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2017_2
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INTERNATIONALE LITERATUR<br />
Vier Übernachtungen und<br />
mehr als ein Todesfall<br />
Mankells letzter Roman erzählt von dem fast 70-jährigen Fredrik Welin, der dem Ende<br />
des Lebens näher ist als seinem Anfang – und dennoch lebendiger als wir alle.<br />
Fredrik Welin wacht eines Morgens umgeben von Rauch und<br />
Feuer auf. Sein Haus brennt. Auf einer kleinen Insel abseits des<br />
schwedischen Festlands und kaum besiedelt verliert Welin auf<br />
einen Schlag alles, was er besitzt. Übrig bleibt nur ein Schuhspanner.<br />
Bekanntlich kursieren in kleinen Orten Gerüchte schneller als ein Lauffeuer.<br />
Und so weiß Welins Postbote Jansson noch vor ihm, dass die Polizei<br />
ihn, Welin, als Brandstifter verdächtigt, und Jansson gibt sich auch keine<br />
Mühe, damit hinter dem Berg zu halten – oder hinter dem Fjord.<br />
Welin, am Boden zerstört, tut das, was ein Mann tun muss: Er bestellt<br />
sich neue Gummistiefel. Denn seine sind verbrannt, und wie soll<br />
ein Mann ein Mann sein, wenn er keine Stiefel hat. Die Journalistin Lisa<br />
Modin wittert einen Lokalskandal und nimmt sich des Falls an. Sie interviewt<br />
Welin, und die beiden kommen sich auf eigenartige Art näher.<br />
Was wie ein Krimi beginnt – und wer denkt bei Mankell nicht zuerst<br />
an Wallander und Kriminalliteratur –, entwickelt sich zu einem Sozialdrama,<br />
einer Tragikomödie und einer Lektion über das Leben jenseits der<br />
urbanen und pulsierenden Großstadtmentalität.<br />
Einen Tag nach dem Feuer erscheint Welins Tochter Louise, mit der<br />
er nur wenig Kontakt hat, da er von ihrer Existenz erst sehr spät erfahren<br />
hatte. Louise ist schwanger und braucht Geld. Er glaubt, dass sie sich als<br />
Prostituierte verdingt, und vermutet, ein Freier könne der Vater sein.<br />
Etwas harmloser, aber kaum weniger ernüchternd ist die Realität: Sie<br />
ist eine Taschendiebin. Und offensichtlich keine besonders gute, denn<br />
eines Tages kommt ein Anruf von ihr aus Paris: Sie wurde verhaftet und<br />
sitzt im Gefängnis. Immer noch ohne seine Gummistiefel macht sich der<br />
Vater auf den Weg und sorgt für die Entlassung der Tochter. Lisa Modin<br />
reist ihm hinterher. Nach einer vorangegangen Übernachtung in Schweden<br />
verbringen die beiden abermals die Nacht zusammen, ohne dass<br />
auch nur eine Berührung stattfindet. Nicht, dass Welin das nicht gewollt<br />
hätte, aber die Journalistin bleibt so stur wie undurchschaubar. Und das<br />
noch zwei weitere Male. Doch der Mann gibt nicht auf.<br />
In Welins kleinem Heimatörtchen kehrt ebenfalls keine Ruhe ein; erst<br />
stirbt der Ladenbesitzer Nordin – bevor Welin seine Stiefel bekommt! –<br />
und dann eine Nachbarin, die alte Orlovski. Welin sieht sich umgeben von<br />
Toten und beginnt, über sein eigenes Leben zu reflektieren, über die Beziehung<br />
zu seiner Tochter und natürlich über sein Verhältnis zu Lisa Modin.<br />
Auch wenn wir vielleicht nie erfahren werden, ob Welin seine Stiefel<br />
erhält, lernen wir doch Fredric Welin in all seinen Facetten kennen, seine<br />
Vergangenheit und Gegenwart, wie er sich seine, wie er befürchtet,<br />
nur noch sehr kurze Zukunft vorstellt. Mankell malt in Die schwedischen<br />
Gummistiefel das Bild eines Manns mit so viel Tiefe, wie es nur in wenigen<br />
Romanen gelingt. Womöglich ist er auch das Alter Ego des Autors,<br />
der sich am Ende gerne auf eine Insel zurückgezogen hätte, der aber das<br />
Abenteuer nie loslassen<br />
konnte.<br />
„Der Roman entwirft<br />
ein bewegendes Porträt<br />
eines älteren Mannes und<br />
entführt uns in die Abgründe<br />
der menschlichen<br />
Seele. Mankell erzählt<br />
eine spannende und<br />
zugleich philosophische<br />
Geschichte von geradezu<br />
existenialistischem Ausmaß.“<br />
— RBB KULTURRADIO<br />
Andrea Baron<br />
Lektorin bei Beltz & Gelberg<br />
Neuerscheinungen<br />
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