20.03.2017 Aufrufe

CP-PF-03-2017-Komplett-ausV6_Small

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Ausgabe März-<strong>2017</strong><br />

Foto: Carsten Kobow/DFB-Stiftung Sepp Herberger<br />

Hörst du den Ball<br />

Mulgheta Russom - Spieler der deutschen Nationalmannschaft<br />

im Blindenfußball. Ein Portrait von Patricia Leßnerkraus<br />

Leichtfüßig dribbelt Mulgheta Russom über den Kunstrasen im Stadion des FC St. Pauli. Der Ball klebt an<br />

seinen Füßen. Plötzlich bleibt er kurz stehen, schlenzt den Ball hinter seinem Rücken über die gegnerische<br />

Abwehr, setzt nach, schießt und versenkt den Ball zum 1:1 Ausgleich rechts unten im Tor. Ein typischer<br />

Mulgheta-Trick, ein tolles Tor, das umso mehr an Bedeutung gewinnt, wenn man bedenkt, dass Mulgheta<br />

Russom nicht sieht, was er tut. Der 38-jährige gebürtige Eriträer ist blind, seit er im Alter von 20 Jahren nach<br />

einem schweren Autounfall sein Augenlicht verlor.<br />

„Es war der frühe Morgen des 3. Oktober 1998, ich hatte mit Freunden durchgefeiert, jedoch keinen Alkohol<br />

getrunken. Ich fuhr mit meinem Auto nach Hause, winkte noch meinen besten Freund, der hinter mir<br />

an einer Ausfahrt abbog. Danach weiß ich nichts mehr“, erzählt Russom. Er war mit seinem Auto von der<br />

Straße abgekommen, gegen einen Baum geprallt. Das Auto ging in Flammen auf und explodierte, er wurde<br />

gerettet und ins Krankenhaus gebracht. 14 Stunden operierten ihn die Ärzte, setzten sein völlig zerstörtes<br />

Gesicht mit Platten und Drähten wie ein Puzzle wieder zusammen. Während dieser Zeit wurde er dreimal<br />

wiederbelebt.<br />

„Wenn er überhaupt überlebt,“ so teilten die Ärzte den Eltern schonungslos mit, „wird ihr Sohn blind sowie<br />

geistig behindert sein, ein lebenslanger Pflegefall bleiben.“ Als er nach drei Monaten künstlichem Koma<br />

erwachte, widerlegte er jedoch sämtliche düsteren Prognosen. Mulgheta Russom war weder geistig behindert<br />

noch blind.<br />

„Erst durch einen fiebrigen Infekt, den ich mir drei Tage<br />

nach meinem Erwachen auf der Intensivstation holte, habe<br />

ich mein Augenlicht verloren“, erzählt Mulgheta Russom<br />

ohne jegliche Verbitterung.<br />

Vor dem Autounfall führte der lebensfrohe Mann ein ganz<br />

normales Leben, das neben seiner Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann<br />

in einem Modehaus vor allem vom Sport<br />

geprägt war. Mulgheta spielte bei der TSG Tübingen Fußball<br />

auf Landesliga-Ebene. Seinem Sport ordnete er alles unter.<br />

Er verzichtete zwar nicht auf Parties, doch Zigaretten, Alkohol<br />

und andere Drogen waren für ihn absolut tabu. Sein gesunder<br />

Lebensstil sowie der durchtrainierte Körper waren<br />

wahrscheinlich der Grund, dass Mulgheta Russom seinen<br />

schweren Unfall besser überstand als erwartet und sich<br />

heute als Kapitän des MTV Stuttgart fünffacher Deutscher<br />

Meister im Blindenfußball nennen darf. Als Rekordschütze<br />

bei seinen mittlerweile über 50 Einsätzen in der Blinden-Nationalmannschaft<br />

beweist Mulgheta Russom immer wieder<br />

aufs Neue, dass man selbst mit einem Handicap ausgesprochen<br />

erfolgreich sein kann, wenn man an sich arbeitet und<br />

nach vorn blickt.<br />

Während andere Menschen an diesem Schicksalsschlag<br />

vielleicht zerbrochen wären, war dagegen für Mulgheta<br />

Russom schon im Krankenhaus klar, dass er sich allen Herausforderungen<br />

stellen und sein neues Leben selbst in die<br />

Hand nehmen würde. Statt aufzugeben, kämpfte er sich<br />

zurück in den Alltag außerhalb des Krankenbetts. „Ich wollte<br />

mich nicht verstecken, mein Leben weiter genießen. Ich<br />

mache heute nahezu alles, was ein Sehender auch tut – nur<br />

eben anders.“ Sein unaufhörlicher Drang nach Bewegung,<br />

ein eiserner Wille, jede Menge Disziplin, sein großes Kämpferherz<br />

und ganz wichtig, seine positive Lebenseinstellung und<br />

sein ausgeprägter Humor waren dabei von Anfang an seine<br />

Hauptmotoren.<br />

Als er sich nach Krankenhaus und Reha fit genug fühlte, besuchte<br />

er eine Blindenschule und absolvierte eine Ausbildung<br />

zum Korbflechter. Aber das reichte dem jungen Mann noch<br />

immer nicht. „Das kann doch nicht alles gewesen sein“, lautet<br />

sein Credo, das ihn bis heute immer wieder antreibt, neue<br />

Wege zu beschreiten. Gemeinsam mit einem sehenden Guide<br />

lief er den Stuttgart-Lauf, wagte einen Fallschirmsprung,<br />

stellte sich auf Wasserski, trainierte Weitsprung und Speerwurf,<br />

bis er schließlich den Blindenfußball für sich entdeckte.<br />

Aus diesem Grund muss sich Mulgheta Russom seinen<br />

Lebensunterhalt anders verdienen. Dank des MTV Stuttgart<br />

durfte er sein Hobby Sport zum Beruf machen. Der Verein<br />

ermöglichte ihm eine Ausbildung zu Deutschlands erstem<br />

blinden Fitnesstrainer und stellte ihn im vereinseigen Fitnessstudio<br />

an. Seither bildet sich Russom ständig weiter und hat<br />

sich dabei auf die Behandlung von Schulter- und Nackenproblematik<br />

spezialisiert<br />

Foto: Patricia Lessnerkrauß<br />

SOZIALES | national<br />

24<br />

25

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!