realisiert, ein<br />

zweiter folgt fast gleichzeitig an der University<br />

of Western Australia in Perth. Die<br />

beiden Lehrstühle sollen nach dem Willen<br />

der Stifter zusammenarbeiten: Während in<br />

Australien die Forschung zur biologischen,<br />

biochemischen <strong>und</strong> immunologischen Zusammensetzung<br />

von Muttermilch im Vordergr<strong>und</strong><br />

steht, sollen in Zürich vor allem<br />

2<br />

www.larsson-rosenquist.org/<br />

www.elacta.eu <strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong> 4 • <strong>2015</strong>


TITELTHEMA<br />

9<br />

die Wirkungsweise der Muttermilch sowie<br />

der nachhaltige Einfluss des <strong>Stillen</strong>s auf die<br />

psycho-emotionale <strong>und</strong> kognitive Entwicklung<br />

von Säuglingen <strong>und</strong> Kindern untersucht<br />

werden. Vor allem die Auswirkungen<br />

der Muttermilch auf die Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

das Leben im Erwachsenenalter stehen in<br />

Zürich im Fokus. Nach Angaben der Verantwortlichen<br />

soll das Geld für mindestens<br />

25 Jahre ausreichen. Die Unabhängigkeit<br />

der Lehrstühle von ihrer Finanziererin soll<br />

aber gewahrt bleiben. Die Stiftung habe<br />

keine Stimme bei der personellen Besetzung<br />

der Professur <strong>und</strong> auch keinen Einfluss<br />

auf die künftigen Forschungsprojekte.<br />

Muttermilchspenden<br />

Eine vergessene <strong>und</strong> unterschätzte Alternative zur<br />

künstlichen Säuglingsersatznahrung<br />

Autorin: Tanja Müller<br />

Unterstützung für die Fachwelt<br />

Fachpersonen haben ein Bedürfnis nach<br />

soliden wissenschaftlichen Gr<strong>und</strong>lagen<br />

für ihre Empfehlungen <strong>und</strong> ihr professionelles<br />

Handeln im Rahmen der Begleitung<br />

von Mutter <strong>und</strong> Kind. Aus Sicht der Fachwelt<br />

sind deshalb die Gründung des Lehrstuhls<br />

sehr zu begrüssen <strong>und</strong> die damit<br />

verfolgten Ziele zu unterstützen. So sollen<br />

die Themen Muttermilch <strong>und</strong> <strong>Laktation</strong><br />

nach dem Willen der Stifter in Zukunft ins<br />

Curriculum von medizinischen Fachpersonen<br />

einfließen. Für Interessierte sollen<br />

zudem spezifische Zusatzausbildungen angeboten<br />

werden. Zu hoffen ist, dass mit der<br />

Etablierung der Muttermilchforschung als<br />

universitärer Forschungsdisziplin der Beruf<br />

der Stillberaterinnen allgemein besser<br />

anerkannt wird <strong>und</strong> das Thema <strong>Stillen</strong> auch<br />

in ihrem medizinischen Umfeld einen höheren<br />

Stellenwert erhält.<br />

KOMMENTAR VON ANDREA HEMMEL-<br />

MAYR, PRÄSIDENTIN VON ELACTA<br />

Medela ist ein Unternehmen, das seit<br />

einigen Jahren bewusst den internationalen<br />

Kodex zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten<br />

missachtet.<br />

Zwar weist der Verwaltungspräsident<br />

von Medela <strong>und</strong> gleichzeitig Stiftungsrat<br />

der Larsson-Rosenquist Stiftung<br />

Michael Larsson darauf hin, dass die<br />

Universität volle Forschungs- <strong>und</strong><br />

Lehrfreiheit habe. Nichts desto trotz<br />

steht zu befürchten, dass Medela die<br />

Ergebnisse der Forschungen als Werbemaßnahmen<br />

nutzt <strong>und</strong> die Forscher<br />

bewusst oder unbewusst durch die<br />

finanziellen Leistungen einer Firma mit<br />

kommerziellen Interessen beeinflusst<br />

werden.<br />

Ich habe drei Kinder geboren. Das<br />

erste per Kaiserschnitt, das zweite<br />

natürlich, jedoch zu früh (neun<br />

Tage Intensiv- <strong>und</strong> später zwei Wochen<br />

Säuglingsstation), <strong>und</strong> mein<br />

drittes Kind starb eine St<strong>und</strong>e nach<br />

der Geburt in meinen Armen. Durch<br />

diese Geburten habe ich unterschiedliche<br />

Erfahrungen mit zu<br />

wenig beziehungsweise zu viel Muttermilch<br />

gemacht. Mein Bedürfnis,<br />

Muttermilch für mein Baby von<br />

einer anderen Mutter zu erhalten<br />

oder meinen eigenen Überschuss<br />

weiterzugeben, blieb ungestillt. Pulvermilch<br />

wollte ich vermeiden. Ich<br />

fing an zu recherchieren <strong>und</strong> merkte<br />

schnell, dass viele Mütter dieses Bedürfnis<br />

mit mir teilten.<br />

Anfang 2013 begann ich meine<br />

Arbeit: Ich wollte eine Plattform gründen,<br />

die Mütter in ihrem Wunsch,<br />

Muttermilch zu geben oder zu erhalten,<br />

regional zusammenbringt. Sie sollte<br />

professionell <strong>und</strong> vor allem sicher<br />

Foto: iStock<br />

sein. Ich wollte die Mütter von Anfang<br />

an nicht nur aufklären, sondern<br />

auch anleiten. Bevor es die Muttermilch-Börse<br />

gab, tauschten Mütter in<br />

Deutschland auf unterschiedlichsten<br />

Internet-Plattformen: bei Kleinanzeigenanbietern<br />

wie Quoka oder Ebay,<br />

auf Online-Foren, Facebook-Gruppen<br />

<strong>und</strong> US-amerikanischen Börsen – unsichtbar,<br />

ohne Anleitung <strong>und</strong> oftmals<br />

nur auf Englisch. Für Mütter ges<strong>und</strong>er<br />

Kinder in Deutschland stellt sich die<br />

Frage nicht, ob Milchbankmilch oder<br />

private Spendermilch besser ist. Milchbank-Milch<br />

steht für sie nicht zur Verfügung.<br />

Die 14 deutschen Milchbanken<br />

geben ihre Milch nur an Frühchen ihrer<br />

eigenen Intensivstationen, verkaufen<br />

sie an andere Krankenhäuser oder zu<br />

Studienzwecken an Konzerne weiter.<br />

Ges<strong>und</strong>e „Zu-Hause-Babys“ sind keine<br />

Hoch-Risiko-Patienten einer Intensivstation.<br />

An ihre Nahrung dieselben<br />

Anforderungen zu stellen, ist unglaubwürdig.<br />

Hier müssen andere ›


10<br />

TITELTHEMA<br />

› Kriterien gelten <strong>und</strong> andere Wege beschritten<br />

werden.<br />

Am 28. Januar 2014 ging die deutsche<br />

Muttermilch-Börse als gemeinnütziges<br />

Projekt online – die erste ihrer Art in<br />

Deutschland. Dadurch wurde das Bedürfnis<br />

der Mütter hier erstmals sichtbar <strong>und</strong><br />

diskutiert. Bislang haben sich 1817 Nutzerinnen<br />

angemeldet, 303 Mütter haben<br />

inseriert, <strong>und</strong> 783-mal wurden Mütter<br />

infolge ihres Inserats kontaktiert (Stand<br />

24. 8. <strong>2015</strong>). Die Nutzerzahlen der weltweiten<br />

Börsen steigen konstant. 2014 waren<br />

weltweit allein bei HM4HB (Human<br />

Milk for Human Babies) über 56.000 Nutzerinnen<br />

aktiv – <strong>und</strong> hier sind die großen<br />

Börsen wie Only The Breast oder Eats On<br />

Feets noch gar nicht berücksichtigt. Es ist<br />

eine weltweite Mütter-Bewegung, die in<br />

den Markt drückt, <strong>und</strong> sie offenbart ein<br />

Ur-Bedürfnis vieler Mütterherzen.<br />

Eine sinnvolle Ergänzung<br />

Eine Gr<strong>und</strong>satzentscheidung<br />

Beim privaten Muttermilch-Tausch, ob<br />

über eine Börse oder nicht, sind Parallelen<br />

zur freien Wahl des Geburtsortes erkennbar.<br />

Es geht auch hier um die Entscheidungshoheit<br />

von Müttern <strong>und</strong> darum, was<br />

allgemein als Standardnahrung für Säuglinge<br />

gelebt wird. Interessant ist, dass die<br />

Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation (WHO) sich<br />

schon seit Jahren für Spendermuttermilch<br />

vor Formula ausspricht, bis heute jedoch<br />

keine Wege zur praktizierbaren Handhabung<br />

für alle Säuglinge beschritten wurden.<br />

Die gr<strong>und</strong>sätzlichen Fragen sind diese:<br />

› Ist künstlich hergestellte Pulvernahrung<br />

die bessere Alternative zu Muttermilch<br />

einer anderen Frau, oder lohnt es sich,<br />

Spendermilch aus der Tabuzone zu<br />

holen?<br />

› Gehören Milchspenden ausschließlich in<br />

die Hände von medizinischem Personal?<br />

Oder können Mütter unter fachlicher<br />

Beratung den privaten Muttermilchtausch<br />

sicher gestalten?<br />

Der private Muttermilch-Tausch ist keine<br />

Konkurrenz zu Milchbanken, er ist Konkurrenz<br />

zur Pulvermilch <strong>und</strong> steht daher<br />

einer finanzstarken Lobby entgegen. In<br />

Bezug auf Milchbanken ist er eine sinnvolle<br />

Ergänzung. Der private Muttermilch-<br />

Tausch ist auch keine Abkehr vom <strong>Stillen</strong><br />

– im Gegenteil. Medizinische Studien belegen<br />

auch, dass eine frühe Formulagabe<br />

in der Klinik das <strong>Stillen</strong> deutlich erschwert,<br />

selbst bei hoch still-motivierten Müttern.<br />

Der Muttermilch-Tausch unter Müttern<br />

unterstützt das <strong>Stillen</strong> durch die generelle<br />

Aufwertung menschlicher Milch <strong>und</strong> durch<br />

die Vorbildwirkung des Fach- <strong>und</strong> Klinikpersonals<br />

auf die Eltern. Dies konnte in<br />

Brasilien durch den Aufbau von 214 Milchbanken<br />

<strong>und</strong> zusätzlich 145 Muttermilch-<br />

Abgabestationen eindrucksvoll beobachtet<br />

werden. Dies trug stark dazu bei, dass Brasilien<br />

trotz seiner hohen Kaiserschnittrate<br />

eine Stillquote von über 50 % in den ersten<br />

6 Lebensmonaten ausschließlich gestillter<br />

Kinder hat. Auch in der Bevölkerung entwickelte<br />

sich ein Bewusstsein für den Wert<br />

von Spender-Muttermilch. Dies spiegelt<br />

sich nicht nur in der stark gesunkenen<br />

Sterblichkeitsrate <strong>und</strong> in der verbesserten<br />

Ges<strong>und</strong>heit der Säuglinge wider, sondern<br />

auch in den gesunkenen Kosten für das<br />

Ges<strong>und</strong>heitssystem.<br />

Fachpersonal <strong>und</strong> Kliniken involvieren<br />

Beim privaten Muttermilch-Tausch für<br />

ges<strong>und</strong>e Säuglinge zu Hause sollte Fachpersonal<br />

involviert sein. Nicht zwangsweise<br />

als Institution, die den Vorgang wie bei<br />

Intensivpatienten komplett übernimmt,<br />

sondern als begleitendes Instrument. Es<br />

sind die Hebammen, Stillberaterinnen,<br />

Kinderkrankenschwestern <strong>und</strong> Ärzte, die<br />

die Mütter fachlich begleiten <strong>und</strong> beraten<br />

können. In Deutschland ist bereits ein breites<br />

Netz dieser Fachkräfte implementiert,<br />

zumindest im Vergleich mit anderen Ländern.<br />

Das sollte genutzt werden.<br />

Der Weg von einer bereits bekannten<br />

Mutter zur anderen (z. B. in der Großfamilie<br />

oder über Nachbarinnen, Fre<strong>und</strong>innen)<br />

ist sicherlich der Beste. Die Muttermilch-<br />

Börse kann eine Hilfe sein, muss sie aber<br />

nicht. Das Medium „Internet“ stellt wohl<br />

mit den größten Angstfaktor dar. Es ist<br />

jedoch aus dem Privatleben der Menschen<br />

heute nicht mehr wegzudenken <strong>und</strong> natürlich<br />

ist auch hier Sicherheit möglich. Hier<br />

finden sich Frauen, die sich nicht trauen<br />

würden, sich auf der Straße oder in der<br />

Krabbelgruppe gegenseitig nach Muttermilch<br />

zu fragen. Wichtig ist, dass die Mütter<br />

sich gut kennenlernen, denn Anonymität<br />

ist in jedem Fall dringend zu vermeiden.<br />

Es ist kaum realisierbar, den Vorgang ausschließlich<br />

in die Hände der Kliniken zu<br />

legen. Zum einen wird es schwer, den<br />

Müttern den privaten Tausch zu verbieten,<br />

man würde die Mütter in unsichtbare<br />

<strong>und</strong> gefährliche Situationen drängen. Zum<br />

anderen ist die Aufbereitung der Milch, so<br />

wie es die Milchbanken heute in Deutschland<br />

tun, für Babys, die nicht auf einer Intensivstation<br />

um ihr Leben kämpfen, zu<br />

aufwendig <strong>und</strong> zu kostenintensiv. Ohne<br />

zusätzliche Finanzierungshilfen, wie z. B.<br />

die Involvierung der Krankenkassen sowie<br />

eine Modernisierung der Milchbanken in<br />

Bezug auf Muttermilch für reife <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>e<br />

Säuglinge, wird die breite Versorgung<br />

aller Babys nicht möglich sein. Der<br />

Weg über die Geburtskliniken ist jedoch<br />

ein wichtiger Pfad, der parallel gegangen<br />

werden sollte.<br />

Foto: iStock<br />

www.elacta.eu <strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong> 4 • <strong>2015</strong>


TITELTHEMA<br />

<strong>11</strong><br />

So funktioniert die Muttermilch-Börse<br />

Die Muttermilch-Börse ist ein Portal für<br />

persönliche Kontakte interessierter Mütter.<br />

Mütter <strong>und</strong> Babys werden lokal zusammengebracht.<br />

Mütter mit Milchüberschuss<br />

geben ein Inserat auf <strong>und</strong> Mütter,<br />

die suchen, können diese kontaktieren.<br />

Durch den Bezahlvorgang beim Aufgeben<br />

des Inserates (4,99 Euro für ein Jahr) ist<br />

gewährleistet, dass es sich immer um reale<br />

Personen handelt. Echte Daten, wie ihr<br />

richtiger Name, ihre Adresse <strong>und</strong> Kontoinformationen,<br />

werden hinterlegt. Es gibt<br />

keine Anonymität. Über 90 % der Mütter<br />

suchen sich mit der Postleitzahlen-Suchfunktion<br />

regional, treffen sich nach dem<br />

ersten Kontakt mit der Anbieterin <strong>und</strong><br />

übergeben die Muttermilch persönlich. Auf<br />

der Website der Muttermilch-Börse findet<br />

jede Mutter alle wichtigen Fachinformationen<br />

zur sicheren Gestaltung des Muttermilch-Tausches<br />

auf Deutsch. Es wird auch<br />

erläutert, wie wahrscheinlich die vermeintlich<br />

theoretischen Risiken überhaupt sind.<br />

Wie pumpe ich ab? Wie friere ich ein? Wie<br />

taue ich die Milch wieder auf? Wie verhalte<br />

ich mich hygienisch richtig? Müttern wird<br />

geraten, die Spenderinnen zu Hause zu besuchen<br />

<strong>und</strong> zu interviewen: Wie sieht ihre<br />

Pumpe aus? Was für eine Tiefkühltruhe<br />

hat sie? Wie geht sie mit dem eigenen Kind<br />

um? Was für einen Eindruck machen Küche<br />

<strong>und</strong> Utensilien? Es wird auch erklärt,<br />

welche Fragen an die Spenderin wichtig<br />

sind, wie zum Beispiel: Ist sie gegen Hepatitis<br />

B geimpft? Hat sie Ergebnisse ihrer<br />

Blut-Tests aus der Schwangerschaft (beispielsweise<br />

den HIV-Test) bei ihrem Arzt<br />

kopiert <strong>und</strong> vorliegen? All diese Fragen<br />

werden erläutert. An der Muttermilch-Börse<br />

sehe ich täglich, wie ernst die kaufenden<br />

Mütter ihre Verantwortung in puncto Kontrolle<br />

der Milch <strong>und</strong> der Spenderin nehmen<br />

– gerade weil sie wissen, dass nicht von<br />

einer anderen Stelle geprüft wird. Manche<br />

schließen sogar schriftliche Verträge<br />

ab oder lassen sich die wahrheitsgemäßen<br />

Antworten des Gespräches unterschreiben.<br />

Mütter, die sich unsicher fühlen, finden<br />

auf der Muttermilch-Börse auch eine<br />

Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Pasteurisation<br />

zu Hause. Hierbei werden alle relevanten<br />

Keime wie Viren oder Bakterien<br />

inaktiviert oder abgetötet. Selbst zu einer<br />

sterilen Flüssigkeit gekocht, ist sie besser<br />

als Formulanahrung. Die hohe Professionalität<br />

der Muttermilch-Börse zeigt sich<br />

ferner in der Kooperation mit dem Institut<br />

für Milchuntersuchung (IFM), einem<br />

bakteriologischen Labor zur stichprobenartigen<br />

Analyse der Milch nach DIN-<br />

Norm. Hier kann jede Käuferin die Milch<br />

vor der Fütterung auf Bakterien oder auf<br />

Streckung mit z.B. Wasser, Formula oder<br />

Kuhmilch testen lassen. Die Muttermilch-<br />

Börse empfiehlt den Versand nicht. Ist er<br />

dennoch gewollt, gibt es nicht nur eine<br />

genaue Anleitung dafür, sondern auch ein<br />

Partnerunternehmen.<br />

Fluch oder Segen, oder einfach nur<br />

zweierlei Maß<br />

Im Gegensatz zu den vielen dokumentierten<br />

ges<strong>und</strong>heitlichen Schäden durch Pulvernahrung<br />

bei Säuglingen wurde weltweit<br />

bisher kein Fall einer Schädigung durch private<br />

Spender-Muttermilch bekannt – trotz<br />

hoher Nutzungszahlen des privaten Muttermilch-Tausches.<br />

Dies ist ein Gr<strong>und</strong>, warum<br />

die Warnungen der Behörden bei den<br />

Müttern immer weniger funktionieren. Andererseits<br />

scheint es nicht zu interessieren,<br />

dass laut WHO täglich Kinder an den Folgen<br />

der Pulvermilchernährung erkranken,<br />

auch in Industriestaaten wie Deutschland.<br />

Immer wieder werden auch Keime, Giftstoffe<br />

oder falsche Zusammensetzungen<br />

DOWNLOAD<br />

Den Artikel in Originallänge finden<br />

Sie auf unserer Homepage: www.<br />

elacta.eu/media/muttermilchboersels.pdf<br />

in Formula gef<strong>und</strong>en. Beim privaten Muttermilch-Tausch<br />

scheint hingegen schon<br />

die bloße Vorstellung einer Schädigung<br />

auszureichen, um ihn komplett abzulehnen.<br />

Vorsicht <strong>und</strong> Achtsamkeit sind beim<br />

Thema Spendermilch ebenfalls geboten, da<br />

mittlerweile finanzstarke wirtschaftliche<br />

Interessen mitmischen. Der private Austausch<br />

von Spendermilch ist wirtschaftlich<br />

gesehen unerwünscht, da außer den Müttern<br />

<strong>und</strong> Babys niemand Gewinne macht.<br />

Hierzulande wird eine Menge an Regierungsmitteln<br />

sowie Marketing- <strong>und</strong><br />

Werbekampagnen in die Förderung des<br />

<strong>Stillen</strong>s gesteckt – was auch gut ist <strong>und</strong><br />

weiterhin an erster Stelle stehen muss.<br />

Aber es sollte mutig ein Schritt weiter gegangen<br />

<strong>und</strong> parallel Spender-Muttermilch<br />

als selbstverständlicher Ersatz zur Formulanahrung<br />

zur Verfügung gestellt werden<br />

Denn die Kombination beider Maßnahmen,<br />

die Still- <strong>und</strong> Spendermilch-Förderung,<br />

begünstigt sich gegenseitig <strong>und</strong> verspricht<br />

eine verbesserte Gesamtsituation<br />

in puncto Muttermilchernährung <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heit unserer Babys.<br />

Tanja Müller arbeitete viele Jahre als<br />

Marketingleiterin bei einem mittelständischen<br />

Unternehmen. Dann wurde sie<br />

Mutter. Ihre Kinder <strong>und</strong> ihre neue Rolle<br />

veränderten ihr Leben <strong>und</strong> sie machte<br />

sich Mitte 2013 selbständig. Sie ist<br />

heute Geschäftsführerin der MIMARA,<br />

einer gemeinnützigen Unternehmergesellschaft,<br />

deren erstes Projekt die<br />

Muttermilch-Börse ist. Frau Müller<br />

setzt sich für Spender-Muttermilch<br />

anstelle von Formula ein, in unseren<br />

Geburtskliniken <strong>und</strong> von Mutter zu<br />

Mutter.

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