Carnevalis
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Markus Blättler<br />
<strong>Carnevalis</strong><br />
Die letzte Wiederkehr<br />
Die Fortsetzung von «Vado Mori»<br />
Friedrich Reinhardt Verlag
Alle Rechte vorbehalten<br />
© 2017 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel<br />
Lektorat: Beatrice Rubin<br />
Cover: Céline Neubig<br />
ISBN 978-3-7245-2236-2<br />
Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für<br />
Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020<br />
unterstützt.<br />
www.reinhardt.ch
Für Georgi, Leo, Theres und Kobi
Welche Freiheit würden wir besingen,<br />
wenn das Spektrum der Möglichkeiten allein durch<br />
die Launen des Schicksals bestimmt wäre?
Prolog<br />
«Der kalte Schweiss. Das ist der Schweiss des Todes.»<br />
Georges Bizet – 3. Juni 1875<br />
Die Erschütterung war deutlich zu spüren. Er liess die Zigarettenschachtel<br />
wieder unter seinem orangen Arbeitsoverall<br />
verschwinden und sprang von seinem Fahrzeug. Vielleicht<br />
war seine Baggerschaufel gegen einen harten Widerstand gestossen?<br />
Er inspizierte kurz den unappetitlichen Brei, der vor<br />
den Zähnen der eisernen Schaufel lag, konnte aber nichts<br />
Aussergewöhnliches feststellen: tonnenweise Papier und<br />
Schachteln, Alu-Dosen, PET-Flaschen und eine aufgeweichte<br />
Larve. Ein Kollege rief ihm zu, er solle sich beeilen. Mauro<br />
kletterte in sein Fahrzeug zurück. Vielleicht hatte die Erschütterung<br />
eine andere Ursache?<br />
Er gliederte sich wieder in die Reinigungsarmada ein, die<br />
kurz nach vier Uhr morgens die Mittlere Brücke besetzte. Die<br />
Fahrzeuge arbeiteten sich Meter für Meter durch die Hinterlassenschaft<br />
der letzten Fasnachtsstunden. Bald würden hier<br />
wieder die grünen Tram züge der Basler Verkehrsbetriebe über<br />
die Brücke rollen. Ein paar einzelne Fasnächtler beobachteten<br />
die Endreinigung mit melancholischen Blicken.<br />
Keiner von ihnen hatte bemerkt, dass sich unter ihnen ein<br />
gewaltiger Schiffsbug aus dem kalten Wasser erhob. Es war<br />
keiner dieser Kiesschlepper, die tagsüber den Rhein als Transportweg<br />
nutzten. Es war auch kein Logier- oder Passagierschiff,<br />
das sich von den Leinen gerissen hatte. Das Wasser<br />
perlte von den rot gefärbten Riemen ab. Die Galeere schien<br />
einer längst vergangenen Epoche entsprungen zu sein. Sie<br />
besass zwei Segelmasten, goldene Aufbauten und einen aus<br />
Holz geschnitzten Neptun über dem Rammsporn. Weisser<br />
7
Schaum schien das Schiff zu tragen. Es steuerte direkt auf die<br />
Brücke zu und drohte, mit einem Pfeiler zu kollidieren. Auf<br />
den drei Schiffsdecks hatte sich eine düstere Besatzung versammelt.<br />
Die Männer und Frauen, die Gesichter grimmig<br />
geschwärzt, wirkten gefasst. In ihren Händen blitzten Hiebwaffen.<br />
8
V<br />
«Sterben? Ich würde ablehnen, mein Freund.<br />
Kein Barrymore würde es zulassen, dass ihm eine solch<br />
profane Sache passiert.»<br />
John Barrymore – 29. Mai 1942<br />
Die Strassenbahn rumpelte über die Mittlere Brücke, entwickelte<br />
Tempo und bremste auf der Kleinbasler Seite wieder<br />
ab. Am Claraplatz wurden die Fahrgäste nochmals kräftig<br />
durchgemischt und die Gesten der Leute lebhafter.<br />
Der alte Mann mit dem Hut blieb sitzen. Die Frau neben<br />
ihm ebenfalls. Keiner von beiden schien die Anwesenheit<br />
ihres Mitfahrers mit dem Stoppelhaar zu bemerken. Die Frau<br />
hatte sich lediglich einmal am Oberschenkel gekratzt und<br />
dem Alten einen missbilligenden Blick zugeworfen, als trüge<br />
der ein paar sprunghafte Flöhe auf sich. Offenbar war die Frau<br />
empfänglicher für den ungebetenen Gast an ihrer Seite. Kerstin<br />
und Thea hielten sich hinten bei der Wagentür auf, wo<br />
Kerstin ganz nach eigenem Rechtsempfinden die Weiterfahrt<br />
für heraneilende Zusteiger mal blockierte und öfters auch<br />
nicht. Dann starrte sie unberührt auf die wütenden Gesichter<br />
zurück. Beim Musical Theater stieg die Frau mit den Einkaufstaschen<br />
aus. Thea achtete gespannt auf den Mann mit dem<br />
Stoppelhaar. Da sie nicht wusste, zu wem er gehörte, war es<br />
jetzt entscheidend, ob er der Frau folgen oder sitzen bleiben<br />
würde. Der Begleiter rutschte nur etwas zur Seite. Der Bezug<br />
war nun klar. Er war wegen des alten Mannes hier.<br />
Kerstin stupste sie forschend an.<br />
Thea nickte. «Ja, er ist noch da.»<br />
Was würde in den nächsten Sekunden oder Minuten passieren?<br />
Der Alte war keineswegs vom Tod gezeichnet. Er hatte<br />
50
lebhaft gerötete Wangen und einen Stock zwischen seinen<br />
grossen, sehnigen Händen. Trotzdem würde sich bald etwas<br />
Dramatisches ereignen. Er könnte vielleicht einen Schwächeanfall<br />
erleiden oder beim Aussteigen über eine Stufe stolpern<br />
und sich womöglich das Genick brechen. Thea kaute nervös<br />
auf der Unterlippe herum. Erst zweimal war es ihr bisher<br />
gelungen, das Unvermeidliche abzuwenden, dem Schicksal<br />
einen anderen Lauf zu geben. Einmal hatte sie intuitiv eine<br />
Begleiterin aufgefordert, den Raum zu verlassen. Da war sie zu<br />
Besuch bei ihrer Therapeutin, Frau Flammer. Als die Begleiterin<br />
verschwunden war, fühlte sich Frau Flammer befreiter und<br />
konnte bald wieder ihre Arbeit aufnehmen. Beim zweiten Mal<br />
entdeckte sie eine Begleiterin rein zufällig bei einer Kinderschaukel<br />
auf einem Spielplatz. Thea wurde erst misstrauisch,<br />
als sich das Kind zu seiner Mutter drehte, welche telefonierend<br />
auf einer Bank sass. Es jammerte und verlangte, dass die<br />
Mutter es endlich aus dem engen Plastiksitz befreien möge.<br />
Die unheimliche Frau neben dem Kind lächelte und schien<br />
einfach nur zu warten. Doch worauf? Thea sprang entschlossen<br />
über eine Hecke und rannte auf das Kind zu. Dieses<br />
zwängte sich bereits aus der aufgehängten Sitzschale und hielt<br />
sich mit seinen kleinen Wollfäustlingen an den Seilen fest. Es<br />
versuchte sich umzudrehen, um der Mutter stolz zu zeigen,<br />
was es gerade ganz allein vollbracht hatte. Da geriet das Kind<br />
ins Trudeln. Es liess los. Es war zu überrascht, um zu schreien.<br />
Doch bevor es stürzen konnte, hatte Thea es bereits aufgefangen.<br />
Sie stellte das Kind auf den Boden. Es begann natürlich<br />
zu weinen, und jetzt wurde auch die Mutter aufmerksam. Was<br />
sie da bei ihrem Kind zu suchen habe, fragte sie aufgebracht.<br />
«Dieses Kind wäre beinahe aus der Schaukel gefallen», gab<br />
Thea zurück.<br />
«Nein, wäre es nicht«, widersprach die Mutter und nahm<br />
die Tochter schützend in die Arme. «Ist ja gut», tröstete sie es.<br />
«Hat sie dich einfach aus der Schaukel genommen.»<br />
51
Thea drehte sich um. Die Begleiterin hatte sich wie Rauch<br />
verflüchtigt. Sie war nicht mehr zu sehen. Thea lief rückwärts<br />
von der Schaukel weg, um sicher zu gehen, dass die Begleiterin<br />
nicht plötzlich erneut auftauchen würde. Die Mutter<br />
drückte das Köpfchen ihres Kindes an die Brust und warf<br />
Thea einen bösen Blick zu.<br />
Ein lautes Quietschen holte Thea in die Strassenbahn<br />
zurück. Der Vierzehner bog in eine enge Kurve. Thea kannte<br />
diesen Teil von Basel kaum. Alles, was hinter der Musicalhalle<br />
lag, war ihr immer schon etwas abgeschieden vorgekommen:<br />
Die Häuser wirkten ungepflegter. Die Abfallsäcke<br />
wurden hier schon Tage vor der Kehrichtabfuhr vor die Hauseingänge<br />
gestellt.<br />
Bald hatten sie die Endstation erreicht. Das Tram war nun<br />
fast leer. Vorne sass der Alte mit seinem stummen Begleiter.<br />
Dahinter eine Frau mit einem unruhigen Hund und auf<br />
einem Einzelsitz ein dunkelhaariger Kerl in einer militärgrünen<br />
Trekkingjacke. Sein Kopf war bis zur Hälfte mit einem<br />
aufgerichteten Kragen verdeckt. Seine Hände steckten je in<br />
einer Jackentasche. Sein rechtes Knie wippte nervös auf und<br />
ab. Thea fror selbst ein wenig und versuchte, durch Muskelspannungen<br />
Wärme zu produzieren. Noch einmal öffneten<br />
sich die Türen. Eine Gruppe Jugendlicher stürmte ausgelassen<br />
in den Wagen. Neben dem Alten setzte sich keiner hin.<br />
Thea glaubte, den Grund zu kennen. Die Jugendlichen balgten<br />
sich ein bisschen, lachten und stiegen bei der Dreirosenbrücke<br />
bereits wieder aus. Der Alte hatte sich nun auch erhoben.<br />
Thea ging an Kerstin vorbei. Sie war darauf vorbereitet,<br />
dem Alten unter die Arme zu greifen, falls dessen Beine<br />
plötzlich nachgeben sollten. Der Alte schob einen Fuss vor<br />
und nahm den ersten Tritt sicher. Auch den zweiten.<br />
Thea tat nun so, als ob sie die Anschlussverbindungen<br />
studieren würde. Kerstin gab sich da weniger diskret. Unverblümt<br />
beobachtete sie, wie der Alte über die Kreuzung<br />
52
schlurfte. Sein Gang wirkte gebrechlich und gezeichnet von<br />
Gliederschmerzen. Thea fürchtete, dass er wohl schon bei<br />
der nächsten Unachtsamkeit hinfallen könnte. Sein Begleiter<br />
schlenderte langsam hinter ihm her, und auch der Mann mit<br />
der Trekkingjacke schien den gleichen Heimweg zu haben.<br />
Thea kramte ihr Handy hervor, die Notrufnummer abrufbereit.<br />
Zaghaft nahmen sie die Verfolgung auf, hielten stets<br />
einen angemessenen Abstand zum Alten. Dieser bog in die<br />
nächste Seitenstrasse ein, vorbei an der Rückseite einer weiss<br />
getünchten Kirche und dem angrenzenden Hof. Er erwiderte<br />
den Gruss eines Passanten und blieb kurz stehen. Es schien,<br />
als nutze er den Unterbruch, um frische Kräfte zu sammeln.<br />
Da drehte er sich überraschend um.<br />
Thea fühlte sich ertappt. Verlegen schmiegte sie sich an<br />
Kerstins Ledermantel. Auch Kerstin wankte. Thea hatte sie<br />
auf dem falschen Fuss erwischt, und zwang sie zu einem Ausfallschritt.<br />
Der Alte hatte die beiden Jugendlichen sicherlich<br />
bemerkt. Er festigte den Griff um seinen Stock und ging<br />
bedächtig weiter. Kerstin spürte, wie Thea aufatmete. Doch<br />
da war noch etwas anderes. Kerstin geriet ins Grübeln. Die<br />
Situation war aus einem weiteren Grund sonderbar gewesen.<br />
Sie hatte aus dem Augenwinkel noch etwas anderes registriert.<br />
Sie liess die letzten fünf Sekunden noch einmal Revue<br />
passieren: Der Alte hatte sich also umgedreht, Thea war<br />
abrupt stehen geblieben und sie selbst wäre fast gegen eine<br />
Mauer gekippt. Soweit war alles schlüssig. Aber da war noch<br />
eine andere Bewegung. Fast synchron sozusagen, wie eine<br />
Verdoppelung. Sie reflektierte die Situation nochmals: Sie<br />
sah den Alten mit dem verdriesslichen Blick. Das war die erste<br />
Bewegung. Thea war die zweite. Und die dritte? Kerstin<br />
blinzelte und fasste nun den Mann hinter dem Alten genauer<br />
ins Auge. Der Kragen seiner Trekkingjacke war so weit hoch<br />
geschlagen, dass sie nur die obere Hälfte seines Hinterkopfes<br />
sah. Dieser Mann hatte ebenfalls reagiert. Ist das möglich?<br />
53
Genau wie Thea war er zusammengezuckt und kurz stehen<br />
geblieben. Das erstaunte sie. So eine Reaktion war schliesslich<br />
nicht normal, nicht für einen Menschen, der nach einem langen<br />
Tag nur einfach nach Hause gehen wollte.<br />
Sie zupfte Thea am Ärmel. «Der Mann mit der grünen<br />
Jacke!»<br />
«Was ist mit ihm?»<br />
«Er hat was vor.»<br />
Thea verlangsamte den Schritt. «Wie meinst du das?»<br />
«Ich glaube, wir sind nicht die Einzigen, die den Alten verfolgen.»<br />
Thea konzentrierte sich nun auf den Mann in der Trekkingjacke.<br />
Er war dünn gebaut und seine Hände steckten<br />
immer noch tief in den Taschen. Wenn der nicht fror, dann<br />
hatte er etwas zu verbergen. Der Begleiter mit dem Stoppelhaar<br />
war ebenfalls noch da, und Thea begann langsam einen<br />
Zusammenhang zu erkennen. Sie wurde unruhig, und ihre<br />
Beine schienen auf einmal schneller zu laufen als ihr Verstand.<br />
Der Alte scherte nach rechts aus. Dort stand eine alte,<br />
graue Liegenschaft mit hässlichen Rollläden. Der Eingang<br />
befand sich wenig einladend in einer Unterführung zu einem<br />
Garagenhof.<br />
Der Mann mit der Trekkingjacke beschleunigte den Schritt<br />
und begann sich hektisch nach allen Richtungen abzusichern.<br />
Seine rechte Hand zog etwas Glänzendes aus der<br />
Tasche. Thea schluckte. Sie hatte begriffen. Sie rannte einfach<br />
los. Sie achtete nicht weiter auf Kerstin, hörte nur noch das<br />
Aufschlagen ihrer Stiefel hinter sich.<br />
«Komm, fang mich doch!», schrie sie über ihre Schulter<br />
zurück. Etwas Schlaueres wollte ihr spontan nicht einfallen.<br />
Sie bog in die Unterführung und sah gerade noch, wie der<br />
Mann mit der Trekkingjacke herumfuhr und einen Hammer<br />
sinken liess. Er hatte zu lange gezögert. Er hatte den richtigen<br />
Moment abwarten und seinem Opfer einen gezielten Schlag<br />
54
verpassen wollen. Doch sein Plan war gerade durchkreuzt<br />
worden.<br />
Thea machte einen Bogen um ihn. Gleichzeitig stampfte<br />
Kerstin um die Ecke. Der Mann mit dem Hammer wich an<br />
die Wand zurück. Er begriff, dass sein Überfall gescheitert<br />
war. Schliesslich sprang er an ihnen vorbei, suchte das Weite.<br />
«Ja, verzieh dich, du Idiot», rief ihm Kerstin hinterher und<br />
stiess noch ihr Bein nach ihm.<br />
Der Alte, der nur Einzelheiten der Gefahr erfasst hatte,<br />
hob wütend seinen Stock. «Macht, dass ihr fortkommt, Saubande.»<br />
«Nein, nein», sagte Thea. «Wir wollten nur helfen.»<br />
«Helfen?», keifte der Alte. «Ich hab euch Pack schon bei der<br />
Haltestelle bemerkt. Wollt ihr Geld, hä? Ich hab kein Geld.<br />
Schämt euch, einen alten Mann zu überfallen.»<br />
«Nein!», protestierte Thea. «Sie verstehen das nicht.»<br />
Kerstin riss sie zurück. «Vergiss es. Hauen wir ab!»<br />
Der Alte ereiferte sich. Seine Stimme wurde schriller und<br />
überschlug sich. «Da seid ihr an den Falschen geraten. Ich<br />
hab keine Angst vor euch. Einsperren sollte man euch! Einsperren<br />
bei Wasser und Brot!»<br />
«Das reicht jetzt, Opa!»<br />
Er fing plötzlich an, auf sämtliche Rufknöpfe der Sonnerie<br />
zu schlagen. «Hilfe!», schrie er. «Überfall! Polizei!»<br />
«Los! Weg hier!», zischte Kerstin.<br />
Thea blickte sich noch einmal um. Der Mann mit dem<br />
roten Stoppelhaar war nicht mehr zu sehen. Einfach verschwunden,<br />
genau wie der Typ mit dem Hammer. Mission<br />
erfüllt. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen, ehe<br />
sie von Kerstin auf die Strasse gezerrt wurde. «Hast du was an<br />
den Ohren? Ich sagte weg von hier!»<br />
Endlich begann Thea bewusst zu werden, dass ihre Lage<br />
mit jeder Sekunde ungemütlicher wurde. Sie fing an zu laufen,<br />
immer schneller.<br />
55
Schon nach wenigen Metern hatte sie Kerstin eingeholt. Sie<br />
stürmten an der Kirche vorbei, überquerten die Strasse und hetzten<br />
durch einen kleinen Park. Eine Mauer mit riesigen Glasscheiben<br />
machte den Pausenhof eines Schulhauses zu einem Beobachtungsgehege.<br />
Sie rannten eine Metalltreppe hoch und gelangten<br />
auf die Dreirosenbrücke. Kerstin streckte ihre Zunge aus dem<br />
Rachen, als wollte sie die kalte Brise aufsaugen. Schon erstaunlich,<br />
dachte Thea, wie lang eine Menschenzunge sein konnte.<br />
«Das war geil!», rief Kerstin und klatschte so kräftig in die<br />
Hände, dass die Tauben von den Dächern aufschreckten und<br />
eine Flugrunde absolvierten. Sie stolperte an das Brückengeländer.<br />
Sie hatte sich völlig verausgabt. Sport zählte nicht zu<br />
ihren Stärken. Und die schweren Stiefel an ihren Füssen<br />
machten die Sache auch nicht leichter.<br />
Thea berührte ihren Rücken. Sanft. Kerstin liess sie gewähren.<br />
Als sie wieder zu Atem gekommen war, schlenderten sie<br />
über die Brücke. Dabei liefen sie an langen Betonelementen<br />
vorbei, die zur optischen Abgrenzung der Strasse und gleichzeitig<br />
als Sitzgelegenheit dienten. Thea prüfte die Oberflächen<br />
nach Urin- und Bierflecken. Sie setzte sich, hinter ihr<br />
der Abendverkehr, unter ihr der Rhein und vor ihr die Stadt<br />
mit dem beleuchteten Basler Münster.<br />
Kerstin kramte einen Blutorangensaft hervor. Der erste<br />
Schluck gehörte ihr, der zweite ebenfalls, doch den dritten<br />
überliess sie grosszügig ihrer Freundin. Thea nickte und<br />
streifte sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Der Saft war<br />
köstlich. Sie kaute noch auf den Fruchtfasern herum, als<br />
Kerstin zu reden begann: «Der Typ mit dem Hammer; er hätte<br />
den Alten wohl fertiggemacht.»<br />
«Gut möglich.»<br />
«Das heisst, wir haben dem Opa möglicherweise gerade<br />
das Leben gerettet?»<br />
Thea überlegte kurz. «Oder einfach noch etwas Zeit verschafft.»<br />
56
«Stimmt», sagte Kerstin und liess ihren Kopf in den Nacken<br />
fallen. «Wer weiss, ob der Alte wegen der ganzen Aufregung<br />
nicht sowieso ins Gras gebissen hat.»<br />
Thea reichte ihr die Flasche zurück. Sie fand die Bemerkung<br />
respektlos, wenn auch nicht falsch. Sie hätte sich nur<br />
eben gewünscht, dass ihr Eingreifen eine aufschiebendere<br />
Wirkung für den Tod gehabt hätte. Sie hätte dem alten Mann<br />
gerne noch ein paar Weihnachtsfeste im Kreise seiner Familie<br />
gegönnt, eine Reise in den Süden oder vielleicht den Schwung<br />
eines späten Liebesglücks. Diesen Gedanken wollte Thea in<br />
sich tragen, keinen anderen. Abgesehen davon würde ihr dieser<br />
Gedanke auch helfen, die letzten, hasserfüllten Beschimpfungen<br />
besser wegzustecken. Und wenn der alte Mann, kaum<br />
waren sie weg, tatsächlich kollabiert wäre? Was dann? Hätte<br />
sich ihr Rettungsversuch überhaupt gelohnt? Thea entfernte<br />
sich in Gedanken immer weiter von der Brücke. Was versprach<br />
sie sich eigentlich davon? Wollte sie zur Heldin werden?<br />
Zum Mädchen, das dem Tod ständig ein Schnippchen<br />
schlug? Für diese Art von Strassenritterlichkeit würde sie sich<br />
höchstens Ärger mit der Polizei einhandeln. Und trotzdem!<br />
Sie wehrte sich tapfer gegen alle destruktiven Einwände. Es<br />
ging ihr nicht im Geringsten um Ruhm oder Anerkennung.<br />
Sie hatte eine Gabe, und diese Gabe musste sie zum Guten<br />
verwenden. Hätte sie den Alten also nicht retten können,<br />
dann doch wenigstens den Täter, bevor dieser zum Mörder<br />
geworden wäre, ein Mörder, der er vielleicht niemals hätte<br />
sein wollen.<br />
Sie seufzte und starrte zum Mond hoch, der wie eine Sichel<br />
an einem kunstvoll bemalten Theaterhimmel hing.<br />
«Hast du gewusst», fragte Kerstin, «dass der Mond und die<br />
Erde eigentlich aus demselben Gestein sind?»<br />
«Nein», antwortete Thea etwas überrumpelt.<br />
«Die Erde war einst ein grosser Magnet, der die Sterne und<br />
Meteoriten angezogen hat wie das Licht die Motten. Aber<br />
57
tausende von Einschlägen und Explosionen bildeten Gase<br />
und formten unseren Planeten. Eines Tages aber prallte ein<br />
gigantischer Körper auf die Erde und zerschlug sie in zwei<br />
Teile. Während sich der grössere Brocken im Laufe der Millionen<br />
Jahre zum wunderschönen Wasserplaneten entwickelt<br />
hatte, ist aus dem kleineren Teil sein grauer und treuer Trabant<br />
geworden.» Sie räusperte sich und schlug den Mantelkragen<br />
hoch. Eingerahmt zwischen Kragen und schwarzem<br />
Haar wirkte ihr Gesicht gespenstisch weiss. «Ich liebe den<br />
Mond über alles», fuhr sie fort. «Er ist mein Beschützer und<br />
mein Vertrauter. Ihm gehören meine persönlichsten Gedanken.<br />
Aber seit ich dich kenne, Thea, fühle ich mich neben dir<br />
wie ein grauer Trabant.»<br />
Thea zog eine Augenbraue hoch. Hätte das gerade ein<br />
Kompliment sein sollen? Oder wollte ihre Freundin auf etwas<br />
anderes hinaus, etwas, das ihr gar nicht behagte? «Was redest<br />
du da?»<br />
«Ich will mein altes Leben zurück.»<br />
«Dein altes Leben?»<br />
«Das Leben, bevor der Mond abgesprengt wurde.»<br />
Thea erhob sich. «Ich soll also die Erde sein und du der Mond?»<br />
«So ist es.»<br />
«Hast du ein Problem mit der Erde?»<br />
«Nein, es ist nur an der Zeit, dass der Mond die Erdumlaufbahn<br />
verlässt.»<br />
«Das geht aber nicht«, hielt Thea trotzig entgegen. «Erde<br />
und Mond gehören zusammen. Sie sind ein Team, ja sogar<br />
Geschwister, wie du selbst erwähnt hast.»<br />
Kerstin schlug die Kappen ihrer Stiefel zusammen.<br />
Thea doppelte nach. «Wenn du also der Mond sein willst,<br />
dann pass jetzt gut auf. Die Erde braucht dich. Wir dürfen<br />
uns nicht trennen. Du leuchtest mir in der Nacht und», sie<br />
bemühte sich um eine weitere hilfreiche Metapher, «du<br />
bringst Ebbe und Flut über mich.»<br />
58
«Ja, Ebbe», kam es hinter Kerstins Kragen hervor. «Du hast<br />
ja gesehen, was in der Schule abgeht.»<br />
«Nein, Flut!», widersprach Thea und unternahm den<br />
nächsten Versuch, ihre Freundin umzustimmen. «Du bist ein<br />
Freak. Das ist offensichtlich. Und ich kenne niemanden, der<br />
so einen schäbigen Mantel trägt wie du. Aber das ist mir egal.<br />
Wir haben alle eine Schraube locker: du mit deiner Vampirromantik,<br />
ich mit meinen Geistern und mein Vater mit der<br />
Breitenstein.»<br />
Kerstins Mundwinkel zuckten zwar, aber ein Lächeln war<br />
es noch nicht. Thea kam einen Schritt näher. «Du warst da,<br />
als es mir schlecht ging. Du hast mir das Lachen zurückgebracht.<br />
Du hast mich auf eine Reise genommen, die ich nicht<br />
für möglich gehalten hätte. Du bist weit mehr als ein Trabant,<br />
Kerstin. Du bist mein Raumschiff.»<br />
Kerstins dunkle Augen blickten sie verständnislos an. «Ein<br />
Raumschiff?»<br />
Thea nickte. Eigentlich fand sie den Vergleich ganz schön.<br />
Kerstin stemmte sich hoch. «Ich fühle mich geschmeichelt.<br />
Aber das Raumschiff muss jetzt besser an die Wärme.»<br />
59