Zur Ideengeschichte der Herz-Kreislauf-Lehre - Der Merkurstab
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6 Originalia | <strong>Der</strong> <strong>Merkurstab</strong> | Heft 1 | 2006<br />
gleich als die wesentliche theoretische Grundlage für<br />
seine Fragen anerkannte, und er folgte diesem geistigen<br />
<strong>Lehre</strong>r auch lebenslang, was er in späteren Schriften immer<br />
wie<strong>der</strong> betonte. Zeitgleich mit ihm lehrte Galilei<br />
(1564– 1642) in Padua, so dass er von <strong>der</strong> neuen Physik zumindest<br />
wusste, wenn er Galilei in seinen Schriften auch<br />
nicht erwähnt. Dieser hatte sich schon von Aristoteles<br />
losgesagt. 1602 nach London zurückgekehrt setzte Harvey<br />
seine experimentellen Beobachtungsstudien fort<br />
unter ständigem Studium <strong>der</strong> aristotelischen Schriften.<br />
Er verkehrte auch am englischen Hof, ab 1603 unter Jacob<br />
I. (1566–1625), dem Nachfolger Elisabeths I. (1533–<br />
1603). Er wurde dadurch bekannt mit Francis Bacon von<br />
Verulam (1561–1626), dem Kanzler Jacobs und einem<br />
<strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaft, mit<br />
dem er aber nicht harmonierte; so zog Harvey z. B. dem<br />
Organon des Bacon die Schriften des Aristoteles vor.<br />
Auch ergab sich ein Arzt-Patienten-Verhältnis zwischen<br />
beiden, das aber nicht lange währte. Harvey kam an dem<br />
liberal gesinnten Hofe auch mit den Vertretern <strong>der</strong> paracelsischen<br />
Medizin zusammen, was einen gewissen Einfluss<br />
auf seine Rezepturen hatte. Harvey war auch Zeitgenosse<br />
Shakespeares, doch sind vermutete Beziehungen<br />
zwischen beiden nur vage. Später wurde er langjähriger<br />
Leiter des St. Bartholomew’s Hospital, und er war<br />
über Jahrzehnte beliebter <strong>Lehre</strong>r des Royal College of<br />
Physicians. Seine Beziehungen erstreckten sich aber<br />
auch zu solchen Persönlichkeiten wie dem bekanntesten<br />
Repräsentanten esoterischer Bewegungen im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t,<br />
zu Robert Fludd (1574–1637), einem Arzt in London,<br />
<strong>der</strong> Harveys Entdeckung als erster öffentlich hervorhob<br />
und ihm wohl auch den Kontakt zu dem Verlag<br />
vermittelte, <strong>der</strong> seine neue Entdeckung schließlich 1628<br />
unkonventionell veröffentlichte: ein Verlag in Frankfurt<br />
am Main; in einem Land also, das 1628 bereits 10 Jahre im<br />
30-jährigen Krieg steckte. Seine Veröffentlichung (4)<br />
heißt: Anatomische Untersuchung über die Bewegung<br />
des <strong>Herz</strong>ens und des Blutes bei Tieren. (Exercitatio anatomica<br />
de motu cordis et sanguinis in animalibus = De<br />
Motu). 1637 erwähnte Descartes (1596–1650) in:Discours<br />
de la Méthode … (Abhandlung über die Methode des<br />
richtigen Vernunftgebrauchs …) anerkennend den „Englän<strong>der</strong>“(6),<br />
<strong>der</strong> eine neue Sicht <strong>der</strong> Blutbewegung beschreibt,<br />
die Descartes für seine neue Physiologie gut<br />
verwenden konnte. Eine Begegnung bei<strong>der</strong> fand nicht<br />
statt. Descartes erhielt den Hinweis auf Harvey von seinem<br />
Freund und <strong>Lehre</strong>r Mersenne, <strong>der</strong> im Jesuitenkolleg<br />
in La Flèche unterrichtete. Zwischen Mersenne und<br />
Fludd gab es im Übrigen eine europaweite öffentlich geführte<br />
Kontroverse (7). Harvey starb 1657 in London.<br />
Die Beschreibung <strong>der</strong> Entdeckung des Blutkreislaufs<br />
Nun wie<strong>der</strong> zurück zu Harveys Entdeckung. Wie <strong>der</strong><br />
Bau <strong>der</strong> Venenklappen zeigte, konnte <strong>der</strong> Blutfluss in<br />
diesen Gefäßen nur in Richtung zum <strong>Herz</strong>en gehen, was<br />
Harvey auch durch die unmittelbare Inspektion bei seinen<br />
Vivisektionen immer wie<strong>der</strong> bestätigt fand, und die<br />
Quantität des durch das <strong>Herz</strong> fließenden Blutes war so<br />
groß, dass er nach langen, gründlichen Überlegungen zu<br />
<strong>der</strong> Idee kam, dass das Blut nur im Kreise fließen könne.<br />
Diese Idee kam ihm nicht von ungefähr, denn er hatte bei<br />
Aristoteles gelesen, dass es Kreisläufe in <strong>der</strong> Natur als<br />
wirksame Prinzipien gäbe. Kaum hatte er diese Idee gefasst,<br />
lösten sich schlagartig alle Ungereimtheiten und<br />
Wi<strong>der</strong>sprüche auf, so dass für ihn feststand, dass das<br />
Blut durch die Venen zum rechten <strong>Herz</strong>en zurückfließt,<br />
und dass es auch vom rechten <strong>Herz</strong>en durch die Lungen<br />
hindurchfließt und über den linken Vorhof in die linke<br />
<strong>Herz</strong>kammer gelangt. Dies erklärte ihm auch, dass er die<br />
Lungenschlaga<strong>der</strong> ähnlich groß wie die Aorta fand, was<br />
zur bloßen Ernährung <strong>der</strong> Lungen seiner Meinung nach<br />
nicht notwendig gewesen wäre. Porositäten im Ventrikelseptum<br />
hatte er – wie auch an<strong>der</strong>e Zeitgenossen –<br />
nicht entdecken können. Bei seinen Kollegen hatte er es<br />
anfangs schwer mit <strong>der</strong> Anerkennung, bis auf wenige<br />
sofortige Befürworter, da <strong>der</strong> Durchfluss durch die Peripherie<br />
auch für ihn hypothetisch war, und er Porositäten<br />
zwischen Arterien und Venen postulieren musste. Aber<br />
die an<strong>der</strong>en Argumente waren so zwingend, dass diese<br />
Unsicherheit nur gering wog. Historisch betrachtet war<br />
das auch unbedeutend, da Malpighi, im Jahre <strong>der</strong> Veröffentlichung<br />
von De Motu (1628) geboren, die Kapillaren<br />
gut 30 Jahre später als Verbindung zwischen Arterien<br />
und Venen entdeckte. Seitdem wurde die Entdeckung<br />
des <strong>Kreislauf</strong>s allgemein anerkannt.<br />
Trotz <strong>der</strong> schon früh reichlich vorhandenen Harvey-<br />
Literatur sind auch in jüngster Zeit immer wie<strong>der</strong> Arbeiten<br />
über ihn erschienen, die untersuchten, von wem<br />
Harvey beeinflusst war und welchen Einfluss Harveys<br />
Arbeitsweise auf an<strong>der</strong>e Denker und Forscher hatte. Ich<br />
beziehe mich hier hauptsächlich auf die sehr subtilen<br />
Untersuchungen Walter Pagels von 1967 und 1976 (8, 9)<br />
und die sehr detaillierte und ausführliche Ausarbeitung<br />
(10) von Thomas Fuchs (1992).<br />
<strong>Der</strong> Einfluss aristotelischer Ideenbildung<br />
<strong>Der</strong> Denker, <strong>der</strong> Harvey am meisten beeinflusste, war<br />
Aristoteles. Zwar wi<strong>der</strong>sprach ihm Harvey in einzelnen<br />
Tatsachen, aber <strong>der</strong> ideelle Hintergrund und die Art <strong>der</strong><br />
Beschreibung <strong>der</strong> Tatsachen zeigt aristotelische Methodik:<br />
vom Einzelnen, von <strong>der</strong> Sinneswahrnehmung durch<br />
Induktion zum Allgemeinen vorstoßen, und vom Allgemeinen<br />
zum Einzelnen rückschließen. <strong>Der</strong> Wert des Allgemeinen<br />
liegt darin, dass es die Ursachen offenbart<br />
(z. B. die Idee von den Kreisläufen). Jede vollkommene<br />
Wissenschaft beruht auf <strong>der</strong> Kenntnis aller Ursachen.<br />
Vom vollendeten Lebewesen (welches für ihn das frühere<br />
ist), vom Ziel also müssen die Schritte <strong>der</strong> Natur zurückverfolgt<br />
werden, bis man bei ihrem ‘Ausgangspunkt‘<br />
ankommt, <strong>der</strong> materiellen und <strong>der</strong> bewirkenden Ursache.<br />
In diesem Ausgangspunkt ist aber wie<strong>der</strong>um das<br />
Ziel <strong>der</strong> Entwicklung als ihr eigentlicher Grund mit enthalten<br />
(10, 11). So fragt Harvey im Sinne des 4- o<strong>der</strong> 5-Ursachen-Modells<br />
(Abb. 1), welches die Hauptursache seiner<br />
Untersuchungen ist. Dieses Ursachen-Modell ist von<br />
Aristoteles (12) an <strong>der</strong> 1-jährigen Pflanze entwickelt worden,<br />
ist also ein vitales Modell im Gegensatz zu dem des<br />
Galilei, und letztlich des Descartes, die beide ein physi-