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gangart_7_Träumen

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SCHWERPUNKT TRÄUMEN<br />

WAS VON DEN<br />

TRÄUMEN BLEIBT<br />

Die einen träumen vom besseren Leben. Die anderen von einer Einbauküche.<br />

Die einen haben Sex mit ihrem Hollywood-Star. Die anderen<br />

reden mit ihrer toten Oma. Träume sind eine Spielwiese unseres Geistes.<br />

Bei Tag und bei Nacht. Wir sollten sie nicht verbauen.<br />

Ein Beitrag von Wolfgang Tonninger<br />

„Wenn es Wirklichkeitssinn<br />

gibt, muss<br />

es auch Möglichkeitssinn<br />

geben.“<br />

Robert Musil:<br />

Der Mann ohne<br />

Eigenschaften<br />

Martin Luther King hatte einen Traum. An der Spitze der Bürgerrechtsbewegung<br />

und in einer Zeit, in der die Rassentrennung<br />

zum politischen Alltag gehörte, malte er in sich das Bild<br />

eines anderen Zustands, das er wortgewaltig in den Köpfen<br />

von hunderttausenden Menschen verankerte. Der Traum, von<br />

dem er sprach, war nur ein anderes Wort für sein erweitertes<br />

Vorstellungsvermögen, mit dem er eine Gegenwirklichkeit<br />

schuf und heraufbeschwor. Fünf Jahre nach seiner denkwürdigen<br />

Rede in Washington, die in die Geschichte eingehen sollte,<br />

wurde er am 4. April 1968 bei einem Attentat ermordet. Sein<br />

Traum von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen – „dass<br />

eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer<br />

Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am<br />

Tisch der Brüderlichkeit sitzen können und meine vier kleinen<br />

Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie<br />

nicht nach ihrer Hautfarbe“ – ihrer Kultur, Kleidung oder Religion!<br />

–, „sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird“ – blieb<br />

lebendig bis zum heutigen Tag.<br />

„Die großen Träume“, schreibt der Autor und Regisseur Alexander<br />

Kluge, „dienen zur Horizont-Erzeugung. Das ist nicht das<br />

Gleiche wie die Träume, die man nachts hat. Früher sagte man<br />

zu den großen Träumen auch Utopie. Das ist ein falsches Wort.<br />

Utopie bedeutet: kein Ort. Ein Traum hat aber immer einen Ort.<br />

Der Träumende ist nicht irgendwo im luftleeren Raum, sondern<br />

in einer konkreten Situation. Darauf antworten die Träume.<br />

Träume sind nicht nur ein Ausdruck von Wünschen, sie sind auch<br />

der Ausdruck von Not. Wären wir im Paradies, müssten wir nicht<br />

träumen. Träume sind keine Utopien, es sind Heterotopien, also<br />

andere Orte, eine andere Wirklichkeit, die gleich neben der ersten<br />

Wirklichkeit liegt.“<br />

Gleich daneben und doch ganz anders<br />

Ich sitze am Gipfel des Fritzerkogels und träume vor mich hin.<br />

Es ist Nacht. Aber ich halte die Augen offen. Der Himmel über<br />

mir und die Stille um mich herum lassen mich demütig werden.<br />

Langsam setzt sich die Unruhe in mir – nimmt Platz. Und<br />

nach einer Weile frage ich mich, wie der kleine<br />

Prinz in der gleichnamigen Erzählung von Antoine<br />

de Saint-Exupéry, ob die Sterne vielleicht<br />

deswegen so leuchten, damit jeder den seinen<br />

wiederfinden kann. Wenn ich sage, „ich träume<br />

vor mich hin“, dann meine ich diese Art schwereloser<br />

Bildproduktion, die von woanders aus<br />

mir kommt als im geschäftigen Wachzustand,<br />

wo jeder Gedanke auf seine Nützlichkeit hin<br />

überprüft wird.<br />

Träume stellen eine eigene Wirklichkeit her.<br />

Egal, ob sie im Schlaf produziert werden oder<br />

im Wachen. Die einen werfen ein Licht in die<br />

Regionen des Unbewussten, die anderen<br />

in die Regionen des noch nicht Dagewesenen,<br />

Unbezogenen. Wobei diese strikte<br />

Trennung nur auf den ersten Blick einfach<br />

scheint. Denn bei näherem Hinsehen zeigt<br />

sich, dass vom Unbewussten her gedacht<br />

das Bewusste einen blinden Fleck markiert<br />

und unsere Träume – solange wir träumen<br />

– für uns ebenso wirklich sind, wie nur irgendein<br />

Erlebnis unseres wachen Lebens<br />

sein kann. Das ist keine postmoderne<br />

Spitzfindigkeit, sondern eine Einsicht,<br />

die schon vor mehr als 2000 Jahren den<br />

taoistischen Philosophen Dschuang<br />

Dsi stutzig machte, als ihm im Traum<br />

Flügel wuchsen: „Ich habe letzte Nacht<br />

geträumt, ich sei ein Schmetterling,<br />

und jetzt weiß ich nicht mehr, ob ich<br />

ein Mensch bin, der träumt, er sei<br />

ein Schmetterling, oder ob ich<br />

vielleicht ein Schmetterling<br />

bin, der träumt, ein Mensch<br />

zu sein.“<br />

12 <strong>gangart</strong>

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