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Zur Ideengeschichte der Herz-Kreislauf-Lehre - Der Merkurstab

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4 Originalia | <strong>Der</strong> <strong>Merkurstab</strong> | Heft 1 | 2006<br />

Themenreihe Kardiologie<br />

<strong>Zur</strong> <strong>Ideengeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>-<strong>Kreislauf</strong>-<strong>Lehre</strong><br />

Hans Christoph Kümmell<br />

<strong>Zur</strong> <strong>Ideengeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>-<strong>Kreislauf</strong>-<strong>Lehre</strong><br />

■ Zusammenfassung<br />

In den alten Kulturen wurde das <strong>Herz</strong> mit vielfältigen seelischen<br />

und geistigen Eigenschaften in Zusammenhang gebracht. Die<br />

griechischen Ärzte und Philosophen, bzw. Naturphilosophen<br />

gaben erstmals außerdem genauere anatomische Beschreibungen<br />

vom <strong>Herz</strong>en und von den Gefäßen. Galen fasste im 2. nachchristlichen<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t das gesamte medizinische Wissen seiner<br />

Zeit zusammen, das in Europa bis zum Beginn <strong>der</strong> Neuzeit<br />

Gültigkeit hatte. Die galenische <strong>Lehre</strong> sagte in Bezug auf die<br />

Blutbewegung, dass das venöse Blut von <strong>der</strong> Leber, mit Nahrungsstoffen<br />

gesättigt, in die Organe und Muskeln fließt und<br />

dort verbraucht wird, während die Organe über die Arterien mit<br />

Blut versorgt werden, in dem pneuma (später spiritus genannt)<br />

enthalten ist. Beide Ströme kommen in <strong>der</strong> Peripherie zum<br />

Erliegen. Mit Harvey tritt in <strong>der</strong> Neuzeit ein Forscher auf, <strong>der</strong><br />

nicht nur die Anatomie von <strong>Herz</strong> und Gefäßen, son<strong>der</strong>n auch<br />

den Verlauf des Blutes genau erforscht und beschreibt, und<br />

<strong>der</strong> zwei wesentliche Entdeckungen macht:<br />

1. das venöse Blut fließt nicht in die Peripherie, son<strong>der</strong>n<br />

zum <strong>Herz</strong>en und<br />

2. die große Menge des Blutes, die das <strong>Herz</strong> in kurzer Zeit<br />

durchströmt, kann nicht aus <strong>der</strong> Nahrung stammen.<br />

Aufgrund dieser Tatsachen entwickelt er im Rahmen seiner<br />

aristotelischen Studien die Idee des <strong>Kreislauf</strong>s. Descartes greift<br />

die Entdeckung auf und gibt ihr einen rationalistischen Duktus,<br />

<strong>der</strong> vor allem von den nachfolgenden Forschern weitergeführt<br />

wird, so dass sich bereits kurz nach Harvey das Pumpenparadigma<br />

<strong>der</strong> <strong>Herz</strong>funktion durchgesetzt hat, was im Wesentlichen<br />

bis heute so geblieben ist,trotz verschiedener Ansätze,eine<br />

an<strong>der</strong>e Sichtweise einzunehmen.<strong>Der</strong> Positivismus festigt das<br />

Pumpenparadigma. Steiners Konzept des ethischen Individualismus<br />

und des geisteswissenschaftlich erweiterten Menschenverständnisses<br />

ermöglicht und erfor<strong>der</strong>t ein Umdenken <strong>der</strong><br />

Funktion des <strong>Herz</strong>ens zu einem Wahrnehmungs- und Integrationsorgan<br />

in einem aus verschiedenen Prinzipien gestalteten<br />

Organismus.<br />

■ Schlüsselwörter<br />

Entdeckung des Blutkreislaufs, Harvey, Aristoteles, Descartes,<br />

<strong>Herz</strong>, Pumpenmodell, mechanistisches Modell, vitalistisches<br />

Modell, Stau- und Sinnesorgan, R. Steiner<br />

History of ideas relating to cardiovascular theory<br />

■ Abstract<br />

In ancient cultures, the heart was consi<strong>der</strong>ed to have many different<br />

qualities in soul and spirit.The Greek philosophers,or<br />

natural philosophers,were the first to do anatomical studies<br />

as well.In the second century AD,Galen summed up the whole<br />

medical knowledge of his day and in Europe this remained valid<br />

until the beginning of the present age. His theory on the movement<br />

of the blood was that venous blood, saturated with nutrients,<br />

flowed from the liver into the organs and muscles and<br />

was used up there. The arteries, on the other hand, supplied the<br />

organs with blood containing pneuma (later called spiritus).<br />

The two streams came to an end in the periphery.<br />

In mo<strong>der</strong>n history, Harvey was a researcher who investigated<br />

and described the anatomy with exactness. He made two<br />

major discoveries.<br />

1) Venous blood does not flow to the periphery but to the heart,<br />

and<br />

2) the large volume of blood going through the heart in<br />

a short period of time cannot <strong>der</strong>ive from food intake.<br />

He developed the idea of the circulation on the basis of his<br />

Aristotelian studies. Descartes took this up and gave it the<br />

rational character which was then taken up by later scientists.<br />

Soon after Harvey, therefore, the pump paradigm won<br />

through, and essentially this is what we have today, in spite<br />

of various attempts to take a different point of view. Positivism<br />

strengthened the pump paradigm. Steiner’s concept of ethical<br />

individualism and a view of the human being broadened by<br />

spiritual science makes it possible and calls for a different<br />

view of cardiac function, seeing it as an organ of perception<br />

and integration in an organism made up of different principles.<br />

■ Keywords<br />

Discovery of blood circulation<br />

Harvey<br />

Aristotle<br />

Descartes<br />

Heart<br />

Pump model<br />

Mechanistic model<br />

Vitalist model<br />

Retaining and sense organ<br />

R. Steiner


Geschichtliche Einleitung.<br />

Skizze von William Harveys Lebenslauf<br />

Die Gedanken und Gefühle, die zum <strong>Herz</strong>en in den<br />

verschiedenen zurückliegenden Epochen geäußert<br />

wurden, sind so unendlich vielfältig, dass<br />

man sie nicht in einer Betrachtung zusammenstellen<br />

kann. So gibt es aus allen alten Kulturen Berichte über<br />

die Auffassung vom <strong>Herz</strong>en, wie aus China, aus Indien in<br />

den Veden, in den sumerischen Epen, z. B. im Gilgamesch-Epos,<br />

aus dem alt-ägyptischen Kulturraum und<br />

von den Azteken. Hier finden sich überall seelische und<br />

geistige Eigenschaften, mit denen das <strong>Herz</strong> beschrieben<br />

und mit denen es gleich gesetzt wurde (1). Es wurde erlebt<br />

als eine Art seelischer Hort, in dem <strong>der</strong> Mensch sich<br />

selbst und <strong>der</strong> Gottheit begegnete.Wenn die Menschen<br />

im alten China vom <strong>Herz</strong>en sprachen, meinten sie, im<br />

heutigen Sprachgebrauch, Sinn, Gemüt, Gefühl, Gedanken,<br />

Planung und Wissen hätten dort ihren Sitz (2). Aber<br />

nicht nur das für gut Erachtete drückte sich dort aus,<br />

auch Zweifel, Stolz Habsucht, Eifersucht und an<strong>der</strong>e eher<br />

selbstsüchtige Eigenschaften fanden ebenso ihren Sitz<br />

im <strong>Herz</strong>en. Erst in <strong>der</strong> griechischen Kultur wurden <strong>Herz</strong><br />

und Gefäße auch anatomisch genauer beschrieben, so<br />

bei Hippokrates (460–375 v. Chr.), Empedokles (um 495–<br />

435 v. Chr.), Platon (428–349 v. Chr.) und bei Aristoteles<br />

(384–322 v. Chr.). Sitz seelischer Fähigkeiten und Eigenschaften<br />

blieb das <strong>Herz</strong> auch bei diesen Philosophen<br />

noch, bei Aristoteles sogar in seelischem und geistigem<br />

Sinne. Für ihn ist es das zentrale Koordinationsorgan,<br />

„und an ihm hängt ja nach unserer <strong>Lehre</strong> das Leben und<br />

alle Bewegung und Wahrnehmung“ (3), heißt eine <strong>der</strong><br />

knappsten Formulierungen dieser <strong>Herz</strong>lehre.<br />

Galen (129–199) fasste das gesamte medizinische<br />

Wissen <strong>der</strong> Griechen zusammen, das im Wesentlichen<br />

unverän<strong>der</strong>t bis ins siebzehnte Jahrhun<strong>der</strong>t in Europa<br />

angewendet wurde. Dann traten aber durch eine ganz<br />

an<strong>der</strong>e Erkenntnisart und Forschungsweise Verän<strong>der</strong>ungen<br />

auf, die mit den galenischen Anschauungen nicht<br />

mehr vereinbar waren. Einer <strong>der</strong> bekanntesten Forscher,<br />

<strong>der</strong> diese Wende in <strong>der</strong> Medizin einleitete, ist William<br />

Harvey (1578–1657), bekannt als <strong>der</strong> Entdecker des Blutkreislaufs,<br />

<strong>der</strong> mit dieser Entdeckung nicht nur <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>-<br />

<strong>Kreislauf</strong>-Physiologie eine ganz neue Richtung gab, son<strong>der</strong>n<br />

auch <strong>der</strong> Physiologie insgesamt. Die galenischen<br />

Auffassungen wurden von da ab Schritt für Schritt durch<br />

die neuen Tatsachen ersetzt. Es waren nicht nur die Tatsachen<br />

ganz neuartig, die Harvey entdeckte, son<strong>der</strong>n<br />

auch die Art wie er forschte (4). Nicht was in den Büchern<br />

stand, wollte er bestätigen, son<strong>der</strong>n Beobachtung und<br />

Experiment waren seine neuen Methoden. Er war fasziniert<br />

durch direkte Beobachtung heraus zu bekommen,<br />

wie <strong>der</strong> Blutfluss im Körper von Tieren, die er sezierte, tatsächlich<br />

ist und bezog die Ergebnisse auch auf den Menschen.<br />

Ihm war aufgefallen, dass sein <strong>Lehre</strong>r, ein bekannter<br />

Anatom in Padua (Fabricius ab Aquapendente, 1537–<br />

1619), die Venenklappen zwar genau beschrieben hatte,<br />

auch mit ihrer Öffnung in Richtung zum <strong>Herz</strong>en, dass<br />

dies aber nicht vereinbar war mit <strong>der</strong> Richtung des Blutflusses<br />

in den Venen, wie er von Galen dargestellt wurde<br />

Kümmell | <strong>Zur</strong> <strong>Ideengeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>-<strong>Kreislauf</strong>-<strong>Lehre</strong> 5<br />

(5). Dieser Wi<strong>der</strong>spruch war seinem <strong>Lehre</strong>r selbst nicht<br />

aufgefallen. In <strong>der</strong> griechischen Medizin war man <strong>der</strong><br />

Auffassung, dass die aufgenommene Nahrung beim<br />

Durchfluss durch die Leber kontinuierlich in neues Blut<br />

umgewandelt wird und dieses von dort durch die Venen<br />

in die Peripherie zu den Organen und zur Muskulatur zu<br />

<strong>der</strong>en Ernährung fließt. Nur ein kleiner Teil des Blutes<br />

sollte, nach dieser Ansicht, aus <strong>der</strong> Leber ins rechte <strong>Herz</strong><br />

fließen und weiter zu einem Teil in die Lungen zu <strong>der</strong>en<br />

Ernährung und zu einem an<strong>der</strong>en Teil durch Porositäten<br />

des Ventrikelseptums in den linken Ventrikel dringen und<br />

von dort mit pneuma, später spiritus genannt, vermischt<br />

in die Arterien gelangen, um dann ebenfalls die Organe<br />

<strong>der</strong> Peripherie zu versorgen, jetzt aber mit spiritus. Galen<br />

beschrieb, dass das pneuma mit <strong>der</strong> Luft verbunden über<br />

die Lungen in die Pulmonalvenen gelange und von dort<br />

ins linke <strong>Herz</strong>, und dass an<strong>der</strong>erseits anfallen<strong>der</strong> „Ruß“<br />

über dieselben und die Lungen abgeleitet würde. Man<br />

nahm außerdem an, dass im linken <strong>Herz</strong>en ein Feuer<br />

brenne, und dass eine <strong>der</strong> Hauptaufgaben <strong>der</strong> Lungen<br />

darin bestehe, das <strong>Herz</strong> dieses Feuers wegen zu kühlen.<br />

Das offensichtlich Unpassende dieser Anschauung<br />

war für Harvey <strong>der</strong> Fluss des Blutes durch die Venen in<br />

die Peripherie, da <strong>der</strong> Bau <strong>der</strong> Venenklappen eine solche<br />

Flussrichtung nicht erlaubte, und das Durchdringen des<br />

Blutes vom rechten in das linke <strong>Herz</strong> durch Porositäten<br />

des Ventrikelseptums, die nie nachgewiesen wurden.<br />

Dazu kam die Vorstellung, dass das Blut sich aus <strong>der</strong><br />

Nahrung jeweils neu regeneriere, was bedeutete, dass<br />

<strong>der</strong> Blutfluss insgesamt sehr viel behäbiger hätte verlaufen<br />

müssen, als ihn Harvey bei seinen Vivisektionen an<br />

kleinen Tieren fand. Ungleich größer fand er die Durchflussmenge<br />

durchs <strong>Herz</strong> – wenn wir es mit den Volumenmengen<br />

des heute registrierbaren <strong>Herz</strong>minutenvolumens<br />

ausdrücken, also 5–6 Liter in <strong>der</strong> Minute beim<br />

mittelgroßen ruhenden Menschen – als die Flüssigkeitsmenge,<br />

die mit <strong>der</strong> Nahrung aufgenommen wird, in<br />

unserem Beispiel also ca. 2–4 Liter in 24 Stunden, so dass<br />

er daraus schloss, dass die Nahrungsflüssigkeit die<br />

Menge des Blutes, die in so kurzer Zeit durch das <strong>Herz</strong><br />

und die Gefäße fließt, gar nicht liefern könne. Er experimentierte<br />

auch in <strong>der</strong> Weise, dass er Venen vor dem<br />

Eintritt ins <strong>Herz</strong> abklemmte und einen Aufstau vor <strong>der</strong><br />

Abklemmung beobachtete. Auch an den aufgestauten<br />

Armvenen konnte er durch Ausstreichen zeigen,<br />

dass die Füllung von <strong>der</strong> Peripherie her erfolgte, und<br />

dass beim A<strong>der</strong>lass das Blut von <strong>der</strong> Peripherie<br />

herausfloss.<br />

Um zu zeigen, in welches Umfeld seine Entdeckung<br />

fiel, sind einige Lebensdaten Harveys hilfreich. Geboren<br />

1578 in Folkstone, also direkt am Kanal, erlebte er zehnjährig<br />

den englischen Sieg über die spanische Armada<br />

mit. Er durfte ab dem 15. Lebensjahr in Cambridge studieren,<br />

wo er mit dem medizinischen Examen abschloss.<br />

Mit 20 Jahren konnte er in Padua/Italien seine medizinischen<br />

Kenntnisse vertiefen und war gerade zu <strong>der</strong> Zeit<br />

dort, als sein <strong>Lehre</strong>r die Arbeit über den Bau <strong>der</strong> Venenklappen<br />

veröffentlichte. Harvey lernte hier die Philosophie<br />

und Naturkunde des Aristoteles kennen, die er so-


6 Originalia | <strong>Der</strong> <strong>Merkurstab</strong> | Heft 1 | 2006<br />

gleich als die wesentliche theoretische Grundlage für<br />

seine Fragen anerkannte, und er folgte diesem geistigen<br />

<strong>Lehre</strong>r auch lebenslang, was er in späteren Schriften immer<br />

wie<strong>der</strong> betonte. Zeitgleich mit ihm lehrte Galilei<br />

(1564– 1642) in Padua, so dass er von <strong>der</strong> neuen Physik zumindest<br />

wusste, wenn er Galilei in seinen Schriften auch<br />

nicht erwähnt. Dieser hatte sich schon von Aristoteles<br />

losgesagt. 1602 nach London zurückgekehrt setzte Harvey<br />

seine experimentellen Beobachtungsstudien fort<br />

unter ständigem Studium <strong>der</strong> aristotelischen Schriften.<br />

Er verkehrte auch am englischen Hof, ab 1603 unter Jacob<br />

I. (1566–1625), dem Nachfolger Elisabeths I. (1533–<br />

1603). Er wurde dadurch bekannt mit Francis Bacon von<br />

Verulam (1561–1626), dem Kanzler Jacobs und einem<br />

<strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaft, mit<br />

dem er aber nicht harmonierte; so zog Harvey z. B. dem<br />

Organon des Bacon die Schriften des Aristoteles vor.<br />

Auch ergab sich ein Arzt-Patienten-Verhältnis zwischen<br />

beiden, das aber nicht lange währte. Harvey kam an dem<br />

liberal gesinnten Hofe auch mit den Vertretern <strong>der</strong> paracelsischen<br />

Medizin zusammen, was einen gewissen Einfluss<br />

auf seine Rezepturen hatte. Harvey war auch Zeitgenosse<br />

Shakespeares, doch sind vermutete Beziehungen<br />

zwischen beiden nur vage. Später wurde er langjähriger<br />

Leiter des St. Bartholomew’s Hospital, und er war<br />

über Jahrzehnte beliebter <strong>Lehre</strong>r des Royal College of<br />

Physicians. Seine Beziehungen erstreckten sich aber<br />

auch zu solchen Persönlichkeiten wie dem bekanntesten<br />

Repräsentanten esoterischer Bewegungen im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t,<br />

zu Robert Fludd (1574–1637), einem Arzt in London,<br />

<strong>der</strong> Harveys Entdeckung als erster öffentlich hervorhob<br />

und ihm wohl auch den Kontakt zu dem Verlag<br />

vermittelte, <strong>der</strong> seine neue Entdeckung schließlich 1628<br />

unkonventionell veröffentlichte: ein Verlag in Frankfurt<br />

am Main; in einem Land also, das 1628 bereits 10 Jahre im<br />

30-jährigen Krieg steckte. Seine Veröffentlichung (4)<br />

heißt: Anatomische Untersuchung über die Bewegung<br />

des <strong>Herz</strong>ens und des Blutes bei Tieren. (Exercitatio anatomica<br />

de motu cordis et sanguinis in animalibus = De<br />

Motu). 1637 erwähnte Descartes (1596–1650) in:Discours<br />

de la Méthode … (Abhandlung über die Methode des<br />

richtigen Vernunftgebrauchs …) anerkennend den „Englän<strong>der</strong>“(6),<br />

<strong>der</strong> eine neue Sicht <strong>der</strong> Blutbewegung beschreibt,<br />

die Descartes für seine neue Physiologie gut<br />

verwenden konnte. Eine Begegnung bei<strong>der</strong> fand nicht<br />

statt. Descartes erhielt den Hinweis auf Harvey von seinem<br />

Freund und <strong>Lehre</strong>r Mersenne, <strong>der</strong> im Jesuitenkolleg<br />

in La Flèche unterrichtete. Zwischen Mersenne und<br />

Fludd gab es im Übrigen eine europaweite öffentlich geführte<br />

Kontroverse (7). Harvey starb 1657 in London.<br />

Die Beschreibung <strong>der</strong> Entdeckung des Blutkreislaufs<br />

Nun wie<strong>der</strong> zurück zu Harveys Entdeckung. Wie <strong>der</strong><br />

Bau <strong>der</strong> Venenklappen zeigte, konnte <strong>der</strong> Blutfluss in<br />

diesen Gefäßen nur in Richtung zum <strong>Herz</strong>en gehen, was<br />

Harvey auch durch die unmittelbare Inspektion bei seinen<br />

Vivisektionen immer wie<strong>der</strong> bestätigt fand, und die<br />

Quantität des durch das <strong>Herz</strong> fließenden Blutes war so<br />

groß, dass er nach langen, gründlichen Überlegungen zu<br />

<strong>der</strong> Idee kam, dass das Blut nur im Kreise fließen könne.<br />

Diese Idee kam ihm nicht von ungefähr, denn er hatte bei<br />

Aristoteles gelesen, dass es Kreisläufe in <strong>der</strong> Natur als<br />

wirksame Prinzipien gäbe. Kaum hatte er diese Idee gefasst,<br />

lösten sich schlagartig alle Ungereimtheiten und<br />

Wi<strong>der</strong>sprüche auf, so dass für ihn feststand, dass das<br />

Blut durch die Venen zum rechten <strong>Herz</strong>en zurückfließt,<br />

und dass es auch vom rechten <strong>Herz</strong>en durch die Lungen<br />

hindurchfließt und über den linken Vorhof in die linke<br />

<strong>Herz</strong>kammer gelangt. Dies erklärte ihm auch, dass er die<br />

Lungenschlaga<strong>der</strong> ähnlich groß wie die Aorta fand, was<br />

zur bloßen Ernährung <strong>der</strong> Lungen seiner Meinung nach<br />

nicht notwendig gewesen wäre. Porositäten im Ventrikelseptum<br />

hatte er – wie auch an<strong>der</strong>e Zeitgenossen –<br />

nicht entdecken können. Bei seinen Kollegen hatte er es<br />

anfangs schwer mit <strong>der</strong> Anerkennung, bis auf wenige<br />

sofortige Befürworter, da <strong>der</strong> Durchfluss durch die Peripherie<br />

auch für ihn hypothetisch war, und er Porositäten<br />

zwischen Arterien und Venen postulieren musste. Aber<br />

die an<strong>der</strong>en Argumente waren so zwingend, dass diese<br />

Unsicherheit nur gering wog. Historisch betrachtet war<br />

das auch unbedeutend, da Malpighi, im Jahre <strong>der</strong> Veröffentlichung<br />

von De Motu (1628) geboren, die Kapillaren<br />

gut 30 Jahre später als Verbindung zwischen Arterien<br />

und Venen entdeckte. Seitdem wurde die Entdeckung<br />

des <strong>Kreislauf</strong>s allgemein anerkannt.<br />

Trotz <strong>der</strong> schon früh reichlich vorhandenen Harvey-<br />

Literatur sind auch in jüngster Zeit immer wie<strong>der</strong> Arbeiten<br />

über ihn erschienen, die untersuchten, von wem<br />

Harvey beeinflusst war und welchen Einfluss Harveys<br />

Arbeitsweise auf an<strong>der</strong>e Denker und Forscher hatte. Ich<br />

beziehe mich hier hauptsächlich auf die sehr subtilen<br />

Untersuchungen Walter Pagels von 1967 und 1976 (8, 9)<br />

und die sehr detaillierte und ausführliche Ausarbeitung<br />

(10) von Thomas Fuchs (1992).<br />

<strong>Der</strong> Einfluss aristotelischer Ideenbildung<br />

<strong>Der</strong> Denker, <strong>der</strong> Harvey am meisten beeinflusste, war<br />

Aristoteles. Zwar wi<strong>der</strong>sprach ihm Harvey in einzelnen<br />

Tatsachen, aber <strong>der</strong> ideelle Hintergrund und die Art <strong>der</strong><br />

Beschreibung <strong>der</strong> Tatsachen zeigt aristotelische Methodik:<br />

vom Einzelnen, von <strong>der</strong> Sinneswahrnehmung durch<br />

Induktion zum Allgemeinen vorstoßen, und vom Allgemeinen<br />

zum Einzelnen rückschließen. <strong>Der</strong> Wert des Allgemeinen<br />

liegt darin, dass es die Ursachen offenbart<br />

(z. B. die Idee von den Kreisläufen). Jede vollkommene<br />

Wissenschaft beruht auf <strong>der</strong> Kenntnis aller Ursachen.<br />

Vom vollendeten Lebewesen (welches für ihn das frühere<br />

ist), vom Ziel also müssen die Schritte <strong>der</strong> Natur zurückverfolgt<br />

werden, bis man bei ihrem ‘Ausgangspunkt‘<br />

ankommt, <strong>der</strong> materiellen und <strong>der</strong> bewirkenden Ursache.<br />

In diesem Ausgangspunkt ist aber wie<strong>der</strong>um das<br />

Ziel <strong>der</strong> Entwicklung als ihr eigentlicher Grund mit enthalten<br />

(10, 11). So fragt Harvey im Sinne des 4- o<strong>der</strong> 5-Ursachen-Modells<br />

(Abb. 1), welches die Hauptursache seiner<br />

Untersuchungen ist. Dieses Ursachen-Modell ist von<br />

Aristoteles (12) an <strong>der</strong> 1-jährigen Pflanze entwickelt worden,<br />

ist also ein vitales Modell im Gegensatz zu dem des<br />

Galilei, und letztlich des Descartes, die beide ein physi-


kalisch-mechanistisches Forschungs- und Erkenntnis-<br />

Modell (Billardkugel-Modell, bzw. Maschinen-Modell)<br />

entwickelt und angewendet haben, das linear-kausal<br />

funktioniert (Abb. 2). Harvey fragte i. S. des Aristoteles<br />

immer nach <strong>der</strong> Zielursache, nach dem Telos, wie sich <strong>der</strong><br />

Untersuchungsgegenstand in Raum und Zeit entwickelt<br />

hat und welchem Ziele er dient.<br />

So kam er beim <strong>Herz</strong>en, zu dem das Blut immer wie<strong>der</strong><br />

zurückkehrt, zu <strong>der</strong> Schlussfolgerung, dass das Blut<br />

im <strong>Herz</strong>en immer wie<strong>der</strong> regeneriert, erwärmt und belebt<br />

werde, als einer Quelle <strong>der</strong> Belebung und Befeuerung<br />

des Blutes, das in <strong>der</strong> Peripherie verbraucht, eingedickt<br />

und träge wird. So kehrt das Blut immer wie<strong>der</strong> zu<br />

seinem inneren Herd und Zentrum zurück, um belebt<br />

und aufgefrischt zu werden, versehen mit Bewegungs-<br />

Impulsen. Wie die Sonne im Makrokosmos alles belebt,<br />

so das <strong>Herz</strong> im lebenden Organismus, dem Mikrokosmos<br />

(4). Hier folgt Harvey ganz <strong>der</strong> aristotelischen Auffassung.<br />

In seinem späteren Werk «De Generatione» (11),<br />

weicht er allerdings davon ab und schreibt dem Blut<br />

selbst unmittelbar Belebung, Wärmung, Bewegungsimpulse<br />

und sogar seelische und geistige Kräfte zu. Hier<br />

zeigt sich, dass er sich in konkreten Dingen von Aristoteles<br />

zu distanzieren wusste. Und so konnte er folgern,<br />

dass das Blut das <strong>Herz</strong> als ein Instrument für seine weitere<br />

Bewegung benutzt. Das Blut ist das Frühere sowohl<br />

<strong>der</strong> Entstehung, dem Wesen als auch <strong>der</strong> Natur nach.<br />

Das <strong>Herz</strong> dient viel eher dem Blut als umgekehrt. Auch<br />

haben die Gewebe nach Harvey eine autonome Irritabilität,<br />

d. h. dass sie aus sich heraus reizbar sind, so auch<br />

das <strong>Herz</strong>. Es reagiert auf das heranströmende Blut, und<br />

antwortet auf den Reiz des Einstroms und <strong>der</strong> Ausdehnung,<br />

d. h. es kontrahiert sich. Das Blut folgt seinem<br />

Drang nach Ausdehnung, fließt von den kleinen venösen<br />

Gefäßen in die immer größer werdenden, gegen einen<br />

minimalen Gefäßwi<strong>der</strong>stand, strömt in den rechten Vorhof<br />

ein, dehnt diesen, so dass das Blut in den nach <strong>der</strong><br />

Systole entspannten Ventrikel einfließen kann – unterstützt<br />

durch die Kontraktion des Vorhofs – und so ebenfalls<br />

gedehnt und zur Kontraktion gereizt wird. So misst<br />

Harvey dem Blut eine autonome, aktive Rolle zu und<br />

denkt die Füllung <strong>der</strong> Kavitäten noch unterstützt durch<br />

Ausdehnung des Blutes infolge Eigenwärme, die sich<br />

durch die schnelle Bewegung beim Einstrom ins <strong>Herz</strong> erhöht.<br />

Es tritt die folgende Wechselwirkung auf: das Blut<br />

mit seiner Dynamik füllt das passiv sich dehnende <strong>Herz</strong>,<br />

<strong>der</strong> Blutstrom kommt zur Ruhe, das <strong>Herz</strong> wird aktiviert<br />

zur Kontraktion, das Blut strömt aus und venöses Blut<br />

fließt in das wie<strong>der</strong> erschlaffte <strong>Herz</strong> erneut ein. Die<br />

Aktivitäten von Blut und <strong>Herz</strong> werden wechselweise<br />

weitergegeben, bewegtes Flüssiges und reagierendes<br />

Festes spielen sich einan<strong>der</strong> zu, sie bedingen einan<strong>der</strong>!<br />

Es entsteht ein Rhythmus. Wie <strong>der</strong> Ballspieler mit<br />

Schwung zum Werfen ausholt (4, S. 124), so nimmt das<br />

<strong>Herz</strong> den Schwung des Blutes auf und setzt ihn mit Hilfe<br />

<strong>der</strong> Kontraktion in weitere Bewegung um (impetus).<br />

Gegen die Arterien, die sich vom <strong>Herz</strong>en aus immer weiter<br />

verengen und dem Blutfluss Wi<strong>der</strong>stand entgegensetzen,<br />

muss sich das <strong>Herz</strong> mit seiner Kraftentfaltung<br />

Kümmell | <strong>Zur</strong> <strong>Ideengeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>-<strong>Kreislauf</strong>-<strong>Lehre</strong> 7<br />

Abb. 1<br />

Raum<br />

Zeit<br />

Causa efficiens<br />

Anfang<br />

Potentia<br />

Möglichkeit<br />

Causa formalis<br />

Form<br />

Wesen<br />

Substanz<br />

Causa materialis<br />

Stoff<br />

durchsetzen, da ist das Blut das passiv bewegte. – Seine<br />

Eigenaktivität und Autonomie wird erhalten und verstärkt,<br />

indem die Seele und <strong>der</strong> Geist ihren Sitz direkt im<br />

Blute erhalten (11) und in <strong>der</strong> Modulation des Rhythmus<br />

sich manifestieren. So wird nach Harvey das Blut das<br />

Grundelement des Körpers, <strong>der</strong> Ausgangspunkt <strong>der</strong> Entwicklung<br />

desselben und sein Ziel. Stoff-, Bewegungsund<br />

Zielursache sind einheitlich gleichermaßen vertreten<br />

im Blut, und es ist <strong>der</strong> primäre Sitz <strong>der</strong> Seele selbst.<br />

Harvey hat zwar durch seine Entdeckung die Tür für<br />

eine automatenhafte Deutung <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>funktion geöffnet,<br />

hat selbst aber nie eindeutig von einer Pumpe gesprochen,<br />

die das Blut durch den Körper bewegt. Durch<br />

seine philosophisch-vitalistische Ideenbildung in Anlehnung<br />

an Aristoteles hat er den Schritt in das rein<br />

Mechanische nicht vollzogen, indem er seine Entdeckungen<br />

in einen großen Natur- und Ideenzusammenhang<br />

hineingestellt hat. In ihm trafen ausgewogen zusammen:<br />

Einerseits die reinste Neigung zu exakter Sinneswahrnehmung<br />

und <strong>der</strong> Enthusiasmus, sie zu vervollkommnen<br />

(unter Einschluss von Quantifizierung und<br />

Experiment) und andrerseits eine Art von Verantwortung,<br />

die Untersuchungsergebnisse in einen Ideenzusammenhang<br />

zu stellen, <strong>der</strong> dem Objekt seiner Betrachtung<br />

in seiner Gesamtheit entsprach.<br />

Auswirkung von Descartes Rationalismus<br />

Das Interesse Descartes (1596–1650) an <strong>der</strong> Entdeckung<br />

des Englän<strong>der</strong>s erwähnte ich schon. Es ist das<br />

Verdienst von Thomas Fuchs (10), diesem Interesse nicht<br />

nur bei Descartes selbst, son<strong>der</strong>n auch bei Wissenschaftlern<br />

und Forschern, die von Descartes beeinflusst waren,<br />

konsequent nachgegangen zu sein. Parallel dazu zeigte<br />

er auf, wie sich die vitalistischen Ideen Harveys weiter<br />

entwickelten.<br />

Descartes stellte seine Wissenschaftsauffassung auf<br />

rein gedanklichem Weg dar (Deduktion), die konkrete<br />

Wahrnehmung als Erkenntnisprinzip i. S. <strong>der</strong> Induktion<br />

lehnte er weitgehend ab. Er setzte gedanklich, mathematisch,<br />

qualitätslose Materie und Bewegung von<br />

Elementarteilchen als Ausgangspunkt. Die Wahrnehmungsinhalte<br />

galten nur insoweit als wirklich, als sie sich<br />

aus diesen abstrakten Begriffen ableiten ließen. Aus<br />

diesem Duktus ergibt sich auch die Manipulierbarkeit<br />

Causa finalis<br />

Ziel, Zweck<br />

Privatio<br />

Beraubung<br />

Verwesung<br />

Abb. 1<br />

4-Ursachen-<br />

Modell des Aristoteles<br />

(nach Lauenstein,<br />

15)


8 Originalia | <strong>Der</strong> <strong>Merkurstab</strong> | Heft 1 | 2006<br />

Abb. 2<br />

Abb. 2<br />

Maschinenmodell<br />

von R. Descartes<br />

<strong>der</strong> natürlichen Umwelt, die ein Ziel <strong>der</strong> kartesianischen<br />

Wissenschaft ist. In seiner Physiologie entwarf er ein<br />

Maschinenmodell in dualistischer Abtrennung leiblicher<br />

Funktionen und seelischen Erlebens. Er kürte die Epiphyse<br />

als einzigen Ort <strong>der</strong> Anknüpfung <strong>der</strong> denkenden<br />

Seele an den Körper und ließ alle übrigen Köperfunktionen<br />

neuronal gesteuert reflexartig ablaufen (Abb. 2).<br />

Nach seiner Auffassung sollte <strong>der</strong> <strong>Kreislauf</strong> <strong>der</strong> Lieferant<br />

<strong>der</strong> Energie sein. Die Nahrung sollte über die Leber<br />

ins Blut aufgenommen werden und als Brennstoff für<br />

das im <strong>Herz</strong>en schwelende Feuer ohne Licht dienen (6).<br />

So sah er das <strong>Herz</strong> als den zentralen Motor für den <strong>Kreislauf</strong><br />

und die übrigen Organe. Es sei wichtig die wahre<br />

Ursache <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>bewegung zu kennen, denn ohne sie<br />

sei es unmöglich, etwas über die Theorie <strong>der</strong> Medizin zu<br />

wissen, weil alle an<strong>der</strong>en Funktionen des Lebewesens<br />

davon abhingen, so Descartes. Er sah allerdings den<br />

Funktionsablauf des <strong>Herz</strong>ens so, dass das Ende <strong>der</strong><br />

Diastole zum Austritt des Blutes führt (wie auch Galen<br />

es annahm), wogegen in <strong>der</strong> Systole das <strong>Herz</strong> in sich<br />

zusammensackt (10, S. 128). Während <strong>der</strong> diastolischen<br />

Füllung erwärmt sich das Blut, dehnt sich aus und<br />

verlässt dabei erneut das <strong>Herz</strong>. Descartes war also in <strong>der</strong><br />

Beobachtung selbst nicht so präzise wie Harvey, <strong>der</strong> die<br />

Systole mit ihrer Funktion bereits richtig beschrieben<br />

hatte. Mit Descartes’ Beseitigung <strong>der</strong> Selbstbewegung<br />

erhielten alle Bewegungen gleichermaßen den Charakter<br />

von Reflexen, von mechanisch vorgeprägten Bewegungsprogrammen;<br />

verschieden sollten nur die Auslöser<br />

durch innere und äußere Reize sein.<br />

In seiner erst 1959 entdeckten und veröffentlichten<br />

Schrift De Motu Locali Animalium (zit. nach 10) gab<br />

Harvey seine Sicht <strong>der</strong> Muskel- und Nervenphysiologie<br />

in einem kurzen Bilde wie<strong>der</strong>. Danach arbeitet das<br />

Gehirn wie ein Dirigent, es koordiniert nur die eigenbewegten<br />

Muskeln, so wie <strong>der</strong> Dirigent die Eigenaktivitäten<br />

<strong>der</strong> Musiker nur koordiniert, er ist also kein Marionettenspieler.<br />

Ein ähnliches Verhältnis sah er auch<br />

zwischen dem <strong>Herz</strong>en und dem eigenbewegten Blut.<br />

Die Eigenständigkeit <strong>der</strong> einzelnen Organe des Organismus<br />

bleiben gewahrt, werden aber durch ein Zentrum<br />

(Gehirn, <strong>Herz</strong>) i. S. des Gesamtorganismus koordiniert.<br />

In <strong>der</strong> Folgezeit konnte sich zwar Descartes’ konkretes<br />

<strong>Herz</strong>funktionskonzept als Explosionsmotor mit Ausfluss<br />

des Blutes am Ende <strong>der</strong> Diastole bei wenigen direkten<br />

Nachfolgern noch einige Zeit halten, musste dann<br />

aber schließlich doch als unrealistisch aufgegeben werden.<br />

Dagegen war seine physiologische Theorienbildung<br />

weit anerkannter und ist letztlich noch bis heute wirksam.<br />

Sein Maschinenmodell des tierischen und menschlichen<br />

Organismus hatte wegen <strong>der</strong> Extrapolation <strong>der</strong><br />

Seele aus dem Organismus und seiner damit klaren,<br />

mechanistischen Denkbarkeit immer wie<strong>der</strong> Anhänger<br />

gefunden. Nach und nach vollzog sich im 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

in <strong>der</strong> Physiologie <strong>der</strong> endgültige Rückzug <strong>der</strong><br />

Seele aus dem Körper. An ihre Stelle traten aber nicht<br />

eine organisch spezifische Vitalität im Sinne Harveys,<br />

son<strong>der</strong>n physikalisch-chemisch beschreibbare, zentralisiert<br />

angetriebene und gesteuerte Funktionsabläufe.<br />

Hinsichtlich <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>-<strong>Kreislauf</strong>funktionen und ihrer<br />

Weiterentwicklung werden jetzt einige Autoren mit kurzen<br />

Zusammenfassungen aufführt (im Wesentlichen<br />

nach 10 und 5).<br />

Harveys Entdeckung wurde zunächst weitgehend abgelehnt,<br />

vor allem von seinen Kollegen, bis auf wenige<br />

Ausnahmen, und es dauerte etwa die Zeitspanne einer<br />

Generation bis die Akzeptanz anstieg. Beson<strong>der</strong>s das<br />

Eintreten von Descartes und Sylvius bereiteten Harveys<br />

Entdeckung den Weg in die allgemeine Anerkennung.<br />

Dabei wurde seine grundlegende experimentelle Arbeitweise<br />

gewürdigt und natürlich die Entdeckung des<br />

<strong>Kreislauf</strong>s selbst, doch seine vitalistischen Theorien traten<br />

bei vielen hinter die rationalistisch-mechanistischen<br />

des Descartes zurück.<br />

Mechanistische und vitalistische Betrachtungsweise<br />

<strong>der</strong> <strong>Herz</strong>funktion<br />

So waren Franciscus Sylvius (1614–1672, Leyden) und<br />

Thomas Willis (1621–1675, England) als Anhänger Descartes<br />

Hauptvertreter <strong>der</strong> mechanisierten Iatrochemie,<br />

benutzten aber Harveys Entdeckung als eine physiologische<br />

Tatsache. Willis war stark beeinflusst von Boyle.<br />

Niels Stensen (Steno) (1638–1686), entdeckte schon<br />

bald nach Harvey 1664 und 1667, dass das <strong>Herz</strong>gewebe<br />

eindeutig Muskulatur ist, was bei Harvey noch ein Gebilde<br />

gemischt aus Fasern und Muskeln war.<br />

Richard Lower (1631–1691), Schüler von Willis, verfasste<br />

1669 seinen wichtigen Tractus de Corde. Er erkannte,<br />

dass das Blut seine rote Farbe nicht erst im (linken) Her-


zen erhält, son<strong>der</strong>n in den Lungen, er registrierte auch<br />

keine beson<strong>der</strong>e Erwärmung des Blutes im <strong>Herz</strong>en, er<br />

beschrieb, dass die Muskulatur sich in <strong>der</strong> Systole kontrahiert,<br />

was man spüren kann, wenn man den Finger in die<br />

eröffnete <strong>Herz</strong>spitze einführt. (Systole ist aktiv, Diastole<br />

passiv). Das alles ließ ihn schreiben: „Nicht das Blut bewegt<br />

das <strong>Herz</strong>, son<strong>der</strong>n das <strong>Herz</strong> bewegt das Blut.“<br />

Wobei er noch keine klaren Vorstellungen hatte, wie das<br />

<strong>Herz</strong> das bewirkt. Von <strong>der</strong> physiologischen Theorie her<br />

versuchte er, den kartesianischen Ansatz über Gehirn<br />

und Nervenaktivität zu benutzen. Er hatte den Vagus<br />

unterbunden und einen <strong>Herz</strong>stillstand herbeigeführt.<br />

So hängt für ihn die Bewegung des Blutes und des <strong>Herz</strong>ens<br />

ganz vom Gehirn ab (analog <strong>der</strong> Nerven-Muskel–<br />

tätigkeit). „Das Gehirn herrscht über alle Teile des unteren<br />

Körpers, wie ein König über seine Untertanen“, (zit.<br />

nach 10). So kurz nach Harvey trat schon ein völlig an<strong>der</strong>es<br />

Konzept <strong>der</strong> noch neuen Entdeckung auf mit rein<br />

cartesianischen Theorieelementen, aber mit klaren physiologischen<br />

Fakten. Das <strong>Herz</strong> hatte dabei viel verloren:<br />

die eingeborene Wärme, so bedurfte es keiner Kühlung<br />

mehr, die spezielle Wechselwirkung zwischen Blut und<br />

<strong>Herz</strong>, seine regenerierende Wirkung (in <strong>der</strong> Lunge wird<br />

das Blut gerötet, nicht mehr im <strong>Herz</strong>en), seine zentrale<br />

Stellung und das Primat, Sitz <strong>der</strong> Seele zu sein, was ja<br />

schon Harvey selbst und an<strong>der</strong>s auch Descartes geän<strong>der</strong>t<br />

hatten.<br />

Von da ab wurde das <strong>Herz</strong> als eine Blut auswerfende<br />

Pumpe aufgefasst, die sich in <strong>der</strong> Diastole füllt und in <strong>der</strong><br />

Systole entleert (5). Und es gewann im mechanistischen<br />

Modell erneut eine zentrale Stellung, nur mit neuen<br />

Eigenschaften.<br />

John Mayow (1641–1679), auch Schüler von Willis,<br />

nahm mit seiner Annahme des „Luftsalpeters“ den einhun<strong>der</strong>t<br />

Jahre später entdeckten Sauerstoff vorweg und<br />

ersetzte die spiritus vitales durch einen Verbrennungsprozess.<br />

Die spiritus animales blieben für die Nervenfunktion<br />

noch erhalten.<br />

Sylvius’ Schüler Craanen (1620–1690) und Bontekoe<br />

(1647–1685), beide aus Leyden, setzten die mechanistische<br />

Betrachtungsweise fort, so dass sie die <strong>Herz</strong>funktionen<br />

wie das Zahnrad-Getriebe einer Uhr ansahen. Das<br />

<strong>Herz</strong> stößt das Blut aus und treibt es ins Gehirn, so dass<br />

<strong>der</strong> Nervensaft dort ausgetrieben wird, <strong>der</strong> den <strong>Herz</strong>muskel<br />

zu neuer Kontraktion stimuliert. Das <strong>Herz</strong> lebte<br />

inzwischen ganz von des Gehirns Gnaden. (Heute sehen<br />

wir, dass das <strong>Herz</strong> gerade nicht vom Gehirn, bzw. Hirnstamm<br />

abhängig ist, wie z. B. die Atmung).<br />

Giovanni Borelli (1608–1679) benutzte mathematisch-physikalische<br />

Gedankengänge, um die cartesianischen<br />

Konstruktionen zu erhärten. Er blieb bei theoretischen<br />

Überlegungen, führte keine Experimente durch. Er<br />

erklärte die <strong>Herz</strong>funktion i. S. eines Automaten, gab sich<br />

aber nicht zufrieden, da sich auch verschiedene seelische<br />

Zustände auf die <strong>Herz</strong>funktion auswirken sollten, die er<br />

über die <strong>Herz</strong>nerven in die <strong>Herz</strong>funktion einfließen ließ.<br />

Erst Stephen Hales (1677–1761) berechnete sehr exakt<br />

aufgrund von gründlichen Experimenten Blutdruck,<br />

Schlagvolumina und Gefäßwi<strong>der</strong>stände. Das <strong>Herz</strong> kann<br />

Kümmell | <strong>Zur</strong> <strong>Ideengeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>-<strong>Kreislauf</strong>-<strong>Lehre</strong> 9<br />

als eine hydraulische Maschine betrachtet, und die daraus<br />

folgende Blutbewegung mit physikalischen Methoden<br />

berechnet werden, so schloss er.<br />

Marcello Malpighi (1628–1694) entdeckte 1661 den<br />

Kapillarkreislauf, 1665 die roten Blutkörperchen und er<br />

gilt als Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mikroskopischen Anatomie.<br />

Bei Johannes Bohn (1640– 1718, Leipzig) traten dualistisch-cartesianische<br />

und vitalistisch-harveysche Ansichten<br />

gemischt auf. Einerseits sah er das <strong>Herz</strong> als eine<br />

Maschine an, vergleichbar einer Kolbenpumpe, <strong>der</strong>en<br />

einzige Funktion Bewegung ist. An<strong>der</strong>erseits gestand er<br />

dem <strong>Herz</strong>en die Fähigkeit zu, eine Art von unbewusster<br />

Wahrnehmung und Reizbarkeit zu haben, wie jede<br />

lebendige Faser, durch die sie zur Kontraktion, bzw.<br />

Bewegung stimuliert wird, eine durchaus vitalistische<br />

Anschauung. Beide konträren Anschauungen zu einer<br />

übergeordneten Sicht zu vereinen, dazu lieferte die<br />

cartesianische Theorie nicht die nötigen Begriffe.<br />

Nach <strong>der</strong> Entfaltung des iatrophysikalischen und<br />

iatrochemischen Aspektes, <strong>der</strong> ins Extrem getrieben keine<br />

befriedigende Erklärung <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>funktion und <strong>der</strong><br />

Blutaktivitäten ergeben hatte, kamen wie<strong>der</strong> vitalistische<br />

Betrachtungsweisen auf. Die physikalische hatte<br />

mit den messbaren Parametern von Druck und Volumen<br />

jedoch eine strengere und stabilere Ordnung in den<br />

Funktionsablauf des <strong>Herz</strong>ens gebracht, was auch schon<br />

dem harveyschen Vorgehen entsprach: die Quantifizierung<br />

<strong>der</strong> Auswurfmenge des <strong>Herz</strong>ens hatte mit dazu<br />

beigetragen, die Idee des <strong>Kreislauf</strong>s überhaupt zu entwickeln.<br />

Offen geblieben waren die schwer quantifizierbaren<br />

Funktionen des vitalistischen Aspektes. Die Vitalisten<br />

favorisierten das Reiz-Reaktions-Modell <strong>der</strong> Gewebe<br />

und die Eigenständigkeit <strong>der</strong> Blutströmung.<br />

Hermann Conring (1605–1681), einer <strong>der</strong> ersten Anhänger<br />

Harveys in Deutschland, hielt die reine Druckentwicklung<br />

des <strong>Herz</strong>ens für unzureichend, um die gesamte<br />

Blutbewegung zu erklären, zumal sich bei arteriellen<br />

Ligaturen das entsprechende Venenblut dennoch herzwärts<br />

bewegte – und dies selbst nach <strong>der</strong> Excision des<br />

<strong>Herz</strong>ens (10). Er erklärte das mit <strong>der</strong> Bewegung des Blutes<br />

von kälteren zu wärmern Orten, von <strong>der</strong> Peripherie<br />

zum Zentrum, was Harvey in <strong>der</strong> zentripetalen Tendenz<br />

des Blutes auch schon postuliert hatte.<br />

Thomas Bartholinus (1616–1680), dänischer Anatom,<br />

sagte noch deutlicher, dass das anschwellende<br />

Blut im <strong>Herz</strong>en dieses reizt und zur Kontraktion bringt.<br />

„So wird das <strong>Herz</strong> fortwährend vom Blut bewegt, wie<br />

ein Mühlrad, das durch den ständigen Anprall des<br />

Wassers angetrieben wird, ohne ihn jedoch stehen<br />

bleibt. Aber das <strong>Herz</strong> hat auch eine facultas pulsifica,<br />

also eine autonome rhythmische Funktion, damit es<br />

den Blutausfluss und -zufluss regeln kann, ohne sie<br />

wäre <strong>der</strong> Puls total unregelmäßig.“ Wie Harvey hielt<br />

Bartholinus die <strong>Herz</strong>aktion für eine autonome eigene<br />

Leistung, nicht für eine zentral (cerebral) gesteuerte<br />

Wechselbeziehung.<br />

Selbst in England gab es vitalistische Anschauungen,<br />

sogar von dem Hauptvertreter des Atomismus und<br />

Mechanizismus, Walter Charleton, <strong>der</strong> 1659 schrieb:


10 Originalia | <strong>Der</strong> <strong>Merkurstab</strong> | Heft 1 | 2006<br />

„das Blut bewegt durch seine Masse das <strong>Herz</strong>, und<br />

das <strong>Herz</strong> treibt durch seine Zusammenziehung das Blut<br />

voran, so wird bei<strong>der</strong> Bewegung perpetuiert. <strong>Der</strong> Puls<br />

kommt durch <strong>Herz</strong> und Blut zustande. <strong>Der</strong> <strong>Herz</strong>schlag<br />

entsteht aus dem Blut, welches das <strong>Herz</strong> zur Kontraktion<br />

reizt.“<br />

Francis Glisson (1597–1677), Schüler Harveys, entwickelte<br />

im Zusammenhang mit Harveys De Generatione<br />

die Theorie eines primären sensus <strong>der</strong> Gewebe, die „naturalis<br />

perceptio“, einer elementaren Vitalität, die Vieles<br />

weiß, was <strong>der</strong> bewussten Wahrnehmung verborgen<br />

bleibt. Die Gewebe reagieren darauf mit Irritabilität o<strong>der</strong><br />

Bewegung. Das <strong>Herz</strong> wird durch den Blutfluss auf diese<br />

Weise gereizt, zur Kontraktion veranlasst und bewirkt so<br />

den Pulsschlag. Und es variiert <strong>der</strong> Pulsrhythmus, wenn<br />

im Körper sich etwas än<strong>der</strong>t, wie bei Fieber o<strong>der</strong> <strong>der</strong>gleichen.<br />

Blutbewegung und <strong>Herz</strong>tätigkeit stoßen hier polar<br />

zusammen,strömendes Blut und rhythmisch tätiges <strong>Herz</strong><br />

ergeben den Pulsschlag als etwas Neues. Glisson setzte<br />

also ganz auf die Autonomie des <strong>Herz</strong>gewebes (das RLS<br />

war ja noch nicht bekannt) und <strong>der</strong> Blutbewegung.<br />

Die vitalistischen Ideen bezogen sich vor allem auf<br />

das Phänomen <strong>der</strong> Reizbarkeit <strong>der</strong> Gewebe, in diesem<br />

Falle des <strong>Herz</strong>ens und auf das Wechselspiel zwischen<br />

Blutbewegung und <strong>Herz</strong>kraftentwicklung. Dazu haben<br />

Haller (1708–1777) und Bichat (1771–1802) weitere wesentliche<br />

Beiträge geleistet. Diese Ansichten wurden<br />

von Ärzten <strong>der</strong> Romantik unterstützt und weitergeführt<br />

bis etwa 1840. Harveys vitalistische Gesichtspunkte wurden<br />

wie<strong>der</strong> stärker berücksichtigt, trugen aber auch nur<br />

teilweise zur weiteren Erklärung einer umfassenden<br />

<strong>Herz</strong>funktion bei. Letztlich liegt Harveys Hauptbedeutung<br />

in seiner wichtigen konkreten Entdeckung und<br />

seinem Ruf als soli<strong>der</strong> Experimentalwissenschaftler.<br />

Diesen Ruf hat er auch in <strong>der</strong> folgenden Zeit nicht verloren.<br />

Es muss aber betont werden, dass er seine Denkschulung<br />

an <strong>der</strong> Philosophie des Aristoteles bekommen<br />

hatte. Und „unter dieser Führung“ fand auch die Entdeckung<br />

des <strong>Kreislauf</strong>s statt. Es ist also interessant, dass<br />

mit <strong>der</strong> Entdeckung des <strong>Kreislauf</strong>s eine Tatsache vorliegt,<br />

die nicht mehr bezweifelbar ist, egal von welcher Geistesrichtung<br />

auf diese Tatsache geblickt wird. Auch unter<br />

dem Gesichtspunkt mo<strong>der</strong>ner Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien<br />

(Steiner und Kuhn) erweist sich Harveys<br />

Entdeckung geradezu als ein Musterbeispiel für die Entdeckung<br />

und Weiterentwicklung einer neuen revolutionierenden<br />

Idee, eines neuen Paradigmas (13).<br />

<strong>Der</strong> Positivismus als naturwissenschaftliches<br />

Konzept von Machbarkeit<br />

Aber we<strong>der</strong> das Vitalismuskonzept, noch das mechanistisch-physikalische<br />

Gedankengebäude boten befriedigende<br />

Erklärungsmodelle zum Verständnis einer humanen<br />

<strong>Herz</strong>lehre (14). Auch wenn das physikalische Vorgehen<br />

ab <strong>der</strong> 2. Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts mit Hilfe <strong>der</strong><br />

Entwicklung <strong>der</strong> Technik ganz neue Möglichkeiten von<br />

Interventionen und Operationen erlangte, die heute<br />

sehr zum Wohle <strong>der</strong> Kranken genutzt werden, fehlte<br />

es <strong>der</strong> technik-orientierten Wissenschaft und Medizin<br />

doch an einem umfassenden Organismuskonzept mit<br />

primären seelischen und geistigen Qualitäten.<br />

Hintergrund dieses ab ca. 1840 einsetzenden stark<br />

technikgebundenen Fortschritts ist <strong>der</strong> Positivismus,<br />

eine von Auguste Comte (1798–1857) und Ernst Mach<br />

(1838–1916) propagierte Wissenschaftsrichtung, die auf<br />

<strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Naturwissenschaft (vorwiegend <strong>der</strong><br />

Physik seit Galilei) nicht mehr nach den Bedingungen<br />

<strong>der</strong> Erkenntnis fragt, son<strong>der</strong>n die positiven Ergebnisse<br />

<strong>der</strong> Naturwissenschaft als ausreichende Beweise für<br />

Richtigkeit und Wahrheit <strong>der</strong> Dinge und Vorgänge annimmt,<br />

und nicht nur für <strong>der</strong>en geeignete Verwendbarkeit<br />

(15). Während das Letztere zutrifft und zu großen<br />

technischen Erfolgen geführt hat, stellt das Erstere eine<br />

Verflachung des Wahrheitsstrebens dar. Die Tatsachenbegriffe<br />

des Positivismus stellen Ordnungsprinzipien<br />

und Handlungsanweisungen dar, und Comte sagt im<br />

Discours sur l’esprit positif (16 b): „Beobachtung ist die<br />

einzig mögliche Grundlage <strong>der</strong> wirklich erreichbaren<br />

und unseren tatsächlichen Bedürfnissen weise angemessenen<br />

Erkenntnisse“. <strong>Der</strong> Positivismus hat so einen<br />

Siegeszug in <strong>der</strong> Beherrschung und Manipulierbarkeit<br />

<strong>der</strong> Natur beschritten und setzt ihn ständig fort. Daher<br />

for<strong>der</strong>n mo<strong>der</strong>ne Philosophen, bzw. philosophische<br />

Soziologen wie Lauenstein (1914–1990) und Habermas<br />

(*1929), beide unterschiedlich, eine methodische Selbstreflexion<br />

des Positivismus. Und Habermas konstatiert<br />

(16 a): „So haben sie (die mo<strong>der</strong>nen Erfahrungswissenschaften)<br />

den Kosmos <strong>der</strong> bloßen Kontemplation entzogen<br />

und die nominalistisch ,entseelte‘ Natur einer an<strong>der</strong>en<br />

Art <strong>der</strong> Objektivierung unterworfen. Diese Umstellung<br />

von Wissenschaft auf die technische Verfügbar-<br />

Machung einer objektivierten Natur hatte Folgen für<br />

den Prozess <strong>der</strong> gesellschaftlichen Mo<strong>der</strong>nisierung. Die<br />

meisten Praxisbereiche sind im Zuge ihrer Verwissenschaftlichung<br />

von <strong>der</strong> ,Logik‘ <strong>der</strong> Anwendung wissenschaftlicher<br />

Technologien geprägt und umstrukturiert<br />

worden.“<br />

Und Lauenstein (15): „Die Physik seit Galilei und die<br />

Technik bilden eine innere Einheit. Die Technik ist<br />

eine gesellschaftlich institutionalisierte Erfolgskontrolle<br />

für Wissen … Als empirisch wahr gelten dann alle<br />

die Annahmen, die ein erfolgskontrolliertes Handeln<br />

leiten können … Es handelt sich also um eine rein pragmatische<br />

Bewährung von Wissen, dargestellt in <strong>der</strong><br />

Maxime: Man weiß nur, was man machen kann.“<br />

Die Überwindung <strong>der</strong> mechanistischen Sichtweise<br />

<strong>der</strong> <strong>Herz</strong>funktion durch ethischen Individualismus<br />

und anthroposophische Geisteswissenschaft<br />

Um die Wende zum 20. Jahrhun<strong>der</strong>t, also zur Zeit <strong>der</strong><br />

starken Zunahme <strong>der</strong> technisierten wissenschaftlichen<br />

Entfaltung, entwickelte <strong>der</strong> Philosoph Rudolf Steiner<br />

(1861–1925) einen ethischen Individualismus (17). Darin<br />

vertritt er einen Denkstil, durch den es dem einzelnen<br />

Menschen möglich ist, seine ethischen Entscheidungen<br />

selber denkend zu treffen. Das Denken muss – durch<br />

Übung – sich so frei von Vorurteilen und Gewohnheiten<br />

machen, und aus sich selbst heraus zu selbständigen,


sachgemäßen Urteilen führen, dass auf dieser Grundlage<br />

eine gültige Erkenntnis und ein gradweise freies<br />

Handeln möglich sind. Dann begründete dieser Philosoph<br />

eine Geistesrichtung, die er Anthroposophie nennt,<br />

mit dem Entwurf eines Menschenverständnisses, in<br />

dem geistige, seelische, lebendige und physische Realitäten<br />

essentiell ineinan<strong>der</strong> wirken (18, 19). So konstituieren<br />

vier unterschiedliche Prinzipien (o<strong>der</strong> Kraftsysteme)<br />

die Wirklichkeit des Menschen, die Steiner Organisationen<br />

(bzw. Leiber) nennt: Ich-, Astral-, Äther- und physische<br />

Organisation.<br />

Anfang <strong>der</strong> 20er Jahre des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts empfahl<br />

Steiner Ärzten auf <strong>der</strong> Grundlage dieses Konzepts<br />

u. a., die Anschauung über die <strong>Herz</strong>tätigkeit so zu modifizieren<br />

(20), dass nicht eine Pumpfunktion des <strong>Herz</strong>ens<br />

die bestimmende Bewegungsursache des Blutflusses im<br />

menschlichen Organismus ist, son<strong>der</strong>n die Dynamik <strong>der</strong><br />

Blutbewegung aus <strong>der</strong> Gesamtorganisation (Zusammenwirken<br />

<strong>der</strong> genannten vier Organisationen) resultiert,<br />

und so dem Blut nicht-herzbedingte Bewegungsimpulse<br />

zukommen. Das <strong>Herz</strong> antwortet dann entsprechend<br />

als ein Wahrnehmungs- und Reaktionsorgan auf<br />

das anströmende Blut. In den historischen Betrachtungen<br />

ist das im Ansatz auch häufiger aufgetaucht, doch<br />

fehlte diesen Forschern jeweils ein umfassendes Gesamtkonzept<br />

vom Menschen mit <strong>der</strong> Möglichkeit, das<br />

Pumpenmodell des <strong>Herz</strong>ens verwerfen zu können.<br />

Steiner brachte auch einen Vorschlag für ein adäquates<br />

mechanisches Modell, das dem <strong>Herz</strong>en ähnlicher arbeitet<br />

als das des Mühlrads (s. Bartholinus), und zwar den<br />

hydraulischen Wid<strong>der</strong>, bei dem, ebenso durch einen<br />

bereits bestehenden Wasserlauf, ein Rückschlagventil<br />

regelmäßig zugeschlagen, und so Wasser, infolge des<br />

dadurch ausgelösten Rückstaus, auf ein höheres Niveau<br />

gehoben wird (20), einen Vorschlag, den er wie<strong>der</strong>um<br />

von einem Arzt übernommen hatte (21). So betrachtet ist<br />

das <strong>Herz</strong> ein Stauorgan und kein Pumporgan.Wenn man<br />

so dem <strong>Herz</strong>en seine mechanische Vormachtstellung<br />

nimmt, und es als Sinnes- und Reaktionsorgan verstehen<br />

kann, kommt man zu einem umfassen<strong>der</strong>en Verständnis<br />

des Organismus, einem solchen, das mit dem vorher<br />

angeführten ethischen Individualismus und daraus<br />

folgend dem Gesamtkonzept des Menschen vereinbar<br />

ist, wobei die Revision <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>funktion nur einer <strong>der</strong><br />

ersten Schritte dazu ist. Nach diesem vitalen Modell des<br />

<strong>Herz</strong>ens ist das physisch Machbare auch möglich, aber<br />

es bietet darüber hinaus die Grundlage für weitere Erkenntnismöglichkeit<br />

von Realität und Wahrheit des<br />

menschlichen Gesamtorganismus und auch <strong>der</strong> einzelnen<br />

Organe.<br />

Nachdem das <strong>Herz</strong> durch die mechanistische<br />

Betrachtungsweise im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t bis in kleinste<br />

Details erforscht wurde, was sich in hervorragenden<br />

technischen Leistungen nie<strong>der</strong>geschlagen hat und<br />

weiter nie<strong>der</strong>schlägt, sind innerhalb dieses Modells<br />

inzwischen neue Bedingungen für die <strong>Herz</strong>funktion<br />

erkannt worden, die heute in <strong>der</strong> Medizin als selbstverständlich<br />

gehandhabt werden, z. B. das Konzept <strong>der</strong><br />

<strong>Herz</strong>funktion aus den Bedingungen:Vorlast – Nachlast –<br />

Kümmell | <strong>Zur</strong> <strong>Ideengeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>-<strong>Kreislauf</strong>-<strong>Lehre</strong> 11<br />

Kontraktilität und <strong>Herz</strong>frequenz. Vorlast als das permanente<br />

Volumenangebot durch das venöse System, Nachlast<br />

als <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> arteriellen Gefäß-Peripherie,<br />

und dazwischen das <strong>Herz</strong> zu ständiger rhythmischer<br />

(Frequenz)-Aktivität herausgefor<strong>der</strong>t. Dieses Zusammenspiel<br />

zeigt, wie die Bedingungen des Gesamtorganismus<br />

herangezogen werden müssen, um die<br />

<strong>Herz</strong>funktion zu beschreiben. Und es gibt weitere Befunde,<br />

die anregen, die Konzeption <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>tätigkeit neu<br />

zu überdenken.<br />

Wir stehen an einem wichtigen Punkt <strong>der</strong> <strong>Ideengeschichte</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Herz</strong>-<strong>Kreislauf</strong>-Physiologie: das extrem<br />

Machbare und das ungewohnt Denkbare sind gleichermaßen<br />

möglich – beide müssen in ihren gegenseitigen<br />

Bedingtheiten erarbeitet werden.<br />

Hans Christoph Kümmell<br />

Weissenseifener Straße 26<br />

D-54574 Kopp/Eifel<br />

Literatur<br />

1 Selg P. Mysterium cordis.<br />

Dornach 2003<br />

2 Unschuld P U. Medizin in<br />

China, eine <strong>Ideengeschichte</strong>.<br />

München 1980<br />

3 Aristoteles. Über die Glie<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Geschöpfe III, 65 a<br />

zit. nach 1<br />

4 Harvey W. Anatomical<br />

Studies on the Motion of the<br />

Heart and Blood in Animals.<br />

Transl. by Leak CD. Fifth<br />

Edition. Springfield, Ill. 1970<br />

Erstveröffentlichung: Exercitatio<br />

Anatomica de Motu<br />

Cordis et Sanguinis in Animalibus.<br />

Francofurti Anno M<br />

DC XXVIII (De Motu).<br />

5 Rothschuh KE. Die Entwicklung<br />

<strong>der</strong> <strong>Kreislauf</strong>lehre<br />

im Anschluss an William<br />

Harvey. Klin. Wochenschrift<br />

1957 ( 35): 12, 605–612<br />

6 Descartes R. Abhandlung<br />

über die Methode des richtigen<br />

Vernunftgebrauchs …<br />

(Discours de la méthode<br />

pour bien conduire sa raison<br />

et chercher la vérité dans les<br />

sciences.) Reclam 1969. Ins<br />

Deutsche übertragen von<br />

Kuno Fischer<br />

7 Yates FA. Aufklärung im<br />

Zeichen des Rosenkreuzes.<br />

Stuttgart: Ernst Klett Verlag<br />

1975<br />

8 Pagel W. New Light on<br />

William Harvey. Basel:<br />

S Karger 1976<br />

9 Pagel W. William Harvey’s<br />

Biological Ideas. Basel:<br />

S Karger 1967<br />

10 Fuchs T. Die Mechanisierung<br />

des <strong>Herz</strong>ens. Frankfurt<br />

a. M.: Suhrkamp 1992<br />

11 Harvey W. On Animal<br />

Generation. Transl. by<br />

R. Willis 1847 (De Generatione):<br />

372 ff u. 501 ff.<br />

12 Aristoteles. Metaphysik,<br />

VIII. und XII. Buch. Reclam<br />

1970 Übersetzg. Schwarz FF<br />

13 Kümmell HC. Die <strong>Herz</strong>-<br />

<strong>Kreislauf</strong>-Idee. Ihre Entdeckung<br />

und weitere Entwicklung<br />

aus erkenntnistheoretischer<br />

Sicht. Stuttgart:<br />

Urachhaus, 1985<br />

14 Kümmell HC. Die historische<br />

Bedeutung <strong>der</strong> mechanistischen<br />

<strong>Herz</strong>theorie und<br />

Ansätze zu ihrer Überwindung.<br />

In: Bavastro P, Kümmell<br />

HC, Hrsg. Das <strong>Herz</strong> des<br />

Menschen. Stuttgart: Verlag<br />

Freies Geistesleben, 1999<br />

15 Lauenstein D. Das Ich und<br />

die Gesellschaft. Philosophische<br />

Soziologie. Stuttgart:<br />

Verlag Freies Geistesleben,<br />

1974: 181, 188<br />

16 a) Habermas J. Die<br />

Zukunft <strong>der</strong> menschlichen<br />

Natur. Auf dem Weg zu einer<br />

liberalen Eugenik. London,<br />

Suhrkamp 2002: 81<br />

b) Habermas J. Erkenntnis<br />

und Interesse. Frankfurt a.M.:<br />

Suhrkamp 1973, 30 Jahre<br />

Jubiläumsprogramm: 96<br />

17 Steiner R. Die Philosophie<br />

<strong>der</strong> Freiheit. GA 4. 16. Aufl.<br />

Dornach: Rudolf Steiner Verlag<br />

1995<br />

18 Steiner R. Theosophie.<br />

GA 9 32. Aufl. Rudolf Steiner<br />

Verlag: Dornach/Schweiz<br />

2002<br />

19 Steiner R, Wegman I.<br />

Grundlegendes für eine<br />

Erweiterung <strong>der</strong> Heilkunst<br />

nach geisteswissenschaftlichen<br />

Erkenntnissen. GA 27.<br />

7. Aufl. Rudolf Steiner Verlag:<br />

Dornach/Schweiz 1991<br />

20 Steiner R. Geisteswissenschaft<br />

und Medizin. 2. Vortrag.<br />

GA 312. 7. Aufl. Dornach:<br />

Rudolf Steiner Verlag 1999<br />

21 Schmid K. Über <strong>Herz</strong>stoß<br />

und Pulskurven. Wiener Med.<br />

Wschr. 1892 (42): 15, 579–580,<br />

622–626, 662–666

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