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Faust II

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Literaturgeschichte <strong>II</strong><br />

Goethes <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>: Interpretationen und<br />

Inszenierungen<br />

Lehrveranstaltung 332.302<br />

Prof. Eduard Beutner<br />

Hierbei handelt es sich um unterstützende Unterlagen zur Prüfungsvorbereitung.<br />

Sie können weder den Besuch der Lehrveranstaltung noch die Lektüre der<br />

in der Vorlesung empfohlenen Texte ersetzen.<br />

Germanistische Skripten


INHALT<br />

Einleitung ......................................................................................................................................................7<br />

Die Tradition des <strong>Faust</strong>stoffes ...................................................................................................................7<br />

Die historische Gestalt des <strong>Faust</strong> .............................................................................................................7<br />

Das <strong>Faust</strong>buch von 1587 ............................................................................................................................8<br />

Wichtige Aspekte der <strong>Faust</strong>tradition ......................................................................................................9<br />

<strong>Faust</strong> bei Thomas Mann .............................................................................................................................9<br />

Der <strong>Faust</strong>stoff bei Goethe ........................................................................................................................10<br />

Urfaust ..........................................................................................................................................................10<br />

<strong>Faust</strong> I ...........................................................................................................................................................10<br />

<strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ..........................................................................................................................................................11<br />

Entstehungsgeschichte ..............................................................................................................................11<br />

Grundzüge des Alterswerks <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ......................................................................................................12<br />

Zusammenhänge zwischen <strong>Faust</strong> I und <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ................................................................................12<br />

Welt- und kulturgeschichtlicher Horizont von Urfaust zu <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ...............................................13<br />

Goethes Geschichtsauffassung ................................................................................................................14<br />

Einige Symphronismen zwischen dem 16. Jahrhundert<br />

und 18. Jahrhundert .................................................................................................................................14<br />

<strong>Faust</strong> als Träger moderner Züge .............................................................................................................15<br />

Der erste Akt...........................................................................................................................................15<br />

Anmutige Gegend ..................................................................................................................................15<br />

Thronsaalszene ........................................................................................................................................16<br />

Mummenschanzszene .............................................................................................................................17<br />

Die Figur des Knaben (Lenker) ...............................................................................................................17<br />

Szene Kaiserliche Pfalz .............................................................................................................................18<br />

Der Zweite Akt ......................................................................................................................................20<br />

Erste Szene ..............................................................................................................................................20<br />

Homunkulus ...........................................................................................................................................21<br />

Die klassische Walpurgisnacht ..................................................................................................................21<br />

Rolle der Musik .......................................................................................................................................23<br />

Prinzip der Behaglichkeit – Neptunismus ................................................................................................23<br />

Szene Felsbuchten des Ägäischen Meeres .....................................................................................................24


Verhältnis <strong>Faust</strong> und Mephisto in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ..........................................................................................25<br />

Dritter Akt – Der Helenaakt ..................................................................................................................26<br />

Helena und Euphorion ............................................................................................................................26<br />

Zu Euphorion .........................................................................................................................................27<br />

Szene Innerer Burghof ..............................................................................................................................27<br />

Szene Arkadien ........................................................................................................................................28<br />

Der vierte Akt ......................................................................................................................................29<br />

Motiv der Landgewinnung ......................................................................................................................31<br />

Kritik an der Gesellschaft ........................................................................................................................31<br />

Der fünfte Akt .....................................................................................................................................32<br />

Philemon und Baucis ..............................................................................................................................32<br />

Die Sorge ................................................................................................................................................33<br />

Schluss des <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ..................................................................................................................................33<br />

Bergschluchten-Szene ................................................................................................................................34<br />

Gestaltung der Schlussszene ....................................................................................................................34<br />

Anmerkungen zur Inszenierungsgeschichte ..............................................................................................36<br />

Gastvortrag von Markus Kreuzwieser –<br />

<strong>Faust</strong> <strong>II</strong> in der Schule .........................................................................................................................37<br />

Zur Kommentierung verwendete Literatur ............................................................................39


Zur Vorbereitung auf die Prüfung empfehlen wir eine begleitende Lektüre von<br />

Jochen Schmidt: Goethes <strong>Faust</strong>. Erster und zweiter Teil: Grundlagen – Werk – Wirkung.<br />

2. Auflage. München: C. H. Beck, 2001.


Einleitung<br />

Goethes <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ist stark mit mythologischen Gestalten besetzt, was die Lektüre erschwert.<br />

So stellt Goethe in <strong>Faust</strong> I noch die bürgerlich-beschränkte Welt und das Persönliche<br />

anhand der Gelehrten- und Gretchentragödie dar. In <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> dagegen steht die<br />

große Welt und das gesellschaftliche Allgemeine im Mittelpunkt. Nicht um die individuelle<br />

Figur dreht sich der Text, sondern um die Auseinandersetzung mit der beginnenden<br />

Moderne.<br />

Die Tradition des <strong>Faust</strong>stoffes<br />

Der <strong>Faust</strong>stoff geht auf eine lange Tradition zurück und existiert wohl schon seit ca. 500<br />

Jahren. Er gehört zu den meist verbreiteten Stoffen in Europa und stellt unter den Dichtern<br />

in allen Epochen eine Art ›Bewährungsprobe‹ für das dichterische Können dar, nicht<br />

zuletzt deshalb, weil der Text Dichtern und Künstler oft als Identifikationsfigur dient.<br />

Entsprechend groß ist die Menge an Sekundärliteratur zum Thema <strong>Faust</strong>. Auch für die<br />

Literaturwissenschaft ist der Stoff deswegen gewissermaßen eine ›Bewährungsprobe‹.<br />

Lessing umschreibt die enorme Wirkungsgeschichte des <strong>Faust</strong>stoffes in einem seiner<br />

Literaturbriefe folgendermaßen: »Und wie verliebt war, und ist zum Teil noch, Deutschland<br />

in seinen Doktor <strong>Faust</strong>.« Im Gegensatz zu Goethes Rezeption stehen dabei ganz<br />

unten im Literaturspektrum die Aufführungen der Wanderbühnen, wo auch die Hanswurstfigur<br />

ihren Ursprung hat.<br />

Die Bearbeitungen des <strong>Faust</strong>stoffes sind oft Reflexe des jeweiligen Zeitgeistes, z.B. des<br />

Liberalismus, Nationalismus etc. <strong>Faust</strong> ist somit bis hin zu Thomas Mann auch ein Mittel, die<br />

eigenen Ideen und Meinungen einer Zeit zu legitimieren.<br />

Die Figur <strong>Faust</strong>s wurde in Deutschland durch die enorme Nachwirkung zum nationalen<br />

Symbol, zum ›Nationalklischee‹. Dies gilt allerdings eher für den Protagonisten aus<br />

<strong>Faust</strong> I als für jenen aus <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>, dem weniger Aspekte eines nationalistischen Gedankens<br />

zugeordnet wurden.<br />

Goethe arbeitete fast sein Leben lang am <strong>Faust</strong>stoff, bis er 1831 den zweiten Teil von<br />

<strong>Faust</strong> vollendete. In seinen Bearbeitungen des <strong>Faust</strong>stoffes geht es Goethe um Selbst- und<br />

Feindbilder, um eigene Projektionen von Ängsten und Wünschen in den Stoff. Der klassische<br />

Goethe hat die Figur <strong>Faust</strong> also anthropologisch vertieft. So vermutete man in der<br />

Forschung lange Zeit hinter <strong>Faust</strong> den Autor selbst bzw. stellte auch Bezüge zu anderen<br />

Werken Goethes her.<br />

Die historische Gestalt des <strong>Faust</strong><br />

Über die historische Gestalt des Georg <strong>Faust</strong>us gibt es nur wenige gesicherte Informationen.<br />

Er lebte von 1460/70 bis 1536/39. Schon bald nach seinem Tod entstanden<br />

Gerüchte um sein Leben und Sterben, die in die Dichtung eingingen. So hieß es zum<br />

Beispiel, <strong>Faust</strong>us sei vom Teufel erwürgt worden.<br />

Der Name ›<strong>Faust</strong>us‹ ist kein Nachname sondern vielmehr Beiname. Er bedeutet ›der<br />

Glückliche‹ und wurde häufig von Wissenschaftlern getragen. <strong>Faust</strong>us schloss ein Bakkalaureatsstudium<br />

ab und wurde schließlich auch Magister. Nach seinem Studium führte<br />

er ein unstetes Wanderleben und bot als Zauberer und Gelehrter dubiose Dienste im<br />

Bereich der Magie an. Schon zu Lebzeiten wurde er vom Abt Johannes Trithemius als<br />

›Scharlatan‹ bezeichnet. Immer wieder jagte man <strong>Faust</strong>us als verdächtiges Subjekt aus<br />

Städten und Dörfern. Basierend auf den historischen Quellen muss <strong>Faust</strong>us daher als<br />

Johann Wolfgang Goethe: (1749–<br />

1832) Als einer der bedeutendsten<br />

deutschen Dichter verfügte Goethe<br />

in der Lyrik über alle poetischen Stile<br />

und Haltungen. Diese Universalität<br />

übertrug er auch auf andere Bereiche,<br />

speziell in seinen naturwissenschaftlichen<br />

Forschungen oder aber in den<br />

politischen Ämtern am Weimarer Hof<br />

ab 1776. Neben seinen autobiografischen<br />

Schriften und Reiseberichten,<br />

z.B. der Italienischen Reise (1816/17),<br />

sind vor allem <strong>Faust</strong> (1808 und 1832)<br />

und Wilhelm Meisters Lehrjahre<br />

(1796) hervorzuheben. [MLA]<br />

Gotthold Ephraim Lessing: (1729-<br />

1781) Gleichwohl Lessing gerne als<br />

unpoetischer Dichter bezeichnet<br />

wird, haben seine Theaterstücke<br />

auch heute noch Bedeutung. Sein<br />

wichtigstes Stück Nathan der Weise<br />

(1779), ein Lehrstück über die religiöse<br />

Emanzipation, zeugt von der<br />

nationalpädagogischen Wirkung, die<br />

der Kritiker und Polemiker Lessing in<br />

der Theaterbühne sah. [MLA]<br />

Hanswurst: Komische Figur aus<br />

der deutschsprachigen Komödie. Als<br />

bäuerliche Figur unterhält der Hanswurst<br />

seit dem 16. Jh. mit derben<br />

Witzen das Publikum. Er wird danach<br />

im Sprachgebrauch zum Spott- und<br />

Schimpfwort. [MLL]<br />

Liberalismus: Bezeichnung für eine<br />

Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsauffassung,<br />

die die Freiheit<br />

des Individuums als grundlegende<br />

Norm menschlichen Zusammenlebens<br />

ansieht. Die geschichtlichen<br />

Entwicklungen sieht der Liberalismus<br />

als Fortschritt in Kultur, Recht, Wirtschaft<br />

und Sozialordnung. [ZWK]<br />

Nationalismus: Ideologie, die<br />

aufgrund eines bestimmten Nationalbewusstseins<br />

den Gedanken der<br />

Nation und des Nationalstaates militant<br />

nach innen und außen vertritt.<br />

Durch nationale Identifikation grenzt<br />

man sich stark von der anders empfundenen<br />

Umwelt ab. Geht oftmals<br />

einher mit Geringschätzung oder<br />

Verachtung anderer Völker oder Minderheiten.<br />

[ZWK]<br />

7


Thomas Mann: (1875–1955) Thomas<br />

Mann ist in der ersten Hälfte<br />

des 20. Jh. der größte Verteidiger der<br />

europäischen humanistischen Kultur.<br />

So stellt er dem Nationalsozialismus<br />

Lotte in Weimar (1939) und Doktor<br />

<strong>Faust</strong>us (1947) entgegen. Darin arbeitet<br />

er das nicht idealisierte, das<br />

wahre Deutschland heraus – geprägt<br />

von Ungleichzeitigkeit und Zwiespältigkeit,<br />

von einem Denken und Leben<br />

in Widersprüchen. [MLA]<br />

Johannes Trithemius: (1462–<br />

1516) Abt des Kloster Sponheim im<br />

heutigen Rheinland-Pfalz. Er hat über<br />

90 Werke zur Theologie, Heiligendarstellung,<br />

Klosterchronik, Astrologie<br />

und Magie verfasst. Gleichwohl er<br />

sich nur mit ›weißer‹ Magie befasste,<br />

wurde er wegen seinen magischen<br />

Interessen fast der Ketzerei angeklagt.<br />

Durch sein Redetalent und<br />

einigen Hetzschriften gegen Zauberer<br />

und Magier entkam Trithemius<br />

jedoch einer Anklage. [JOT]<br />

Martin Luther: (1483–1546) Obwohl<br />

der Thesenschlag in den Bereich<br />

der Legenden gehört, verteidigte der<br />

Mönch Luther 1521 vor Kaiser und<br />

Reichsständen seine eigenwillige<br />

deutsche Übersetzung der Bibel sowie<br />

seine reformatorischen Ansprüche.<br />

Luther errang Religionsfreiheit<br />

für die Christen und begründete<br />

damit jenen Prozess, der in der Spaltung<br />

der römisch-katholischen Kirche<br />

enden sollte. [MLA]<br />

Protestantismus: De facto eine<br />

Neuorientierung der christlichen Werte<br />

anhand der Evangelien. Als Reaktion<br />

auf die stark dogmatischen, sich von<br />

der Bibel entfernenden Vorstellungen<br />

der römisch-katholischen Kirche im<br />

16. Jh. entstanden, erkennt der Protestantismus<br />

nur Jesus Christus und nicht<br />

den Papst als Stellvertreter Gottes an.<br />

[ZWK]<br />

Schwank: Derb-komische, scherzhafte<br />

Erzählung. [MLL]<br />

Sturm und Drang: Literaturströmung<br />

von ca. 1767 bis 1785, auch<br />

Geniezeit genannt. Hauptsächlich<br />

von jungen Autoren getragen, benutzten<br />

die Vertreter sehr frei die traditionelle<br />

Regelpoetik, um eigenes<br />

Erleben und persönliche Erfahrungen<br />

in Verse zu gießen. Neben dem<br />

8<br />

Herumtreiber und Betrüger gesehen werden. So bezeichnete ihn auch Martin Luther 1537<br />

als Teufelsbündler.<br />

Das <strong>Faust</strong>buch von 1587<br />

In einer der wichtigsten ersten literarischen Rezeptionszeugnissen, dem <strong>Faust</strong>buch von<br />

1587, heißt <strong>Faust</strong>us bereits nicht mehr Georg, sondern Johann. Goethe macht daraus<br />

später Heinrich. Das <strong>Faust</strong>buch greift Legenden und Sagen aus lokalen Überlieferungen<br />

auf. Es gibt vier wesentliche Quellenbereiche, die für das <strong>Faust</strong>buch festzumachen sind:<br />

• die Weltanschauung des Protestantismus, aus den Schriften der Reformation und aus<br />

Luthers Traktaten entnommen – <strong>Faust</strong>us wird somit als religiöses Warnbeispiel gesehen.<br />

• Schriften über Teufel, Zauberei und Dämonen, die mit der Inquisition zusammenfallen<br />

– die Macht des Teufelspakts wird dadurch hervorgehoben. Im <strong>Faust</strong>buch ist<br />

der Teufel eine alles bestimmende Macht, welcher der Mensch nicht entrinnen kann.<br />

Diese Ansicht des ausgelieferten Menschen verändert sich mit der Aufklärung.<br />

• Erzählsammlungen, Schwänke – der humoristische Wert des <strong>Faust</strong>buchs wird erhöht.<br />

• naturkundliche, geographische, kosmologische Schriften – die von <strong>Faust</strong> unternommenen<br />

Abenteuer und Flüge im Kosmos können abwechslungsreich gestaltet werden.<br />

Wie beliebt das <strong>Faust</strong>buch bereits zur Entstehungszeit war, macht die Auflagenzahl deutlich:<br />

Von 1587 bis 1598 kommt es zu insgesamt 19 Auflagen. Die theologische Konzeption<br />

hinter dem <strong>Faust</strong>buch macht es zu einer religiösen Warnschrift des 16. Jahrhunderts.<br />

Der Mensch sei der Sünde hoffnungslos ausgeliefert und der Teufel könne sich des Menschen<br />

jederzeit bemächtigen. Es sind theologische Vorstellungen, die sich auch z.B. in<br />

Luthers Schrift Über die Unfreiheit des Willens wieder finden.<br />

So begeht der Mensch <strong>Faust</strong> drei große Sünden:<br />

• superbia: Die Sünde des Hochmutes hat einen teuflischen Ursprung und wird von<br />

Gott bestraft. Sie findet Ausdruck in <strong>Faust</strong>s Streben nach Wissen, das ihn Gott gleich<br />

machen soll.<br />

• curiositas: In der hier proklamierten Sünde der Neugier verdeutlicht sich der Widerstand<br />

der Kirche gegen den Forscherdrang der Zeit (Entdeckung Amerikas 1492<br />

etc.).<br />

• cupiditas: Die Sünde der Sinnlichkeit und Begierde wurzelt in der Ablehnung von<br />

Sinnenfreuden durch die Kirche.<br />

Dank der Verbreitung durch Wandertheatergruppen erhält der Stoff als Volkslegende<br />

große Bedeutung, es kommt auch zur Vermischung mit dem Hanswurststoff. Dagegen<br />

wirkt <strong>Faust</strong> im Sturm und Drang inspirierend als Kraftkerl, Genie und Außenseiter, so<br />

z.B. bei Maler Müller. Im Laufe der Rezeption werden also immer wieder neue Akzente<br />

gesetzt.


Wichtige Aspekte der <strong>Faust</strong>tradition<br />

Einige wichtige Gesichtspunkte des Stoffes ziehen sich durch die gesamte Tradition der<br />

Bearbeitung des Stoffes:<br />

• das ruhelose Streben des <strong>Faust</strong><br />

• die Verherrlichung der Tat<br />

• die Hinwendung zur rücksichtslosen Kolonialisierung (in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>)<br />

• die Vision vom freien Volk auf freiem Grund<br />

• die expansive Dynamik der <strong>Faust</strong>figur in den Sphären des Sexuellen, Magischen etc.<br />

In Deutschland wurden einige dieser Aspekte (speziell aus <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>) in der Politik für<br />

idealistische Zwecke vereinnahmt. Gerade die Verherrlichung der Tat, die Vision vom<br />

freien Volk auf freiem Grund und die Hinwendung zur rücksichtslosen Kolonialisierung<br />

sind Motive, die sich im Männlichkeitsideal sowie in der Rechtfertigung eines idealistischen<br />

Krieges, z.B. im 2. Weltkrieg, widerspiegeln. Auch die DDR nutze jene Aspekte<br />

aus, um ihre sozialistische Bodenreform zu begründen. Diese Ideologiegeschichte des<br />

<strong>Faust</strong>stoffes in der deutschen Geschichte lässt sich beim Literaturwissenschaftler Hans<br />

Schwerte nachlesen.<br />

<strong>Faust</strong> bei Thomas Mann<br />

Thomas Mann ist der wichtigste Vertreter der deutschen <strong>Faust</strong>tradition im 20. Jahrhundert.<br />

Mit dem, unter dem Einfluss des 2. Weltkrieges von 1943 bis 1947 verfassten,<br />

Roman Doktor <strong>Faust</strong>us suchte Mann den direkten Anschluss an das <strong>Faust</strong>buch von 1587.<br />

Schließlich betonte Mann stets, dass sein Werk außer der gemeinsamen Quelle nichts<br />

mit Goethes <strong>Faust</strong> gemeinsam habe. So handelt Manns Roman vom Komponisten Adrian<br />

Leverkühn und beschäftigt sich mit den Auswüchsen der Identifikation. Hintergrund<br />

ist dabei Thomas Manns Bedürfnis, anhand eines Geschichtsromans zu untersuchen, wie<br />

der Aufstieg des Nationalsozialismus überhaupt möglich war.<br />

Gerade im Bezug zu Goethes <strong>Faust</strong> werden die unterschiedlichen Motive besonders<br />

deutlich: Bei Doktor <strong>Faust</strong>us nimmt die Figur <strong>Faust</strong> ein schlimmes Ende – ein Zeichen<br />

für die Kritik an Goethes Erlösungsgedanken. Auch die Figur des Teufels hat sich in der<br />

Tradition geändert. Zwar steht sowohl im <strong>Faust</strong>buch als auch bei Goethe und Thomas<br />

Mann der Teufelspakt im Zentrum der Handlung. Jedoch wird im <strong>Faust</strong>buch der Teufel<br />

religiös-moralisch dargestellt, bei Goethe hingegen verdeutlicht das Bündnis mit dem<br />

Dämon die negative Dimension des Menschen. Bei Thomas Mann stellt der Teufelspakt<br />

schließlich die Hingabe an das Irrationale dar. Mann glaubte zu erkennen, dass die<br />

Deutschen einen Hang zu diesem Irrationalen besäßen, was er als eine Voraussetzung<br />

für den Nationalsozialismus deutete. Thomas Manns Darstellung traf aber auf scharfen<br />

Widerspruch, ihm wurde vorgeworfen, die kulturellen Leistungen der Deutschen, z.B.<br />

die von Kant oder Beethoven, zu ignorieren.<br />

jungen Goethe sind auch Friedrich<br />

Schiller oder Johann Gottfried Herder<br />

Vertreter. [MLL]<br />

Maler Müller: (1749–1825) Friedrich<br />

Müller, genannt Maler Müller,<br />

war Schriftsteller und Maler. Literarische<br />

Innovationen hat er vor allem<br />

auf dem Gebiet der Idylle verwirklicht,<br />

neben Lyrik konzentrierte Müller<br />

sich jedoch vor allem auf seine<br />

Arbeiten mit dem <strong>Faust</strong>stoff, oftmals<br />

in Beratung mit Lessing. Mit Situationen<br />

aus <strong>Faust</strong>s Leben (1776) realisiert<br />

Müller den ersten Sturm-und-Drang-<br />

Text zum <strong>Faust</strong>stoff. Bis 1781 stand<br />

Müller auch in Kontakt mit Goethe.<br />

[MLA]<br />

Hans Schwerte: (1909–1999) Eigentlich<br />

Hans Ernst Schneider, Germanist,<br />

wurde 1995 als ehemaliger<br />

SS-Hauptsturmführer enttarnt. Nach<br />

1945 hatte er seinen Namen geändert<br />

und bis zu seiner Enttarnung erfolgreich<br />

eine akademische Laufbahn<br />

bis hin zum Rektor der Universität<br />

Aachen absolviert. [VEV]<br />

9


Aufklärung: Epoche der Philosophie-<br />

und Geistesgeschichte, deren<br />

Wurzeln in England und Frankreich<br />

im ausgehenden 17. Jh. liegen.<br />

Verbreitung in Europa vor allem im<br />

18. Jh., kennzeichnend für die Aufklärung<br />

ist die Erosion traditioneller<br />

Gewissheiten in der Religion und die<br />

Bezugnahme auf das Vernunftvermögen<br />

und die Erkenntnisfähigkeit<br />

des Menschen. [ZWK]<br />

Makrokosmos: Aus dem Griechischen:<br />

das Weltall bzw. die große<br />

Welt. Hier im Sinne von jener Welt zu<br />

verstehen, für deren Erkundung der<br />

Mensch technische, mathematische,<br />

magische, wissenschaftliche etc. Mittel<br />

benutzen muss. [WAH]<br />

Pantheismus: Philosophische Lehre,<br />

wonach Gott und die Welt, die Natur<br />

eins seien. Gott wäre somit überall<br />

in der Natur, überall ist seine Schöpfungskraft<br />

wieder zu finden. [WAH]<br />

10<br />

Der <strong>Faust</strong>stoff bei Goethe<br />

Bereits als Fünfjähriger sah sich Goethe in Form eines Puppenspiels mit dem <strong>Faust</strong>stoff<br />

konfrontiert. Dies scheint ihn nicht losgelassen zu haben. Ein Leben lang hat er sich mit<br />

<strong>Faust</strong> beschäftigt, erst kurz vor seinem Tod beendete er seine Arbeit daran. Trotzdem legte<br />

Goethe fest, dass das Ende, d.h. <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>, nicht vor seinem Tod veröffentlicht werden<br />

sollte.<br />

Mit seiner Arbeit am <strong>Faust</strong>stoff stellte sich Goethe in die Tradition namhafter deutscher<br />

Schriftsteller. Lessing hatte beispielsweise bereits angemerkt, dass es sich bei <strong>Faust</strong><br />

um einen nationalen Stoff handele. Doch im Gegensatz zu Goethe scheiterten viele<br />

an dieser Auseinandersetzung. So auch Lessing, der lediglich ein dreiseitiges Fragment<br />

hinterließ. Immerhin lässt sich daraus schließen, dass Lessing seinen <strong>Faust</strong> im Lichte<br />

des Maßes, im Sinne der Aufklärung, darstellen wollte. Andere literarische Fragmente zu<br />

<strong>Faust</strong> stammen von Lenz und Maler Müller. Bei Goethe dagegen gibt es insgesamt drei<br />

abgeschlossene <strong>Faust</strong>-Texte.<br />

Urfaust<br />

Der Urfaust besteht nur aus einzelnen Szenen. Er entstand zur Zeit des Sturm und<br />

Drang und vermittelt neben großer Sprachkraft auch viele Widersprüche. Dennoch ist<br />

der Urfaust ein wichtiges Dokument für die Forschung, zeigt sich doch im Vergleich mit<br />

den beiden anderen <strong>Faust</strong>-Texten, dass sich Goethe von dieser frühen, eruptiven Phase<br />

völlig abgewandt hat.<br />

Deutlich lässt sich im Urfaust der Einfluss der zeitgenössischen Problematik des unehelichen<br />

Kindergebärens ablesen. Diese Thematik wird auch von <strong>Faust</strong> I übernommen.<br />

Darüber hinaus dokumentiert ein Vergleich jedoch deutliche Tendenzen der Umformung.<br />

So zum Beispiel die Stil-Glättung: Ist der Urfaust ausschließlich in exklamatorischer<br />

Prosa verfasst, so ist <strong>Faust</strong> I in verschiedenen, mit bestimmten semantischen<br />

Referenzen konnotierten Versformen geschrieben.<br />

<strong>Faust</strong> I<br />

Im Unterschied zum Urfaust beginnt <strong>Faust</strong> I mit der Zueignung – Goethe macht darin<br />

seine persönliche Position zum <strong>Faust</strong>stoff klar. Im folgenden Vorspiel auf dem Theater<br />

sprechen Dichter, Theaterdirektor und Schauspieler über die Funktion des Theaters.<br />

Goethe reflektiert dabei zugleich über das Wesen der Dichtung und das Verhältnis zur<br />

Theaterpraxis.<br />

Die Handlung setzt anschließend im Prolog im Himmel ein. Hier wird ein Horizont<br />

einer prästabilierten, vorbestimmten Harmonie jenseits des tragischen Geschehens eröffnet,<br />

der dramaturgische Rahmen damit vorgegeben. In der gleichen Szene schließen der<br />

Herr und Mephisto dann auch die Wette, über <strong>Faust</strong>s Verführbarkeit ab. Damit ist die<br />

himmlische Sphäre in <strong>Faust</strong> I etabliert.<br />

Im weiteren Textverlauf wird die Sphäre der Wissenschaft eingeführt, so zum Beispiel<br />

in der Nacht-Szene, und außerdem die Rolle der Magie verdeutlicht, unter anderem in<br />

den Makrokosmosvisionen oder aber der Erdgeistbeschwörung. Deutlich wird dabei die<br />

Vielschichtigkeit von Goethes <strong>Faust</strong>. So muss der Erdgeist im Zusammenhang mit der<br />

pantheistischen Naturphilosophie, das heißt das Göttliches offenbare sich in jedem Detail<br />

der Natur, gesehen werden. Darin äußert sich auch die Kritik an vorherrschenden<br />

religiösen Systemen, wenngleich Goethe keine Fortführung einer theologischen Debatte<br />

will.


<strong>Faust</strong> I gliedert sich in zwei große Tragödien: Gelehrten- und Gretchentragödie. In<br />

der Gelehrtentragödie verzweifelt <strong>Faust</strong> an seinem Dasein als Gelehrter. Zugleich ist sie<br />

eine beißende Satire auf die Aufklärung und die Vertreter aller Fakultäten (Philosophie,<br />

Medizin, Theologie). Dies hat aber auch handlungstechnische Relevanz, ist es doch ein<br />

Brückenschlag zur persönlichen Tragödie <strong>Faust</strong>s: Die Verzweiflung über seine scheinbar<br />

erfolglosen Bemühungen in der Wissenschaft ist die Voraussetzung für den Teufelspakt.<br />

Solche Parallelen setzen sich durch den gesamten Text hin fort. So ist das Einsetzen des<br />

Frühlings in der Vor dem Tor-Szene ein Symbol für die Öffnung <strong>Faust</strong>s zur Welt und<br />

zur lebendigen Erfahrung, erste Zeichen dafür, dass sich <strong>Faust</strong> von der Studierstube, der<br />

Wissenschaft abwenden wird. Erst diese Öffnung <strong>Faust</strong>s ermöglicht die Verbindung mit<br />

Mephisto in Form der Wette beziehungsweise des Paktes.<br />

Zwischen Gelehrten- und Gretchentragödie begibt sich <strong>Faust</strong> auf eine Irrfahrt mit<br />

Mephisto, beginnend mit Auerbachs Keller in Leipzig. Diese Szene ist eine zugespitzte Satire<br />

auf Adel und Klerus und auch auf die revolutionären Bestrebungen des Volks – Goethe<br />

selbst war kein Freund der Französischen Revolution. Eine weitere Szene der Irrfahrt<br />

ist die Hexenküche. Darin wird <strong>Faust</strong> durch einen Zaubertrank verjüngt, das Irrationale<br />

hält nun Einzug. Gleichzeitig verdeutlicht sich <strong>Faust</strong>s Disposition zur Sinnlichkeit, die<br />

nun bei der Begegnung mit Gretchen offen zu Tage tritt.<br />

Die Gretchenhandlung ist dramaturgisch kompakt und subtil gebaut. Sie reicht von<br />

der Verführung und den Verirrungen Gretchens bis hin zu ihrem Wahnsinn. Die gesellschaftliche<br />

Ächtung Gretchens in der Szene Am Brunnen markiert einen ersten Höhepunkt<br />

in der Gretchentragödie. Verschiedene gesellschaftliche Schichten üben darin harsche<br />

Kritik an Gretchen, die ein uneheliches Kind erwartet. In der Szene Im Dom wird<br />

Kirchenkritik geübt, die Ächtung durch die Kirche treibt Gretchen zum Kindesmord,<br />

einer schieren Verzweiflungstat.<br />

Die Szene der Walpurgisnacht ist zwischen Gretchens Tat und dem Ende eingeschaltet.<br />

Sie hebt die verschiedenen Seiten <strong>Faust</strong>s hervor – einerseits die Liebe zu Gretchen,<br />

andererseits dem Nachgeben niederer Triebe. Am Ende von <strong>Faust</strong> I wird Gretchen gerettet<br />

und Mephisto zieht <strong>Faust</strong> fort – ein Ende, das mit <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> nur sehr wenig zu tun hat.<br />

Die Allegorie und die Phantasmagorie gelten als unterscheidende Merkmale von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />

im Vergleich zu <strong>Faust</strong> I. Letzterer ist streng nach dem Schema einer Tragödie aufgebaut.<br />

Zum Verhältnis von <strong>Faust</strong> und Mephisto gibt es in der Forschung verschiedene Auffassungen:<br />

<strong>Faust</strong> und Mephisto wurden lange als Antagonisten von Gut und Böse gedeutet.<br />

Seit dem 2. Weltkrieg wird Mephisto jedoch eher als Alter Ego <strong>Faust</strong>s gesehen.<br />

<strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />

Entstehungsgeschichte<br />

Am Höhepunkt von Goethes klassischer Periode (um 1800) wurde der Helena-Akt ausgearbeitet.<br />

Danach, in den Jahren zwischen 1800 und 1825, ignorierte Goethe den <strong>Faust</strong><br />

<strong>II</strong> fast vollständig. Stattdessen schrieb er in dieser Zeit die Wahlverwandtschaften, seine<br />

Farbenlehre und Wilhelm Meisters Lehrjahre.<br />

Ein Brief von 1818 belegt, dass Goethe selbst nicht mehr an die Vollendung des <strong>Faust</strong><br />

glaubte. Im gleichen Jahr hatte er nämlich den <strong>Faust</strong> von Christopher Marlowe gelesen und<br />

war sehr beeindruckt. Doch 1825 nahm Goethe die Arbeit am <strong>Faust</strong> wieder konzentriert<br />

auf und vollendete <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> im Juli 1831. Den <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> wollte Goethe zu Lebzeiten<br />

aber nicht publizieren lassen, weil er ein, in seinen Augen, absehbares Unverständnis des<br />

Publikums befürchtete. Seine Bedenken äußerte Goethe in einen Brief an Wilhelm von<br />

Helena: Tochter von Zeus und Leda<br />

bzw. Nemesis. Für ihre außergewöhnliche<br />

Schönheit bekannt, wurde<br />

Helena von Paris nach Troja entführt.<br />

Nach zehn Jahren Krieg und unter<br />

Aufbietung aller Helden Griechenlands<br />

gelang ihre Befreiung. [WWM]<br />

Christopher Marlowe: (1564–<br />

1593) Englischer Dichter und Dramatiker.<br />

Stellte Machtverhältnisse und<br />

Glauben seiner Zeit in Frage und wird<br />

seit dem 20. Jh. als ebenbürtiger Zeitgenosse<br />

Shakespeares gesehen. Neben<br />

Doctor <strong>Faust</strong>us (1589, 1593) sind<br />

vor allem sein letztes Stück Massacre<br />

at Paris (1593) sowie sein Liebesgedicht<br />

The Passionate Shepherd to His<br />

Love (nach 1580) bekannt. [OCL]<br />

11


Euphorion: Angeblicher Sohn von<br />

Achilleus und Helena. Soll geflügelt<br />

gewesen sein und wurde von Zeus,<br />

nachdem er dessen Liebe nicht erwiderte,<br />

mit einem Blitz erschlagen.<br />

[WWM]<br />

12<br />

Humboldt. Dennoch wurde sich Goethe immer mehr der europäischen und historischen<br />

Bedeutung von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> bewusst.<br />

Grundzüge des Alterswerks <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />

Wichtig sind im Alterswerk die Symbole und die Allegorien, die den größten Unterschied<br />

zu <strong>Faust</strong> I ausmachen. <strong>Faust</strong> I ist bürgerlich, persönlich, beschränkt, subjektivindividuell<br />

und bestimmt vom Konflikt zwischen <strong>Faust</strong> und seiner Umgebung bzw. vom<br />

Konflikt zwischen <strong>Faust</strong> und Gretchen. <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ist in der großen Welt und im gesellschaftlichen<br />

Allgemeinen angesiedelt und hat die Tendenz zur Historisierung und Typisierung<br />

– ein generelles Phänomen von Goethes Alterswerk. Es herrscht Besonnenheit<br />

und kein überschäumender Sturm und Drang. So ist <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> von kühler, kalkulierter<br />

Absichtlichkeit bestimmt. Die Sprache des Allgemeinen ist das Pathos des zweiten Teils<br />

von <strong>Faust</strong>.<br />

Bei Eckermann, Goethes Sekretär, ist zu lesen, dass Goethe auf eine höhere, breitere,<br />

hellere und bedeutungslosere Welt ohne jeglichen Subjektivismus hindeuten will. Dabei<br />

spielen mehrere Bereiche eine wichtige Rolle:<br />

• sozialer und politischer Bereich<br />

• militärisches Wirken <strong>Faust</strong>s<br />

• Wissenschaft und Kunst: Die vollendete ästhetische Kultur verdeutlicht sich in der<br />

Begegnung zwischen <strong>Faust</strong> und Helena. Diese Kultur wird aufgefächert in die Erscheinungsformen<br />

der Poesie, z.B. stellt Euphorion die Allegorie der romantischen<br />

Poesie dar – Helenas und <strong>Faust</strong>s Sohn, der allzu schnell verblüht.<br />

• großes naturphilosophisches Konzept: Goethe betont hier die beträchtliche Spannung,<br />

die er zwischen Kultur und Natur sieht<br />

• das Militärische im Gegensatz zum Organischen<br />

Generell ist der Zusammenhang zwischen <strong>Faust</strong> I und <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> nicht sehr groß, im Gegenteil<br />

zu manchen Forschungsmeinungen ergibt sich doch ein gemeinsamer Bogen:<br />

Goethe schließt nämlich mit der Auflösung der Wette in der Grablegung- und Bergschluchten-Szene<br />

jenen himmlischen Erzählrahmen, der mit dem Prolog im Himmel eröffnet<br />

wurde.<br />

Zusammenhänge zwischen <strong>Faust</strong> I und <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />

So geht die ältere <strong>Faust</strong>-Forschung von wenigen Zusammenhängen und zwei sehr unterschiedlichen<br />

Texten aus. Doch bei der Frage nach dem inneren Zusammenhang sind<br />

Gemeinsamkeiten festzustellen. Zwar geht es in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> um eine allgemeine zivilisatorische<br />

Entwicklung, doch besteht durch die Klammer der Wette immerhin eine formale<br />

Verbindung.<br />

So wird zu Beginn beim Prolog im Himmel die Wette geschlossen und am Ende von<br />

Mephisto eingefordert. Selbst die Engel sprechen wieder von <strong>Faust</strong>s eigenem Streben<br />

und nicht etwa einer gesellschaftlichen Entwicklung.<br />

Dadurch wird auch eine inhaltliche Verbindung deutlich: Die Ambivalenz des individuellen<br />

Strebens in <strong>Faust</strong> I und des neuzeitlichen generellen Fortschrittstrebens in


<strong>Faust</strong> <strong>II</strong>. Beide Arten des Strebens haben eine negative Kehrseite: In <strong>Faust</strong> I Gretchens<br />

Verderben, in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> unter anderem die Zerstörung der Natur. Der unbändige Forschungsdrang<br />

<strong>Faust</strong>s richtet sich nämlich gegen die alte naturgegebene Ordnung, die in<br />

dem alten Ehepaar Philemon und Baucis konkretisiert wird.<br />

Welt- und kulturgeschichtlicher Horizont von Urfaust zu <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />

<strong>Faust</strong> ist der sich autonom stellende Mensch der Moderne. Das Prinzip der Autonomie<br />

spielt eine zentrale Rolle in der Kunstauffassung des 18. Jahrhunderts Kant spricht von<br />

»interesselosem Wohlgefallen«, das heißt Kunst muss nur dem Betrachter selbst immanent<br />

und unvermittelt gefallen.<br />

Es ist ein Zeichen dafür, wie sehr sich die Welt in der Zeit vom Urfaust (1775) zu<br />

<strong>Faust</strong> <strong>II</strong> (1831) grundlegend verändert hatte. Nach anfänglicher Begeisterung war Goethe<br />

den Ideen der Französischen Revolution gegenüber skeptisch, die Umsetzung ihrer<br />

Vorstellungen, v.a. das Köpfen des Adels, rief Abscheu hervor. Goethe stellte fest: »Die<br />

Revolution fraß ihre Kinder.« Anschließend leiteten die Napoleonischen Kriege die Neuordnung<br />

Europas ein, ein Motiv, das sich auch in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> zeigt. Ebenso spiegelt sich die<br />

Restauration in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> wider: Die alten Mächte (Adel, Kirche, Militär) erstarken wieder<br />

unter Metternich, der ein repressives System vertritt. Doch auch damit war Goethe nicht<br />

einverstanden.<br />

Neben diesen politischen Umwälzungen paart sich gleichzeitig ein ungeheurer technischer<br />

Fortschritt mit ökonomischen Neuerungen. Goethe erlebt im Alter noch den<br />

Beginn der Industriellen Revolution in Deutschland – Dampfmaschine, Dampfeisenbahn<br />

und -schiffe, Beschleunigung von Handel und Transport, ein abstraktes Finanz- und<br />

Bankwesen. Es sind Entwicklungen, die sich in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> in den Akten 1 bis 5 als Allegorien<br />

widerspiegeln. In jener Beschleunigung durch neue Fortbewegungsmittel und der<br />

Multiplikation von Wissen, Nachrichten etc. sieht Goethe nachteilige Folgen für das<br />

Individuum.<br />

Dies sind Veränderungen, die sich auch im Militärwesen der Napoleonischen Kriege<br />

zeigen. Diese waren stark technisiert; es gab Pioniergruppen und eine regelrechte<br />

Heeresmaschinerie. Auch die soziale Frage ist von Wichtigkeit: Der Saint-Simonismus,<br />

der frühsozialistische Gedanken propagierte, schaffte erstmals ein Bewusstsein für diese<br />

Fragen. Sie sind besonders wichtig für das Verständnis des 5. Akts von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>.<br />

1830 erlebte Goethe noch die Julirevolution, für ihn das »Pariser Erdbeben« und eine<br />

Reprise der Tragödie von 1789. Ein halbes Jahr danach begann er die Arbeit am vierten<br />

Akt des <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> und kritisiert darin sowohl die Revolution als auch die Restauration.<br />

Davor, im zweiten und dritten Akt, dem großen Helena-Bogen, setzt sich Goethe mit<br />

dem Wandel von Mentalität, Stil in der Kunst und Literatur und Kultur auseinander.<br />

Goethe steht also mit <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> am Beginn des Industriezeitalters, welches das Ende<br />

des Kults um die Individualität einleitet, der vor allem während des Klassizismus und<br />

der Romantik betrieben wurde. Goethe knüpft somit in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> bewusst an unmoderne<br />

Strömungen an. Das Zeitalter des Idealismus wird durch die Fragestellungen der Alltagsrealität<br />

einer stark verarmten sowie ausgebeuteten Bevölkerung kritisiert und abgelöst.<br />

Immanuel Kant: (1724–1804)<br />

Deutscher Philosoph, untersuchte<br />

die Bedingungen und Grenzen des<br />

menschlichen Erkenntnisvermögens.<br />

Das Resultat ist eine Erkenntnistheorie,<br />

welche sich sowohl von spekulativer<br />

Metaphysik als auch von naturwissenschaftlichem<br />

Empirismus<br />

abgrenzt. [MLK]<br />

Französische Revolution: Von<br />

1789–1799 lehnt sich das französische<br />

Bürgertum gewaltsam gegen<br />

eine erstarrte absolutistische Monarchie<br />

auf. Um ihre Forderungen<br />

nach mehr Mitspracherecht durchzusetzen,<br />

wurde eine konstitutionelle<br />

Monarchie eingeführt, später, im<br />

Zuge einer Radikalisierung, richtete<br />

man nicht nur große Teile des Adels<br />

hin, sondern auch politische Gegner,<br />

die sich gegen die Erste Französische<br />

Republik von 1792 stellten. Nachdem<br />

gemäßigtere Republikaner die Macht<br />

an sich rissen, die Nöte der Bevölkerung<br />

jedoch ignorierten, war der Weg<br />

frei für Napoléon Bonapartes Machtübernahme<br />

Ende 1799. [ZWK]<br />

Napoleonische Kriege: Ab 1803<br />

weigerte sich Napoléon I., Kompromisse<br />

mit anderen europäischen<br />

Mächten einzugehen. Stattdessen<br />

vertrat er französische Territorialinteressen<br />

in Italien, der Schweiz, den<br />

Niederlanden und im Heiligen Römischen<br />

Reich. Sukzessive besiegte er<br />

Österreich-Ungarn, die ehemaligen<br />

deutschen Verbündeten und drängte<br />

Russland zurück. Trotz Erfolgen im<br />

Süden verlor Napoléon 1813 Spanien,<br />

konnte die britische Seemacht<br />

niemals brechen und geriet durch<br />

Befreiungskriege im restlichen Europa<br />

zunehmend unter Druck. Im April<br />

1814 musste Napoléon schließlich<br />

abdanken und Frankreich sah sich einem<br />

feindlichen Europa gegenüber.<br />

[ZWK]<br />

Restauration: Zeit von 1815 bis<br />

1830, in der die europäischen Staaten<br />

versuchten, die politischen<br />

Verhältnisse der Zeit vor der Französischen<br />

Revolution wieder herzustellen.<br />

[ZWK]<br />

13


Klemens Wenzel Fürst von Metternich:<br />

(1773–1859) Österreichischer<br />

Staatsmann, der für sein Verhandlungsgeschick<br />

bekannt war. Er<br />

schaffte es, die Feindseligkeiten zwischen<br />

Frankreich und Österreich-Ungarn<br />

vorerst zu beenden, wird dann<br />

aber 1813 Teil einer antifranzösischen<br />

Koalition. Auf dem Wiener Kongress<br />

1815 verhinderte er, dass Frankreich<br />

allzu hart bestraft wurde – es sollte<br />

vielmehr Teil der europäischen Restauration<br />

werden. Ab 1836 führte<br />

er als Teil der »Staatskonferenz« die<br />

Regentschaft für Kaiser Ferdinand I.,<br />

musste allerdings im Zuge der Märzrevolution<br />

1848 flüchten. [ZWK]<br />

Saint-Simonismus: Theorie, nach<br />

der die produktiven Tätigen, das<br />

heißt Unternehmer, aber auch Arbeiter<br />

und Bauern, die gesellschaftliche<br />

Elite seien. Sie sollten in einer hierarchischen<br />

Gesellschaft allen Arbeit<br />

und Wohlstand zukommen lassen.<br />

Der Begründer dieser Theorie, Saint-<br />

Simon, trat somit für die bessere Nutzung<br />

von Privateigentum ein. [ZWK]<br />

Industrielle Revolution: Bezeichnet<br />

die Phase beschleunigter technologischer,<br />

ökonomischer und sozialer<br />

Veränderungen. Sie begann um 1785<br />

in Großbritannien und folgte im 19.<br />

Jahrhundert unterschiedlich schnell<br />

in den restlichen Ländern der Welt.<br />

Die Industrielle Revolution markiert<br />

den Übergang von einer Agrar- zur<br />

Industriegesellschaft. Damit einhergehend<br />

ist ein Erstarken des Bürgertums<br />

und der Arbeiterklasse. [ZWK]<br />

Julirevolution: Erhebung der Pariser<br />

Bevölkerung im Juli 1830. Der<br />

französische König Karl X. wurde gestürzt<br />

und durch den »Bürgerkönig«<br />

Louis Philippe, eine Marionette des<br />

Bürgertums, ersetzt. [ZWK]<br />

Klassizismus: Bezeichnet ästhetische<br />

Positionen und künstlerische<br />

Verfahrensweisen in allen künstlerischen<br />

Bereichen, welche auf die<br />

griechisch-römische Antike zurückgreifen.<br />

Hier als Synonym für die<br />

Klassik verwendet, ein Rückbesinnen<br />

auf antike Wertvorstellungen im<br />

Zuge der Aufklärung. [MLL]<br />

14<br />

Goethes Geschichtsauffassung<br />

Goethe nahm jedoch nicht immer diese greifbaren Phänomene der Zeit in den Text auf,<br />

die Anspielungen sind nicht überall gleich intensiv. Zwar ging Goethe stark von den<br />

Erfahrungen seiner Zeit aus, er wollte jedoch das Wesen der Neuzeit insgesamt erfassen.<br />

So sieht Goethe die Neuzeit, welche in der Epoche des historischen <strong>Faust</strong>us begann,<br />

zusammen mit seiner eigenen Epoche nach 1789. Goethe will Grundstrukturen und<br />

Konstanten der Neuzeit hervorheben und prägte dazu den Begriff ›Symphronismus‹. Er<br />

betrachtete dabei Epochen, Ereignisse der Geschichte nicht mehr synchron, d.h. gleichzeitig,<br />

sondern fragte danach, was in den Epochen parallel, analog und typisch sei. Das<br />

Analoge und Typische arbeitete Goethe dann im Text heraus. Es entsteht eine übergeordnete<br />

Synchronie für die Wahrnehmung der Neuzeit. Die Phänomene des 16. Jahrhunderts<br />

und der Gegenwart Goethes werden eins und als ein Ganzes gesehen.<br />

Die Funktion der Epochendiagnose und der Geschichtsreflexion haben weder Urfaust<br />

noch <strong>Faust</strong> I. Jochen Schmidt spricht hier von einer »historisierenden Patina«, wenn die<br />

Rolle der Gelehrten etc. dargestellt wird – es lässt sich alles den entsprechenden Epochen<br />

zuordnen.<br />

Einige Symphronismen zwischen dem 16. Jahrhundert und<br />

18. Jahrhundert<br />

• der desolate Zustand des spätmittelalterlichen Reiches entspricht der Agonie und<br />

dem Untergang des Reiches von 1806, des ›Ancient Régime‹<br />

• den Beginn des Kapitalismus sieht Goethe an der Schwelle der Neuzeit, er entspricht<br />

der beginnenden Hochblüte des Kapitalismus im 19. Jahrhundert<br />

• die Wiederbelebung der Antike sieht Goethe in der Renaissance (Beginn der Neuzeit)<br />

und im Klassizismus und in der Weimarer Klassik<br />

• die naturwissenschaftlichen Neuerungen zum Beginn der Neuzeit entsprechen den<br />

großen Erfindungen in Goethes Zeit (Erfindungen in der Chemie, Neuerungen im<br />

Militär durch das Schießpulver etc.)<br />

• die Entdeckung Amerikas und Spaniens damit einhergehende Vorrangstellung entspricht<br />

laut Goethe der, durch weltweiten Handel aufgebauten, Macht der Kolonialmächten<br />

England und Norwegen<br />

Jene strukturellen Entsprechungen können auch als Klammer zwischen <strong>Faust</strong> I und <strong>Faust</strong><br />

<strong>II</strong> gesehen werden. Goethe sieht zwischen den großen Entwicklungen also erstaunliche<br />

Parallelen, die eine Diagnose der Neuzeit erlauben. Ein Beispiel aus dem Text (Vers<br />

11186–11188) zeigt eine Einheit von Krieg und Piraterie, die eine Parallele des Krieges<br />

zwischen England und Spaniens darstellt. Solche Anspielungen in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> gäbe es laut<br />

Goethe zuhauf: »Mancher wird noch mehr finden, als ich geben konnte.«<br />

Ziel von Goethes symphronistischer Methode ist eine Diagnose der Neuzeit. Durchgehende<br />

Grundmuster sollen in den einzelnen Abschnitten der Neuzeit aufgedeckt werden.<br />

Zum Beispiel finden sich im Schlussmonolog <strong>Faust</strong>s Spuren des revolutionären<br />

Zeitalters und des Frühsozialismus.


<strong>Faust</strong> als Träger moderner Züge<br />

<strong>Faust</strong> repräsentiert somit moderne Grundhaltungen und ist im Text eine Idealvorstellung,<br />

eine Rolle und eben nicht so sehr ein Individuum. Er tritt als Militärstratege und später<br />

als Kolonisator auf, ist also Repräsentant für die jeweilige Weltanschauung, Ideologie.<br />

Der Figur des <strong>Faust</strong> kommt dadurch eine zentrale Funktion zu: Er soll den modernen<br />

autonomen Menschen vorführen. Denn für Goethe ist jene Autonomie typisch für<br />

den neuzeitlichen Menschen. Eine Autonomie, die auch Unabhängigkeit von geistlicher<br />

Metaphysik bedeutet. Und so tritt <strong>Faust</strong> in Opposition zu Kräften, die Vertreter der<br />

mittelalterlich geprägten Ordnung und gegen die Autonomie des Menschen gerichtet<br />

sind, wie zum Beispiel der Kanzler des Reiches (Vers 44894 f.), der meint: »Natur ist<br />

Sünde, Geist ist Teufel«. Schließlich waren Klerus und Adel die Stützen der Monarchie<br />

und dafür wurden sie dann von der weltlichen Krone durch Ländereien, Geld, Macht<br />

und Einfluss belohnt. Doch <strong>Faust</strong>s Auflehnung gegen solche Mächte ist selten von Erfolg<br />

gekrönt, scheitert er doch stets in seinem Streben.<br />

Wie Goethe selbst festhält, ist <strong>Faust</strong> ein Mensch, der sich beschränkt fühlt durch<br />

das Dasein auf der Erde und den Besitz weltlicher Güter. <strong>Faust</strong> ist ein Geist, der nach<br />

allen Seiten sich wendend, immer wieder zurückkehrt – eine unglückliche Existenz. Ein<br />

Zustand der sich in Goethes Augen analog zur modernen Gesinnung, Existenz verhält.<br />

<strong>Faust</strong> repräsentiert also ein spezifisch modernes unglückliches Bewusstsein – das sich<br />

gegen alte Mächte und Vorstellung zwar wehrt, sie aber nicht brechen kann.<br />

Der erste Akt<br />

Im ersten Akt überschreitet Goethe die Grenze zu jener Kunst, die sich nicht durch reinen<br />

»Schönheits-Charakter« auszeichnet. Für die Figuren- und Denkwelt gibt es keine<br />

harmonische Einheit von Sinnlichem und Sittlichem. Das fortschreitende Leben brau<br />

cht eine andere Form von Kunst, die Auffassung von Kunst wird immer stärker philosophisch.<br />

In diesem Sinn ist <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> das modernste Werk Goethes.<br />

<strong>Faust</strong> <strong>II</strong> zeichnet sich unter anderem durch seine Natursymbolik aus – einer der<br />

wichtigsten Schlüssel für das Werk. So entsteht die Dynamik im Text durch die stetige<br />

Verwandlung. Dies ist ein Grundprinzip, das bei Goethe für die Naturformen ganz allgemein<br />

gilt. Die Verwandlung hat universelle Gültigkeit. Goethe meint dazu »Gestaltenlehre<br />

sei Verwandlungslehre«, die Lehre von den Metamorphosen wäre also der Schlüssel<br />

zu den Naturformen.<br />

Ein Beispiel ist der erste Akt. Am Anfang zeigt er <strong>Faust</strong> schlafend; ein Schlaf, in dem<br />

er vergessen und gleichzeitig bereit werden muss für neue Taten (Vers 4650). Gretchens<br />

und <strong>Faust</strong>s Schuld werden abgelegt. Und auch die Frage des Ethischen und Moralischen<br />

spielt keine Rolle mehr, sie war in <strong>Faust</strong> I noch ein wichtiger Antrieb.<br />

Die Perspektive ist nicht länger die <strong>Faust</strong>s. In <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> wird in der Welt das Objektiv-<br />

Seiende dargestellt, die Subjektivität tritt in den Hintergrund. So gibt es diesbezüglich<br />

auch keinen dramatischen Austausch mehr zwischen den Personen. Eine Voraussetzung<br />

für <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> wäre demnach die Dominanz der naturphilosophischen und erkenntnistheoretischen<br />

Erkenntnisse.<br />

Anmutige Gegend<br />

Die Szene beginnt mit Ariel (vgl. Prolog im Himmel) und endet mit dem Monolog <strong>Faust</strong>s.<br />

Sie liest sich wie ein Programmheft – bereits die gesamte Ästhetik von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> wird hier<br />

umrissen. Ariels Worte (Vers 4658–4665) klingen zwar verführerisch, aber sie werden<br />

Romantik: Kulturgeschichtliche<br />

Epoche, die vom Ende 18. Jahrhundert<br />

bis Mitte 19. Jahrhundert Kunst<br />

als aus der Einsamkeit des Genies<br />

geboren sieht. Inspirierende und enthusiastische<br />

Innerlichkeit wird propagiert,<br />

die Gefühlswelt in Vers- und<br />

Prosadichtung betont. [MLL]<br />

Idealismus: Bezeichnet philosophiegeschichtlich<br />

die letzten Dekaden<br />

des 18. Jahrhunderts, in denen<br />

die menschliche Erkenntnis vor dem<br />

Wirklichen zurückstecken muss. So<br />

könne der Mensch die Wirklichkeit<br />

nur teilweise erkennen, laut Hegel<br />

wären die Dinge nämlich Gegenstand<br />

einer gottgleichen Einheit. [MLK]<br />

Neuzeit: Geschichtliche Epoche,<br />

welche Mitte des 15. Jahrhunderts<br />

einsetzt, das Mittelalter beendet und<br />

bis in die Gegenwart hineinreicht.<br />

Entdeckung Amerikas 1492 und Martin<br />

Luthers Reformation von 1517<br />

sind Eckpunkte jener beginnenden<br />

Zeit, welche die absolutistische Monarchie<br />

und die Vorrangstellung der<br />

Kirche beenden sollte. [ZWK]<br />

Ancient Régime: Französisch für<br />

die »alte Regierungsform«, bezeichnet<br />

der Ausdruck das absolutistische<br />

Frankreich vor 1789 und allgemein<br />

die politischen und gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse im Europa des<br />

17./18. Jahrhunderts, die auf einer<br />

privilegierten Adelswelt aufbauten.<br />

[ZWK]<br />

Weimarer Klassik: Auf wenige<br />

Autoren begrenzte Richtung der<br />

deutschen Kulturgeschichte. Zwischen<br />

Sturm und Drang sowie der<br />

Hochromantik angesiedelt, bestand<br />

sie von ca. 1786 bis 1805. Ein<br />

Großteil von Goethes Werken sowie<br />

Schillers spätere Arbeiten werden<br />

ihr zugerechnet. Die Weimarer Klassik<br />

begrenzte das schwärmerische<br />

Subjekt des Sturm und Drang und<br />

distanzierte sich durch Formstrenge<br />

und Stilisierung vom unmittelbaren,<br />

überschwänglichen künstlerischen<br />

Ausdruck. [MLL]<br />

15


Augsburger Reichstag: In Augsburg<br />

wurden mehrmals ab dem 12.<br />

Jahrhundert Reichstage des Heiligen<br />

Römischen Reichs abgehalten. Kaiser,<br />

Kurfürsten, Fürsten, später auch<br />

Vertreter der Reichsstädte stimmten<br />

dort ihr weiteres Vorgehen ab und<br />

trafen Entscheidungen, welche das<br />

gesamte Reich betrafen. Diesbezüglich<br />

ist vor allem der Augsburger Religionsfrieden<br />

von 1555 hervorzuheben,<br />

welcher nicht nur die lutherische<br />

Kirche als gleichberechtigt neben der<br />

katholischen etablierte, sondern den<br />

weltlichen Reichsständen auch Religionsfreiheit<br />

garantierte. [ZWK]<br />

Mummenschanz: Maskenfest. [WAH]<br />

16<br />

nicht gehalten, in <strong>Faust</strong>s Monolog heißt es nämlich: »Unerhörtes hört sich nicht«. Dennoch<br />

ist <strong>Faust</strong> nunmehr entschlossen, weiter nach dem höchsten Dasein zu streben.<br />

Im Schlussmonolog (Vers 4715–4727) zeigt sich die Opposition von Absolutem und<br />

Relativem, wie anhand mehrerer Beispielen deutlich wird. So ist der Monolog unter dem<br />

Aspekt der Kunsttheorie zu lesen. Stark antiklassizistisch handelt er von der Buntheit,<br />

Farbigkeit und dem prallen Leben. Von Goethes Beschreibung unterscheiden sich klassizistische<br />

Studien zur antiken weißen Plastik grundlegend. Ein weiterer Zugang ist die<br />

Vermittlung des Uneigentlichen, nicht mehr des Primären oder in der Welt Existierenden.<br />

Diese Theorie vom farbigen Abglanz weist bereits auf die Moderne voraus.<br />

Jene Kunsttheorie vom farbigen Abglanz lässt sich nur dann komplett erschließen,<br />

wenn man sie mit der Naturphilosophie Goethes verbindet. Denn daraus speisen sich<br />

Goethes Kunstanschauungen, die Metaphorik Goethes. In Goethes Kunstrevue Pandora<br />

von 1807 veranschaulicht er mit der Beschreibung der Sonne die Theorie vom Licht,<br />

welche wiederum tief mit Goethes Wissenschaftslehre verbunden ist. So besagt Goethes<br />

Farbenlehre, dass das Wesentliche der Dinge nicht erfasst werden könne, aber deren<br />

Wirkungen. Vergebens bemühe man sich, den Charakter eines Menschen zu bestimmen,<br />

seine Eigenschaften könne man nur beschreiben und so ein Bild vom Menschen<br />

erzeugen. Das Absolute, das Eigentliche eines Menschen bzw. Objekts lässt sich somit<br />

nicht erkennen. Der Mensch kann höchstens einen Abglanz, relativ zu sich selbst, erfassen.<br />

Thronsaalszene<br />

Inhaltlich ist die Szene schnell umrissen. Es treten die verschiedensten Vertreter auf und<br />

beklagen den finanziellen Niedergang des Reichs (Vers 4730 f), der kaiserlichen Pfalz.<br />

Der Kaiser eruiert bei seinen Repräsentanten den Zustand des Staates. Und Mephisto<br />

tritt als Hofnarr auf.<br />

Goethe bereitet 1816 eine Skizze vor, die das historische Milieu der Szene darstellt<br />

und stark an historischen Fakten angelehnt ist. Sie wird jedoch kaum übernommen,<br />

die historischen Fakten (z.B. der Augsburger Reichstag) werden immer mehr reduziert.<br />

Dennoch bleibt ein Portrait des feudalen Charakters und der höfischen Gesellschaft,<br />

des Historischen enthoben, erhalten. Eine Fixierung in Ort und Zeit ist nicht länger<br />

möglich, was bleibt ist ein ungefährer zeitlicher Rahmen. Zusätzlich wird die folgende<br />

Mummenschanz-Szene vorbereitet. <strong>Faust</strong> befreit sich aus der kleinen Welt und tritt in die<br />

große Welt der Staatsgeschäfte ein, die allerdings wiederum durch viele Momente des<br />

Pittoresken, Absonderlichen und Phantastischen kontrastiert wird.<br />

In der Szene wird der zerrüttete Zustand einer feudalen Ordnung dargestellt. Um<br />

seine Herrschaft nun neu zu begründen, will der Kaiser einen Schatz heben lassen. <strong>Faust</strong><br />

und Mephisto werden zu Wächtern des Schatzes bestellt und müssen danach graben.<br />

In der Folge fällt die Grabung jedoch unter den Tisch, inhaltlich geht die Szene nicht<br />

mehr darauf ein. Stattdessen müssen die zwei sich die Gunst des Kaisers im 4. Akt durch<br />

Kriegsdienst verdienen.<br />

Wilhelm Emrich meint, die Szene sei eine symbolische Gesellschaftsrevue und keine<br />

psychologische Darstellung der Figuren. Die Figuren wären Funktionsträger in der feudalen<br />

korrupten Staatsmaschinerie und keine realen, individuellen Figuren. Die Szene<br />

wäre demnach ein »symbolisches Vorbeiziehen der Wirkungen der Staatsverfassung am<br />

Auge des Betrachters«. So schildert Goethe mit der Geldnotenpresse das Motiv der Erfindung<br />

des Papiergelds.<br />

Goethe hatte als Staatsminister in Weimar durchaus praktische Erfahrungen mit dem<br />

Hof. Und so gestaltet er diese Szene als Ausdruck des staatlichen Verfalls. Der Kaiser


verlangt beispielsweise den Karneval und sorgt sich mehr um seine Narren denn um<br />

seine Untertanen. Die Würdenträger gehen nicht mehr ihrer Arbeit nach, jeder verfährt<br />

nach eigenem Willen (Vers 4784–4786). In diesem Chaos entfaltet sich eine Welt des<br />

Irrsinns, alle Regeln und Normen, was sich gehört und gebührt, lösen sich auf. Der<br />

Kaiser erscheint ohnmächtig und sein Handeln als Farce. In Verschwendungssucht und<br />

Geldmangel manifestiert sich das Übel.<br />

In den 70er Jahren hatte diese Szene auf neomarxistische Interpretationen großen<br />

Einfluss: Der Reichtum der Feudalgesellschaft beruhe auf Raub und nicht auf Arbeit.<br />

Und Plünderung ist in dieser Szene ja durchaus ein Motiv. Die Szene erschöpft sich<br />

jedoch nicht nur in einem Negativbild der Feudalgesellschaft, es geht nicht nur um eine<br />

ästhetische Allegorie der feudalen Gesellschaft. Vielmehr ist sie eine Kritik an einem falschen<br />

Verhältnis der feudalen Gesellschaft zur Natur – ein Motiv das prägend ist für den<br />

gesamten ersten Akt.<br />

Mummenschanzszene<br />

Goethe war als Zeremonienmeister mit den Maskenzügen der Mummenschanz-Zeit,<br />

eine Periode der Verstellung, Erotik und vorgehaltenen Spiegel, sehr vertraut. Neben persönlichen<br />

Erfahrungen greift er aber auch auf Beschreibungen zurück. Zum Beispiel die<br />

des italienischen Dichters Grazzini – dessen komische Literatur, Gedichte mit satirischen<br />

und burlesken Inhalten, kannte Goethe gut. Außerdem hatte Goethe den Karneval in<br />

Rom sehr aufmerksam verfolgt und in der Italienischen Reise beschrieben. Goethe nimmt<br />

soziologische Befunde des Maskenzuges vor, er beschreibt, was im Betrachter vorgeht,<br />

nämlich die Aufhebung zwischen Reich und Arm, Hoch und Niedrig.<br />

In der Szene finden sich durchaus Elemente des Volkfestes, das sich abgrenzt von den<br />

feudalen und geistlichen Festen. Auch dies beobachtete Goethe in Italien. Das Volk war<br />

unmittelbar beteiligt und nur hier, im Wahnsinn des Karnevals, konnten Freiheit und<br />

Gleichheit realisiert werden.<br />

Die Szene bezieht sich allerdings nicht nur auf die Italienische Reise, sondern auch auf<br />

Andrea Mantegnas Bilderzyklus Triumphzug Caesars. Aus dem Zyklus von Mantegna,<br />

ein berühmter italienischer Maler, der sich durch seine starken Farben und würdevollen<br />

Figuren auszeichnet, entnahm Goethe die Idee einer dramatischen Form, die erhabenste<br />

Stoffe mit trivialen Materialien verschränkt. Die Gestaltenvielfalt des römischen Volksfestes<br />

wird so zur eigenen Poesie.<br />

Übergeordnetes, ökonomisches Thema dieser Szene ist aber die Balance von Reichtum,<br />

Verschwendung und Sparsamkeit. Denn in der feudalen Kultur lässt sich durchaus<br />

von einer Verschwendungsästhetik sprechen. Eine Ästhetik, die sich in der Mummenschanzszene<br />

beim höfischen Fest mit dem Volk als Zaungast spiegelt. Die Herold-Figur<br />

übernimmt dabei die Rolle des Festordners und Interpreten der Allegorien. Hier findet<br />

sich eine weitere Parallele zu Goethes Lebensabschnitt als Festordner in der Weimarer<br />

Hofgesellschaft. Dem nachempfunden, dürfen weitere Personen und Gruppen (Gärtnerinnen<br />

und Gärtner, Mütter, Kinder, etc.) im höfischen Welttheater nicht auftreten, weil<br />

es den Anstand verletzten würde. Das Trinklied gen Ende sprengt dann aber doch noch<br />

die Grenzen des höfischen Theaters.<br />

Die Figur des Knaben (Lenker)<br />

Die Figuren des ersten Aktes sind allesamt Allegorien, die die Fülle des Lebens verdeutlichen<br />

sollen. Der Knabe ist eine Allegorie auf die Poesie. In der Mummenschanzszene<br />

kommen vielfältige Kunsttheorien zur Sprache. Pluto wird vom Knaben (Lenker) ge-<br />

17


Homunkulus: Künstlich erzeugter<br />

Mensch. [WAH]<br />

Junges Deutschland: Politischoppositionelle<br />

literarische Bewegung<br />

in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.<br />

Die Jungdeutschen wollten die<br />

Literatur aus einer wirklichkeitsabgewandten,<br />

ästhetisch-idealistischen<br />

Daseinsform herausführen und zu<br />

einem wirksamen Organ des gesellschaftlichen<br />

Lebens machen.<br />

Die Literatur sollte der ethischen,<br />

politischen und sozialen Erneuerung<br />

dienen. [ZWK]<br />

18<br />

fahren und ist ein Vertreter des Reichtums der Poesie, symbolisiert durch die Macht<br />

des Kaisers. Die Poesie hat in der Mummenschanzszene ihre eigene Wirklichkeit, sie<br />

ist nicht abhängig von bürgerlichen Gesichtspunkten wie z.B. der Aufklärung und ist<br />

Inbegriff des Überflusses und der Verschwendung. Außerdem ist sie das dominierende<br />

Gestaltungsmittel für die Szene.<br />

Die Poesie besteht bei Goethe darin, dass die Natur über die Kunst, wie sie bisher definiert<br />

wurde, hinausgeht. In Vers 5519f und Vers 5689–96 wird die Poesie beschrieben,<br />

die Kunst hat eine »scheckige Wildheit« und ist einsam, erhöht und kein Massenphänomen.<br />

Auch Euphorion ist wie der Knabe (Lenker) eine Allegorie auf die Kunst und Poesie.<br />

Wenn Verschwendung das Prinzip der Poesie ist, dann zeigt sich dies auch anhand der<br />

Fülle von Formen, Gattungen, Versen und Motiven im Werk Goethes.<br />

Euphorion, Homunkulus und der Knabe (Lenker) sind als Allegorien androgyne Wesen,<br />

ihre Geschlechtlichkeit ist nicht sicher. Die Auswirkungen auf die Kunsttheorie: Das<br />

ideale Wesen der Allegorien ist für Goethe problematisch, denn sie sind nicht lebensfähig.<br />

Schließlich gilt für die Symbole und Allegorien generell, dass es keine eindeutige<br />

Deutung gibt. So fliegt etwa auch der Knabe (Lenker) am Ende aus seinem Kästchen in<br />

die Weite. Ein Hinweis darauf, dass diese Kunstgestalten bloß eine sehr kurze Lebensdauer<br />

besitzen. Und somit auch ihre Allegorien.<br />

Szene Kaiserliche Pfalz<br />

In dieser Szene zeigt sich, dass das Thema von der Verschwendung der Kunst etwas Neues<br />

ist, denn in der Poetik der Aufklärung galten die Begriffe prodesse et delectare – Kunst<br />

muss nützen und/oder erfreuen. Kunst als bloßer Luxus gab es in der bürgerlichen Ästhetik,<br />

die Goethes Zeitgenossenschaft prägte, nicht. Diese Idee kommt unter anderem<br />

aus der verschwenderischen und opulenten Ästhetik der feudalen Repräsentation: jeder<br />

noch so kleine Hof in Deutschland feierte Feste etc. Diese Momente der Verschwendung<br />

erfuhr Goethe in Weimar. Die feudale Ästhetik sollte die Mängel des bürgerlichen Lebens<br />

ausgleichen und eine Gegenwelt schaffen, das nicht gelebte Leben des Einzelnen<br />

ersetzen. Goethe wurde nach seinem Tod vom Jungen Deutschland heftig für diese feudale<br />

Repräsentation kritisiert. Der Überfluss zeigt sich aber nicht nur in den Themen, sondern<br />

auch im Stil; hier ist Goethe auf Abwechslung bedacht und beeinflusst von der orientalischen<br />

Poesie (Vers 5512–5520). Mit dem Bild der magischen Laterne, der laterna<br />

magica, und anderen Bildern werden Vorstellungen vom farbigen Abglanz des Lebens<br />

vorgestellt. Für Goethe ist der Orient das Ursprungsland der Poesie (vgl. seine Schrift<br />

Westöstlicher Diwan). Er erkannte den Despotismus der orientalischen Regenten und<br />

Herrscher, sah ihn allerdings gleichzeitig als großen Förderer der Poesie. In der Tat waren<br />

die orientalischen Höfe viel poesieträchtiger als die kaiserlichen Höfe des Mittelalters.<br />

Aber auch hierfür wurde Goethe angegriffen, schließlich sei der orientalische Despotismus<br />

grausamer als der mittelalterliche gewesen. Der Knabe (Lenker), die Poesie,<br />

tritt dementsprechend als Sohn eines orientalischen Herrschers auf, nicht als der eines<br />

mittelalterlichen Herrschers.<br />

Für Goethe waren Freiheit und Knechtschaft zwei Pole, die einander bedingen, er<br />

macht diese Vorstellung für sein Werk fruchtbar (vgl. Noten und Abhandlungen). Gleichgewicht<br />

zwischen den beiden Polen kann hingegen nur für kurze Zeit gefunden werden.<br />

Als der Kaiser mit der Maske des Pan im Feuer auftritt, spielt Goethe auf eine weit<br />

verbreitete Stimmung innerhalb des deutschen Adels an. Dieser liebäugelte mit der Französischen<br />

Revolution, bedachte allerdings, in Goethes Augen, nicht die Konsequenzen


dieser Koketterie. Auch in Goethes Unterhaltung deutscher Ausgewanderten wird diese<br />

Haltung des Adels satirisch aufgearbeitet.<br />

Am Ende der Lustgarten-Szene ist der Narr der eigentliche Gewinner. Die Mummenschanzszene<br />

erscheint als die szenische, revueartige Darstellung des Wahnsinns, des<br />

Chaos, der Raserei. Ein Wahnsinn, der aus der Nivellierung der Stände resultiert. Die<br />

Abkehr von ständischen Prinzipien führe demnach laut Goethe in die Unfreiheit. Ein<br />

Punkt, der Goethe viel Kritik einbrachte. Da sich Goethe allerdings in seinem Spätwerk<br />

von allen Eindeutigkeiten losgesagt hat, können solche Kritiken nicht wirklich greifen,<br />

da sie nicht alle Aspekte von Goethes Einstellung erfassen.<br />

Nach der Mummenschanzszene folgen die ersten Vorboten der Helena-Handlung.<br />

Diese wird stärker mit <strong>Faust</strong> und Mephisto in Verbindung gebracht. So sind Paris und<br />

Helena Musterbilder von Mann und Frau – Musterbilder, zu denen der Teufel keinen<br />

Zugang hat. Es wird der Versuch sichtbar, die Macht des Teufels mit der antiken Heroine<br />

zurückzunehmen (Vers 6201). Diese Figuren sind der Gewalt des christlichen Teufels<br />

entzogen, Mephisto gerät an die Grenzen seiner eigenen Kunst. Mephisto ist nun in<br />

seinem Wesen unproduktiv, er kann nur bereits Gewesenes hervorbringen, nichts Eigenes.<br />

Helena aber ist einerseits eine Figur der Antike und andererseits der Inbegriff des<br />

gewesenen Seins. Sie ist also nicht nur historisch zu sehen, sondern verkörpert auch die<br />

Vergänglichkeit.<br />

Die Fragen des Seins, des Lebens und der Historizität haben bei Goethe immer auch<br />

Dimensionen seiner Kunstphilosophie, eine ontologische Dimension der antiken Kunst<br />

für die Moderne. Die antike Kunst ist also nichts, das längst vergangen wäre, sondern<br />

sie hat immer noch große Bedeutung für die Moderne: Die antike Kunst ist gleichzeitig<br />

Ursprungswelt der Moderne als auch ein mögliches Potential. Darin unterscheidet sich<br />

Goethe von Schiller, bei dem die Moderne die Folge der Vertreibung aus dem antiken<br />

Kunstparadies darstellt. Bei Schiller wird die Antike mit Idylle gleichgesetzt, die nicht<br />

in die Moderne zurückgeholt werden kann. Goethe begreift dagegen die antike Welt als<br />

Chance für die Gegenwart, solange sie nur richtig genutzt wird. Die antike Welt gibt so<br />

viel frei von der eigenen Menschenkraft, dass sie für die Moderne ein wichtiges kreatives<br />

Potential darstellt. Es findet eine Relativierung des historisch Entstandenen statt. Die<br />

Antike wird bei Goethe als ein Potential für neue kreative Möglichkeiten des Lebens und<br />

der Kunst gedeutet.<br />

Schließlich stand Goethe der Mittelalterideologie der Romantiker kritisch gegenüber,<br />

er hielt sie für reinen Eskapismus. Dies verdeutlicht sich in den Aussagen des Architekten<br />

über die gotische Kunst. Wie wichtig Goethe die Antike war, lässt sich auch daran<br />

erkennen, dass antike Kunstformen nicht einfach nur abgebildet, sondern neu geschaffen<br />

werden. Im Mittelpunkt steht das Lebendige, die Kraft und Energie, die diese Formen<br />

bereithalten, wenn man mit ihnen kreativ umgeht. Im <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> zeigt sich ein meisterhafter<br />

Umgang mit diesen Formen. So lässt sich zwar vieles auf seine Ursprünge zurückführen,<br />

z.B. die antiken Kunstformen – wesentlich wichtiger ist aber ihre Umgestaltung.<br />

Dabei bedient sich Goethe sogenannter »lebender Bilder«. Diese waren eine Art Gesellschaftsspiel<br />

im 18. Jahrhundert, bei dem berühmte Gemälde mit Szenen der antiken<br />

Mythologie durch lebende Personen nachgestellt wurden. Das Erscheinen Helenas ist<br />

diesen Bildern nachgestaltet.<br />

Und ist in <strong>Faust</strong> I die Figur <strong>Faust</strong>s in seiner Entwicklung und seinen Irrtümern noch<br />

psychologisch dargestellt, so ist dies in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> nicht mehr der Fall. Im ersten Akt tritt<br />

er in der Maske Plutos’ auf. Die Masken sind nicht mehr Teil einer psychologischen Entwicklung,<br />

sondern Ausdruck der Prinzipien Wiederholung, Variation und Steigerung.<br />

Ontologie: Teil der antiken Philosophie,<br />

die das eigentliche Wesen der<br />

Entitäten (Dinge) erforscht. In der<br />

modernen Philosophie werden diese<br />

Untersuchungen auf die gesamte<br />

Existenz ausgeweitet. [DDP]<br />

Pluto: Er ist der Gott des Reichtums<br />

und Sohn von Demeter, der Göttin der<br />

Fruchtbarkeit. Nicht zu verwechseln<br />

mit Pluto, dem Beinamen von Hades,<br />

dem Gott der Unterwelt. [WWM]<br />

19


20<br />

Der Zweite Akt<br />

Die Antike sieht Goethe nicht nur als die Epoche der höchsten Kunst, sondern als jene<br />

Epoche, in der der Ursprung der Dinge in ihre Erscheinung selbst hinein tritt. Der Ursprung<br />

nimmt also Gestalt an in der Erscheinung, die lebendig wird.<br />

Am Schluss des ersten Aktes wird dies deutlich: Er hat nichts mit Harmonie und<br />

Einfalt (im Sinne von Einfachheit) zu tun. Mit einem solchen Verständnis der Antike<br />

hat Goethe im Alterswerk nichts mehr zu tun, wie sich auch im zweiten und dritten Akt<br />

zeigt.<br />

Denn Goethe hat sich erst im Frühjahr 1829 mit dem zweiten Akt beschäftigt. Anhand<br />

der zahlreichen Notizen und Beobachtungen lässt sich belegen, dass er etwa mit<br />

den Homunkulus-Szenen dem Werk mehr symbolische Tiefe verleihen wollte. Und der<br />

abschließende Walpurgisnachtkomplex sollte in den dritten Akt zu Helena hinüberleiten.<br />

Neben der wichtigen Figur des Homunkulus spielen im zweiten Akt vor allem Themenschwerpunkte<br />

des Zeugens, des Ins-Leben-Tretens eine Rolle. Diese gipfeln in der<br />

Schöpfungsfeier des Meeres, worin Homunkulus das Element findet, dem er entsprungen<br />

ist.<br />

Erste Szene<br />

Diese Szene ist die Kulisse für eine Zeitreise in das Vergangene. Die hohen gotischen<br />

Zimmer erinnern an eine Schreckensreise in die Vergangenheit (Vers 6567–6569). Ursprünglich<br />

war eine Zeitreise in eine alternative Vergangenheit <strong>Faust</strong>s mit Gretchen geplant,<br />

doch diese Idee ließ Goethe völlig fallen.<br />

Vielmehr konzentriert sich Goethe auf alles Entstandene, alles Gewesene, auf die<br />

Existenz in einem möglichst umfassenden Sinn. In diesen Kosmos wird <strong>Faust</strong> hineingestellt,<br />

er muss dies erleben, bevor Helena erneut und dauerhaft erscheinen kann.<br />

Mephisto ist in diesem Akt nicht mehr <strong>Faust</strong>s Gegenspieler, sondern jener Helenas.<br />

Dies ist die Kernkonstellation des zweiten Aktes. Mephisto ist der Gebieter einer pervertierten<br />

jungen Schöpfung, des Homunkulus; er ist die personifizierte Hässlichkeit,<br />

während Helena die personifizierte Schönheit darstellt. Mephisto ist der Handlanger des<br />

Bösen in einem christlichen Verständnis, für die Antike gilt dies jedoch nicht. Und auch<br />

wenn er das Hässliche in sich vereint, so kann er nicht die Schönheit Helenas vernichten.<br />

Der Gegensatz zwischen Mephisto und Helena lässt sich als Gegensatz der hässlichen<br />

Moderne zur antiken Schönheit deuten. Die Verse 6678–6682 sprechen laut dem Komparisten<br />

Gert Mattenklott für eine Deutung, die höchste Aktualisierung anstrebt: Die<br />

Figurenkonstellationen können als Comicstrip gelesen werden.<br />

Der Bakkalaureus dieser ersten Szene ist nicht mehr mit dem Sturm und Drang in<br />

Verbindung zu bringen, sondern mit der Jugend der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts.<br />

So sind die Verse 6807–6814 eine Persiflage auf jene Jugend und ihre Grünschnäbelei.<br />

Allerdings ist dies auch die Fortsetzung der Wissenschaftssatire aus <strong>Faust</strong> I, in dem Goethe<br />

mit vergangenen Wissenschaftsmodellen abrechnet; in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> geht Goethe mit der<br />

jungen Generation der Romantik scharf ins Gericht. So ist zum Beispiel Euphorion ein<br />

Symbol für die nicht lebensfähige romantische Poesie.<br />

Der Bakkalaureus vertritt die Generation der jungen Aufsteiger, die viele Kompromisse<br />

eingeht (Vers 6786 f.). Er wäre demnach eine Satire auf die jungen Romantiker.<br />

Goethe überschreitet dabei allerdings selbst in seinem Spätwerk die Grenzen der Klassik<br />

und nähert sich zum Teil (vor allem in den Wahlverwandtschaften) der Romantik an.<br />

Insgesamt jedoch argumentiert Goethe in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> aus einer defensiven Rolle heraus, in


der er sich gegen das Neue verteidigt. So sind die Satiren auf das Neue Teil der Gesamtkonzeption<br />

des zweiten Aktes, des Verhältnisses vom Alten zum Neuen.<br />

Zusätzlich verkörpert Bakkalaureus aber auch Goethes Kritik am Fortschritt, den der<br />

Kapitalismus hervorgebracht hat. Im 4. und 5. Akt wird jene Kritik noch deutlicher:<br />

Philemon und Baucis, die aus ihrer angestammten Gegend vertrieben werden, sind ein<br />

Beispiel für die Skrupellosigkeit dieses Fortschritts. In diesem Zusammenhang beklagte<br />

Goethe zum Beispiel, dass die Lebenserfahrung nichts mehr zählt, was sich im Text<br />

durch Bakkalaureus’ Abneigung gegenüber der Erfahrung zeigt. Bakkalaureus wird als<br />

verblendet gezeichnet, er will das Universum aus seinem eigenen Geist neu erschaffen –<br />

ein nach Goethes Ansicht kurzsichtiges und kaum mögliches Unterfangen.<br />

Homunkulus<br />

Wie wichtig die Homunkulus-Figur ist, lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass der<br />

zweite Akt häufig als Homunkulusakt bezeichnet wird.<br />

Homunkulus untersteht nicht Mephisto; vielmehr dient er <strong>Faust</strong> bei seinem Gang<br />

in die Unterwelt zu Helena. Mephisto kann <strong>Faust</strong> dorthin nämlich nicht leiten, nur<br />

begleiten. Wie Euphorion ist auch der Homunkulus ein androgynes Wesen, also von<br />

geschlechtlicher Uneindeutigkeit gekennzeichnet. Er wird als Symbol des Dämonischen<br />

gedeutet, aber auch als eine Figur der ansteckenden Tatkraft. Als ambivalente Figur angelegt,<br />

trägt er Züge des Monströsen in sich. Vor allem aber zeigt der Homunkulus eine<br />

ungeheure Tatkraft, sein Wesen ist völlige Tätigkeit, die künstlich gezeugt ist. Zu den<br />

elementaren Energien gehörend, verflüchtigt sich der Homunkulus wieder, als er aus<br />

der Phiole herauskommt und sich als nicht lebensfähig erweist. Dass die Figur Goethe<br />

wichtig erschien, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass Homunkulus unter dem Namen<br />

Mignon in Wilhelm Meisters Lehrjahre wieder auftritt.<br />

Wie der Knabe (Lenker) hat auch Mignon eine Neigung zum Schönen, mit einem<br />

Hang zur Dämonie. Der deutsche Literaturwissenschaftler Wilhelm Emrich hat die Verwandtschaft<br />

zwischen Mignon, dem Knaben (Lenker), Homunkulus und Euphorion<br />

herausgearbeitet. Sie sind die geniale Möglichkeit ohne Verwirklichung und teilen sich<br />

die Eigenschaft der Sehnsucht, Schwerelosigkeit und Geschlechtslosigkeit.<br />

Homunkulus nötig, um <strong>Faust</strong> an dieser Stelle nicht im Vergangenen verharren und<br />

umkommen zu lassen; denn diese Gefahr droht in der ersten Szene durchaus. Doch<br />

<strong>Faust</strong> entwickelt sich auch nicht wirklich weiter, vielmehr durchläuft er bloße symbolische<br />

Abschnitte.<br />

Die klassische Walpurgisnacht<br />

Die klassische Walpurgisnacht ist in drei Szenen gegliedert, die durch griechische Landschaften<br />

geprägt sind – nämlich durch den Flusslauf Peneios, der Hauptstrom der griechischen<br />

Region Thessalien, sowie die obere Peneios-Region und die Felsbucht des Ägäischen<br />

Meeres.<br />

Den römischen Wurzeln der Figur Erichtho (Szene Pharsalische Felder), einer Hexe,<br />

die auf den antiken römischen Dichter Lukan zurückgeht, kann Goethe nicht viel abgewinnen.<br />

Er gestaltet sie neu und gestaltet ihren Monolog so, dass darin die kommende<br />

Begegnung von <strong>Faust</strong> und Helena vorweggenommen wird. Erichtho kennzeichnet das<br />

Schauderhafte und das Negative der historischen Vergangenheit. Diese politische Geschichte<br />

ist eine Geschichte der Herrscherkämpfe, in denen Gewalt triumphiert hat.<br />

Genau dieses Bild ist nicht die Antike, nach der sich <strong>Faust</strong> sehnt (Vers 6956 f.). Im<br />

historischen Hin und Her stellt sich für Goethe das Ringen der politischen Kräfte dar.<br />

21


22<br />

Goethe bewertet die politische Geschichte negativ, als Teil des ewigen Geschiebes von<br />

politischen Kräften.<br />

Die Verbindung von heidnischer und christlicher Welt wird sehr harmonisch dargestellt,<br />

eine Verbindung von Nord und Süd, von klassischer Schönheit und moderner,<br />

sehnsüchtiger Begehrlichkeit. Damit wird bereits die Verbindung von <strong>Faust</strong> und Helena<br />

angedeutet.<br />

So ist Erichthos Funktion in dieser Sequenz dann auch Vorausdeutung, Vorwegnahme<br />

und Vorspiel.<br />

Die Zeit ist in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> rein symbolisch, doch der Text ist naturgemäß gezwungen,<br />

eine Aufeinanderfolge zu gestalten. Sie ist aber nicht chronologisch zu verstehen. Die<br />

dramatische Handlung gehorcht keiner logischen Abfolge, sondern einer symbolischen.<br />

Die Walpurgisnacht muss demnach als Vor- und Zwischenspiel für den Helenaakt gesehen<br />

werden. Die konkret-reale Geschichte der Antike lehnt Goethe als Vorbereitung für<br />

den Helenaakt ab, stattdessen werden Aspekte der Schönheit hervorgestrichen. Ein Widerstreit<br />

von Realismus und Idealismus zeichnet sich da bereits ab; Goethe löst sich vom<br />

Realismus der politischen Geschichte. Die politische Geschichte wird in der Symbolik<br />

des Textes als ein Totenreich gesehen, Unerwartetes geschieht hier nicht mehr.<br />

Goethe hebt stattdessen das Zentrale seiner Antike hervor: Der Mensch muss in der<br />

Antike lebendig werden und sich darstellen. Die Antike gestaltet sich demzufolge als ein<br />

Gegenbild der Moderne. Nicht jedoch als die Summe nachahmenswerter Kunstwerke<br />

oder zu wiederholender politischer Geschichte, sondern als Inbegriff von Lebensintensität,<br />

die an den modernen Menschen weitergegeben werden muss. Diese Lebensintensität<br />

wird durch die vielen Figuren der Mythologie, die verschiedensten Vorstellungen und<br />

die mannigfaltigen Themen in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> repräsentiert.<br />

Goethe behandelt die politische Geschichte der Antike mit Geringschätzung, er verachtet<br />

die immer wiederkehrenden Machtkämpfe, die aber auch im Mythos nicht wegzudenken<br />

sind. So wird die mythische Welt in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> als ein Totenreich gesehen, es passiert<br />

nichts Unerwartetes – wie auch in der politischen Geschichte. Damit ist die Antike<br />

das Gegenbild der Moderne. Die Antike ist nicht eine Summe von nachahmenswerten<br />

Kunstwerken, sondern der Inbegriff von Lebensintensität.<br />

Die Anregung für die lebensspende Kraft des Südens erhielt Goethe bereits während<br />

seiner Italien-Reise, mit der er dem Weimarer Hof und der dort herrschenden menschlichen<br />

Erstarrung entfliehen wollte. Ganz ähnlich gestaltet Goethe dann auch <strong>Faust</strong>s<br />

Eintreten in die Antike.<br />

Die Reihe an mythischen Episoden folgt dabei keiner logischen Reihenfolge, sondern<br />

jener des Märchens. Als Vorbild dienten Goethe die orientalischen Sammlungen wie<br />

zum Beispiel Tausendundeine Nacht. Der Orient regt Goethes Formphantasie an, im<br />

Text gibt es Anklänge an orientalische Märchen, die zum Inbegriff der Phantasie werden.<br />

Wichtig ist vor allem die Auflösung von Raum und Zeit, was auch für die deutschen<br />

Volksmärchen gilt. Letztere waren für Goethe inhaltlich aber nicht relevant, Vorbild für<br />

<strong>Faust</strong>s Reise, die von Mephisto sowie die des Homunkulus ist stattdessen das orientalische<br />

Stationenmärchen.<br />

Die Stationen, die <strong>Faust</strong> durchläuft, sind bestimmt von Sphinxen, Sirenen und Greifen.<br />

Diese stellen eine Antike dar, die wenig mit Winckelmanns Auffassung der Antike<br />

als »edle Einfalt [Einfachheit] und stille Größe« zu tun hat. Johann Joachim Winckelmann,<br />

deutscher Archäologe und Kunsthistoriker aus dem 18. Jahrhundert, vertrat die<br />

Auffassung, dass Schönheit die höchste Aufgabe der Kunst sei. Doch die Sphinxen, Sirenen<br />

und Greifen gehören einer Ästhetik des Hässlichen an. So weist etwa Mephisto<br />

darauf hin, dass diese Monster den Besucher aus dem Norden durchaus ästhetisch interessieren.<br />

Über die Ästhetik, gleich welcher Natur, rückt das Ziel <strong>Faust</strong>s, die Begegnung


mit Helena, näher – somit auch durch die Konfrontation mit den Monstern. Als nächste<br />

Station folgt dann der Fluss Peneios.<br />

Das leitende Bild ist jenes des Traums. Das Thema des Traums lässt sich auf den<br />

gesamten zweiten Akt übertragen und somit ließe sich der Akt als Versuch <strong>Faust</strong>s, ein<br />

Leben wieder zu finden, das ihn an einen Traum erinnert hat, interpretieren.<br />

Die darauf folgende Chiron-Passage wird in der Forschung durchaus als ironisch gesehen,<br />

die der Naivität der Anbetung des Südens durch die Romantiker entgegengesetzt<br />

wird.<br />

Rolle der Musik<br />

Die Szenenangaben beinhalten stets Vermerke zur Musik. So soll Musik erklingen, die<br />

das Arkadien idyllisch untermalen soll. Musikangaben finden sich auch bei den Sphinxen<br />

und den singenden Sirenen, wobei die Wirkung des Gesangs der Sirenen bei Mephisto<br />

nicht bis zum Herzen vordringt. Es wird erneut deutlich, dass Mephisto kein<br />

Recht im antiken Kosmos hat. Denn die Musik ist dem Schönen verbunden, gleichsam<br />

verführerisch und außerdem ist sie ein Antipode zur Erstarrung. Im Text wird also eine<br />

Opposition zwischen dem Granit, Material der Sphinx und Symbol der Bewahrung, und<br />

der Musik, dem Verführerischen, Verflüssigenden und trotzdem Beruhigenden sowie Lebenserweckenden,<br />

deutlich.<br />

Prinzip der Behaglichkeit – Neptunismus<br />

Im Alterswerk <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> zeigt sich Goethes Lust am Fabulieren. Dies führt dazu, dass<br />

Wichtiges von seiner Sinnschwere befreit werden soll. In zweideutigen Szenen kommt<br />

zum Beispiel das Verschmitzte deutlich zum Vorschein. Eine solche Interpretation wird<br />

durch Selbstäußerungen Goethes gestützt. In der Frage nach der ästhetischen Funktion<br />

der Kunst für die Gesellschaft, die seit der Aufklärung relevant ist, hat Goethe etwa<br />

seine Anforderungen im Alter durchaus zurückgenommen. Dadurch wird die These der<br />

Behaglichkeit Goethes weiter gestützt, er zeigt diese Distanz von überspannten Erwartungen<br />

im gesamten <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>. Behaglichkeit tritt an die Stelle des Pathos, Gelassenheit an<br />

die Stelle des (gesellschaftlichen) Kämpferischen. Hegel hat diese Liberalität und den Altershumor<br />

unter dem Stichwort des »objektiven Humors« zusammengefasst, womit eine<br />

Haltung der Versöhnlichkeit gegenüber den Widrigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft<br />

gemeint ist. Die Walpurgisnacht lässt also Gelassenheit und Heiterkeit erkennen.<br />

Im Text hat aber das seismische Beben nicht nur die geologische Welt verändert,<br />

sondern auch die soziale und politische Welt der klassischen Walpurgisnacht (Vers 7875).<br />

Das gegenseitige Vernichten, dieser darwinistische Kampf (Vers 7884-7947), in dem<br />

kurzzeitig die Stärkeren siegen und schließlich eine Macht von außen ein Ende setzt,<br />

ließe sich als Allegorie der Französischen Revolution bis zur Machtübernahme Napoleons<br />

deuten. Der Kampf zwischen Kranichen und Pygmäen würde dann auf den Kampf<br />

zwischen Neureichen aus dem dritten Stand, die Revolutionsgewinner, und Anhängern<br />

der französischen Monarchie anspielen. Und die Freisetzung des Goldes aus dem Boden<br />

wäre eine Allegorie für die gewaltsame Kapitalisierung von Grund in Boden im Verlauf<br />

der Revolution. Goethe war von diesen unausweichlichen Vorgängen der Revolution<br />

fasziniert wie von einem Naturereignis. Auch Napoleon übte auf Goethe eine große<br />

Faszination aus. Er traute ihm eine ungeheure Kraft in der Umgestaltung Europas zu.<br />

Die Klassenkämpfe der Französischen Revolution sind Folgen einer Umwälzung, die an<br />

sich produktiv ist, die aber zerstört wird durch die moralische Wendung zum Schlechten.<br />

Die Akteure sind dem Geschehen moralisch schlichtweg nicht gewachsen. Zerstörend<br />

Chiron: In der griechischen Mythologie<br />

ein weiser, menschenfreundlicher<br />

Kentaur, sprich Pferdemensch. Erzieher<br />

großer Helden wie zum Beispiel<br />

des Achilleus. [WWM]<br />

Georg Wilhelm Friedrich Hegel:<br />

(1770–1831) Deutscher Philosoph,<br />

der in die Phänomenologie des Geistes<br />

(1807) den Bildungsgang des<br />

menschlichen Geistes vom Bewusstsein<br />

zum spekulativen Denken der<br />

Philosophie verfolgt. In den posthum<br />

veröffentlichen Schriften Vorlesungen<br />

über Ästhetik (1835–1838) wird der<br />

Anspruch gestellt, nicht nur die Geschichte<br />

der Kunst, sondern auch die<br />

Idee des Kunstschönen systematisch<br />

zu erfassen. Auffallend ist an den<br />

Schriften die Idealisierung antiker<br />

Kunst, besonders der Plastiken sowie<br />

der Dramen, sprich der Tragödien.<br />

Prosa stünde dagegen im Zeichen<br />

des sich abzeichnenden »Ende der<br />

Kunst«. [MLK]<br />

23


Galathea: Statue aus Elfenbein,<br />

geschaffen vom Künstler Pygmalion,<br />

der nichts von den lasterhaften,<br />

weltlichen Frauen wissen wollte und<br />

sich stattdessen ein Abbild, schöner<br />

als jedes Mädchen, schuf. Erst in der<br />

Neuzeit bekommt die Statue ihren<br />

Namen, benannt nach der gleichnamigen<br />

Meergöttin. [WWM]<br />

24<br />

ist auch die Gewaltherrschaft der Kleinen, nicht nur der Großen (vgl. Auerbachs Keller,<br />

<strong>Faust</strong> I).<br />

Goethe bestreitet nicht die schöpferische Energie solcher politischen Umwälzungen.<br />

Doch die Umwälzungen können allerdings genauso schnell wieder verschwunden sein,<br />

wie sie auftraten. Goethe stand in der zeitgenössischen Tradition zwischen den Vulkanisten,<br />

die Verfechter großer, eruptiver Veränderungen, und den Neptunisten, die, ähnlich<br />

dem Wasser, durch stetige, sanfte Bewegung Veränderungen bewirken wollen. Das<br />

Wasser vermag leblose, erstarrte Formen aufzuweichen, im Gegensatz zur harten Gewalt<br />

des vulkanischen Bebens. Im Text ist etwa Thales, ein griechischer Naturphilosoph, der<br />

Prophet des weichen Wassers (Vers 7861). Die seismologische Revolte korrespondiert<br />

mit der Flammengaukler-Episode der Mummenschanzszene. Dort gibt es eine Entfesselung<br />

plutonischer Mächte, auch finden sich die Goldmetaphorik und Anspielungen<br />

auf die vier Elemente und das Erscheinen Napoleons. In der Walpurgisnacht ist neu, dass<br />

die politische Geschichte in die Erdgeschichte projiziert wird und daraus ergibt sich eine<br />

neue Sicht und Beurteilung der politischen Geschichte. Thales, Vertreter des neptunischen<br />

Prinzips, und nicht Anaxagoras, Vertreter des vulkanischen Prinzips, wird zum<br />

Lehrer des Homunkulus. Der Gegensatz von Stein und Wasser wird auch in der ästhetischen<br />

Konzeption deutlich. Geschichtliches, Mythologisches spielt zusammen und wird<br />

humorvoll eingesetzt – eine Entsprechung zur weichen Gewalt des Wassers. Das Prinzip<br />

der Behaglichkeit widerspricht beispielsweise Hegels Selbstgerechtigkeit gegenüber der<br />

eigenen Gegenwart. Diese Behaglichkeit soll versöhnen mit der Zeit, die notwendig<br />

ist, damit etwas Dauerhaftes entstehen kann. Je gemächlicher die Wahrnehmung wird,<br />

desto reicher und vielseitiger ist die Fülle dessen, was man sieht. Und die Ausbreitung<br />

der Fülle von Möglichkeiten und Wahrnehmungen steht wiederum in Einklang mit<br />

Goethes verschwenderischem Umgang mit Figuren und Gestalten.<br />

In Vers 8264 ff. zeigt sich als weiterer Aspekt der Wassermetaphorik eine gewisse<br />

Erotik im Text, so tritt das Phallische gegenüber dem Erotischen zurück.<br />

Szene Felsbuchten des Ägäischen Meeres<br />

Diese Szene wird immer wieder als einer der Höhepunkte von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> angesehen, besonders<br />

wegen des hymnischen Tons in den letzten Zeilen der Szene. Diese hymnischen<br />

Partien lassen sich als Verklärungen des Augenblicks lesen. Es geht um Einkehr und<br />

einen mystischen Zustand, so ist das Wasserfest ein Moment, der zur Ewigkeit geweitet<br />

wird, weil er eine unendliche Produktivität in sich birgt. Das Symbol vom zur Ewigkeit<br />

geweiteten Augenblick ist die entscheidende Konstellation der Schlussszene des zweiten<br />

Akts, so heißt es zum Beispiel »Mond im Zenit verharrend«. Der Augenblick wird hier<br />

als Fest gestaltet, was auf eine lange Festtradition seit dem 17./18. Jahrhundert zurückgeht,<br />

die im Stillstand der Zeit große Produktivität verborgen sieht. Diese letzte Szene<br />

entspricht dem barocken Fest in der Mummenschanzszene.<br />

In dem Fest treten nicht nur Götter des Altertums und mythologische Figuren, sondern<br />

auch sagenhafte Ureinwohner der griechischen Inseln auf. Hier werden die Grenzen<br />

der barocken Feste von Goethe gesprengt und durch heidnische Kulthandlungen, Natursymbolik<br />

und Monstergestalten halb tierischer, halb menschlicher Gestalt erweitert. Der<br />

Höhepunkt des Wasserfests ist die Hochzeit von Galathea und Homunkulus. Galatheas<br />

Schönheit ist in Höhlen versteckt, sie wirkt also nur noch im Verborgenen fort. Als die<br />

Phiole des Homunkulus am Wagen der Galathea zerspringt, ist diese Katastrophe keine<br />

seismische Revolution in ihrer Bedeutung, sondern ein Übergang in eine neue Produktivität<br />

(Vers 8435–8437). Dieses Zerbrechen entspricht Goethes naturphilosophischer


Überzeugung, dass das Leben aus hermaphroditischen Wesen entstanden ist. Erst durch<br />

das Zerbrechen werden die Menschen von ihrem hermaphroditischen Dasein erlöst.<br />

Thales ist wiederum ein Sprachrohr für Goethes evolutionäre Naturphilosophie (Vers<br />

8321 f.). Diese Vorstellung lässt sich auch auf Goethes Sicht auf die Gesellschaft übertragen.<br />

Die Auflösung des Homunkulus entspricht der Ansicht, dass Auflösung und Zerstörung<br />

auch Entstehungskräfte beinhalte – die Geschichte wäre demnach ein unendlicher<br />

evolutionärer Prozess. Das ständige Werden und Vergehen wird auf gesellschaftliche<br />

Vorgänge übertragen und ist bezeichnend für Goethes Alterswerk. Ebenso treten Figuren<br />

auf, die zugleich das Heroische und das Gewöhnliche repräsentieren. So erhebt Goethe<br />

in seinen späteren Werken den Aufstieg des Gewöhnlichen zum Heroischen zum gesellschaftlichen<br />

Prinzip.<br />

Doch die Vermählung von Homunkulus und Galathea ist nicht nur als biologischer<br />

Mythos zu feiern, sie ist auch ein Symbol für die Kunst. Schließlich ist für Goethe die<br />

Erneuerung der Kunst nicht zu trennen von der Erneuerung des Lebens. Künstliches löst<br />

sich auf und macht neuen Formen Platz. Galathea erscheint somit als die letzte Präfiguration<br />

Helenas, bevor Helena nun im dritten Akt endlich selbst auftritt.<br />

Verhältnis <strong>Faust</strong> und Mephisto in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />

Im Gegensatz zu <strong>Faust</strong> I erscheinen <strong>Faust</strong> und Mephisto ganz rollenhaft, Mephisto ist<br />

nicht mehr als Alter Ego <strong>Faust</strong>s zu sehen. Mephisto steht stattdessen ganz im Dienst der<br />

Allegorien. Der hässliche Phorkyas ist jene Rolle, in die Mephisto schlüpft und somit<br />

zum Kontrast zu Helenas Schönheit wird. Mephisto ist das verneinende, vernichtende<br />

Prinzip des geschichtlichen Lebens, das die Vergänglichkeit ist. Dabei ist Mephisto in<br />

seiner Negation nicht als moralisch zu sehen, sondern dieser Geist der Verneinung und<br />

Zerstörung ist Teil der ambivalenten Struktur des neuzeitlichen Geschehens. Manipulation<br />

sowie Instrumentalisierung alles Menschlichen macht die Maske des Mephisto<br />

aus. Als <strong>Faust</strong> in die Sphäre Helenas tritt, spricht er in jambischen Trimetern, bedächtig,<br />

sanft, langsam, entsprechend dem Symbol der Wolke als Tragewerk. Mephisto hingegen<br />

tritt mit Siebenmeilenstiefeln auf, dem Symbol für Fortschritt, den sie gleichzeitig karikieren.<br />

Die Widernatur, dargestellt durch die Siebenmeilenstiefel, bewirkt, im Gegensatz zur<br />

Natur, den Fortschritt. Die Stiefel sind Ausdruck von Magie, was in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> die Aufhebung<br />

der natürlichen Kräfte durch die instrumentelle Vernunft bedeutet.<br />

Goethe setzt mit Mephisto einen Kontrapunkt zum natürlichen Verlauf der Geschichte,<br />

mit dem Erdbeben in der Walpurgisnacht, das auf die Französische Revolution verweist.<br />

Das Auftreten von <strong>Faust</strong> und Mephisto im dritten Akt hat unterschiedliche Form<br />

und Funktion: <strong>Faust</strong> hat Zugang zum Schöpferisch-Ursprunghaften, den Mephisto eben<br />

nicht hat. Trotzdem gehören Mephisto und <strong>Faust</strong> zusammen, denn das Wesen der Neuzeit<br />

ist ambivalent. Der Prozess der Denaturierung ist so gestaltet, dass er an die Grundlagen<br />

des menschlichen Daseins rührt und die humanen Substanzen bedroht.<br />

Der moderne Fortschritt, dessen Repräsentant Mephisto ist, führt zur Entfremdung.<br />

Doch <strong>Faust</strong> wehrt sich gegen die mephistophelischen Praktiken der Magie, weil er bemerkt,<br />

dass auch er von der Naturentfremdung zunehmend beherrscht wird.<br />

25


26<br />

Dritter Akt – Der Helenaakt<br />

Die Arbeit an diesem Akt hat Goethe erst 1825 wieder aufgenommen und eigentlich<br />

als separate Veröffentlichung geplant. Dieser Akt sollte der Gipfel des gesamten Werkes<br />

werden. Helena kommt bereits im <strong>Faust</strong>buch von 1587 vor, wo es eine Verbindung zwischen<br />

<strong>Faust</strong> und Helena gibt. Und auch Marlowe greift die Figur Helenas auf.<br />

Die ersten beiden Akte führen zur endgültigen Begegnung <strong>Faust</strong>s mit Helena hin.<br />

Im ersten Akt beschwört <strong>Faust</strong> als Zauberkünstler Helena. Im zweiten Akt gibt es die<br />

Andeutung von Homunkulus, dass <strong>Faust</strong> von Helena träumt. Im dritten Akt schließlich<br />

begegnet <strong>Faust</strong> Helena und vereinigt sich mit ihr in Liebe, es ist der Gipfel der bisherigen<br />

Geschehnisse.<br />

Der dreiteilige Aufbau des Aktes entspricht einer dreiphasigen Geschichtskonzeption,<br />

in der die Antike vermittelt werden soll. In der ersten Szene wird die Antike noch<br />

lediglich historisch vermittelt, in der zweiten Szene wird sie über das Spätmittelalter<br />

und die Renaissance näher gebracht und in der dritten Szene wird sie in der Klassik und<br />

Romantik vergegenwärtigt. Die Figur Phorkyas, sprich Mephisto hinter seiner Maske,<br />

ist dabei das personifizierte Bewusstsein von Zeit und Geschichte. Phorkyas rafft mit<br />

magischen Kräften die Zeit zusammen, die zwischen Antike und Mittelalter verflossen<br />

ist (Vers 9574 ff). Diese kühne Zeitregie ist bereits im Helena-Drama des Euripides<br />

vorgegeben, worauf Phorkyas direkt anspielt. Die Gestalt des Mephisto verlegt sich aufs<br />

Moralisieren, besonders die Schönheit betreffend. Generell aber sollen Schönheit und<br />

Sittlichkeit nicht im Einklang gesehen werden. Stattdessen wird Helena als Inbegriff der<br />

zeitlosen Schönheit und der ästhetisch-erotischen Faszination gestaltet. Diese Überzeitlichkeit<br />

ist nicht mehr mit moralischen Kategorien zu erfassen. Spielen mit Versformen<br />

und weitere Stilelemente sind Ausdruck der Vielstimmigkeit. In <strong>Faust</strong> I und <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> gilt,<br />

dass den für Goethe relevanten Epochen durch Versmaße Ausdruck verliehen werden<br />

soll.<br />

Helena und Euphorion<br />

Die Helena-Figur weist vielfältige historische Schichten auf, konstituiert sich demnach<br />

nicht nur aus Elementen der Antike. Vorbild beziehungsweise Ursprung für die Figur<br />

ist die Helena-Tragödie des Euripides. Neben dem antiken Vorbild für Helena müssen<br />

Goethes zeithistorische Kontexte beachtet werden, so zum Beispiel der Einfluss Johann<br />

Joachim Winckelmanns, deutscher Kunsthistoriker und Archäologe, der ein Ideal der<br />

antik-klassischen Schönheit entworfen hatte. Goethe hat Helena stark an Winckelmanns<br />

Darstellung der antiken griechischen Kunst und Wissenschaft angelehnt. Winckelmann<br />

und Goethe interessierten sich bei den antiken Griechen vor allem für das Individuum<br />

und die vollkommene menschliche Gestalt. Dabei hat Winckelmann noch stärker als<br />

Goethe die Freiheit als höchsten Wert der antiken Kultur hervorgehoben. Die Forderung<br />

nach Nachahmung begründet Winckelmann mit der Ansicht, die Werke der griechischen<br />

Kunst seien »idealisch schön«, d.h. die Schönheit gehe über die Nachahmung<br />

der Natur hinaus und erreiche eine Erhöhung in das Ideale. Die griechischen Kunstwerke<br />

gelten als ideal, weil sie nach Ideen gestaltet sind, die über alles Empirische hinausgehen,<br />

und in ihrer Darstellung nicht der realen Natur folgen. Diese antirealistische,<br />

idealtypische Tendenz, wonach die antiken Skulpturen Menschliches und Göttliches<br />

vereinen, ist auch für Goethe von Bedeutung. Das Menschliche verkörpert in Helena<br />

der schöne Körper, das Göttliche die idealtypische Gestalt. Als grundlegendes Prinzip<br />

gelten »edle Einfalt [Einfachheit] und stille Größe«. Mit der Größe ist eine seelische<br />

Größe gemeint, die über das Naturhafte hinausgeht. Winckelmann spricht weiter von<br />

einer »großen und gesetzten Seele«, die antike Figuren aufweisen und die Winckelmann


an der Laokoongruppe aufzeigt. Es geht um die Fragen der realistischen Darstellung bzw.<br />

der Darstellung eines Ideals. Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele werden<br />

in der Laokoongruppe in Balance gehalten, die Affekte und Gefühle werden gebändigt,<br />

was ein Hinweis auf die stoische Ruhe ist.<br />

Goethe stilisiert in dieser Weise Helenas Seelengröße und Geistesstärke, die ihr helfen,<br />

den Affektsturm in Anbetracht der Lebensbedrohung durch Menelaos zu beherrschen.<br />

Weiters zeichnet Helena das Schickliche, das sich Geziemende aus, das die stoische<br />

Haltung ebenso kennzeichnet. Ein Beispiel für das sich Geziemende, worin sich<br />

Parallelen zu Iphigenie finden, sind etwa im Auftrittsmonolog Helenas zu finden (Vers<br />

8604 ff). Ihre Haltung zeigt Würde und auch Distanz zum Geschehen. Ethische Haltung<br />

und ästhetische Vollendung sind die Komponenten des Ideals, das Helena verkörpert.<br />

Der Schauplatz der dritten Szene ist Arkadien, eine Landschaft im Zentrum der Peloponnes.<br />

Es trägt Züge einer Innerlichkeit, die poetisch überhöht ist und einen idyllischen<br />

Rückzugsort darstellt. Euphorion ist eine allegorische Figuration der subjektivistischen<br />

Poesie, in der eine Betonung und hohe Bewertung der dichterischen, künstlerischen und<br />

menschlichen Subjektivität liegt. Für Goethe liegt hier in der neuen romantischen Poesie<br />

ein Höhepunkt, eine Grenzüberschreitung dieser Entwicklung.<br />

Zu Euphorion<br />

Euphorion ist gezeichnet von einer tragischen Hybris, dem Nichterkennen von eigenen<br />

Grenzen, die Goethe mit seinen eigenen Reminiszenzen an den Urfaust in der Sturm<br />

und Drang Zeit verbindet, so z.B. an den Werther (Vers 9691 ff.). Euphorion wäre die<br />

allegorisierte Romantik. Der Chor ist gestaltet als charakterlicher Wankelmut, damit<br />

verbunden verkörpert der Chor die Stimme eines Modepublikums.<br />

Die Romantik erscheint wie eine radikalisierende Wiederkehr eines übersteigerten<br />

Subjektivismus. Dies zeigt sich auch an Euphorions hoffnungsloser Verfallenheit an sich<br />

selbst, er ist einer übersteigerten Egozentrik zum Opfer gefallen. Auch die musikalischen,<br />

gefühlsbetonten Aspekte der Romantik finden sich in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> wieder. Das sich Bändigen,<br />

das in Bezug auf Euphorion häufiger relevant ist, setzt sich deutlich vom Urfaust und von<br />

den Motiven der Sturm und Drang Zeit ab. Im Gegensatz zur Romantik soll man sich<br />

die der Antike in einer produktiven Neuaneignung im humanistisch-ästhetischen Sinne<br />

neu zu Eigen machen. Vieles im Helena-Akt weist auf die beiden letzten Akte hin, die<br />

Sphären des zivilisatorischen Fortschritt und seiner zerstörerischen Dimensionen.<br />

Szene Innerer Burghof<br />

Allgemein zeigt sich der Helena-Akt als eine Verbindung des griechisch-humanistischen<br />

Ideals, das das ethisch Gute und das Schöne zum Edlen vereint. Wobei das Edle mit ritterlichen<br />

Idealen gepaart ist. An dieser Stelle wird die aristokratisch-höfische »Großheit«<br />

in Helena mit <strong>Faust</strong>, dem Vertreter der ritterlich-höfischen Würde, neu verbunden. Als<br />

Fürst tritt <strong>Faust</strong> Helena entgegen. Die höfische aristokratische Kultur sieht Goethe nicht<br />

kritisch, sondern als ein Medium der Verbindung und Begegnung.<br />

In der Szene Innerer Burghof begegnen sich thematisch Moderne und Antike, außerdem<br />

kommt es zu einer Vollendung der Kultur sowie der Gewinnung idealer Natur. Die<br />

Szene handelt vom Ethos und ist dabei stark beeinflusst von der antiken Stoa und von<br />

Winckelmanns Schriften. Der Rückgriff auf die Stoa, mit dem Ideal der Mäßigung und<br />

Bändigung, ist die Grundlage für das Ideal. So entwirft die Chorführerin in Vers 9127<br />

bis 9134 ein Gegenbild zu Helena, in dem Helena selbst allerdings schon angedeutet<br />

wird. Das stoisch grundierte Ideal beinhaltet eine große innerliche Unabhängigkeit, die<br />

Laokoon: Priester aus Troja, der seine<br />

Mitbürger vor dem Trojanischen Pferd<br />

warnte. Doch zwei riesige Schlangen<br />

töteten ihn und seine zwei Söhne. Die<br />

Trojaner nahmen daraufhin das Pferd<br />

in die Stadt. Die Laokoongruppe ist<br />

eine von drei antiken Künstlern aus<br />

Rhodos geschaffene Statue, die eben<br />

an jene Geschichte erinnert. [WWM]<br />

Menelaos: Jüngerer Bruder Agamemnons,<br />

bekommt den Thron<br />

von Sparta und heiratet die schöne<br />

Helena. Nach deren Entführung tut<br />

sich Menelaos im Trojanischen Krieg<br />

im Zweikampf mit Paris hervor und<br />

kehrt erst nach achtjähriger Irrfahrt<br />

von der Eroberung Trojas zurück.<br />

[WWM]<br />

Iphigenie: Tochter von Agamemnon,<br />

die von ihrem Vater als Buße der<br />

Göttin Artemis geopfert werden soll.<br />

Doch die Göttin entführt das Mädchen<br />

nach Tauris. Dort muss Iphigenie<br />

ihr fortan als Priesterin dienen<br />

und ihr alle Fremden, die die Insel<br />

betreten, opfern. [WWM]<br />

27


28<br />

als Motiv für die Dichtungstheorie von der Klassik hervorgehoben wird, in welcher die<br />

Kunst unabhängig wäre. Unabhängig ist man auch von Fortuna, das heißt von Glück<br />

und Unglück. Die stoische Haltung erfordert strenge Selbsterziehung und Aneignung.<br />

Ein weiterer Grundzug Helenas ist ihre Würde. Gleichzeitig ist Würde ein zentraler<br />

Begriff, um die Begegnung von <strong>Faust</strong> und Helena zu kennzeichnen. Es zeigt sich wieder,<br />

dass sich die Figuren in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> nicht entwickeln, sondern als Allegorien auf festgelegte<br />

Begriffe verweisen. Der Begriff der Würde findet sich, abseits der Antike, vor allem im<br />

Mittelalter und der Renaissance wieder. So zeichnet sich der höfische Mensch durch die<br />

adelige Herkunft, die äußere Ehre und seine Würde aus.<br />

Der dritte Akt von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ist also eine Renaissance, welche eine neue Lebenshaltung<br />

herausbildet, die sich nicht allein durch die Verbindung von Antike und Mittelalter<br />

beschreiben lässt. Wesentliches Merkmal und Grundlage jener Lebenshaltung ist die<br />

Würde. Vorläufer sieht Goethe hier in der Antike und im höfischen Mittelalter, in denen<br />

Goethe wichtige Bausteine für seine Utopie auffinden konnte. Und die Synopse<br />

von Antike und Renaissance ergänzt Goethe durch seine eigene, auf Kant und Schiller<br />

basierenden Klassik. In seiner Schrift Über Anmut und Würde meint Schiller etwa: »Die<br />

Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde heißt<br />

ihr Ausdruck in der Erscheinung«. Den höchsten Grad der Würde sieht Schiller in der<br />

Majestät, die Helena verkörpert. Goethe projiziert nun diese Würde auf die griechische<br />

Vollendung der menschlichen Gestalt, die sich in Helena zeigt. Die äußere Erscheinung<br />

ist gleichzeitig Ausdruck der inneren Würde, wie es sich auch in der Plastik der bildenden<br />

Kunst zeigt.<br />

Szene Arkadien<br />

Es wird ein utopisches Bild vom arkadischen Glück entworfen, beeinflusst von Winckelmanns<br />

Schriften. Goethes Gegenwart beeinflusst also die Kriterien des utopischen<br />

Bildes. So ist die Idee der Ganzheit als Modell der Klassik von großer Bedeutung. Nur<br />

in vollkommen erfüllter Gegenwart kann sich der Mensch ganzheitlich erfahren. Der<br />

Bezug auf die Gegenwart, die Ausklammerung der Vergangenheit, spielt im Helena-Akt<br />

eine große Rolle (Vers 9381 f.), wobei diese Gegenwart überhöht und idealisiert wird.<br />

Goethe überträgt die von Winckelmann an der Plastik gepriesene klare Kontur auf den<br />

Menschen. Im Liebesglück zwischen Helena und <strong>Faust</strong> steigert sich die Gegenwart zu einer<br />

endlosen Erfahrung (Vers 9412), was eine Entsprechung in Goethes Winckelmann-<br />

Schrift findet.<br />

In der Szene ist die Strophenform Ausdruck einer lyrischen Ekstase, die in einem<br />

Höhepunkt der menschlichen Glückserfahrung endet. War Arkadien in der Antike noch<br />

eine kahle Landschaft, wurde sie durch den römischen Dichter Vergil zu einer Utopie<br />

eines Naturreichs, das vollkommen idyllisch und jenseits aller geschichtlichen Drangsale<br />

und zivilisatorischen Entfremdung liegt. <strong>Faust</strong>s Wunschbild ist eine kulturelle Erinnerung,<br />

die sich auf die Versatzstücke des antiken Arkadiens bezieht. Auch hier spricht<br />

man von einer Art Wiedergeburt, Renaissance Arkadiens. Der utopische Zustand reicht<br />

in das zeitlos Unsterbliche, das Ähnlichkeiten mit dem göttlichen Dasein hat. So heißt<br />

es in Vers 9556 f.: »[…] Noch immer bleibt die Frage:/ ob’s Götter, ob es Menschen<br />

sind?«.<br />

Damit eröffnet Goethe eine antichristliche Dimension, indem er die Frage aufwirft,<br />

ob Menschen göttergleich sein können. Dabei handelt es sich um eine Grundanschauung<br />

der Zeit, in der der arkadische Mensch zum Göttlichen erhoben werden sollte. Der<br />

alte Dualismus zwischen dem Menschlich-Irdischen und der unerreichbaren Höhe des<br />

Göttlichen soll aufgelöst werden. Diese sonst getrennten Welten gehen in dieser Utopie


ineinander über, Zeit und Geschichte hören auf, beziehungsweise werden überwunden<br />

(Vers 9563). Eine solche Vorstellung von Arkadien lehnt sich auch an Vergils Schilderung<br />

des Goldenen Zeitalters an. Allerdings ist diese Wunschprojektion bei Goethe nur<br />

im Moment möglich, wodurch die Diesseitigkeit der Welt betont wird. Die Romantik<br />

wiederum repräsentiert eine moderne Unendlichkeit und steht hier diametral zur Antike,<br />

da die Endlichkeit sich selbst genügt.<br />

Diese imaginierte Antike ist auch für die Person <strong>Faust</strong> eine Möglichkeit der Kompensation<br />

seiner Rastlosigkeit, Ungenügsamkeit – letztere sind beide Kennzeichen der<br />

Moderne. <strong>Faust</strong>s Ungenügsamkeit führt dazu, dass er die Vereinigung mit Helena nur<br />

im Moment genießen kann und sie somit Utopie bleiben muss. Begründung dafür sind<br />

dynamische Energien, die <strong>Faust</strong> weiterdrängen, was auf den vierten und fünften Akt<br />

verweist. Der moderne Unmensch wäre in seiner Rastlosigkeit nur für einen Augenblick<br />

und nicht auf Dauer zu heilen.<br />

Die ästhetischen, kunsttheoretischen Merkmale des Helena-Aktes ließen sich an den<br />

Versmaßen festmachen, können aber an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.<br />

Der vierte Akt<br />

Gerade der vierte Akt, den Goethe als letzten vor seinem Tod verfasst hat (der fünfte<br />

war schon zu Beginn fertig), ist von Gesprächen mit Eckermann, Goethes Sekretär und<br />

befreundeter Schriftsteller, geprägt. Die einzelnen Themenbereiche im <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> müssten<br />

Goethe nach diesen Gesprächen deutlich geworden sein. Doch insgesamt sollte <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />

(besonders der vierte Akt) bezüglich Themenvielfalt und Aussagekraft inkommensurabel,<br />

sprich unvergleichbar, bleiben. Das gesamte Werk sollte den Menschen zur wiederholten<br />

Betrachtung immer wieder anlocken.<br />

Die kleinen Weltenkreise des vierten Akts gehören einem anderen Bereich an als in<br />

den anderen Akten. Die früheren Interpretationen sprechen von einem abrupten Übergang<br />

vom dritten zum vierten Akt; ein Wechsel aus der ästhetischen in eine ethische<br />

Sphäre. Die ästhetische Sphäre wäre die jugendliche Phase, die nunmehr durch eine<br />

philosophische Phase abgelöst wird. In der heutigen Forschung geht man jedoch nicht<br />

mehr von einer so strikten Trennung aus. Dass im vierten und fünften Akt verschiedene<br />

Lebensstufen durchlaufen werden, wird abgelöst durch die Interpretation, dass <strong>Faust</strong><br />

verschiedene Lebensbereiche abschreitet. Wilhelm Emrich, der sich mit der Symbolik<br />

in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> befasste, spricht von einem »Kampf mit der ewigen unfruchtbaren Wiederholung<br />

sinnlos gleicher Kräfte«, gekennzeichnet durch das Fehlen eines aufgeklärten<br />

Fortschrittsmodells. Als »die Rettung ewiger beständiger Taten im ewigen Kreislauf der<br />

Dinge« umschreibt Emrich das eigentliche Thema des fünften Aktes.<br />

<strong>Faust</strong>s Taten sollen in dieser Interpretation nicht an moralischen Maßstäben gemessen<br />

werden, nicht als unmoralisch, sondern vielmehr als fern aller Moral, amoralisch gesehen<br />

werden. Im dritten Akt gibt es bereits einen Ausblick auf ein latent überdauerndes<br />

Sein der Kunst am Beispiel der Antike. Im vierten Akt wechseln dann, so Emrich, die<br />

Weltenkreise, die Gebiete, auf denen der Kampf von Tat und Tod stattfindet. Es geht<br />

nicht mehr um die ethische, moralische Bewertung der Tat, sondern um die Vermittlung<br />

von Tat und Tod.<br />

Diese Interpretation erklärt einige Widersprüche im Text, die bisher in der Forschung<br />

nicht vereinbart werden konnten. So vermutete die Forschung, Goethe sei indifferent<br />

beziehungsweise gleichgültig gegenüber <strong>Faust</strong>s Taten und deren Folgen, da er sie nicht<br />

ethisch bewertet habe. <strong>Faust</strong>s Expansionsbestrebungen stünden demnach aufklärerischen<br />

29


30<br />

Idealen entgegen. Doch die These Emrichs, der Kampf um Tat und Tod, erklärt eben<br />

diese fehlende ethische Bewertung.<br />

Durch die gesamte Sekundärliteratur hindurch gibt es zwei wesentliche Interpretationsansätze.<br />

In der älteren Forschung wird <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> als am Fortschritt des frühen 19. Jahrhunderts<br />

orientiert gesehen – der Welt des ästhetischen Scheins des dritten Akts wird<br />

im vierten Akt die wirkliche Welt als Utopie, eine Welt des sozialen, politischen Scheins<br />

gegenübergestellt. Diese Interpretation wurde mit marxistischen Deutungsmodellen in<br />

Verbindung gebracht, das heißt der vierte Akt zeige, dass sich das Bürgertum gegenüber<br />

Räubern und Ausbeutern, sprich höheren sozialen Schichten, nicht durchsetzen könne.<br />

<strong>Faust</strong>s Taten wären in dieser Sichtweise jene der Räuber und Ausbeuter.<br />

Im zweiten Deutungsmodell repräsentiert <strong>Faust</strong> jedoch die menschliche Ohnmacht<br />

gegenüber einer Welt des ewigen Zyklus von Kultivierung und Zerstörung. Für dieses<br />

Modell spricht, dass sich die Revolutionen von 1789 und 1830 wie Naturkatastrophen<br />

darstellen ließen – deshalb unternimmt <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> den Versuch, eine Vorstellung von Dauer<br />

zu gewinnen, die jenseits des Vulkanisch-Eruptiven, dem Symbol für das zerstörerische<br />

Prinzip, angesiedelt ist.<br />

Goethe möchte aus diesem ewigen Wechsel von Revolution und Restauration heraustreten.<br />

Es sollen keine historischen Ereignisse abgebildet werden, sie sollen stattdessen<br />

symbolhaft den Weltgrund kontrastieren, in dem nur das Bestehen vor den ewigen<br />

Elementen zählt.<br />

Aus Goethes Tagebucheintragungen geht hervor, dass der vierte Akt als ein gesonderter<br />

Abschnitt gilt, er beinhalte »leise Anklänge« an die folgenden und vorangegangenen<br />

Akte. So handelt er wohl kaum vom Überwinden der Lebensstufen, letztlich sind die<br />

Szenen sogar bis zu einem gewissen Grad auch austauschbar.<br />

Der vierte Akt beginnt mit einer Verjüngung, die durch das Abstandnehmen eintritt,<br />

im wörtlichen und symbolischen Sinn. Abstand wird bereits dadurch genommen, dass<br />

die Szene in einem Niemandsland spielt. Auch die Gipfelmetaphorik gilt als Symbol<br />

der Distanz. Ein Motiv, das sich häufig findet – Gipfel sind Aussichtsorte, die sich im<br />

gesamten Alterswerk Goethes finden. Dieser Metaphorik haftet das Erhabene an und<br />

das Eingedenken, die Kontemplation wird von ihr mit eingeschlossen (Vers 10054 f.)<br />

– vor <strong>Faust</strong>s Augen erscheinen Gretchen und Helena wieder. Dieser Monolog, der das<br />

Vergangene kurz umreißt, ist gekennzeichnet von einer gewissen Melancholie bei eher<br />

lyrischem Duktus. Der Monolog stellt eine Distanz zur Gegenwart her und bereitet<br />

<strong>Faust</strong> darauf vor, sich in den nächsten Augenblick zu stürzen, also seinem Tatendrang<br />

Folge zu leisten.<br />

Die Eingangsszene hat märchenhafte Züge, so zum Beispiel die Erzählung, wie die<br />

Gebirgslandschaft entsteht. Für Mephisto hat die Naturwelt den Charakter der ethischen<br />

Verhältnisse, denn für ihn ist alles relativ (Vers 10088 f.) – die Berge sind eigentlich<br />

Abgründe, die nach oben gewendet sind. In <strong>Faust</strong>s Darstellung wird der Vulkanismus<br />

zum Bild für den Umbruch, der Revolutionen im sozial-ethischen Bereich herbeiführt<br />

(Vers 10125). Mephisto empfiehlt sich dabei als der Vollstrecker von <strong>Faust</strong>s Willen nach<br />

Macht und Ruhm.<br />

In den folgenden Szenen wird die Einstellung Goethes als eine dem Emanzipationswillen<br />

des Volks kritisch gegenüberstehende gedeutet. Das Selbstbewusstsein des Volkes<br />

kann zu einer verderblichen Revolution führen (Vers 10156 f.) – es ist ein ernüchternder<br />

Blick auf die Aufklärung. Goethe ist dabei nicht als Anti-Aufklärer zu sehen, er betrachtet<br />

die historischen Entwicklungen lediglich mit skeptischem Blick, kritischer als Zeitgenossen<br />

wie zum Beispiel Schiller. Dahinter steht ein Weltbild, in dem die Aufklärung<br />

des Absolutismus zwar human ist, aber gefährlich sein kann, weil Tumult, Gewalt und<br />

Unsinn damit einhergehen können. Doch früher oder später ist Aufklärung die notwen-


dige Folge von mehr Bildung und einer Emanzipation des Volkes. Mephisto rühmt dagegen<br />

eine feudale Gesellschaft und den Spätfeudalismus. <strong>Faust</strong> meint daraufhin jedoch,<br />

dass die Tat wichtiger als Ruhm sei (Vers 10187). Wichtig ist diese Stelle im Vergleich zu<br />

<strong>Faust</strong>s erstem Monolog in <strong>Faust</strong> I, wo es heißt: »Die Tat ist alles…«. Dieses Reflektieren<br />

des Tat-Motivs ist natürlich auch ein Mittel, um das Drama zu einem dramaturgisch<br />

schlüssigen Abschluss zu bringen.<br />

Motiv der Landgewinnung<br />

<strong>Faust</strong> hat die Absicht, Selbstbestimmung zu erreichen, was ein durchaus aufklärerisches<br />

Streben darstellt. Dieses Ziel will er mit dem Griff nach Herrschaft und Eigentum verwirklichen.<br />

Mephisto nennt das »die Grillen <strong>Faust</strong>s«, sprich seine Spinnereien. Doch<br />

<strong>Faust</strong> hat große Angst vor einer sinnleeren Naturgewalt, die durch die Meereswoge symbolisiert<br />

wird und im Gegensatz zum Gebirge steht (Vers 10212). <strong>Faust</strong>s Bestreben ist<br />

es der Natur standzuhalten und er hat mit den Landgewinnungsplänen nicht die Absicht<br />

sich zu bereichern oder gute Werke zu tun, sondern sein Wille ist das Begrenzen<br />

und Einengen des Elements. Die Begriffe des Eigentums, der Tat und der Herrschaft<br />

an diesen Textstellen ermöglichen nicht nur eine antikapitalistische Deutung, sie sind<br />

auch ambivalent – sowohl Begriffe der Plünderer als auch Symbole für <strong>Faust</strong>s Selbstbehauptung<br />

gegenüber einem sich ständig wiederholenden Zerstörungsszenario der Natur.<br />

Von Relevanz ist auch der ästhetische Aspekt der freien Sicht, die durch die Hütte von<br />

Philemon und Baucis verstellt ist.<br />

Das Hochgebirge ist im vierten Akt Symbol einer Potenz der Schöpfung, es ist ein<br />

absoluter Standpunkt, der ebenso göttlich wie teuflisch ist, schließlich spricht Mephisto<br />

ja von einem nach oben gestülpten Abgrund. Das Gebirge steht für das Starre und Unbewegliche,<br />

dem die Bewegungen des Meeres entgegengesetzt werden. Das Meer ist demnach<br />

Symbol des Lebendigen. In vielrezipierte Thesen kommen Literaturwissenschaftler<br />

nun zur Vermutung, dass sich <strong>Faust</strong> eine Verbindung zwischen dem absoluten Leben<br />

(Meer) und der absoluten Lebensferne (Gebirge) schaffen will. Hierin liegt der Sinn der<br />

Landnahme: <strong>Faust</strong> will ein Drittes gewinnen, das an beiden absoluten Elementen Teil<br />

hat. Somit wird im <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ein Ausgleich von Realität und Idealität, von Besonderem<br />

und Allgemeinem angestrebt.<br />

Kritik an der Gesellschaft<br />

Chaos und Anarchie brechen im Reich des Kaisers aus, in weiterer Folge wird ein Gegenkaiser<br />

gewählt und bedrängt den rechtmäßigen Kaiser mit seinem Heer. <strong>Faust</strong> und<br />

Mephisto helfen dem Kaiser mit der Modernisierung des Kriegsgeräts, womit auf einen<br />

real-historischen Hintergrund Bezug genommen wird. Die Konstellation Kaiser und<br />

Gegenkaiser ist historisch orientiert an der Erhebung der Tiroler gegen die Habsburger.<br />

Die Tiroler sind hier Vorlage für das Bergvolk in der zweiten Szene des vierten Aktes.<br />

Mephisto stellt eine Geisterarmee auf, womit Goethe dem deutschen Widerstand<br />

mit veraltetem Kriegsgerät gegen Napoleon spottet. Das Volk wird mit verächtlichen<br />

Begleitkommentaren als dumm dargestellt, es kann zu allem manipuliert werden (Vers<br />

10403–10406). Jene militärischen Konflikte sieht Goethe zynisch, an der Darstellung<br />

der politischen Kräfte verdeutlicht sich seine Sichtweise. Denn wenn sich Vertreter des<br />

Volkes individualisieren, werden egoistische Ziele verfolgt und das Volk tritt roh, gemein<br />

und raffgierig auf, wie auch an den sprechende Namen »Habebald«, »Haltefest« etc. zu<br />

erkennen ist.<br />

31


Lektüreempfehlung:<br />

Jäger, Michael: <strong>Faust</strong>s Kolonie. Goethes<br />

kritische Phänomenologie der<br />

Moderne. Würzburg: Königshausen<br />

und Neumann, 2004.<br />

Schlaffer, Heinz: <strong>Faust</strong>, zweiter Teil.<br />

Die Allegorie des 19. Jahrhunderts.<br />

2., erweiterte Auflage. Stuttgart u.a.:<br />

Metzler, 1998.<br />

Philemon und Baucis: Ein Ehepaar,<br />

das Zeus und Hermes in Menschengestalt<br />

Obdach gewährt. Die Götter<br />

waren an allen anderen Türen abgewiesen<br />

worden, doch Philemon und<br />

Baucis sind sogar bereit, ihnen ihre<br />

einzige Gans zu opfern. Zeus und<br />

Hermes jedoch lehnen ab und fordern<br />

das Ehepaar auf, sie zu begleiten.<br />

Kaum sind sie außer Reichweite,<br />

versinken rund um die Hütte des<br />

Ehepaars die Häuser der hartherzigen<br />

Nachbarn in reißenden Fluten.<br />

Die Hütte transformiert sich in einen<br />

Tempel, den Philemon und Baucis bis<br />

ins hohe Alter hüten dürfen. Kurz vor<br />

ihrem Tod werden beide in Bäume<br />

verwandelt und empfangen seitdem<br />

göttliche Ehren. [WWM]<br />

32<br />

Neben Volk, Kaiser und weltlichem Adel geraten auch die Repräsentanten des kirchlichen<br />

Standes in die Kritik. Die Verbindung von Kirche und Staat und deren wechselseitige<br />

Stütze zum Machterhalt werden in der Figur des Erzbischofs heftig karikiert (Vers<br />

10864 ff.). Seit seiner ersten Italienischen Reise im Jahr 1786 sieht Goethe diesen Machterhalt<br />

sehr kritisch, für ihn wird Gotteslob auch im Sinne der politischen Manipulation<br />

missbraucht. Diese Skepsis hat sich im Alter nur weiter verstärkt.<br />

Im Text fungieren die Geisterschlachten als jene Kräfte, denen <strong>Faust</strong> Stand halten<br />

will, die nun aber zu seinen Gunsten wirken. Und auch hier trifft der Leser wieder auf<br />

die elementaren Gewalten des Wassers (Vers 10725 f.). Wasser ist das Symbol für politische<br />

Auflösung und Entgrenzung beziehungsweise für Zerstörung durch politische<br />

Revolutionen.<br />

All diese Aspekte des vierten Aktes sind nicht isoliert von Goethes Werk zu verstehen.<br />

Die Motive finden sich auch in den Wahlverwandtschaften und in Wilhelm Meisters Wanderjahre.<br />

In Anbetracht der damaligen Welt war die pessimistische Grundstimmung des<br />

Alterswerks für Goethe durchaus gerechtfertigt.<br />

Der fünfte Akt<br />

Die Forschung der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts sieht im fünften Akt die durch die<br />

moderne Zivilisation hervorgebrachte Gewalt widergespiegelt. Ein wesentlicher Teil der<br />

Schuld an den Expansionsbestrebungen wird dabei <strong>Faust</strong> zugesprochen, Mephisto verliert<br />

etwas von seiner treibenden Kraft.<br />

Es finden sich allerdings nicht nur Überlegungen zum Zerstörerischen im <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>,<br />

auch wenn die Folgen von <strong>Faust</strong>s Zielen am Ende desaströs sind (Vers 10198 f.). Goethe<br />

ist an dieser Stelle von den Diskursen seiner Zeit beeinflusst, so zum Beispiel von den<br />

Phänomenen der Kolonialisierung. So verselbstständigen sich beispielsweise Mephisto<br />

und die drei Gewalttäter, <strong>Faust</strong> verliert die Kontrolle über deren Gewalt; eine mögliche<br />

Allegorie auf die Verselbstständigung der technischen Mittel im fortschreitenden Kolonisationsprozess.<br />

Das Geschehen kann nicht mehr gesteuert werden, der Mensch wird<br />

Teil eines sich selbst lenkenden Systems. In letzter Konsequenz trägt sich der Mensch<br />

damit selbst zu Grabe – wie dem blinden <strong>Faust</strong> das eigene Grab geschaufelt wird.<br />

Philemon und Baucis<br />

Philemon und Baucis symbolisieren am Beginn des fünften Aktes den Untergang der naturnahen<br />

alten Welt. Bei Goethe wird eine Idylle gezeichnet, die zentral-menschliche<br />

Tugenden, wie Menschlichkeit, Frömmigkeit und Gastfreundschaft, als selbstverständlich<br />

zeigt. Das alte Ehepaar ist in seinem bescheidenen Dasein mit sich selbst zufrieden.<br />

Die Frömmigkeit zeigt sich besonders in den letzten Worten des Ehepaares (Vers<br />

11139–11142), sie zeugen von einer Einordnung in eine große, evolutionär gewachsene,<br />

natürliche Ordnung. Während Philemon und Baucis die Welt unter dem alten Gott<br />

repräsentieren, die im Untergang begriffen ist, wirft <strong>Faust</strong> sich zum neuen Gott der Welt<br />

auf. Die Gefahr für Philemon und Baucis besteht in der elementaren Kraft des Meeres,<br />

dessen Symbolik im fünften Akt erneut aufgegriffen wird. Da das tobende Meer in seinem<br />

chaotischen Charakter Philemons und Baucis’ Idylle gegenübersteht, kann nicht<br />

von einer konservativ-bewahrenden Idylle gesprochen werden.<br />

Aber nicht nur das Meer, auch die Zerstörung der Linde steht für eine Destruktion<br />

durch den Fortschritt (Vers 11343 f.). Das Lied des Türmers (Vers 11288-11303) drückt<br />

die Trauer darüber aus, dass die natürliche Ordnung untergeht, weil eine als schön er-


fahrene Welt vergeht. Der Gesang behandelt auch ein vergangenes Kunstideal, zu dem<br />

außerdem der Helena-Akt gehört, das der modernen Kunst weichen muss. Goethe stellt<br />

so Kontemplation der Hektik gegenüber, mit dem Einbezug des Kosmos wird zusätzlich<br />

ein Konzept von Ganzheit vorgestellt.<br />

Die Sorge<br />

Die Sorge wird als Melancholie im Zustand der fortschreitenden Zivilisation verstanden.<br />

Sie ist nicht nur ein konkretes »Sich-Sorgen«, sondern ein Dasein, welches die Gegenwart<br />

und die Zukunft sichert. Die Sorge ist also eher Für- und Vorsorge. Die Verse<br />

11453–11466 werden dadurch zum Psychogramm der Melancholie beziehungsweise<br />

lassen sie sich mit Phasen der Depression vergleichen. Die Melancholie lehnt jede sinnliche<br />

Erfahrung und Aktivität ab. Und wenngleich das lateinische Wort »cura« Sorge<br />

bedeutet, muss es dennoch als Melancholie verstanden werden.<br />

Als wichtige Stimmung zieht sich die Melancholie durch den gesamten goethischen<br />

<strong>Faust</strong>, so zum Beispiel auch im ersten Teil, in dem die Osterglocken <strong>Faust</strong>s Selbstmord<br />

mittels der Phiole verhindern. In Vers 11471–11486 findet sich eine poetisch hoch stilisierte<br />

Diagnose der Depression und Melancholie beziehungsweise der Befindlichkeiten,<br />

die sich in diesen Zuständen auftun. Dabei wird der Zustand der Melancholie als ein<br />

Widerstand gegen den Fortschritt gesehen.<br />

Schluss des <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />

Gegen Ende werden <strong>Faust</strong>s letzte Illusionen zerstört und die Sozialutopien ironisiert.<br />

Darauf kann nunmehr nur die Szene von <strong>Faust</strong>s Grablegung folgen. Mag Philemon etwa<br />

<strong>Faust</strong>s Kultivierungsarbeiten zunächst noch durchaus positiv geschildert haben, wird in<br />

der Folge jedoch der Gegensatz Herr-Knecht zugespitzt und eine kritische Dimension<br />

aufgezeigt. Goethe kritisiert dadurch den Saint-Simonismus und seine frühen sozialistischen<br />

Theorien.<br />

<strong>Faust</strong> wird nicht nur als Getriebener, sondern auch als Treibender der Kolonialisierung<br />

mit Mitteln eines skrupellosen Unternehmers gedeutet (Vers 11551 f.). Diese abschließende,<br />

von <strong>Faust</strong> entworfene Sozialutopie darf nicht als gültiges Ende beziehungsweise<br />

als Summe von <strong>Faust</strong>s Existenz, von seinem Streben durch das gesamte Werk,<br />

gesehen werden. Denn in den Szenen der Bergschlucht etc. eröffnen sich noch weitere<br />

Perspektiven. Die Ironie der Szene, in der <strong>Faust</strong>s Grab geschaufelt wird, liegt in einem<br />

Irrtum, der die Klammer zum Prolog im Himmel schließt, wo es etwa hieß: »Es irrt der<br />

Mensch solang er strebt«. Die gesamte Szene ist zugleich aber auch eine Metapher für<br />

die Illusion des Fortschrittsglaubens und die Skepsis gegenüber dem Fortschrittsdenken<br />

findet hier ihren Ausdruck.<br />

Die Sehnsucht nach der Aufhebung der eigenen Endlichkeit zeigt sich in den Versen<br />

11583 f. Im Schlussmonolog greift <strong>Faust</strong> ständig auf Allusionen auf das Grenzenlose<br />

zurück, sein Werk soll unendlich überdauern. Die hier im <strong>Faust</strong> entworfene Denkwelt,<br />

der Wunsch nach unbegrenztem Weiterwirken, steht im Gegensatz zum Konzept der<br />

Entsagung, das Goethe im zweiten Teil von Wilhelm Meisters Wanderjahren propagiert.<br />

So folgen nach dem Tod die Szenen der Grablegung und der Erlösung. Sie sind von<br />

reiner Innerlichkeit gekennzeichnet, die geschichtliche Sphäre hat der Text endgültig<br />

verlassen. Am Ende von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> finden sich vornehmlich Themen der Unendlichkeit,<br />

die Lösung des Problems des Kampfes zwischen Himmel und Hölle und das Parodieren<br />

der alten Muster.<br />

33


Pietismus: War nach der Reformation<br />

die wichtigste Reformbewegung<br />

im europäischen Protestantismus.<br />

Basiert auf den, durch das Erkennen<br />

ihres Leids hervorgerufenen, Sympathien<br />

für Mitmenschen. [DDP]<br />

Eros (hier): Liebe. In der Philosophie<br />

kann er auch Trieb nach Erkenntnis<br />

sowie schöpferische, geistige Tätigkeit<br />

bedeuten. [WAH]<br />

Aristoteles: (384–322 v. Chr.) Griechischer<br />

Philosoph, Schüler Platons,<br />

der sich danach jedoch gegen seinen<br />

Lehrer richtet. Er ist der Begründer<br />

der Logik, doch auch seine Metaphysik<br />

hatte großen Einfluss. Darin begründet<br />

er, dass konkrete Dinge die<br />

Substanz, sprich der Grund jeglicher<br />

Wirklichkeit ist. Und die Substanz der<br />

konkreten Dinge wiederum ist ihre<br />

Form. [DDP]<br />

Entelechie: Zustand des Wesens,<br />

das durch die Tat ihr Ziel, das dem<br />

Wesen innewohnt, verwirklicht hat.<br />

[DDP]<br />

Wilhelm Gottfried Leibniz:<br />

(1646–1716) Deutscher Philosoph<br />

und Gelehrter. Leibniz hat unter<br />

andere auch Innovationen in der<br />

Mathematik begründet. Als einer der<br />

bedeutendsten Philosophen des ausgehenden<br />

18. Jahrhunderts glaubt<br />

Leibniz daran, dass die Dinge eine<br />

Zusammensetzung einzelner, untrennbarer,<br />

atomarer Elemente sind.<br />

Monade: Bei Leibniz bezeichnet der<br />

Begriff unteilbare, atomare Elemente<br />

die in allen Dingen enthalten sind.<br />

Es sind jene einfachen Substanzen,<br />

welche gemeinsam komplexere Zusammensetzungen<br />

bilden. [DDP]<br />

34<br />

In der Grablegung-Szene wechseln sich Engel und Mephisto im Gesang ab, beide im<br />

Kampf um <strong>Faust</strong>s Seele. Es kommt zu einem »Allverein der Seligen«, es gibt weder Teufel<br />

noch Hölle, was christlichen Vorstellungen widerspricht. Voraussetzung einer solchen<br />

Allvereinigung ist die Idee, dass alle Menschen erlöst werden. Das Jüngste Gericht, dessen<br />

Vorstellung die traditionelle Kirche vertritt, steht dieser Idee der Allerlösung entgegen.<br />

Die Erlösung aller findet sich aber beispielsweise im Pietismus, etwa in den Schriften<br />

des Theologen Gottfried Arnold, die durchaus Einfluss auf Goethe hatten.<br />

Bergschluchten-Szene<br />

Ziel dieser Szene ist eine Apotheose, sprich Verklärung, des Eros und ein Fortschritt ins<br />

Unendliche. Die Schlussszene ist der letzte Teil des Handlungsrahmens von <strong>Faust</strong>, da<br />

sich ja die Frage nach dem Ausgang der Wette im Prolog im Himmel stellt.<br />

In der letzten Szene verwendet Goethe den von Aristoteles stammenden Begriff der<br />

Entelechie. Gleichwohl Goethe ihn von Leibniz übernommen hat, bezeichnet er hier die<br />

Seele, die das in ihr angelegte Mögliche vollenden möchte in einer dauernden Aktivität.<br />

Die Vorstellung von Entelechie ist eng verbunden mit Goethes späterer Idee vom Tod.<br />

Dabei geht es um den Wunsch, die Todesgrenze zu überschreiten. Goethes Vorstellung<br />

entspricht nicht der christlichen vom Jenseits, so meint er etwa: »Die entelechische Monade<br />

muss sich nur in rastloser Tätigkeit erhalten« – jene rastlose Tätigkeit soll helfen,<br />

die Todesgrenze zu überschreiten.<br />

Gestaltung der Schlussszene<br />

Bedeutend für die letzte Szene sind die Metaphern des Emporstrebens und Steigens. Es<br />

wird keine christliche Vorstellung des Transzendierens erzeugt, was sich nicht zuletzt am<br />

Fehlen Gottes zeigt, sondern die prägenden Motive sind erotische Sublimation und eine<br />

entelechische Dynamik der Steigerung. Christliche Momente werden durchaus immer<br />

wieder metaphorisch angesprochen, aber Goethe geht mit der christlichen Überlieferung<br />

poetisch frei um. Auch die Elemente katholischer Marienverehrung spielen nur unter<br />

mythologischen Aspekten und keineswegs theologischen herein.<br />

Der fünfte Akt ist von der zentralen Idee der Liebe getragen. Keine Liebe im christlichen<br />

Sinn, sondern innerhalb des Bedeutungsfelds des Eros, der das rein Körperlich-<br />

Sinnliche der Sexualität weit übersteigt und eine sublimierte Idee des Eros verdeutlicht.<br />

Dieser Eros trägt <strong>Faust</strong> die Stufen immer weiter bis zum Höchsten hinauf – ein neuplatonisches<br />

Konzept. Platon hatte im Symposion den Aufstieg von der Körperwelt in die<br />

Sphäre des rein Geistigen beschrieben, eine Idee an der sich Goethe stark orientiert hat.<br />

Schon beim italienischen Dichter Dante finden sich 1321 in der Göttlichen Komödie hierarchisch<br />

gestufte Ordnungen der Engel. Und auch hier gibt es mehrere Sphären; vom<br />

Purgatorium über die Himmelssphären bis hinauf zum Empyreum ist dabei stets das<br />

Motiv der Stufen prägend.<br />

In der Bergschluchten-Szene treten Anachoreten, urchristliche Einsiedler, die sich in<br />

die Wüste zurückgezogen haben, sowie Engel und Frauen auf. Die Anachoretenkolonien,<br />

sie sich unter anderem im Orient niedergelassen hatten, um dem Leben Christi<br />

nachzueifern und somit über Abscheidung von der Welt und völlige Einsamkeit in Gottesnähe<br />

zu gelangen, hatten Goethe nämlich besonders fasziniert.<br />

So ist dann spirituelle Vervollkommnung auch in den Bergschluchten ein Motiv. Goethe<br />

gestaltet sie auf dreifache Weise beziehungsweise in drei Stufen (Vers 11854 ff.): Der<br />

Pater Ecstaticus will sich in bedingungsloser Radikalität mit der Gottheit vereinigen,<br />

er repräsentiert also ein ekstatisches Verhalten. Eine kontemplative Weise verdeutlicht


der Pater Profundus, die Kontemplation soll zur geistigen Vervollkommnung führen.<br />

Pater Seraphicus praktiziert letztlich ein verinnerlichendes Verhalten. Damit kann er sich<br />

der Bedrängnisse der Natur erwehren und das Ziel der höchsten Vollkommenheit erreichen.<br />

Die Sphären der Anachoreten, der Engel und der Frauen sind hierarchisch geordnet.<br />

Die Sphäre der Engel ist die Ebene der himmlischen Hierarchie, die Engel erscheinen in<br />

verschiedenen Ordnungen übereinander. Jene Hierarchie wird aus dem neuplatonischen<br />

Muster abgeleitet, sie hat die Funktion der Vermittler zum Höchsten. Der Zweck hinter<br />

dem neuplatonischen Schema ist die Steigerung nach oben sowie die Vereinigung mit<br />

dem Absoluten. Das Unbeschreibliche erscheint dabei auch als theologische Kategorie,<br />

die sich in der Mystik findet. Gott sei in jener Sichtweise nur mit Negationen beschreibbar<br />

– er wäre der Unerreichbare, der Unzugängliche.<br />

Mindestens genauso zentral ist für die letzte Szene der Begriff der Reinigung. Auch er<br />

ist neuplatonisch und meint die Befreiung vom Irdischen, besonders vom Körperlichen<br />

und Sinnlichen. Nur durch diese Reinigung kann sich der Geist vollkommen rein zum<br />

Absoluten erheben. Doch die Engel (Vers 11954–11957) sind noch nicht völlig gereinigte<br />

Wesen. Hierzu braucht es die Gruppe der Büßerinnen. Sie betreiben Läuterung,<br />

um zur größten Vollkommenheit zu gelangen, auch Gretchen taucht nun als Büßerin<br />

wieder auf. Keineswegs ist die Buße jedoch eine Strafe, dieses Konzept stammt aus dem<br />

11. Jahrhundert. Goethe sieht die Buße unter dem neuplatonischen Aspekt des Gewinnens.<br />

Auch die seligen Knaben dienen dieser Figuration. Die Reinigung geht am Ende<br />

der Bergschluchten-Szene in eine Erlösung über.<br />

Wiederum neuplatonisch, meint die Erlösung eine Loslösung vom Irdischen. Dies<br />

geschieht in einem Prozess, der bis zur vollkommenen, reinen Vergeistigung führt. Dieses<br />

Prinzip ermöglicht die Erlösung <strong>Faust</strong>s trotz seiner schlechten Taten. Mit einer christlichen<br />

Erlösungsvorstellung wären diese Vorgänge keineswegs vereinbar, aber das christliche<br />

Problem der Rechtfertigung der Taten <strong>Faust</strong>s in Anbetracht seiner Erlösung nicht<br />

mehr gegeben.<br />

Und im Element der Erleuchtung – »erleuchte mein bedürftig Herz« – zeigt sich die<br />

Vorstellung der Vollendung. Es besteht in der Vergöttlichung, wie es die vergöttlichende<br />

Anrufung der Mater Gloriosa zeigt. Aus der neuplatonischen Mystik kommt dann auch<br />

das Prinzip der Analogie: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis«. Die Analogie, hier<br />

als Gleichnis, ist die Denkform, welche das Wesen der Vermittlung möglich macht. Das<br />

»Ereignis« meint etwas, das dem Auge offenbar wird, das Unzugängliche wird in der<br />

Bergschluchten-Szene nun also offenbar.<br />

Die Seele strebt im neuplatonischen Sinn nach dem Göttlichen, aber Goethe lässt<br />

die vom Eros erfüllte, männliche Seele als höchstes Erfüllungsziel das ewige Weibliche<br />

sehen. Auch diese Vorstellung weicht vom christlichen Modell ab. Hier finden sich zwar<br />

Analogien zu mittelalterlichen Madonnenbilder, Sünderinnen, Büßerinnen. Doch die<br />

Höchsterfüllung ist erotisch, es ist das ewig Weibliche, das an die Stelle Gottes rückt und<br />

somit christliche Vorstellungen aufhebt. Die alles beherrschende Macht des Eros wird<br />

durch das Auftreten der Frauen am Ende verdeutlicht.<br />

Zusammenfassend muss demnach festgehalten werden, dass neben den großen Themen<br />

wie Ökonomie, Kunstsphäre, Bildung, neuzeitliche Machtpolitik, Fortschrittszivilisation,<br />

durchaus auch eine esoterisch-erotische Botschaft im <strong>Faust</strong> enthalten ist. Sie<br />

entfaltet sich erst in der letzten Szene, lässt sich aber immer wieder mit den vorangegangenen<br />

Akten verbinden. Eros ist die Kraft, die <strong>Faust</strong> an Helena so fasziniert und<br />

die durch die Walpurgisnacht führt. Im fünften Akt erfährt der Eros gleichsam seinen<br />

Klimax.<br />

35


Lektüreempfehlung: Mahl, Bernd:<br />

Goethes »<strong>Faust</strong>« auf der Bühne. Fragment<br />

– Ideologiestück – Spieltext.<br />

Stuttgart u.a.: Metzler, 1999.<br />

Richard Wagner: (1813–1883)<br />

Wohl am bekanntesten für seine<br />

Opern, Tristan und Isolde (1859)<br />

und den Zyklus Der Ring des Nibelungen<br />

(1874), die auf mittelalterlichen<br />

Sagen gründen, hat Richard<br />

Wagner auch zahlreiche kunsttheoretische<br />

Schriften verfasst. In<br />

Mein Leben (1870) fordert er etwa<br />

eine »künstlerische Gestaltung der<br />

Gesellschaft«, Ansichten die er mit<br />

seinem künstlerischen Schaffen<br />

aktiv verfolgt. So will er über den<br />

Mythos, dem er im idealisierten<br />

Vorbild der griechischen Tragödie<br />

sinnstiftende und integrative<br />

Funktionen zuschreibt, ein neues<br />

völkisches Bewusstsein schaffen.<br />

[MLA]<br />

36<br />

Die Sphäre der Schlussszene schafft eine kosmische Konstellation beziehungsweise<br />

ein komisches Ordnungsgefüge, das <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> zusammenhält und abschließt. Der Kosmos,<br />

der am Schluss beschrieben wird, stellt eine Vision jenseits aller Geschichte dar,<br />

alles Geschichtliche will überwunden werden. Eine Skepsis gegenüber der Geschichte,<br />

die in den Akten eins bis vier von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> bereits deutlich geworden ist. Dieses kosmologische<br />

Denken hat Analogien zu einigen anderen Werke des 18. Jahrhunderts, wie zum<br />

Beispiel dem Gedicht des englischen Dichters Alexander Pope. 1734 veröffentlicht, wird<br />

darin der Rang der natürlichen Ordnung ergründet. Jenen Vorstellungen ist Goethe<br />

stark verbunden, auch wenn er sie immer wieder sprengt.<br />

Neben der neuplatonischen Lesart gibt es eine Fülle von Interpretationen. Der Schöne-Kommentar<br />

deutet die Szene etwa als Interpretation des Bühnengeschehens selbst,<br />

also als Metatext. Die Darstellung des Jenseits wäre aber in diesem Sinne stets unvollkommen.<br />

Anmerkungen zur Inszenierungsgeschichte<br />

In der Regel ist <strong>Faust</strong> I jener Teil, der am häufigsten aufgeführt wird. Im 19. Jahrhundert<br />

hat man im Zuge von Richard Wagners Forderung nach dem Gesamtkunstwerk <strong>Faust</strong> einige<br />

Mal vollständig über mehrere Abende hinweg inszeniert. Und im Jahr 1895 wurde in<br />

München der gesamte <strong>Faust</strong> ohne Texteingriffe in einer Prunkaufführung inszeniert.<br />

Die Inszenierungen sind natürlich stark mit der Ideologiegeschichte verbunden. Ende<br />

des 19. Jahrhunderts dominierten realistische, naturalistische Inszenierungen. Auch Max<br />

Reinhardt, Mitbegründer der Salzburger Festspiele, führte 1933 im Salzburger Festspielhaus<br />

<strong>Faust</strong> auf. In den Jahren 1933 bis 1945 wird <strong>Faust</strong> vornehmlich als Kriegspropaganda<br />

inszeniert. Nach 1945 gibt es viele Versuche, den alten Stoff zu aktualisieren und ihn<br />

nach der NS-Zeit neu zu besetzen. Versuche in der Pop-Kultur sowie existenzialistische<br />

Deutungen etc. betreffen jedoch meist nur <strong>Faust</strong> I.


Gastvortrag von Markus Kreuzwieser –<br />

<strong>Faust</strong> <strong>II</strong> in der Schule<br />

Der Ruf nach Lesekompetenz wird in der Politik, besonders nach den aktuellen<br />

PISA-Ergebnissen, wieder lauter. Die Leseerziehung legt dabei den größten Wert auf eine<br />

basale Lesefähigkeit, also das Vermögen, Informationen aus einem Sachtext ziehen zu<br />

können. Dadurch gerät die literarische Leseerfahrung jedoch stark in den Hintergrund.<br />

Dabei böte gerade die Literatur Möglichkeiten, das Fantasievermögen zu schulen und<br />

bestehende Welten zu transzendieren.<br />

An jener Neubewertung des Lesens wird deutlich, dass man in Pädagogik und Politik<br />

von Bildungszielen zu bloßen Kompetenzen übergegangen ist. Denn emphatische, das<br />

heißt eindrückliche Leseerlebnisse lassen sich kaum oder nur schwer in »skills« beziehungsweise<br />

ökonomisches Know-how ummünzen. Vieles spricht dafür, dass es zurzeit<br />

wichtiger ist, basale Lesekompetenz zu fördern und damit die PISA-Hürde zu meistern.<br />

So lässt sich im Schulalltag zwischen »Harry-Potter-Kindern« und »PISA-Kindern«<br />

unterscheiden. Die »Potter-Kinder« besitzen eine hohe Lesekompetenz, die den »PISA-<br />

Kindern« fehlt.<br />

Doch auch »Potter-Kinder« verdienen Förderung, sie können literarische Leser werden,<br />

sie haben mit ihrer Lektüre der vielen Kinderbuch-Seiten den »epischen Atem« erlernt,<br />

also jenen langen Atem, den man benötigt, um an einer Geschichte dranzubleiben.<br />

So werden »Potter-Kinder« kaum vor späterer, umfangreicherer Lektüre zurückschrecken.<br />

Angesichts dieser Tatsachen muss gefragt werden: Könnte auf Krisen einer psychosozialen<br />

und pädagogischen Überforderung der Lehrer nicht mit der Erschließung neuer<br />

Welten reagiert werden? Lehrer sollten fordernde Förderer sein, die die Auseinandersetzung<br />

mit Klassikern als Bildungsauftrag sehen. Verstehendes literarisches Lesen soll als<br />

eine Herausforderung, eine Arbeit vermittelt werden, die neugierig auf anderes macht.<br />

Gerade die historische Entfernung zu älterer Literatur kann interessant sein, denn auch<br />

sie ermöglicht noch immer eine distanzlose Identifikation. Schließlich präsentiert sich<br />

das Alterswerk Goethes nicht als biologische Schwundstufe, vielmehr ist festzustellen,<br />

dass <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> in Bezug auf die Moderne und Postmoderne des 20. sowie 21. Jahrhunderts<br />

ein enormes Aktualitätspotential bereitstellt.<br />

Stattdessen jedoch ist <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> vom Nimbus der Unverständlichkeit umgeben. Das<br />

erklärt die Vermeidung des Stoffes, verhindert jedoch auch die Auseinandersetzung damit.<br />

Speziell der Literaturunterricht muss vielschichtige Texte anbieten können. Goethes<br />

literarische Werke sind das Medium, in dem ein gebildeter Beobachter die tiefgreifenden<br />

Verwerfungen des geistigen Europas zu entdecken vermag – gerade hierin ist großes Aktualitätspotenzial<br />

zu sehen.<br />

Bereits anhand einer kurzen, unvollständigen Liste an Anregungen für <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> im<br />

Unterricht wird sein Nutzen deutlich:<br />

• Goethe bezeichnet seinen <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> als »sehr ernste Scherze« beziehungsweise »offenbares<br />

Rätsel«, das die Menschen unterhalten soll.<br />

• Laut Hans Christoph Binswanger, Schweizer Wirtschaftswissenschaftler, der <strong>Faust</strong><br />

<strong>II</strong> im Zuge der Wirtschaftskrise ökonomisch auslegte, sei der Text von einer »kaum<br />

fassbaren Aktualität«.<br />

• Auch andere ökonomische Deutungen, zum Beispiel <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> als Aufforderung zur<br />

Entschleunigung zu verstehen, sind leicht am Text festzumachen.<br />

• Der fünfte Akt bildet eine für sich bestehende kleine Welt, so kann er im Gesamten<br />

als eigenständige Lektüreaufgabe gestellt werden.<br />

Lektüreempfehlung:<br />

Für eine weitere Auseinandersetzung<br />

und mögliche Themenfelder<br />

im Unterricht ist die kommentierte<br />

Ausgabe von Albrecht Schöne und<br />

die Einführung Jochen Schmidts zu<br />

empfehlen.<br />

37


Zur Kommentierung verwendete Literatur<br />

• MLA – Lutz, Bernd und Jeßing, Benedikt [Hrsg.]: Metzler Lexikon Autoren. 4. Auflage. Stuttgart, Weimar:<br />

J. B. Metzler, 2010.<br />

• MLL – Burdorf, Dieter; Fasbender, Christoph und Moennighoff Burkhard [Hrsg.]: Metzler Lexikon<br />

Literatur. 3. Auflage. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler, 2007.<br />

• ZWK – Zeitverlag und Bibliographisches Institut [Hrsg.]: Welt- und Kulturgeschichte. Epochen, Fakten,<br />

Hintergründe in 20 Bänden. Lexikon der Geschichte. Band 17–19. Hamburg: Zeitverlag, 2006.<br />

• JOT – Klaus, Arnold: Johannes Trithemius. 1462–1516. Würzburg: Schöningh, 1971.<br />

• VEV – König, Helmut [Hrsg.]: Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit<br />

der deutschen Hochschulen. München: Beck, 1997.<br />

• WAH – Wahrig-Burfeind, Renate [Hrsg.]: Wahrig. Deutsches Wörterbuch. Gütersloh: Bertelsmann Lexikon<br />

Verlag, 1996.<br />

• WWM – Fink, Gerhard: Who’s who in der antiken Mythologie. Neuausgabe 2002. München: dtv,<br />

2005.<br />

• MLK – Nünning, Ansgar [Hrsg.]: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 4. Auflage. Stuttgart,<br />

Weimar: J. B. Metzler, 2008.<br />

• OCL – Birch, Dinah [Hrsg.]: The Oxford Companion to English Literature. 7. Edition. Oxford: Oxford<br />

University Press, 2009.<br />

• DDP – Russ, Jacqueline: Dictionnaire de philosophie. Paris: Bordas, 2004.<br />

39


Impressum<br />

Autor: Magdalena Stieb | Redaktion: Pit Thommes<br />

Grafische Gestaltung und Satz: Verena Vitzthum<br />

Hergestellt im Printcenter der Universität Salzburg

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