14 Algorithmen zur Frühmobilisierung auf Intensivstationen
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Pflege<br />
MedKlinIntensivmedNotfmed2017 ·112:156–162<br />
DOI 10.1007/s00063-016-0210-8<br />
Eingegangen: 18. Mai 2016<br />
Überarbeitet: 9. Juli 2016<br />
Angenommen: 12. August 2016<br />
Online publiziert: 6. September 2016<br />
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016<br />
Redaktion<br />
R. Riessen<br />
P. Nydahl 1 ·R.Dubb 2 · S. Filipovic 3 ·C.Hermes 4 ·F.Jüttner 5 ·A.Kaltwasser 2 ·<br />
S. Klarmann 6 ·H.Mende 7 · S. Nessizius 8 ·C.Rottensteiner 9<br />
1<br />
Pflegeforschung, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, Kiel, Deutschland<br />
2<br />
Akademie der Kreiskliniken Reutlingen, Kreiskliniken Reutlingen GmbH, Reutlingen, Deutschland<br />
3<br />
Abteilung Physiotherapie, Universitätsklinikum Marburg, Marburg, Deutschland<br />
4<br />
Anästhesie und Intensivpflege, HELIOS Klinikum Siegburg, Siegburg, Deutschland<br />
5<br />
Anästhesie und Intensivpflege, Asklepios Paulinen Klinik Wiesbaden, Wiesbaden, Deutschland<br />
6<br />
Zentrale Einrichtung Physiotherapie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, Kiel,<br />
Deutschland<br />
7<br />
Klinik für Neurologie, Neurophysiologie, Frührehabilitation und Schlafmedizin, Christophsbad<br />
Göppingen, Göppingen, Deutschland<br />
8<br />
Institut für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Bereich Innere Medizin/Intensivstation, LKH-<br />
Universitätskliniken Innsbruck, Innsbruck, Österreich<br />
9<br />
Universitätsklinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation Wien, Wien, Österreich<br />
<strong>Algorithmen</strong> <strong>zur</strong><br />
<strong>Frühmobilisierung</strong> <strong>auf</strong><br />
<strong>Intensivstationen</strong><br />
Hintergrund<br />
Unter dem Oberbegriff „general deconditioning“<br />
werden die negativen Effekte<br />
der länger dauernden Immobilisierung<br />
als nachhaltig und outcomerelevant beschrieben.<br />
Hierrunter fallen beispielhaft<br />
die prolongierte neuromuskuläre Schwäche,<br />
eine erhöhte Inzidenz von Delir und<br />
posttraumatischer Belastungsstörung,<br />
die Reduktion der kardiovaskulären<br />
Autoregulation, Reduktion von Gelenkfunktionen,<br />
Einschränkungen des<br />
Immunsystems und Störungen der intestinalen<br />
Motilität [9]. Demgegenüber<br />
sind in den letzten Jahren verschiedene<br />
systematische Übersichtsarbeiten <strong>zur</strong><br />
<strong>Frühmobilisierung</strong> erwachsener Patienten<br />
<strong>auf</strong> <strong>Intensivstationen</strong> erschienen<br />
[26, 28, 39, 48], die unabhängig zu dem<br />
Schluss kommen, dass <strong>Frühmobilisierung</strong><br />
machbar und sicher ist und die<br />
beschriebenen Effekte verhindern bzw.<br />
therapieren kann.<br />
Unter Frühmobilisation <strong>auf</strong> der Intensivstation<br />
wird der Beginn von Mobilisationsmaßnahmen<br />
innerhalb von 72 h<br />
nach Aufnahme verstanden. Sie soll bei<br />
allen intensivmedizinischen Patienten,<br />
auch wenn diese beatmet sind, durchgeführt<br />
werden, wenn keine definierten<br />
Ausschlusskriterien bestehen [24]. Dabei<br />
werden passive oder aktive Bewegungsübungen<br />
mit dem Ziel eingeleitet, die<br />
Bewegungsfähigkeit zu fördern und/<br />
oder zu erhalten [2, 18]. Frühmobilisation<br />
verbessert das funktionale Outcome<br />
sowie die Lebensqualität und reduziert<br />
die Beatmungs- und Verweildauer im<br />
Krankenhaus. Neuere Studien haben<br />
auch die Machbarkeit, Sicherheit und<br />
Effektivität der <strong>Frühmobilisierung</strong> bis<br />
zum Gehen unter speziellen Bedingungen<br />
untersucht. Hierzu gehören<br />
4 sehr adipöse Patienten [17],<br />
4 Patienten mit linksventrikulären<br />
Unterstützungssystemen [42],<br />
4 Patienten mit femoralen Zugängen<br />
[41],<br />
4 Patienten unter l<strong>auf</strong>enden Nierenersatzverfahren<br />
[54] undextrakorporaler<br />
Membranoxygenierung [1]<br />
sowie<br />
4 spezielle Populationen wie z. B.<br />
jsehr alte Intensivpatienten [12],<br />
jPatienten nach Verbrennungen<br />
und Traumen [11]oder<br />
jPatienten mit neurologischen<br />
Erkrankungen [53].<br />
Unstrittig ist, dass <strong>Frühmobilisierung</strong> im<br />
Rahmen eines Gesamtkonzepts verortet<br />
und–z. B.nachmodifiziertemABCDEF-<br />
Konzept ([5]; . Abb. 1)–umgesetztwerden<br />
muss. Ziel ist der stress- und angstfreie<br />
Patient, der assistiert beatmet und<br />
regelmäßig bez. eines Delirs gescreent<br />
wird. Der wache Patient kann in Gegenwart<br />
seiner Familie an seiner Rehabilitation<br />
und Mobilisierung aktiv teilhaben.<br />
» Frühmobilisation beginnt<br />
innerhalb von 72 h nach<br />
Aufnahme <strong>auf</strong> die Intensivstation<br />
Problematisch ist, dass die Entwicklung<br />
vonspezifischen<strong>Algorithmen</strong>zwarinder<br />
deutschen Leitlinie <strong>zur</strong> Lagerungstherapie<br />
und Mobilisierung allgemein empfohlen<br />
wird [24], hierzu aber sehr verschiedene<br />
Ansätze und Ansichten beschriebenwurden[15,<br />
19, 31, 36]. <strong>Frühmobilisierung</strong><br />
bedarf eines interprofessionellen<br />
Ansatzes, in dem neben Verantwortungen<br />
und Zuständigkeiten auch<br />
Zeitpunkt, Intensität und Dauer abgesprochen<br />
werden müssen [37, 38]. Zu<br />
klären ist eine Adaption der verfügbaren<br />
<strong>Algorithmen</strong> an spezifische Popula-<br />
156 Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin 2 · 2017
Gegenwart der<br />
Familie<br />
Delirmanagement<br />
Mobilisierung<br />
Schmerz-, Angst-<br />
& Stressfreiheit<br />
tionen sowie die Festlegung der differenzierten<br />
Zielsetzungen der Frühmobilisation<br />
durch die Pflege, die Physiotherapie<br />
oder die Ergotherapie.<br />
Methode<br />
Obwohl es auch Arbeiten <strong>zur</strong> Implementierung<br />
der <strong>Frühmobilisierung</strong> bei definierten<br />
Populationen gibt [5, 32], wurde<br />
hier von einer systematischen Literatursuche<br />
anhand eines PICO-Schemas<br />
Abstand genommen, da dieser Ansatz<br />
die Repräsentativität der Ergebnisse eingeschränkt<br />
hätte [16]. Das Ziel ist daher,<br />
in einem narrativen Review einen<br />
Überblick über die verfügbaren Elemente<strong>zur</strong>EntwicklungeinesAlgorithmusder<br />
<strong>Frühmobilisierung</strong> zu vermitteln. Basierend<strong>auf</strong>bisherigensystematischenÜbersichtsarbeiten<br />
[2, 26, 28, 39, 48] sowie<br />
weiterer aktueller Literatur zu spezifischen<br />
Fragestellungen können die folgenden<br />
Empfehlungen <strong>zur</strong> Entwicklung<br />
eines Best-Practice-Ansatzes im eigenen<br />
Arbeitsbereich gegeben werden.<br />
Ein- und Ausschlusskriterien<br />
Prinzipiell können alle Intensivpatienten<br />
anhand von Sicherheitskriterien stufenweise<br />
mobilisiert werden. Es gibt keine<br />
Evidenz für eine bestimmte Bedingung,<br />
die eine tatsächliche KontraindikationfüreinestufenweiseMobilisierung<br />
Wachheit &<br />
Teilhabe<br />
Assistierte<br />
Spontanatmung<br />
Abb. 1 9 ABCDEF-<br />
Gesamtkonzept <strong>zur</strong><br />
<strong>Frühmobilisierung</strong><br />
unter Einbeziehung<br />
der Gesamtsituation<br />
des Patienten<br />
und seiner Angehörigen<br />
darstellt. Der Einsatz von Vasopressoren<br />
bzw. Katecholaminen wurde in einigen<br />
Studien als Ausschlusskriterium genannt<br />
[8, 44], in anderen Studien nicht [31, 33].<br />
Einige Autoren haben bez. der Mobilisierung<br />
als oberen Cut-off-Wert für die<br />
Oxygenierung eine inspiratorische Sauerstofffraktion<br />
(F IO 2) von 0,6 gesetzt [31,<br />
33], andere Autoren haben auch Patienten<br />
mit einer F IO 2 von 1,0 mobilisiert, ohne<br />
dass Sicherheitsereignisse zugenommen<br />
hätten [4]. In einigen Settings wurden<br />
Patienten mit Bewusstseinsstörungen<br />
von der Mobilisierung aus dem Bett<br />
ausgeschlossen [44], in anderen Studien<br />
aus dem Bett mobilisiert, weil sie bewusstseinsgestört<br />
waren [53]. Die Evidenz<br />
ist bez. der Ein- und Ausschlusskriterien<br />
widersprüchlich.<br />
» Patienten können auch mit<br />
hohen F I O 2 -Werten stufenweise<br />
mobilisiert werden<br />
Auch die S2-Leitlinie Lagerung und<br />
Frühmobilisation der Deutschen Gesellschaft<br />
für Anästhesie und Intensivmedizin<br />
(DGAI) gibt keine absoluten<br />
Kontraindikationen an, verweist aber<br />
<strong>auf</strong> das erhöhte Risiko bei Patienten mit<br />
aktiven Blutungen oder unversorgten<br />
Frakturen hin [25]. Auf einer Konsensuskonferenz<br />
[22] wurde empfohlen,<br />
für spezifische Settings und abhängig<br />
von der Population und der Kompetenz<br />
der Mitarbeiter ein Ampelsystem<br />
<strong>zur</strong> <strong>Frühmobilisierung</strong> zu entwickeln.<br />
Die Ampel hat 3 verschiedene Farben<br />
(Rot, Gelb und Grün) und definiert die<br />
Bedingungen <strong>zur</strong> Mobilisierung anhand<br />
verschiedener Kriterien [36]:<br />
4 Rot: Es ist keine aktive Mobilisierung<br />
möglich, da die Risiken die Vorteile<br />
überwiegen.<br />
4 Gelb: Eine aktive Mobilisierung ist<br />
nur eingeschränkt möglich, da die<br />
Gefahr besteht, dass die Risiken die<br />
Vorteile überwiegen. Daher muss vor<br />
jeder Mobilisierung eine individuelle<br />
Absprache getroffen werden.<br />
4 Grün: Eine aktive Mobilisierung ist<br />
möglich, die Vorteile überwiegen, das<br />
Risiko ist gering.<br />
Auch hier wird empfohlen, für die jeweiligen<br />
Disziplinen das Ampelsystem interprofessionell(Mediziner,Physiotherapeuten,<br />
Pflegende u. a.) zu definieren und<br />
an die jeweiligen Populationen, Kompetenzen<br />
und Bedingungen anzupassen.<br />
Kategorien hierzu können sein:<br />
4 Bewusstsein,<br />
4 Beatmungswerte,<br />
4 Hämodynamik,<br />
4 Zu- und Ableitungen,<br />
4 spezifische Bedingungen (abhängig<br />
von der Disziplin, z. B. Frakturen in<br />
der Unfallchirurgie oder Kraniektomie<br />
in der Neurologie).<br />
Die Ampel stellt damit ein Kernelement<br />
der Mobilisierung in spezifischen Fachbereichen<br />
dar (. Tab. 1).<br />
Sicherheitskriterien<br />
Sicherheitsbedenken bei Intensivpatienten<br />
stellen eine häufige Barriere in der<br />
Implementierung dar [13]. In einer systematischen<br />
Übersichtsarbeit wurde gezeigt,<br />
dass die Rate an unerwünschten<br />
Ereignissen während der aktiven Mobilisierung<br />
beatmeter Intensivpatienten bei<br />
3,9 % lag, die Rate an Ereignissen, die ein<br />
Handeln erforderten, bei 0,3 % [39]. Eine<br />
Extubation bei beatmeten Patienten, die<br />
intubiert zum Gehen mobilisiert wurden,<br />
ist nicht erfolgt [4].<br />
Sicherheitskriterien sind notwendig,<br />
um Risiken frühzeitig erkennen und<br />
Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin 2 · 2017 157
Zusammenfassung · Abstract<br />
Gefahren abwenden zu können. Hierzu<br />
wurden absolute Grenzwerte – z. B.<br />
eine Grenze für die periphere Sauerstoffsättigung<br />
von
Tab. 1 Beispiel eines Ampelsystems <strong>zur</strong> <strong>Frühmobilisierung</strong><br />
Bedingung a<br />
Mobilisierung im Bett (ICU<br />
Mobility Scale 0–1)<br />
Beatmungszugang<br />
Endotrachealer Tubus + +<br />
Trachealkanüle oder nichtinvasive<br />
Ventilation<br />
+ +<br />
Beatmung<br />
F IO 2 >0,8 + ◻<br />
F IO 2 10 mmHg + ◻<br />
PEEP < 10 mmHg + +<br />
Hämodynamik<br />
Unterhalb der Zielwerte, zeigt<br />
Symptome<br />
◻<br />
Stabil mit Katecholaminen + ◻<br />
Zu- und Ableitungen<br />
Zentraler Venenkatheter in V. jugularis,<br />
V. subclavia, V. femoralis<br />
L<strong>auf</strong>ende Nierenersatzverfahren<br />
via V. subclavia/V. jugularis<br />
L<strong>auf</strong>ende Nierenersatzverfahren<br />
via V. femoralis<br />
+ +<br />
+ +<br />
+ ◻<br />
Mobilisierung aus dem<br />
Bett (ICU Mobility Scale<br />
2–10)<br />
a<br />
Nach [36]<br />
■ keine aktive Mobilisierung (Ampel: Rot), ◻ individuelle Entscheidung (Ampel: Gelb), + aktive<br />
Mobilisierung (Ampel: Grün)<br />
F IO 2 inspiratorische Sauerstofffraktion, PEEP positiver endexspiratorischer Druck<br />
Tab. 2 ICU Mobility Scale. (Nach [21])<br />
Stufe Beschreibung<br />
0 Keine Mobilisierung<br />
1 Im Bett sitzen bzw. Übungen<br />
2 Passiv in einen Stuhl bewegen<br />
3 Auf der Bettkante sitzen<br />
4 Stehen vor dem Bett ohne Eigengewicht<br />
5 Stehen vor dem Bett mit Eigengewicht<br />
6 Aktiver Transfer in einen Stuhl<br />
7 Auf der Stelle gehen (2 Schritte jedes Bein)<br />
8 Gehen mit ≥2 Personen >5 m<br />
9 Gehen mit 1 Person >5 m<br />
10 Gehen mit Hilfsmittel >5 m<br />
11 Unabhängiges Gehen<br />
Diese beinhaltet:<br />
4 Einhalten der Hygienerichtlinien<br />
(v. a. bei Diskonnektionen);<br />
4 erfahrener Facharzt in Rufbereitschaft;<br />
4 tragbare Beatmung, Monitor, Absaugung,<br />
Beatmungsbeutel;<br />
4 vorausschauendes Denken (Mit<br />
welchen Sicherheitsrisiken ist bei<br />
■<br />
spezifischen Patienten zu rechnen<br />
und welche Strategien müssten bei<br />
dem Eintreten ergriffen werden?);<br />
4 Überprüfung der Länge der Zuund<br />
Ableitungen für die angestrebte<br />
Mobilisierungsstufe;<br />
4 Sicherheitsschl<strong>auf</strong>en für kritische Zuund<br />
Ableitungen, ggf. Klettverschlüsse;<br />
4 Tubusverlängerung leicht bis moderat<br />
an Tubus/Trachealkanüle stecken, um<br />
ggf. eine Sollbruchstelle zu haben;<br />
4 Sitzmöglichkeit in Patientennähe<br />
bereithalten (z. B. Rollstuhl, der von<br />
Angehörigen geschoben wird);<br />
4 Sicherheitsrisiken für das Personal<br />
abwägen.<br />
<strong>Algorithmen</strong><br />
In der Literatur wurden zahlreiche Assessments<br />
und <strong>Algorithmen</strong> <strong>zur</strong> Mobilisierung<br />
kritisch kranker Patienten beschriebenundz.T.aucherfolgreichinder<br />
Umsetzung und Anwendbarkeit überprüft<br />
[15, 19, 29–31, 36, 45, 49, 50]. Es<br />
gibt bislang keinen allgemeingültigen Algorithmus,<br />
der für alle Populationen und<br />
Bedingungen gelten könnte.<br />
» Ein allgemeingültiger Algorithmus<br />
für alle Populationen<br />
und Bedingungen existiert bisher<br />
nicht<br />
Stiller und Phillips haben in der Entwicklung<br />
ihres Algorithmus denSchwerpunkt<br />
<strong>auf</strong> Sicherheitskriterien – u. a. <strong>auf</strong> ausreichende<br />
hämodynamische bzw. pulmonale<br />
Reserven oder auch Laborparameter<br />
wie z. B. Gerinnungsfaktoren – gelegt<br />
[49]. Der Algorithmus scheint zu Beginn<br />
einer Implementierung sinnvoll zu sein.<br />
Nachteilig ist, dass übervorsichtige Definitionen<br />
der Reserven Mobilisierungen<br />
auch behindern können.<br />
<strong>Algorithmen</strong> können sich auch an<br />
den motorischen Fähigkeiten orientieren.<br />
Morris et al. [31] haben einen<br />
ersten grundlegenden Stufenplan entwickelt.<br />
Dem Algorithmus wurden Einund<br />
Ausschlusskriterien vorangestellt,<br />
der Algorithmus von Stiller und Phillips<br />
entfällt damit. Morris definierte 4<br />
Stufen der Mobilität, die sich in den<br />
ersten beiden am Bewusstsein orientieren<br />
und in der 2. bis 4. Stufe an der<br />
Kraft des Patienten. Andere Autoren<br />
entwickelten dar<strong>auf</strong> <strong>auf</strong>bauend ähnliche<br />
<strong>Algorithmen</strong>, z. B. den Surgical Intensive<br />
Care Unit Optimal Mobilisation Score<br />
[30]. Nachteilig ist, dass Patienten mit<br />
Bewusstseinsstörungen, z. B. nach hy-<br />
Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin 2 · 2017 159
Pflege<br />
<strong>Algorithmen</strong> können weiter mit spezifischen<br />
Bedingungen wie Beatmung<br />
kombiniert werden. Nessizius hat in seinem<br />
Algorithmus atemphysiotherapeutische<br />
Maßnahmen für nicht-/beatmete<br />
Patienten mit einem Assessment des<br />
Medical Research Councils kombiniert<br />
[35]. Differenzierter in dem Unterstützungsbedarf<br />
ist hierbei noch Filipovic,<br />
die zwischen passiven, assistiven und<br />
aktiven Maßnahmen unterscheidet [15].<br />
In der Praxis bewährt sich gemeinsam<br />
mit Medizinern, Pflegenden und Therapeuten<br />
aus dem eigenen Team die Entwickelung<br />
eines eigenen Algorithmus <strong>zur</strong><br />
Mobilisierung.<br />
Stufenschema<br />
Zur Beschreibung einzelner Mobilisierungsstufen<br />
liegen verschiedene Skalen<br />
vor [27, 31, 40, 53]. Ein Diskussionspunkt<br />
ist hierbeijeweils die DefinitionderStufe,<br />
ab der ein Patient aktiv aus dem Bett mobilisiert<br />
wird. Hodgson et al. [21] haben<br />
dieICUMobilityScaleentwickelt,die<br />
den passiven Transfer in einen Stuhl als<br />
eine niedrigere Mobilisierungsstufe als<br />
das Sitzen <strong>auf</strong> der Bettkante definiert haben;<br />
auch Mobilisierungen im Bett zum<br />
Sitzen entsprechen einer niedrigeren Stufe<br />
als ein aktiver Transfer über den Stand<br />
in einen Stuhl (. Tab. 2). Die ICU Mobility<br />
Scale ist valide, zeigt eine gute Reliabilität<br />
und kann <strong>zur</strong> Beschreibung und<br />
Dokumentation empfohlen werden [21,<br />
38, 52].<br />
Abb. 2 8 Beispiel eines Algorithmus <strong>zur</strong> <strong>Frühmobilisierung</strong>. Im Rahmen des täglichen Screenings,<br />
anhand einer Checkliste und mithilfe eines Ampelsystems werden die individuellen Voraussetzungen<br />
<strong>zur</strong> Einleitung von Mobilisierungsmaßnahmen geprüft. Unterstützend werden die ICU Mobility<br />
Scale und die Borg-Skala angewendet, um eine sichere <strong>Frühmobilisierung</strong> zu gewährleisten. ASB assistierte<br />
Spontanbeatmung,HF Herzfrequenz, S pO 2 Sauerstoffsättigung im Blut, F IO 2 inspiratorische<br />
Sauerstofffraktion, RR Blutdruck nach Riva-Rocci, PEEP positiver endexspiratorischer Druck<br />
poxischem Hirnschaden, Demenz u. a.,<br />
damit nur passiv im Bett bewegt werden.<br />
Ein zeitlicher Verl<strong>auf</strong> und die damit<br />
verbundenen Konsequenzen können<br />
ebenfalls als Grundlage für einen Algorithmus<br />
gewählt werden. Hanekom et al.<br />
haben zwischen Patienten unterschieden,<br />
bei denen innerhalb von 5 Tagen<br />
nach Aufnahme mit einer Mobilisierung<br />
begonnen werden kann, und anderen<br />
Patienten, bei denen <strong>auf</strong>grund von Sepsis<br />
o. ä. erst nach 5 Tagen begonnen<br />
werden kann, da diese „dekonditioniert“<br />
sind [19].In der letzten Gruppe hat ein<br />
Kraft- und Ausdauertraining Priorität.<br />
Entsprechend der verschiedenen Patientengruppen<br />
wurden 3 verschiedene<br />
<strong>Algorithmen</strong> entwickelt. Nachteilig ist<br />
auch hier der Ausschluss bewusstseinsgestörten<br />
Patienten.<br />
Implementierung und<br />
Dokumentation<br />
Die Implementierung von Strategien benötigt<br />
einen ausreichenden Zeithorizont.<br />
So konnten Hopkins et al. eindrucksvoll<br />
zeigen, dass die Implementierung der<br />
Frühmobilisation in ein Team möglich<br />
ist, dies aber eine langfristige Strategie im<br />
Zeitraumvon7Jahrenerfordert[23]. Ziel<br />
ist es, eine Kultur der Mobilisation zu etablieren.<br />
Entscheidend ist eine klare Kommunikationskultur,<br />
damit eindeutig definiert<br />
ist, wer für was zuständig ist. Hierzu<br />
gehört auch die Klärung der Hierarchien.<br />
Die Fragen der Zuständigkeit der Mobilisationsanordnungsindebensoklarzu<br />
definierenwie<br />
die Frage, werletztlichfürdie<br />
160 Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin 2 · 2017
Durchführung, Überwachung und DokumentationderMaßnahmeverantwortlich<br />
zeichnet. Eine frühe Mobilisation benötigt<br />
entsprechende Hilfsmittel, die in<br />
ausreichender Anzahl und entsprechender<br />
Qualität vorgehalten werden sollten.<br />
Letztlich geht es aber um die persönliche<br />
Haltung der einzelnen Protagonisten <strong>zur</strong><br />
Frühmobilisation und <strong>zur</strong> Überwindung<br />
vonggf.bestehendenBarrieren[13]. Aufgrund<br />
der positiven Datenlage wird die<br />
Frühmobilisation voraussichtlich als Indikator<br />
in die Qualitätsindikatoren der<br />
Deutschen Interdisziplinäre Vereinigung<br />
für Intensiv und Notfallmedizin <strong>auf</strong>genommen<br />
werden.<br />
Bezüglich der Dokumentation wird<br />
empfohlen, täglich die folgenden grundlegenden<br />
Daten zu erfassen:<br />
4 Atmungszugang (endotrachealer<br />
Tubus, Trachealkanüle, nichtinvasive<br />
Ventilation, Spontanatmung),<br />
4 die an diesem Tag höchste Stufe <strong>auf</strong><br />
der ICU Mobility Scale,<br />
4 Borg-Skala,<br />
4 kategorisierte Sicherheitsereignisse<br />
und Barrieren.<br />
Die Daten ermöglichen in Verbindung<br />
mit weiteren Routinedaten, wie z. B. Alter,<br />
Geschlecht, Krankheitsschwere, Verweildauer,<br />
Bewusstsein, Schmerz, Delir,<br />
Katecholaminen, Organersatzverfahren,<br />
eine systematische Auswertung, Evaluation<br />
und ein Feedback an das Team<br />
und damit die Identifikation von Verbesserungspotenzialen.<br />
Für Studienzwecke<br />
können weitere Daten, z. B. F IO 2,<br />
Frequenz und Dauer der Mobilisierung,<br />
Weaning- oder Delirdauer usw., erfasst<br />
werden.<br />
Zusammenfassend wird empfohlen,<br />
ein Maßnahmenbündel zu entwickeln,<br />
dass einen interprofessionellen Algorithmus<br />
<strong>zur</strong> <strong>Frühmobilisierung</strong> enthält. Der<br />
Algorithmus sollte:<br />
4 ein tägliches Screening <strong>auf</strong> Mobilität,<br />
4 ein definiertes Ampelsystem zu<br />
Abwägung von Vorteilen und Risiken,<br />
4 eine Checkliste vor der Durchführung<br />
der Mobilisierung,<br />
4 dieICUMobilityScalezuDefinierung<br />
von angestrebten Mobilisierungszielen<br />
und<br />
4 Sicherheitskriterien <strong>zur</strong> Durchführung<br />
der Mobilisierung in Abhängigkeit<br />
von der Population und spezifischen<br />
Patientendaten beinhalten<br />
sowie<br />
4 bei der Mobilisierung das subjektive<br />
Erleben der Patienten berücksichtigen<br />
(. Abb. 2).<br />
Fazit für die Praxis<br />
4 Die <strong>Frühmobilisierung</strong> innerhalb von<br />
72 h nach Aufnahme, bzw. Stabilisierung<br />
<strong>auf</strong> die Intensivstation ist sicher,<br />
verbessert das funktionale Outcome<br />
und reduziert die Beatmungs- und<br />
Verweildauer im Krankenhaus.<br />
4 Prinzipiell können alle Intensivpatienten<br />
stufenweise und anhand<br />
von Sicherheitskriterien mobilisiert<br />
werden.<br />
4 Die Etablierung eines Ampelsystems<br />
<strong>zur</strong> <strong>Frühmobilisierung</strong> wird empfohlen,<br />
um einen sicheren Beginn<br />
der Mobilisierungsmaßnahmen im<br />
Rahmen von spezifischen Settings zu<br />
gewährleisten.<br />
4 Hierzu sollen <strong>zur</strong> frühzeitigen Erkennung<br />
von Risiken Sicherheitskriterien<br />
(z. B. Grenzwerte in der Hämodynamik<br />
und Ventilation) definiert<br />
werden. Mithilfe der Borg-Skala<br />
kann zudem die subjektiv erlebte<br />
Anstrengung ermittelt werden.<br />
4 Bisher gibt es keinen allgemeingültigen<br />
Algorithmus <strong>zur</strong> <strong>Frühmobilisierung</strong><br />
für alle Populationen und<br />
Bedingungen. In der Praxis bewährt<br />
sich jeweils die Entwicklung eines<br />
eigenen situationsangepassten Algorithmus<br />
durch das interprofessionelle<br />
Intensivteam.<br />
Korrespondenzadresse<br />
P. Nydahl<br />
Pflegeforschung,<br />
Universitätsklinikum<br />
Schleswig-Holstein, Campus<br />
Kiel<br />
Brunswiker Str. 10, 24105 Kiel,<br />
Deutschland<br />
peter.nydahl@uksh.de<br />
Einhaltung ethischer Richtlinien<br />
Interessenkonflikt. P.Nydahl,R.Dubb,S.Filipovic,C.Hermes,F.Jüttner,A.Kaltwasser,S.Klarmann,<br />
H. Mende, S. Nessizius und C. Rottensteiner geben an,<br />
dass kein Interessenkonflikt besteht.<br />
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren<br />
durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.<br />
Literatur<br />
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CardiopulmPhysTherJ23:5–13<br />
3. Amidei C (2012) Measurement of physiologic<br />
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4. Bailey P, Thomsen GE, Spuhler VJ et al (2007) Early<br />
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5. Balas MC, Vasilevskis EE, Olsen KM et al (20<strong>14</strong>)<br />
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management, andearlyexercise/mobilitybundle.<br />
CritCareMed42:1024–1036<br />
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