sozial - BruderhausDiakonie
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<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2010 REGIONEN<br />
Reutlingen<br />
Sicher vor sich selbst und anderen<br />
Manche Menschen mit psychischer Erkrankung können für sich selbst zur Gefahr<br />
werden. Sie hatten bisher kaum Möglichkeiten, in einem sicheren Umfeld zu leben.<br />
In Reutlingen haben die Sozialpsychiatrischen Hilfen die Stationäre Intensivbetreuung<br />
eröffnet – eine Einrichtung, die ihren Bewohnern Sicherheit vermittelt.<br />
Nein, typische Fälle gibt es hier nicht. Essstörungen,<br />
Psychosen, Suchtprobleme, Zwangsstörungen – die<br />
Diagnosen sind so unterschiedlich wie die Menschen,<br />
die hier leben. Und wie deren Alter: Derzeit ist die<br />
Jüngste um die 20 Jahre alt, der Älteste hat die 60<br />
schon erreicht. „Wir sind ja noch am Anfang“, sagt<br />
Otmar Keybe. „Jeder Bewohner ist wieder eine ganz<br />
neue Erfahrung.“ Keybe leitet die sogenannte Stationäre<br />
Intensivbetreuung der Sozialpsychiatrischen<br />
Hilfen Reutlingen-Zollernalb. Wer dort wohnt, der<br />
hat, so Keybe, „einen besonderen Bedarf an Halt und<br />
Orientierung“. Er braucht manchmal Schutz vor sich<br />
selbst – und manchmal auch vor anderen. Deshalb<br />
ist die Haustür üblicherweise verschlossen. Und bei<br />
Bedarf lassen sich auch einzelne Stockwerkstüren<br />
schließen.<br />
Vor wenigen Monaten erst hat das zweistöckige<br />
Wohnhaus in der Reutlinger Ringelbachstraße eröffnet.<br />
Drei Frauen und zwei Männer sind bis jetzt eingezogen.<br />
Acht Personen können es werden – so viele<br />
Eineinhalb-Zimmer-Appartements mit Küchenzeile<br />
und Bad sind in dem Gebäude eingerichtet.<br />
Walter Leible (Name geändert) ist einer der ersten<br />
Hausbewohner. Wenn es ihm gut geht, ist der gelernte<br />
Elektroniker ein kommunikativer Mann: Klassensprecher<br />
und Schulsprecher war er in seinem frühe-<br />
ren Leben mal. Im Musikverein hat er das Tenorhorn<br />
gespielt. Er hatte eine eigene Familie und eine Tochter.<br />
Jetzt fehlten ihm manchmal die Begriffe, entschuldigt<br />
er sich. Aber dann erzählt er doch fast ohne<br />
Punkt und Komma. Wohl fühlt er sich hier. Das Essen<br />
ist gut. Er hat, was er braucht – und vor allem: seine<br />
Ruhe. Wenn er will, zieht er sich in sein Appartement<br />
zurück. „Das ist schön eingerichtet, hat Stil, ist sauber<br />
und ohne unnötigen Schnickschnack“, sagt der 50-<br />
Jährige.<br />
Er kann sich aber auch an den Esstisch in der Wohnküche<br />
im Erdgeschoss setzen. Das ist so etwas wie<br />
der Mittelpunkt des Hauses. Dort wird gemeinsam<br />
gekocht und gemeinsam gegessen. Wenn Walter<br />
Leible selber kochen wollte, könnte er sich auf dem<br />
Herd in seinem Appartement das Mittag-<br />
oder Abendessen brutzeln. Das<br />
ist aber nicht seine Sache. Lieber geht<br />
er einkaufen. Darauf ist er besonders<br />
stolz: dass es ihm mittlerweile gelingt,<br />
in den großen Supermärkten in der<br />
Nähe selbstständig einzukaufen – ohne<br />
Beklemmungen oder gar Angst vor den<br />
vielen Menschen dort.<br />
Walter Leible hat schon eine lange<br />
Krankheitsgeschichte hinter sich. Allein<br />
runde zehn Jahre hat er in verschiedenen<br />
Einrichtungen der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />
verbracht – und dabei mal mehr,<br />
mal weniger problematische Zeiten erlebt. Begonnen<br />
hat es in den 80er Jahren. Damals wurde er an einem<br />
Gefäßtumor operiert. Seither sieht er nur noch mit<br />
einem Auge. Und er bekam zunehmende psychische<br />
Probleme. Vieles hat sich in der Folgezeit verändert:<br />
Die Ehe ging auseinander, die Arbeit war nicht mehr<br />
zu schaffen. Irgendwann brach er zusammen. Lange<br />
Klinikaufenthalte folgten. Danach lebte er in verschiedenen<br />
psychiatrischen Einrichtungen. Jetzt ist<br />
er froh, dass er „nicht von Mitbewohnern gedrückt“<br />
wird. Dass er, wie er sagt, „eine Wohnung hat, die<br />
auch Wohnung heißen darf“.<br />
Das Haus sei zwar geschlossen, erläutert Otmar<br />
Keybe. Auch den Garten, wo Walter Leible gerne sitzt<br />
und seine Pfeife schmaucht, sichert ein unauffälliger,<br />
aber stabiler Zaun. Dennoch gehe es in der Stationären<br />
Intensivbetreuung keinesfalls darum, Menschen<br />
wegzuschließen. „Wer hier lebt, benötigt dieses Setting<br />
im Moment“, sagt der Wohnbereichsleiter. „Das<br />
heißt aber nicht, dass er es immer braucht.“ Das Mitarbeiterteam<br />
aus Heilerziehungspflegern, Sozialpädagogen<br />
oder Gesundheits- und Krankheitspflegern<br />
hat deshalb vor allem ein Ziel: den Bewohnern Entwicklungen<br />
ermöglichen, die den sicheren Rahmen<br />
des Hauses irgendwann wieder überflüssig machen.<br />
Walter Leible eilt es damit vorerst nicht: „Ich kann mir<br />
das hier schon für länger vorstellen.“ msk Z<br />
Walter Leible sitzt<br />
gerne ungestört<br />
im Garten und<br />
schmaucht dort<br />
in aller Ruhe<br />
seine Pfeife<br />
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