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Lage, dem träumenden Gehirn bei der Arbeit zuzuschauen. Und<br />
dabei hat sich gezeigt, dass beim Träumen – wenn auch mit anderer<br />
Gewichtung – das ganze Gehirn beteiligt ist. Bildgebende<br />
Verfahren (wie fMRT und PET) zeigen auch, dass in den eigentlichen<br />
<strong>Traum</strong>phasen während des REM-Schlafes das limbische<br />
System, das Emotionen verarbeitet, sogar aktiver ist als im<br />
Wachzustand; und dass der präfrontale Cortex – jenes Areal, das<br />
für die eigene Persönlichkeit, für Logik, Sinn und Moral und die<br />
langfristigen Folgen des eigenen Handelns zuständig ist – im<br />
<strong>Traum</strong>zustand irgendwie betäubt ist. Damit ist das Denken von<br />
Zwängen, Geboten und Verboten befreit, und die Phantasie kann<br />
sich austoben. Weil der <strong>Traum</strong> ein kreativer Mischvorgang ist, ist<br />
er auch so schwer zu erzählen. Alte Erfahrungen verbinden sich<br />
mit neuen Erlebnissen und werden phantasievoll weitergesponnen<br />
– in immer neuen Verstrickungen.<br />
Warum das so ist, darüber kann man trefflich spekulieren.<br />
Allan Hobson vergleicht das träumende Gehirn mit einer „Simulationsmaschine“,<br />
die ihre eigene virtuelle Realität erzeugt, um<br />
in dieser für das Wachleben zu trainieren: Motorik, Wahrnehmung,<br />
Triebe. Nachts ist Spielzeit für das Gehirn. Abgekoppelt<br />
von der Außenwelt, darf es, was es sonst nicht darf. Und der<br />
finnische Neurowissenschaftler Antti Revonsuo geht so weit,<br />
die Träume für ein Installationsprogramm unserer genetischen<br />
Software zu halten: Die im Erbgut codierten Überlebenstricks<br />
werden in der Ruhe der Nacht ins Gedächtnis übertragen. Weil<br />
der präfrontale Cortex der evolutionsgeschichtlich jüngste Teil<br />
unseres Gehirns ist, der beim Heranwachsen als letztes heranreift,<br />
vermuten andere Forscher, dass wir im <strong>Traum</strong> in den<br />
Bewusstseinszustand unserer Ahnen zurückfinden. Wieder<br />
andere vergleichen das <strong>Traum</strong>bewusstsein mit dem Denken und<br />
Fühlen kleiner Kinder. Auch ihnen fallen ja Dinge ein, auf die<br />
kein Erwachsener kommt, solange er wach ist.<br />
Ausfahrt Alice Springs<br />
Für die Aborigines, die Ureinwohner Australiens, ist die ganze<br />
Welt von einem dichten Netz aus <strong>Traum</strong>pfaden, den ‚Songlines’<br />
überzogen, die wie Spaghetti aus Iliaden und Odysseen ein<br />
feinmaschiges Gewebe aus Schöpfungsmythen bilden. Sie berichten<br />
von den Ahnen, die in der <strong>Traum</strong>zeit über den Kontinent<br />
wanderten und singend alles benannten, was ihre Wege kreuzte.<br />
Dabei besangen sie nicht, was da war, sondern brachten mit<br />
ihrem Gesang die Welt erst ins Dasein. Sie schufen sie mit ihren<br />
Liedern.<br />
„Manchmal“, erzählt Arkady, ein Aborigines-Vertrauter in den<br />
<strong>Traum</strong>pfaden des Bruce Chatwin, „wenn ich meine ‚alten Männer’<br />
durch die Wüste fahre und wir zu einer Kette von Sandhügeln<br />
kommen, fangen sie plötzlich an zu singen. ‚Was singt ihr Leute<br />
da?’, frage ich sie, und sie antworten: ‚Wir singen das Land herbei,<br />
Boss. Dann kommt das Land schneller.“ Sie besingen damit noch<br />
heute das Geheimnis der Einbildungskraft, dass etwas erst in<br />
den Köpfen vorgestellt werden muss, bevor es zu existieren<br />
beginnen kann. Unser Bild, das wir von der Welt haben, geht uns<br />
auf unserem Weg durch die Welt voran.<br />
Das deckt sich übrigens auch mit neuesten Erkenntnissen der<br />
Kognitionspsychologie, die zeigen, wie selektiv unsere Wahrnehmungsprozesse<br />
laufen. Unsere Augen sind demnach nicht nur<br />
Sehapparate, um eine Welt außerhalb von uns zu entdecken,<br />
sondern auch Projektoren, die das, was in uns wirklich ist,<br />
nach außen werfen. Was unter anderem zur Folge hat, dass<br />
die Geschichten, die wir über uns erzählen (oder singen),<br />
bestimmen, wie und was wir von der Welt wahrnehmen; und<br />
dass es nicht egal ist, ob wir dabei unserer Angst oder unserer<br />
Liebe das Drehbuchschreiben überlassen. Diese Entscheidung<br />
treffen wir jeden Tag. Und sie weist weit hinein in die<br />
Welt unserer Träume.<br />
Erinnerungslücken<br />
Wir alle träumen. Nur haben wir zum einen verlernt, uns<br />
daran zu erinnern, und zum anderen brav verinnerlicht, die<br />
Tagträume als nutzlos oder gefährlich abzutun. Gleichzeitig<br />
tun wir so, als ob im Schlaf nichts Seltsames in uns vorginge,<br />
„seltsam“ wenigstens verglichen mit unserem logischen,<br />
zweckorientierten Denken im Wachzustand. „Wir sind tüchtig,<br />
doch dabei erschreckend phantasiearm“, wie Erich Fromm es<br />
auf den Punkt bringt. Wir sind wahre Meister im Finden von<br />
Argumenten, warum etwas nicht funktionieren kann und<br />
schicken Menschen mit Visionen vorzugsweise zum Arzt.<br />
Und wir tun dies, weil wir Angst haben, dass da einer wirklich<br />
innovativ wird und die Regeln bricht, in denen wir uns<br />
komfortabel eingerichtet haben.<br />
Hannes Treichl hat ein Buch über die Meuterei des Denkens<br />
geschrieben. Darin geht es um Innovation, aber auch um<br />
eine träumende Form der Kreativität. Er nennt diese Dinge in<br />
einem Atemzug: „Neues wächst in Stille. Kreativität ist jenseits<br />
von Worten und Etiketten. Gedeiht dort, in der lautlosen Lücke.<br />
Zwischen Wahrnehmung und Interpretation.“<br />
Das Refugium der Träume sind die Lücken, Zwischenräume<br />
und schlecht beleuchteten Winkel in einer Welt, in der alles<br />
Information ist, die man nutzen kann. Aufgeklärt und an<br />
allen Ecken und Enden erschlossen, spielen wir die Tatsachen<br />
gegen die Träume aus und merken nicht, was wir uns damit<br />
nehmen. Denn jeder <strong>Traum</strong> verweist auf einen Reichtum und<br />
öffnet uns in Richtung Möglichkeitsform, die wichtig ist, um<br />
in einer bis ins kleinste Detail durchgetakteten Wirklichkeit<br />
nicht den Verstand zu verlieren. Diese Dramatik unterstreicht<br />
der deutsche Schriftsteller Heiner Müller: „Menschen,<br />
die man daran hindert zu träumen, werden entweder<br />
sterben oder untergehen.“<br />
Ausfahrt Tokio<br />
Es war kurz vor der Jahrtausendwende, da wuchs in Japan<br />
eine neue Generation heran. Ihre Vertreter werden Otaku<br />
genannt, was im Japanischen eine sehr distanzierte Form der<br />
Anrede bedeutet. Die Otaku bevorzugen kleinste Informationshäppchen<br />
und meiden jeden körperlichen Kontakt. Sie<br />
verfügen über ein ausgezeichnetes Gedächtnis und hassen<br />
Zusammenhänge. Sie leben in künstlich geschaffenen Informationsnischen<br />
und kommunizieren ausschließlich über ihr<br />
Fachgebiet.<br />
In Japan ist alles Zeichen und Information: Man nährt sich<br />
von Information, und man kleidet sich in Information. Man<br />
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