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seinen 500 Millionen Menschen sieht bei einer Million seine Kapazitäten<br />
erschöpft; Österreich bei 80.000 die „Grenze der Belastbarkeit“<br />
erreicht? Es ist weniger eine Frage des Könnens als eine Frage des<br />
Wollens. Das sieht man auch daran, dass die am lautesten rufen, dass<br />
das Boot voll ist, die noch nie einem Flüchtling nahe waren. Sie ziehen<br />
die Grenze, bevor ihr Alltagsleben berührt wird. Was für eine traurige<br />
Definition des Menschenmöglichen. Wir stecken den Kopf in den Sand<br />
und tun so, als ob uns das Problem nichts anginge. „Wie kommen wir<br />
dazu?“ ist die meistgestellte Frage in einer Kultur, die nur das Ego<br />
kennt, nicht aber die Solidarität.<br />
Rettende Differenzierung<br />
Eines ist klar. Dieses Problem ist komplex. Da gibt es keine einfachen<br />
Lösungen. Und jenen, die sie uns verkaufen wollen, sollten wir<br />
misstrauen. „Ein Zaun muss her, und das Problem ist gelöst!“ Mitnichten!<br />
„Bauliche Maßnahmen“ wie diese als Lösungen zu verkaufen,<br />
ist kurzsichtig und gefährlich, weil es zum Wesen dieses Problems<br />
gehört, dass es sich eben nicht einzäunen oder ausgrenzen lässt.<br />
Was hier und heute passiert, ist, dass wir die Effekte der Globalisierung,<br />
über die seit Jahrzehnten orakelt wird, plötzlich hautnah<br />
erleben. Denn Globalisierung bringt nicht nur globale Absatzmärkte.<br />
Sie bedeutet auch, dass alles näher zusammenrückt; dass es keine<br />
Hinterhöfe mehr gibt, wo wir unbeobachtet von anderen unsere hehren<br />
Werte mit Füßen treten. Globalisierung heißt auch, dass das Kind,<br />
das in Bangladesch in einer giftigen Brühe unsere T-Shirts färbt,<br />
unser eigenes Kind ist.<br />
Das muss man einmal verdauen, zumal hierzulande „schnell die Maßstäbe<br />
verloren gehen, sobald etwas Bedrohliches vor der eigenen Haustür<br />
passiert“, wie der Philosoph Richard David Precht zu den Ereignissen<br />
in Köln im Jänner dieses Jahres anmerkt. Diese gleich zu einem Kulturkampf<br />
hochzustilisieren tut niemandem etwas Gutes. Sie zu bagatellisieren<br />
ebenso wenig. 2015 kamen knapp eine Million Flüchtlinge<br />
nach Deutschland. Von denen sind zu Silvester einige wenige kriminell<br />
auffällig geworden. Wenn wir jetzt anfingen, Flüchtlinge generell<br />
mit Kriminellen gleichzusetzen, begingen wir einen fatalen Fehler.<br />
Noch schlimmer wäre die Gleichsetzung von Flüchtlingen mit Terroristen,<br />
wie sie nach den Anschlägen vom 13. November in Paris in den<br />
sozialen Medien rumorte. IS-Terroristen von jenen zu unterscheiden,<br />
die vor dem IS-Terror zu uns geflohen sind, ist das Mindeste, was wir<br />
von Journalisten, Politikern und Experten erwarten dürfen.<br />
Man muss aber auch, so heißt es immer wieder,<br />
die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehmen,<br />
die hier leben. Ja, das muss man. Solange<br />
diese Menschen das Flüchtlingsthema nicht als<br />
Kanal benutzen, ihren Unmut, ihren Kränkungen,<br />
ihren Ängsten und ihrem Neid, der sich<br />
seit Jahren aufgestaut hat und oft wenig mit<br />
der konkreten Situation zu tun hat, ungefiltert<br />
Ausdruck zu verleihen? Unsere Kultur, auf die<br />
wir uns berufen, ist dieser Filter. Diese Fähigkeit,<br />
auch in schwierigen Situationen zu differenzieren,<br />
das menschlich Angebrachte nicht<br />
aus den Augen zu verlieren. „Differenzierung ist<br />
Zivilisation“, schreibt der Medienkritiker Sascha<br />
Lobo auf Spiegel Online. Und zivilisiert zu sein<br />
bedeutet, „nacheinander neun Schwarzhaarigen<br />
zu begegnen, die sich alle als Arschlöcher erweisen,<br />
und trotzdem dem zehnten Schwarzhaarigen<br />
nicht deshalb in die Fresse zu hauen“.<br />
Niemand, der nachdenkt, sagt, dass es leicht<br />
wird. Und niemand, der nachdenkt, fordert,<br />
dass wir unsere Werte über Bord werfen, nur<br />
weil Menschen mit einer anderen Kultur mit<br />
letzter Kraft über die Reling klettern. Diese<br />
Wertediskussion wird uns nicht erspart<br />
bleiben. Auf den Tisch damit! Dass zum<br />
Beispiel „die Würde des Menschen unantastbar<br />
ist“ – und jeden(!) Menschen meint; egal,<br />
welchen Geschlechts und welcher Hautfarbe.<br />
Zur Differenzierung gehört aber auch, dass es<br />
erlaubt sein muss, über die Problemzonen der<br />
Integration zu sprechen; die Stellung der Frau<br />
im Islam zu thematisieren und keinen Millimeter<br />
abzuweichen, selbst wenn einige aufstehen<br />
und dabei Islamfeindlichkeit unterstellen. In<br />
Köln sind 200 Frauen sexuell belästigt worden.<br />
Das ist sehr schlimm, gewiss. Aber wenn wir<br />
angesichts dieses Vorfalls die weitaus größere<br />
humanitäre Katastrophe in den Herkunftsländern<br />
der Flüchtlinge aus den Augen verlieren,<br />
ist das noch schlimmer. Differenzierung heißt<br />
May your<br />
choices reflect<br />
your hopes,<br />
not your fears.<br />
Nelson Mandela<br />
12 <strong>gangart</strong>