Balance - Steffen Prey
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Der Wetterbericht der „New York Times<br />
on the Web“ hatte es prophezeit: „NYC –<br />
clear skies“, war in knappen Lettern der<br />
Wetter-Box über den Headlines vermerkt.<br />
Das Taxi vom Airport kurvt durch den<br />
Nachmittagsverkehr der Vororte und durch<br />
die Ausfallstraßen Brooklyns. Die Wolkenkratzer<br />
Manhattans vor dem rötlichen Himmel<br />
nähern sich. Dann verschwindet die<br />
Skyline plötzlich. Als das Taxi aus dem<br />
East-River-Tunnel auftaucht, sind wir Teil<br />
der surrenden, hektischen Metropole. Der<br />
Taxifahrer stoppt an der 32. Straße, Ecke<br />
Broadway, wuchtet die Koffer ins Hotelfoyer<br />
und reicht wortlos einen kopierten Schnipsel<br />
als Quittung. Die Damen an der Hotelrezeption<br />
plaudern ungerührt über die<br />
neuesten Männer und die besten Maniküre-<br />
Studios in Manhattan: Business as usual.<br />
Bislang kannte <strong>Steffen</strong> <strong>Prey</strong>, der seit<br />
seiner Geburt schwerstbehindert ist, New<br />
York nur aus den Medien. Aber die Webcam<br />
am Computerbildschirm spiegelt nicht<br />
in praller Lebendigkeit wider, wie laut, wie<br />
schnell, wie bunt es am Central Park West<br />
oder dem Times Square zugeht. So hatte<br />
sich der 21-Jährige aus Schleswig-Holstein<br />
seine Premiere am Broadway nicht vorgestellt.<br />
Nach dem Einchecken und Frischmachen<br />
stürzen wir uns ins Weltstadtgewühl.<br />
Kaum zwei Stunden ist es her, dass wir die<br />
Mut gehört dazu: Der Weg durch Midtown-<br />
Manhattan mit dem Rollstuhl führt durch<br />
dichten Verkehr, vorbei an Schlaglöchern,<br />
hupenden Autos und gehetzten Menschen.<br />
behagliche Kabine des Lufthansa Jumbos<br />
gegen die wilde Betonwüste des „Big<br />
Apple“ eingetauscht haben. Solche Reisen<br />
wie unser Trip „Fliegender Rollstuhl“<br />
erfordern von Airlines eine ausgeklügelte<br />
Logistik: Nachdem ein „Rolli-Fahrer“ wie<br />
<strong>Steffen</strong> seine Reise per Telefon gebucht<br />
hat, muss sichergestellt werden, dass ihm<br />
jemand pünktlich beim Ein-, Um- und Aussteigen<br />
assistiert – in Hamburg, Frankfurt<br />
und New York. In New York sind dann<br />
auch sofort zwei Helfer zur Stelle, die <strong>Steffen</strong><br />
heben und umsetzen. Um den Shuttle<br />
vom Airport J. F. K. zum Hotel muss er sich<br />
selbst kümmern.<br />
Unser Hotel ist nur einen Block vom<br />
Empire State Building entfernt. Die Dame<br />
am „Front Desk“ fischt in aller Seelenruhe<br />
aus einem chaotisch anmutenden Papierhaufen<br />
ein handbeschriebenes Kuvert mit<br />
den vier Tickets, die Manager May Xu für<br />
uns zurücklegen ließ. Nur wenige Minuten<br />
– ein paar Amerikaflaggen, eine Sicherheitskontrolle<br />
und zwei rumpelige Aufzugfahrten<br />
– später zeigt uns die launische<br />
Diva New York ein ganz anderes Gesicht.<br />
Von hier oben, in der Dämmerung, wirken<br />
die Wolkenkratzer auf der kleinen Insel<br />
Manhattan wie filigrane, zerbrechliche<br />
Kunstwerke, eingetaucht in rosa Abendlicht<br />
mit glutroten Wölkchen. Winzige Fähren<br />
ziehen auf dem dunkelblauen Hudson<br />
River ihre Bahnen. Die funkelnden Lichter<br />
in den so geordneten Straßenfluchten<br />
strahlen aus der Vogelperspektive etwas<br />
Beruhigendes aus. Die Welt liegt uns zu<br />
Füßen. Ein Rentner aus St. Louis, Missouri,<br />
zum ersten Mal in seinem Leben in New<br />
York City, teilt unsere Begeisterung in<br />
breitestem Amerikanisch: „Jeez!“<br />
80 Stockwerke tiefer, in Häuserschluchten<br />
und schnurgeraden Avenues, geht<br />
der Nahkampf im City-Dschungel weiter.<br />
Wir sind schon wieder eingetaucht in diese<br />
Szenerie. Ingrid <strong>Prey</strong> schiebt ihren Sohn<br />
<strong>Steffen</strong> in seinem Rollstuhl vorbei an<br />
dampfenden Gullys und riesigen Schlaglöchern,<br />
die provisorisch mit Eisenplatten<br />
bedeckt sind, weil für Straßenreparatur in<br />
der Stadtkasse das Geld fehlt. Hindurch<br />
zwischen schrottreifen „Yellow Cabs“,<br />
Bussen und blankpolierten Stretch-Limousinen,<br />
Luxusboutiquen, Kaffeebars und<br />
schwarzen Mülltüten am Straßenrand, die<br />
allmorgendlich eingesammelt werden. Eine<br />
Kakophonie unterschiedlichster Geräusche<br />
umbrandet uns, es riecht nach verbrannter<br />
Pizza und China-Imbiss.<br />
Die meisten Menschen im Rollstuhl<br />
würde diese Stadt bei aller Faszination<br />
abschrecken. <strong>Steffen</strong> <strong>Prey</strong> nicht. Er wollte<br />
schon immer hierher und sehen, wie auf<br />
diesem gedrängten Flecken Erde die Welten<br />
aufeinander prallen. <strong>Steffen</strong>, angehender<br />
Online-Journalist bei einem Privat-Radiosender,<br />
kann nur einen Arm und seinen<br />
Kopf koordiniert bewegen. Das Tempo<br />
Manhattans hat schon Besitz von ihm<br />
ergriffen. „Gib mal’n bisschen Gas!“ bittet<br />
er seine Mutter, die den Rollstuhl jetzt zum<br />
vergoldeten „Trump Tower“ in der Upper<br />
East Side, 57. Straße, steuert, wo „Chocolate<br />
Cake“ und Kaffee aus Plastikbechern<br />
warten.<br />
Später, zum Dinner, geht es in den<br />
feinen Country-Club 21 an der 52. Straße,<br />
der noch aus der Epoche der Prohibition<br />
stammt. Zeit zum Umziehen bleibt nicht.<br />
Der Behindertenbonus hilft durch die<br />
Lobby-Kontrolle des gediegenen Etablissements<br />
an der Upper East Side. Der Besuch<br />
mutet wie eine Zeitreise in die 1930er-<br />
Jahre an. Ein Kontrast zu dem hektischen<br />
Rushhour in Midtown-Manhattan:<br />
mit dem Rollstuhl mittendrin.<br />
<strong>Balance</strong> 2003 11