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Laktation_und_Stillen_2015-4 S1-11

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8<br />

AUS DER PRAXIS<br />

Erster Lehrstuhl für Muttermilchforschung in der Medizin<br />

Über den ges<strong>und</strong>heitlichen Nutzen von Muttermilch ist Vieles bekannt. Wenig weiß man dagegen<br />

über die Hintergründe <strong>und</strong> Zusammenhänge. Der weltweit erste Lehrstuhl für Muttermilchforschung<br />

in Zürich soll Wissenslücken schließen helfen. Autorin: Christine Brennan, Geschäftsführerin „Stillförderung Schweiz“, www.stillfoerderung.ch<br />

Dass Muttermilch ges<strong>und</strong> ist, ist<br />

längst kein Geheimnis mehr. Zahlreiche<br />

Studien aus aller Welt weisen<br />

ges<strong>und</strong>heitliche Vorteile des <strong>Stillen</strong>s<br />

sowohl für die Säuglinge als auch für<br />

deren Mütter nach. So fördert <strong>Stillen</strong><br />

das gute Wachstum <strong>und</strong> Gedeihen des<br />

Kindes <strong>und</strong> beeinflusst die Entwicklung<br />

der Immunabwehr positiv, was besonders<br />

auch für Frühgeborene wichtig ist.<br />

Ausschließliches <strong>Stillen</strong> in den ersten<br />

vier bis sechs Monaten 1 reduziert die<br />

Anzahl von Infektionen im Säuglingsalter<br />

um 40 bis 70 % <strong>und</strong> vermindert<br />

Krankenhausaufnahmen der Säuglinge<br />

im ersten Lebensjahr um mehr als<br />

50 %. Beispielsweise wird das Risiko<br />

für Infekte der unteren Atemwege bei<br />

Säuglingen durch <strong>Stillen</strong> um über 70 %<br />

gesenkt. Weitere Krankheiten, die bei<br />

gestillten Kindern weniger häufig auftreten,<br />

sind Mittelohrentzündungen<br />

<strong>und</strong> Magen-Darm-Infektionen. Hinweise<br />

gibt es zudem dafür, dass gestillte<br />

Kinder später seltener an Allergien,<br />

Fettleibigkeit <strong>und</strong> Diabetes erkranken.<br />

Auch scheint erwiesen, dass stillende<br />

Mütter nach dem Wochenbett schneller<br />

zu ihrem Normalgewicht zurückfinden<br />

<strong>und</strong> ein niedrigeres Risiko haben, später<br />

an Brustkrebs zu erkranken.<br />

Hohe Komplexität der Muttermilch<br />

Mehr Geheimnisse als die Frage nach dem<br />

ges<strong>und</strong>heitlichen Nutzen der Muttermilch<br />

birgt freilich die Frage nach den Ursachen<br />

<strong>und</strong> Hintergründen dieser positiven Wirkungen.<br />

So wies etwa die Nationale Stillkommission<br />

des deutschen B<strong>und</strong>esinstituts<br />

für Risikobewertung (BfR) 2012 in<br />

einer Stellungnahme darauf hin, dass es<br />

nicht etwa ein Stoff oder ein Faktor ist, der<br />

über die Muttermilch die Ges<strong>und</strong>heit des<br />

Säuglings beeinflusst, sondern das Zusammenspiel<br />

vieler, sich gegenseitig ergänzender<br />

Komponenten. Unter anderem enthält<br />

Muttermilch zahlreiche immunologisch<br />

wirksame Substanzen, die, so die Stillkommission,<br />

in industriell hergestellter<br />

Säuglingsnahrung gar nicht enthalten sein<br />

1<br />

Der internationale (UNICEF/WHO) Standard ist<br />

sechs Monate ausschließliches <strong>Stillen</strong><br />

können, da sie durch das Immunsystem der<br />

Mutter geprägt sind. Diese hohe Komplexität<br />

<strong>und</strong> Variabilität der Zusammensetzung<br />

der Muttermilch macht es schwierig<br />

zu verstehen, weshalb <strong>und</strong> unter welchen<br />

Voraussetzungen Muttermilch ihre Wirkungen<br />

entfaltet <strong>und</strong> mit welchen Faktoren<br />

diese Wirkungen beeinflusst werden<br />

können.<br />

Bisherige Studienergebnisse<br />

schließen Kontroversen nicht aus<br />

Was wir heute über Muttermilch wissen,<br />

beruht weitestgehend auf Beobachtungsstudien.<br />

Diese geben uns wohl Aufschluss<br />

über mehr oder weniger unmittelbare<br />

Wirkungen, jedoch nur bedingt über Langzeiteffekte<br />

<strong>und</strong> wenig über Ursachen <strong>und</strong><br />

komplexere Zusammenhänge. Es bleibt<br />

somit reichlich Raum für Interpretationen<br />

<strong>und</strong> Spekulationen <strong>und</strong> damit für Kontroversen.<br />

Andere Einflussfaktoren könnten<br />

unter Umständen entscheidender sein als<br />

diejenigen, die beobachtet wurden. Ein<br />

Beispiel liefert die erst kürzlich wieder aufgeflackerte<br />

alte Kontroverse um die Auswirkungen<br />

des <strong>Stillen</strong>s auf die Intelligenz.<br />

Einer These zufolge sollen gestillte Kinder<br />

vor allem dank der langkettigen gesättigten<br />

Fettsäuren der Muttermilch im Erwachsenenalter<br />

intelligenter sein <strong>und</strong> ein<br />

höheres Einkommen erzielen als nicht<br />

Gestillte. Viele Studien haben dies untersucht.<br />

Manche von ihnen fanden Beweise<br />

für die These, andere nicht. Kritisiert wird<br />

immer wieder, dass einige von ihnen den<br />

Einfluss der Eltern oder des Umfelds ausklammern.<br />

Der höhere IQ der Beobachtungspersonen<br />

könnte also beispielsweise<br />

auch auf einer besseren Erziehung oder<br />

einer Vererbung der Intelligenz beruhen.<br />

Dieser Einwand trifft allerdings auf die<br />

im Frühling <strong>2015</strong> in der Zeitschrift The<br />

Lancet Global Health veröffentlichte Langzeitstudie<br />

mit einer Kohorte von 1982 in<br />

Brasilien geborenen Kindern nicht zu. Diese<br />

weist für zwölf Monate oder länger gestillte<br />

Kinder im Alter von 30 Jahren einen<br />

Intelligenzquotienten nach, der um fast<br />

vier Punkte über demjenigen von nicht-gestillten<br />

Vergleichspersonen lag. Die Stillquote<br />

war zum damaligen Zeitpunkt laut<br />

den Berichtsverfassern nicht abhängig von<br />

der sozialen Schicht der Mütter. Die Studie<br />

erregte grosses Aufsehen, reicht aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer Einmaligkeit aber nicht aus, die Skepsis<br />

auszuräumen.<br />

Lehrstuhl ermöglicht Forschung für<br />

25 Jahre<br />

Das Beispiel zeigt: Nebst Gr<strong>und</strong>lagenforschung<br />

nach dem Wirkmechanismus der<br />

Muttermilch ist es auch wichtig, die in<br />

Beobachtungsstudien gef<strong>und</strong>enen Resultate<br />

durch Langzeitstudien überprüfen zu<br />

lassen. Dazu braucht es ähnlich der oben<br />

erwähnten IQ-Studie eine Begleitung der<br />

Kinder über viele Jahre <strong>und</strong> die Möglichkeit,<br />

andere Einflussfaktoren auszuschließen.<br />

An solchen Forschungsprojekten<br />

herrscht jedoch Mangel. Weltweit soll es<br />

Schätzungen zufolge nur gerade etwa 300<br />

Forscherinnen <strong>und</strong> Forscher geben, die<br />

sich ausschließlich oder vorwiegend mit<br />

der Muttermilch beschäftigen.<br />

Das soll jetzt der weltweit erste Lehrstuhl<br />

für Muttermilchforschung in der<br />

Medizin ändern. Er wird an der Universität<br />

Zürich eingerichtet <strong>und</strong> soll Mitte 2016<br />

seine Tätigkeit aufnehmen. Ermöglicht<br />

wird er durch eine Spende der „Familie<br />

Larsson-Rosenquist-Stiftung“ 2 in der Höhe<br />

von 20 Millionen Schweizer Franken. Diese<br />

gemeinnützige Organisation mit Sitz in<br />

Zug/Schweiz wurde durch die Olle Larsson<br />

Holding, ein Familienunternehmen,<br />

besser bekannt unter dem Firmennamen<br />

Medela, 2013 gegründet <strong>und</strong> stellt sich<br />

auf ihrer Website als „die einzige Stiftung<br />

weltweit“ dar, „die sich primär der Förderung<br />

<strong>und</strong> Unterstützung des <strong>Stillen</strong>s <strong>und</strong><br />

der Ernährung mit Muttermilch widmet“.<br />

Dabei arbeitet sie mit führenden Universitäten<br />

zusammen mit dem Ziel, Lehrstühle<br />

für Muttermilchforschung aufzubauen.<br />

Der erste wird nun in Zürich realisiert, ein<br />

zweiter folgt fast gleichzeitig an der University<br />

of Western Australia in Perth. Die<br />

beiden Lehrstühle sollen nach dem Willen<br />

der Stifter zusammenarbeiten: Während in<br />

Australien die Forschung zur biologischen,<br />

biochemischen <strong>und</strong> immunologischen Zusammensetzung<br />

von Muttermilch im Vordergr<strong>und</strong><br />

steht, sollen in Zürich vor allem<br />

2<br />

www.larsson-rosenquist.org/<br />

www.elacta.eu <strong>Laktation</strong> & <strong>Stillen</strong> 4 • <strong>2015</strong>

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