Zur Ideengeschichte der Herz-Kreislauf-Lehre - Der Merkurstab
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kalisch-mechanistisches Forschungs- und Erkenntnis-<br />
Modell (Billardkugel-Modell, bzw. Maschinen-Modell)<br />
entwickelt und angewendet haben, das linear-kausal<br />
funktioniert (Abb. 2). Harvey fragte i. S. des Aristoteles<br />
immer nach <strong>der</strong> Zielursache, nach dem Telos, wie sich <strong>der</strong><br />
Untersuchungsgegenstand in Raum und Zeit entwickelt<br />
hat und welchem Ziele er dient.<br />
So kam er beim <strong>Herz</strong>en, zu dem das Blut immer wie<strong>der</strong><br />
zurückkehrt, zu <strong>der</strong> Schlussfolgerung, dass das Blut<br />
im <strong>Herz</strong>en immer wie<strong>der</strong> regeneriert, erwärmt und belebt<br />
werde, als einer Quelle <strong>der</strong> Belebung und Befeuerung<br />
des Blutes, das in <strong>der</strong> Peripherie verbraucht, eingedickt<br />
und träge wird. So kehrt das Blut immer wie<strong>der</strong> zu<br />
seinem inneren Herd und Zentrum zurück, um belebt<br />
und aufgefrischt zu werden, versehen mit Bewegungs-<br />
Impulsen. Wie die Sonne im Makrokosmos alles belebt,<br />
so das <strong>Herz</strong> im lebenden Organismus, dem Mikrokosmos<br />
(4). Hier folgt Harvey ganz <strong>der</strong> aristotelischen Auffassung.<br />
In seinem späteren Werk «De Generatione» (11),<br />
weicht er allerdings davon ab und schreibt dem Blut<br />
selbst unmittelbar Belebung, Wärmung, Bewegungsimpulse<br />
und sogar seelische und geistige Kräfte zu. Hier<br />
zeigt sich, dass er sich in konkreten Dingen von Aristoteles<br />
zu distanzieren wusste. Und so konnte er folgern,<br />
dass das Blut das <strong>Herz</strong> als ein Instrument für seine weitere<br />
Bewegung benutzt. Das Blut ist das Frühere sowohl<br />
<strong>der</strong> Entstehung, dem Wesen als auch <strong>der</strong> Natur nach.<br />
Das <strong>Herz</strong> dient viel eher dem Blut als umgekehrt. Auch<br />
haben die Gewebe nach Harvey eine autonome Irritabilität,<br />
d. h. dass sie aus sich heraus reizbar sind, so auch<br />
das <strong>Herz</strong>. Es reagiert auf das heranströmende Blut, und<br />
antwortet auf den Reiz des Einstroms und <strong>der</strong> Ausdehnung,<br />
d. h. es kontrahiert sich. Das Blut folgt seinem<br />
Drang nach Ausdehnung, fließt von den kleinen venösen<br />
Gefäßen in die immer größer werdenden, gegen einen<br />
minimalen Gefäßwi<strong>der</strong>stand, strömt in den rechten Vorhof<br />
ein, dehnt diesen, so dass das Blut in den nach <strong>der</strong><br />
Systole entspannten Ventrikel einfließen kann – unterstützt<br />
durch die Kontraktion des Vorhofs – und so ebenfalls<br />
gedehnt und zur Kontraktion gereizt wird. So misst<br />
Harvey dem Blut eine autonome, aktive Rolle zu und<br />
denkt die Füllung <strong>der</strong> Kavitäten noch unterstützt durch<br />
Ausdehnung des Blutes infolge Eigenwärme, die sich<br />
durch die schnelle Bewegung beim Einstrom ins <strong>Herz</strong> erhöht.<br />
Es tritt die folgende Wechselwirkung auf: das Blut<br />
mit seiner Dynamik füllt das passiv sich dehnende <strong>Herz</strong>,<br />
<strong>der</strong> Blutstrom kommt zur Ruhe, das <strong>Herz</strong> wird aktiviert<br />
zur Kontraktion, das Blut strömt aus und venöses Blut<br />
fließt in das wie<strong>der</strong> erschlaffte <strong>Herz</strong> erneut ein. Die<br />
Aktivitäten von Blut und <strong>Herz</strong> werden wechselweise<br />
weitergegeben, bewegtes Flüssiges und reagierendes<br />
Festes spielen sich einan<strong>der</strong> zu, sie bedingen einan<strong>der</strong>!<br />
Es entsteht ein Rhythmus. Wie <strong>der</strong> Ballspieler mit<br />
Schwung zum Werfen ausholt (4, S. 124), so nimmt das<br />
<strong>Herz</strong> den Schwung des Blutes auf und setzt ihn mit Hilfe<br />
<strong>der</strong> Kontraktion in weitere Bewegung um (impetus).<br />
Gegen die Arterien, die sich vom <strong>Herz</strong>en aus immer weiter<br />
verengen und dem Blutfluss Wi<strong>der</strong>stand entgegensetzen,<br />
muss sich das <strong>Herz</strong> mit seiner Kraftentfaltung<br />
Kümmell | <strong>Zur</strong> <strong>Ideengeschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>-<strong>Kreislauf</strong>-<strong>Lehre</strong> 7<br />
Abb. 1<br />
Raum<br />
Zeit<br />
Causa efficiens<br />
Anfang<br />
Potentia<br />
Möglichkeit<br />
Causa formalis<br />
Form<br />
Wesen<br />
Substanz<br />
Causa materialis<br />
Stoff<br />
durchsetzen, da ist das Blut das passiv bewegte. – Seine<br />
Eigenaktivität und Autonomie wird erhalten und verstärkt,<br />
indem die Seele und <strong>der</strong> Geist ihren Sitz direkt im<br />
Blute erhalten (11) und in <strong>der</strong> Modulation des Rhythmus<br />
sich manifestieren. So wird nach Harvey das Blut das<br />
Grundelement des Körpers, <strong>der</strong> Ausgangspunkt <strong>der</strong> Entwicklung<br />
desselben und sein Ziel. Stoff-, Bewegungsund<br />
Zielursache sind einheitlich gleichermaßen vertreten<br />
im Blut, und es ist <strong>der</strong> primäre Sitz <strong>der</strong> Seele selbst.<br />
Harvey hat zwar durch seine Entdeckung die Tür für<br />
eine automatenhafte Deutung <strong>der</strong> <strong>Herz</strong>funktion geöffnet,<br />
hat selbst aber nie eindeutig von einer Pumpe gesprochen,<br />
die das Blut durch den Körper bewegt. Durch<br />
seine philosophisch-vitalistische Ideenbildung in Anlehnung<br />
an Aristoteles hat er den Schritt in das rein<br />
Mechanische nicht vollzogen, indem er seine Entdeckungen<br />
in einen großen Natur- und Ideenzusammenhang<br />
hineingestellt hat. In ihm trafen ausgewogen zusammen:<br />
Einerseits die reinste Neigung zu exakter Sinneswahrnehmung<br />
und <strong>der</strong> Enthusiasmus, sie zu vervollkommnen<br />
(unter Einschluss von Quantifizierung und<br />
Experiment) und andrerseits eine Art von Verantwortung,<br />
die Untersuchungsergebnisse in einen Ideenzusammenhang<br />
zu stellen, <strong>der</strong> dem Objekt seiner Betrachtung<br />
in seiner Gesamtheit entsprach.<br />
Auswirkung von Descartes Rationalismus<br />
Das Interesse Descartes (1596–1650) an <strong>der</strong> Entdeckung<br />
des Englän<strong>der</strong>s erwähnte ich schon. Es ist das<br />
Verdienst von Thomas Fuchs (10), diesem Interesse nicht<br />
nur bei Descartes selbst, son<strong>der</strong>n auch bei Wissenschaftlern<br />
und Forschern, die von Descartes beeinflusst waren,<br />
konsequent nachgegangen zu sein. Parallel dazu zeigte<br />
er auf, wie sich die vitalistischen Ideen Harveys weiter<br />
entwickelten.<br />
Descartes stellte seine Wissenschaftsauffassung auf<br />
rein gedanklichem Weg dar (Deduktion), die konkrete<br />
Wahrnehmung als Erkenntnisprinzip i. S. <strong>der</strong> Induktion<br />
lehnte er weitgehend ab. Er setzte gedanklich, mathematisch,<br />
qualitätslose Materie und Bewegung von<br />
Elementarteilchen als Ausgangspunkt. Die Wahrnehmungsinhalte<br />
galten nur insoweit als wirklich, als sie sich<br />
aus diesen abstrakten Begriffen ableiten ließen. Aus<br />
diesem Duktus ergibt sich auch die Manipulierbarkeit<br />
Causa finalis<br />
Ziel, Zweck<br />
Privatio<br />
Beraubung<br />
Verwesung<br />
Abb. 1<br />
4-Ursachen-<br />
Modell des Aristoteles<br />
(nach Lauenstein,<br />
15)