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Literaturgeschichte <strong>II</strong><br />
Goethes <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>: Interpretationen und<br />
Inszenierungen<br />
Lehrveranstaltung 332.302<br />
Prof. Eduard Beutner<br />
Hierbei handelt es sich um unterstützende Unterlagen zur Prüfungsvorbereitung.<br />
Sie können weder den Besuch der Lehrveranstaltung noch die Lektüre der<br />
in der Vorlesung empfohlenen Texte ersetzen.<br />
Germanistische Skripten
INHALT<br />
Einleitung ......................................................................................................................................................7<br />
Die Tradition des <strong>Faust</strong>stoffes ...................................................................................................................7<br />
Die historische Gestalt des <strong>Faust</strong> .............................................................................................................7<br />
Das <strong>Faust</strong>buch von 1587 ............................................................................................................................8<br />
Wichtige Aspekte der <strong>Faust</strong>tradition ......................................................................................................9<br />
<strong>Faust</strong> bei Thomas Mann .............................................................................................................................9<br />
Der <strong>Faust</strong>stoff bei Goethe ........................................................................................................................10<br />
Urfaust ..........................................................................................................................................................10<br />
<strong>Faust</strong> I ...........................................................................................................................................................10<br />
<strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ..........................................................................................................................................................11<br />
Entstehungsgeschichte ..............................................................................................................................11<br />
Grundzüge des Alterswerks <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ......................................................................................................12<br />
Zusammenhänge zwischen <strong>Faust</strong> I und <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ................................................................................12<br />
Welt- und kulturgeschichtlicher Horizont von Urfaust zu <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ...............................................13<br />
Goethes Geschichtsauffassung ................................................................................................................14<br />
Einige Symphronismen zwischen dem 16. Jahrhundert<br />
und 18. Jahrhundert .................................................................................................................................14<br />
<strong>Faust</strong> als Träger moderner Züge .............................................................................................................15<br />
Der erste Akt...........................................................................................................................................15<br />
Anmutige Gegend ..................................................................................................................................15<br />
Thronsaalszene ........................................................................................................................................16<br />
Mummenschanzszene .............................................................................................................................17<br />
Die Figur des Knaben (Lenker) ...............................................................................................................17<br />
Szene Kaiserliche Pfalz .............................................................................................................................18<br />
Der Zweite Akt ......................................................................................................................................20<br />
Erste Szene ..............................................................................................................................................20<br />
Homunkulus ...........................................................................................................................................21<br />
Die klassische Walpurgisnacht ..................................................................................................................21<br />
Rolle der Musik .......................................................................................................................................23<br />
Prinzip der Behaglichkeit – Neptunismus ................................................................................................23<br />
Szene Felsbuchten des Ägäischen Meeres .....................................................................................................24
Verhältnis <strong>Faust</strong> und Mephisto in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ..........................................................................................25<br />
Dritter Akt – Der Helenaakt ..................................................................................................................26<br />
Helena und Euphorion ............................................................................................................................26<br />
Zu Euphorion .........................................................................................................................................27<br />
Szene Innerer Burghof ..............................................................................................................................27<br />
Szene Arkadien ........................................................................................................................................28<br />
Der vierte Akt ......................................................................................................................................29<br />
Motiv der Landgewinnung ......................................................................................................................31<br />
Kritik an der Gesellschaft ........................................................................................................................31<br />
Der fünfte Akt .....................................................................................................................................32<br />
Philemon und Baucis ..............................................................................................................................32<br />
Die Sorge ................................................................................................................................................33<br />
Schluss des <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ..................................................................................................................................33<br />
Bergschluchten-Szene ................................................................................................................................34<br />
Gestaltung der Schlussszene ....................................................................................................................34<br />
Anmerkungen zur Inszenierungsgeschichte ..............................................................................................36<br />
Gastvortrag von Markus Kreuzwieser –<br />
<strong>Faust</strong> <strong>II</strong> in der Schule .........................................................................................................................37<br />
Zur Kommentierung verwendete Literatur ............................................................................39
Zur Vorbereitung auf die Prüfung empfehlen wir eine begleitende Lektüre von<br />
Jochen Schmidt: Goethes <strong>Faust</strong>. Erster und zweiter Teil: Grundlagen – Werk – Wirkung.<br />
2. Auflage. München: C. H. Beck, 2001.
Einleitung<br />
Goethes <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ist stark mit mythologischen Gestalten besetzt, was die Lektüre erschwert.<br />
So stellt Goethe in <strong>Faust</strong> I noch die bürgerlich-beschränkte Welt und das Persönliche<br />
anhand der Gelehrten- und Gretchentragödie dar. In <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> dagegen steht die<br />
große Welt und das gesellschaftliche Allgemeine im Mittelpunkt. Nicht um die individuelle<br />
Figur dreht sich der Text, sondern um die Auseinandersetzung mit der beginnenden<br />
Moderne.<br />
Die Tradition des <strong>Faust</strong>stoffes<br />
Der <strong>Faust</strong>stoff geht auf eine lange Tradition zurück und existiert wohl schon seit ca. 500<br />
Jahren. Er gehört zu den meist verbreiteten Stoffen in Europa und stellt unter den Dichtern<br />
in allen Epochen eine Art ›Bewährungsprobe‹ für das dichterische Können dar, nicht<br />
zuletzt deshalb, weil der Text Dichtern und Künstler oft als Identifikationsfigur dient.<br />
Entsprechend groß ist die Menge an Sekundärliteratur zum Thema <strong>Faust</strong>. Auch für die<br />
Literaturwissenschaft ist der Stoff deswegen gewissermaßen eine ›Bewährungsprobe‹.<br />
Lessing umschreibt die enorme Wirkungsgeschichte des <strong>Faust</strong>stoffes in einem seiner<br />
Literaturbriefe folgendermaßen: »Und wie verliebt war, und ist zum Teil noch, Deutschland<br />
in seinen Doktor <strong>Faust</strong>.« Im Gegensatz zu Goethes Rezeption stehen dabei ganz<br />
unten im Literaturspektrum die Aufführungen der Wanderbühnen, wo auch die Hanswurstfigur<br />
ihren Ursprung hat.<br />
Die Bearbeitungen des <strong>Faust</strong>stoffes sind oft Reflexe des jeweiligen Zeitgeistes, z.B. des<br />
Liberalismus, Nationalismus etc. <strong>Faust</strong> ist somit bis hin zu Thomas Mann auch ein Mittel, die<br />
eigenen Ideen und Meinungen einer Zeit zu legitimieren.<br />
Die Figur <strong>Faust</strong>s wurde in Deutschland durch die enorme Nachwirkung zum nationalen<br />
Symbol, zum ›Nationalklischee‹. Dies gilt allerdings eher für den Protagonisten aus<br />
<strong>Faust</strong> I als für jenen aus <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>, dem weniger Aspekte eines nationalistischen Gedankens<br />
zugeordnet wurden.<br />
Goethe arbeitete fast sein Leben lang am <strong>Faust</strong>stoff, bis er 1831 den zweiten Teil von<br />
<strong>Faust</strong> vollendete. In seinen Bearbeitungen des <strong>Faust</strong>stoffes geht es Goethe um Selbst- und<br />
Feindbilder, um eigene Projektionen von Ängsten und Wünschen in den Stoff. Der klassische<br />
Goethe hat die Figur <strong>Faust</strong> also anthropologisch vertieft. So vermutete man in der<br />
Forschung lange Zeit hinter <strong>Faust</strong> den Autor selbst bzw. stellte auch Bezüge zu anderen<br />
Werken Goethes her.<br />
Die historische Gestalt des <strong>Faust</strong><br />
Über die historische Gestalt des Georg <strong>Faust</strong>us gibt es nur wenige gesicherte Informationen.<br />
Er lebte von 1460/70 bis 1536/39. Schon bald nach seinem Tod entstanden<br />
Gerüchte um sein Leben und Sterben, die in die Dichtung eingingen. So hieß es zum<br />
Beispiel, <strong>Faust</strong>us sei vom Teufel erwürgt worden.<br />
Der Name ›<strong>Faust</strong>us‹ ist kein Nachname sondern vielmehr Beiname. Er bedeutet ›der<br />
Glückliche‹ und wurde häufig von Wissenschaftlern getragen. <strong>Faust</strong>us schloss ein Bakkalaureatsstudium<br />
ab und wurde schließlich auch Magister. Nach seinem Studium führte<br />
er ein unstetes Wanderleben und bot als Zauberer und Gelehrter dubiose Dienste im<br />
Bereich der Magie an. Schon zu Lebzeiten wurde er vom Abt Johannes Trithemius als<br />
›Scharlatan‹ bezeichnet. Immer wieder jagte man <strong>Faust</strong>us als verdächtiges Subjekt aus<br />
Städten und Dörfern. Basierend auf den historischen Quellen muss <strong>Faust</strong>us daher als<br />
Johann Wolfgang Goethe: (1749–<br />
1832) Als einer der bedeutendsten<br />
deutschen Dichter verfügte Goethe<br />
in der Lyrik über alle poetischen Stile<br />
und Haltungen. Diese Universalität<br />
übertrug er auch auf andere Bereiche,<br />
speziell in seinen naturwissenschaftlichen<br />
Forschungen oder aber in den<br />
politischen Ämtern am Weimarer Hof<br />
ab 1776. Neben seinen autobiografischen<br />
Schriften und Reiseberichten,<br />
z.B. der Italienischen Reise (1816/17),<br />
sind vor allem <strong>Faust</strong> (1808 und 1832)<br />
und Wilhelm Meisters Lehrjahre<br />
(1796) hervorzuheben. [MLA]<br />
Gotthold Ephraim Lessing: (1729-<br />
1781) Gleichwohl Lessing gerne als<br />
unpoetischer Dichter bezeichnet<br />
wird, haben seine Theaterstücke<br />
auch heute noch Bedeutung. Sein<br />
wichtigstes Stück Nathan der Weise<br />
(1779), ein Lehrstück über die religiöse<br />
Emanzipation, zeugt von der<br />
nationalpädagogischen Wirkung, die<br />
der Kritiker und Polemiker Lessing in<br />
der Theaterbühne sah. [MLA]<br />
Hanswurst: Komische Figur aus<br />
der deutschsprachigen Komödie. Als<br />
bäuerliche Figur unterhält der Hanswurst<br />
seit dem 16. Jh. mit derben<br />
Witzen das Publikum. Er wird danach<br />
im Sprachgebrauch zum Spott- und<br />
Schimpfwort. [MLL]<br />
Liberalismus: Bezeichnung für eine<br />
Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsauffassung,<br />
die die Freiheit<br />
des Individuums als grundlegende<br />
Norm menschlichen Zusammenlebens<br />
ansieht. Die geschichtlichen<br />
Entwicklungen sieht der Liberalismus<br />
als Fortschritt in Kultur, Recht, Wirtschaft<br />
und Sozialordnung. [ZWK]<br />
Nationalismus: Ideologie, die<br />
aufgrund eines bestimmten Nationalbewusstseins<br />
den Gedanken der<br />
Nation und des Nationalstaates militant<br />
nach innen und außen vertritt.<br />
Durch nationale Identifikation grenzt<br />
man sich stark von der anders empfundenen<br />
Umwelt ab. Geht oftmals<br />
einher mit Geringschätzung oder<br />
Verachtung anderer Völker oder Minderheiten.<br />
[ZWK]<br />
7
Thomas Mann: (1875–1955) Thomas<br />
Mann ist in der ersten Hälfte<br />
des 20. Jh. der größte Verteidiger der<br />
europäischen humanistischen Kultur.<br />
So stellt er dem Nationalsozialismus<br />
Lotte in Weimar (1939) und Doktor<br />
<strong>Faust</strong>us (1947) entgegen. Darin arbeitet<br />
er das nicht idealisierte, das<br />
wahre Deutschland heraus – geprägt<br />
von Ungleichzeitigkeit und Zwiespältigkeit,<br />
von einem Denken und Leben<br />
in Widersprüchen. [MLA]<br />
Johannes Trithemius: (1462–<br />
1516) Abt des Kloster Sponheim im<br />
heutigen Rheinland-Pfalz. Er hat über<br />
90 Werke zur Theologie, Heiligendarstellung,<br />
Klosterchronik, Astrologie<br />
und Magie verfasst. Gleichwohl er<br />
sich nur mit ›weißer‹ Magie befasste,<br />
wurde er wegen seinen magischen<br />
Interessen fast der Ketzerei angeklagt.<br />
Durch sein Redetalent und<br />
einigen Hetzschriften gegen Zauberer<br />
und Magier entkam Trithemius<br />
jedoch einer Anklage. [JOT]<br />
Martin Luther: (1483–1546) Obwohl<br />
der Thesenschlag in den Bereich<br />
der Legenden gehört, verteidigte der<br />
Mönch Luther 1521 vor Kaiser und<br />
Reichsständen seine eigenwillige<br />
deutsche Übersetzung der Bibel sowie<br />
seine reformatorischen Ansprüche.<br />
Luther errang Religionsfreiheit<br />
für die Christen und begründete<br />
damit jenen Prozess, der in der Spaltung<br />
der römisch-katholischen Kirche<br />
enden sollte. [MLA]<br />
Protestantismus: De facto eine<br />
Neuorientierung der christlichen Werte<br />
anhand der Evangelien. Als Reaktion<br />
auf die stark dogmatischen, sich von<br />
der Bibel entfernenden Vorstellungen<br />
der römisch-katholischen Kirche im<br />
16. Jh. entstanden, erkennt der Protestantismus<br />
nur Jesus Christus und nicht<br />
den Papst als Stellvertreter Gottes an.<br />
[ZWK]<br />
Schwank: Derb-komische, scherzhafte<br />
Erzählung. [MLL]<br />
Sturm und Drang: Literaturströmung<br />
von ca. 1767 bis 1785, auch<br />
Geniezeit genannt. Hauptsächlich<br />
von jungen Autoren getragen, benutzten<br />
die Vertreter sehr frei die traditionelle<br />
Regelpoetik, um eigenes<br />
Erleben und persönliche Erfahrungen<br />
in Verse zu gießen. Neben dem<br />
8<br />
Herumtreiber und Betrüger gesehen werden. So bezeichnete ihn auch Martin Luther 1537<br />
als Teufelsbündler.<br />
Das <strong>Faust</strong>buch von 1587<br />
In einer der wichtigsten ersten literarischen Rezeptionszeugnissen, dem <strong>Faust</strong>buch von<br />
1587, heißt <strong>Faust</strong>us bereits nicht mehr Georg, sondern Johann. Goethe macht daraus<br />
später Heinrich. Das <strong>Faust</strong>buch greift Legenden und Sagen aus lokalen Überlieferungen<br />
auf. Es gibt vier wesentliche Quellenbereiche, die für das <strong>Faust</strong>buch festzumachen sind:<br />
• die Weltanschauung des Protestantismus, aus den Schriften der Reformation und aus<br />
Luthers Traktaten entnommen – <strong>Faust</strong>us wird somit als religiöses Warnbeispiel gesehen.<br />
• Schriften über Teufel, Zauberei und Dämonen, die mit der Inquisition zusammenfallen<br />
– die Macht des Teufelspakts wird dadurch hervorgehoben. Im <strong>Faust</strong>buch ist<br />
der Teufel eine alles bestimmende Macht, welcher der Mensch nicht entrinnen kann.<br />
Diese Ansicht des ausgelieferten Menschen verändert sich mit der Aufklärung.<br />
• Erzählsammlungen, Schwänke – der humoristische Wert des <strong>Faust</strong>buchs wird erhöht.<br />
• naturkundliche, geographische, kosmologische Schriften – die von <strong>Faust</strong> unternommenen<br />
Abenteuer und Flüge im Kosmos können abwechslungsreich gestaltet werden.<br />
Wie beliebt das <strong>Faust</strong>buch bereits zur Entstehungszeit war, macht die Auflagenzahl deutlich:<br />
Von 1587 bis 1598 kommt es zu insgesamt 19 Auflagen. Die theologische Konzeption<br />
hinter dem <strong>Faust</strong>buch macht es zu einer religiösen Warnschrift des 16. Jahrhunderts.<br />
Der Mensch sei der Sünde hoffnungslos ausgeliefert und der Teufel könne sich des Menschen<br />
jederzeit bemächtigen. Es sind theologische Vorstellungen, die sich auch z.B. in<br />
Luthers Schrift Über die Unfreiheit des Willens wieder finden.<br />
So begeht der Mensch <strong>Faust</strong> drei große Sünden:<br />
• superbia: Die Sünde des Hochmutes hat einen teuflischen Ursprung und wird von<br />
Gott bestraft. Sie findet Ausdruck in <strong>Faust</strong>s Streben nach Wissen, das ihn Gott gleich<br />
machen soll.<br />
• curiositas: In der hier proklamierten Sünde der Neugier verdeutlicht sich der Widerstand<br />
der Kirche gegen den Forscherdrang der Zeit (Entdeckung Amerikas 1492<br />
etc.).<br />
• cupiditas: Die Sünde der Sinnlichkeit und Begierde wurzelt in der Ablehnung von<br />
Sinnenfreuden durch die Kirche.<br />
Dank der Verbreitung durch Wandertheatergruppen erhält der Stoff als Volkslegende<br />
große Bedeutung, es kommt auch zur Vermischung mit dem Hanswurststoff. Dagegen<br />
wirkt <strong>Faust</strong> im Sturm und Drang inspirierend als Kraftkerl, Genie und Außenseiter, so<br />
z.B. bei Maler Müller. Im Laufe der Rezeption werden also immer wieder neue Akzente<br />
gesetzt.
Wichtige Aspekte der <strong>Faust</strong>tradition<br />
Einige wichtige Gesichtspunkte des Stoffes ziehen sich durch die gesamte Tradition der<br />
Bearbeitung des Stoffes:<br />
• das ruhelose Streben des <strong>Faust</strong><br />
• die Verherrlichung der Tat<br />
• die Hinwendung zur rücksichtslosen Kolonialisierung (in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>)<br />
• die Vision vom freien Volk auf freiem Grund<br />
• die expansive Dynamik der <strong>Faust</strong>figur in den Sphären des Sexuellen, Magischen etc.<br />
In Deutschland wurden einige dieser Aspekte (speziell aus <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>) in der Politik für<br />
idealistische Zwecke vereinnahmt. Gerade die Verherrlichung der Tat, die Vision vom<br />
freien Volk auf freiem Grund und die Hinwendung zur rücksichtslosen Kolonialisierung<br />
sind Motive, die sich im Männlichkeitsideal sowie in der Rechtfertigung eines idealistischen<br />
Krieges, z.B. im 2. Weltkrieg, widerspiegeln. Auch die DDR nutze jene Aspekte<br />
aus, um ihre sozialistische Bodenreform zu begründen. Diese Ideologiegeschichte des<br />
<strong>Faust</strong>stoffes in der deutschen Geschichte lässt sich beim Literaturwissenschaftler Hans<br />
Schwerte nachlesen.<br />
<strong>Faust</strong> bei Thomas Mann<br />
Thomas Mann ist der wichtigste Vertreter der deutschen <strong>Faust</strong>tradition im 20. Jahrhundert.<br />
Mit dem, unter dem Einfluss des 2. Weltkrieges von 1943 bis 1947 verfassten,<br />
Roman Doktor <strong>Faust</strong>us suchte Mann den direkten Anschluss an das <strong>Faust</strong>buch von 1587.<br />
Schließlich betonte Mann stets, dass sein Werk außer der gemeinsamen Quelle nichts<br />
mit Goethes <strong>Faust</strong> gemeinsam habe. So handelt Manns Roman vom Komponisten Adrian<br />
Leverkühn und beschäftigt sich mit den Auswüchsen der Identifikation. Hintergrund<br />
ist dabei Thomas Manns Bedürfnis, anhand eines Geschichtsromans zu untersuchen, wie<br />
der Aufstieg des Nationalsozialismus überhaupt möglich war.<br />
Gerade im Bezug zu Goethes <strong>Faust</strong> werden die unterschiedlichen Motive besonders<br />
deutlich: Bei Doktor <strong>Faust</strong>us nimmt die Figur <strong>Faust</strong> ein schlimmes Ende – ein Zeichen<br />
für die Kritik an Goethes Erlösungsgedanken. Auch die Figur des Teufels hat sich in der<br />
Tradition geändert. Zwar steht sowohl im <strong>Faust</strong>buch als auch bei Goethe und Thomas<br />
Mann der Teufelspakt im Zentrum der Handlung. Jedoch wird im <strong>Faust</strong>buch der Teufel<br />
religiös-moralisch dargestellt, bei Goethe hingegen verdeutlicht das Bündnis mit dem<br />
Dämon die negative Dimension des Menschen. Bei Thomas Mann stellt der Teufelspakt<br />
schließlich die Hingabe an das Irrationale dar. Mann glaubte zu erkennen, dass die<br />
Deutschen einen Hang zu diesem Irrationalen besäßen, was er als eine Voraussetzung<br />
für den Nationalsozialismus deutete. Thomas Manns Darstellung traf aber auf scharfen<br />
Widerspruch, ihm wurde vorgeworfen, die kulturellen Leistungen der Deutschen, z.B.<br />
die von Kant oder Beethoven, zu ignorieren.<br />
jungen Goethe sind auch Friedrich<br />
Schiller oder Johann Gottfried Herder<br />
Vertreter. [MLL]<br />
Maler Müller: (1749–1825) Friedrich<br />
Müller, genannt Maler Müller,<br />
war Schriftsteller und Maler. Literarische<br />
Innovationen hat er vor allem<br />
auf dem Gebiet der Idylle verwirklicht,<br />
neben Lyrik konzentrierte Müller<br />
sich jedoch vor allem auf seine<br />
Arbeiten mit dem <strong>Faust</strong>stoff, oftmals<br />
in Beratung mit Lessing. Mit Situationen<br />
aus <strong>Faust</strong>s Leben (1776) realisiert<br />
Müller den ersten Sturm-und-Drang-<br />
Text zum <strong>Faust</strong>stoff. Bis 1781 stand<br />
Müller auch in Kontakt mit Goethe.<br />
[MLA]<br />
Hans Schwerte: (1909–1999) Eigentlich<br />
Hans Ernst Schneider, Germanist,<br />
wurde 1995 als ehemaliger<br />
SS-Hauptsturmführer enttarnt. Nach<br />
1945 hatte er seinen Namen geändert<br />
und bis zu seiner Enttarnung erfolgreich<br />
eine akademische Laufbahn<br />
bis hin zum Rektor der Universität<br />
Aachen absolviert. [VEV]<br />
9
Aufklärung: Epoche der Philosophie-<br />
und Geistesgeschichte, deren<br />
Wurzeln in England und Frankreich<br />
im ausgehenden 17. Jh. liegen.<br />
Verbreitung in Europa vor allem im<br />
18. Jh., kennzeichnend für die Aufklärung<br />
ist die Erosion traditioneller<br />
Gewissheiten in der Religion und die<br />
Bezugnahme auf das Vernunftvermögen<br />
und die Erkenntnisfähigkeit<br />
des Menschen. [ZWK]<br />
Makrokosmos: Aus dem Griechischen:<br />
das Weltall bzw. die große<br />
Welt. Hier im Sinne von jener Welt zu<br />
verstehen, für deren Erkundung der<br />
Mensch technische, mathematische,<br />
magische, wissenschaftliche etc. Mittel<br />
benutzen muss. [WAH]<br />
Pantheismus: Philosophische Lehre,<br />
wonach Gott und die Welt, die Natur<br />
eins seien. Gott wäre somit überall<br />
in der Natur, überall ist seine Schöpfungskraft<br />
wieder zu finden. [WAH]<br />
10<br />
Der <strong>Faust</strong>stoff bei Goethe<br />
Bereits als Fünfjähriger sah sich Goethe in Form eines Puppenspiels mit dem <strong>Faust</strong>stoff<br />
konfrontiert. Dies scheint ihn nicht losgelassen zu haben. Ein Leben lang hat er sich mit<br />
<strong>Faust</strong> beschäftigt, erst kurz vor seinem Tod beendete er seine Arbeit daran. Trotzdem legte<br />
Goethe fest, dass das Ende, d.h. <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>, nicht vor seinem Tod veröffentlicht werden<br />
sollte.<br />
Mit seiner Arbeit am <strong>Faust</strong>stoff stellte sich Goethe in die Tradition namhafter deutscher<br />
Schriftsteller. Lessing hatte beispielsweise bereits angemerkt, dass es sich bei <strong>Faust</strong><br />
um einen nationalen Stoff handele. Doch im Gegensatz zu Goethe scheiterten viele<br />
an dieser Auseinandersetzung. So auch Lessing, der lediglich ein dreiseitiges Fragment<br />
hinterließ. Immerhin lässt sich daraus schließen, dass Lessing seinen <strong>Faust</strong> im Lichte<br />
des Maßes, im Sinne der Aufklärung, darstellen wollte. Andere literarische Fragmente zu<br />
<strong>Faust</strong> stammen von Lenz und Maler Müller. Bei Goethe dagegen gibt es insgesamt drei<br />
abgeschlossene <strong>Faust</strong>-Texte.<br />
Urfaust<br />
Der Urfaust besteht nur aus einzelnen Szenen. Er entstand zur Zeit des Sturm und<br />
Drang und vermittelt neben großer Sprachkraft auch viele Widersprüche. Dennoch ist<br />
der Urfaust ein wichtiges Dokument für die Forschung, zeigt sich doch im Vergleich mit<br />
den beiden anderen <strong>Faust</strong>-Texten, dass sich Goethe von dieser frühen, eruptiven Phase<br />
völlig abgewandt hat.<br />
Deutlich lässt sich im Urfaust der Einfluss der zeitgenössischen Problematik des unehelichen<br />
Kindergebärens ablesen. Diese Thematik wird auch von <strong>Faust</strong> I übernommen.<br />
Darüber hinaus dokumentiert ein Vergleich jedoch deutliche Tendenzen der Umformung.<br />
So zum Beispiel die Stil-Glättung: Ist der Urfaust ausschließlich in exklamatorischer<br />
Prosa verfasst, so ist <strong>Faust</strong> I in verschiedenen, mit bestimmten semantischen<br />
Referenzen konnotierten Versformen geschrieben.<br />
<strong>Faust</strong> I<br />
Im Unterschied zum Urfaust beginnt <strong>Faust</strong> I mit der Zueignung – Goethe macht darin<br />
seine persönliche Position zum <strong>Faust</strong>stoff klar. Im folgenden Vorspiel auf dem Theater<br />
sprechen Dichter, Theaterdirektor und Schauspieler über die Funktion des Theaters.<br />
Goethe reflektiert dabei zugleich über das Wesen der Dichtung und das Verhältnis zur<br />
Theaterpraxis.<br />
Die Handlung setzt anschließend im Prolog im Himmel ein. Hier wird ein Horizont<br />
einer prästabilierten, vorbestimmten Harmonie jenseits des tragischen Geschehens eröffnet,<br />
der dramaturgische Rahmen damit vorgegeben. In der gleichen Szene schließen der<br />
Herr und Mephisto dann auch die Wette, über <strong>Faust</strong>s Verführbarkeit ab. Damit ist die<br />
himmlische Sphäre in <strong>Faust</strong> I etabliert.<br />
Im weiteren Textverlauf wird die Sphäre der Wissenschaft eingeführt, so zum Beispiel<br />
in der Nacht-Szene, und außerdem die Rolle der Magie verdeutlicht, unter anderem in<br />
den Makrokosmosvisionen oder aber der Erdgeistbeschwörung. Deutlich wird dabei die<br />
Vielschichtigkeit von Goethes <strong>Faust</strong>. So muss der Erdgeist im Zusammenhang mit der<br />
pantheistischen Naturphilosophie, das heißt das Göttliches offenbare sich in jedem Detail<br />
der Natur, gesehen werden. Darin äußert sich auch die Kritik an vorherrschenden<br />
religiösen Systemen, wenngleich Goethe keine Fortführung einer theologischen Debatte<br />
will.
<strong>Faust</strong> I gliedert sich in zwei große Tragödien: Gelehrten- und Gretchentragödie. In<br />
der Gelehrtentragödie verzweifelt <strong>Faust</strong> an seinem Dasein als Gelehrter. Zugleich ist sie<br />
eine beißende Satire auf die Aufklärung und die Vertreter aller Fakultäten (Philosophie,<br />
Medizin, Theologie). Dies hat aber auch handlungstechnische Relevanz, ist es doch ein<br />
Brückenschlag zur persönlichen Tragödie <strong>Faust</strong>s: Die Verzweiflung über seine scheinbar<br />
erfolglosen Bemühungen in der Wissenschaft ist die Voraussetzung für den Teufelspakt.<br />
Solche Parallelen setzen sich durch den gesamten Text hin fort. So ist das Einsetzen des<br />
Frühlings in der Vor dem Tor-Szene ein Symbol für die Öffnung <strong>Faust</strong>s zur Welt und<br />
zur lebendigen Erfahrung, erste Zeichen dafür, dass sich <strong>Faust</strong> von der Studierstube, der<br />
Wissenschaft abwenden wird. Erst diese Öffnung <strong>Faust</strong>s ermöglicht die Verbindung mit<br />
Mephisto in Form der Wette beziehungsweise des Paktes.<br />
Zwischen Gelehrten- und Gretchentragödie begibt sich <strong>Faust</strong> auf eine Irrfahrt mit<br />
Mephisto, beginnend mit Auerbachs Keller in Leipzig. Diese Szene ist eine zugespitzte Satire<br />
auf Adel und Klerus und auch auf die revolutionären Bestrebungen des Volks – Goethe<br />
selbst war kein Freund der Französischen Revolution. Eine weitere Szene der Irrfahrt<br />
ist die Hexenküche. Darin wird <strong>Faust</strong> durch einen Zaubertrank verjüngt, das Irrationale<br />
hält nun Einzug. Gleichzeitig verdeutlicht sich <strong>Faust</strong>s Disposition zur Sinnlichkeit, die<br />
nun bei der Begegnung mit Gretchen offen zu Tage tritt.<br />
Die Gretchenhandlung ist dramaturgisch kompakt und subtil gebaut. Sie reicht von<br />
der Verführung und den Verirrungen Gretchens bis hin zu ihrem Wahnsinn. Die gesellschaftliche<br />
Ächtung Gretchens in der Szene Am Brunnen markiert einen ersten Höhepunkt<br />
in der Gretchentragödie. Verschiedene gesellschaftliche Schichten üben darin harsche<br />
Kritik an Gretchen, die ein uneheliches Kind erwartet. In der Szene Im Dom wird<br />
Kirchenkritik geübt, die Ächtung durch die Kirche treibt Gretchen zum Kindesmord,<br />
einer schieren Verzweiflungstat.<br />
Die Szene der Walpurgisnacht ist zwischen Gretchens Tat und dem Ende eingeschaltet.<br />
Sie hebt die verschiedenen Seiten <strong>Faust</strong>s hervor – einerseits die Liebe zu Gretchen,<br />
andererseits dem Nachgeben niederer Triebe. Am Ende von <strong>Faust</strong> I wird Gretchen gerettet<br />
und Mephisto zieht <strong>Faust</strong> fort – ein Ende, das mit <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> nur sehr wenig zu tun hat.<br />
Die Allegorie und die Phantasmagorie gelten als unterscheidende Merkmale von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />
im Vergleich zu <strong>Faust</strong> I. Letzterer ist streng nach dem Schema einer Tragödie aufgebaut.<br />
Zum Verhältnis von <strong>Faust</strong> und Mephisto gibt es in der Forschung verschiedene Auffassungen:<br />
<strong>Faust</strong> und Mephisto wurden lange als Antagonisten von Gut und Böse gedeutet.<br />
Seit dem 2. Weltkrieg wird Mephisto jedoch eher als Alter Ego <strong>Faust</strong>s gesehen.<br />
<strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />
Entstehungsgeschichte<br />
Am Höhepunkt von Goethes klassischer Periode (um 1800) wurde der Helena-Akt ausgearbeitet.<br />
Danach, in den Jahren zwischen 1800 und 1825, ignorierte Goethe den <strong>Faust</strong><br />
<strong>II</strong> fast vollständig. Stattdessen schrieb er in dieser Zeit die Wahlverwandtschaften, seine<br />
Farbenlehre und Wilhelm Meisters Lehrjahre.<br />
Ein Brief von 1818 belegt, dass Goethe selbst nicht mehr an die Vollendung des <strong>Faust</strong><br />
glaubte. Im gleichen Jahr hatte er nämlich den <strong>Faust</strong> von Christopher Marlowe gelesen und<br />
war sehr beeindruckt. Doch 1825 nahm Goethe die Arbeit am <strong>Faust</strong> wieder konzentriert<br />
auf und vollendete <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> im Juli 1831. Den <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> wollte Goethe zu Lebzeiten<br />
aber nicht publizieren lassen, weil er ein, in seinen Augen, absehbares Unverständnis des<br />
Publikums befürchtete. Seine Bedenken äußerte Goethe in einen Brief an Wilhelm von<br />
Helena: Tochter von Zeus und Leda<br />
bzw. Nemesis. Für ihre außergewöhnliche<br />
Schönheit bekannt, wurde<br />
Helena von Paris nach Troja entführt.<br />
Nach zehn Jahren Krieg und unter<br />
Aufbietung aller Helden Griechenlands<br />
gelang ihre Befreiung. [WWM]<br />
Christopher Marlowe: (1564–<br />
1593) Englischer Dichter und Dramatiker.<br />
Stellte Machtverhältnisse und<br />
Glauben seiner Zeit in Frage und wird<br />
seit dem 20. Jh. als ebenbürtiger Zeitgenosse<br />
Shakespeares gesehen. Neben<br />
Doctor <strong>Faust</strong>us (1589, 1593) sind<br />
vor allem sein letztes Stück Massacre<br />
at Paris (1593) sowie sein Liebesgedicht<br />
The Passionate Shepherd to His<br />
Love (nach 1580) bekannt. [OCL]<br />
11
Euphorion: Angeblicher Sohn von<br />
Achilleus und Helena. Soll geflügelt<br />
gewesen sein und wurde von Zeus,<br />
nachdem er dessen Liebe nicht erwiderte,<br />
mit einem Blitz erschlagen.<br />
[WWM]<br />
12<br />
Humboldt. Dennoch wurde sich Goethe immer mehr der europäischen und historischen<br />
Bedeutung von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> bewusst.<br />
Grundzüge des Alterswerks <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />
Wichtig sind im Alterswerk die Symbole und die Allegorien, die den größten Unterschied<br />
zu <strong>Faust</strong> I ausmachen. <strong>Faust</strong> I ist bürgerlich, persönlich, beschränkt, subjektivindividuell<br />
und bestimmt vom Konflikt zwischen <strong>Faust</strong> und seiner Umgebung bzw. vom<br />
Konflikt zwischen <strong>Faust</strong> und Gretchen. <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ist in der großen Welt und im gesellschaftlichen<br />
Allgemeinen angesiedelt und hat die Tendenz zur Historisierung und Typisierung<br />
– ein generelles Phänomen von Goethes Alterswerk. Es herrscht Besonnenheit<br />
und kein überschäumender Sturm und Drang. So ist <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> von kühler, kalkulierter<br />
Absichtlichkeit bestimmt. Die Sprache des Allgemeinen ist das Pathos des zweiten Teils<br />
von <strong>Faust</strong>.<br />
Bei Eckermann, Goethes Sekretär, ist zu lesen, dass Goethe auf eine höhere, breitere,<br />
hellere und bedeutungslosere Welt ohne jeglichen Subjektivismus hindeuten will. Dabei<br />
spielen mehrere Bereiche eine wichtige Rolle:<br />
• sozialer und politischer Bereich<br />
• militärisches Wirken <strong>Faust</strong>s<br />
• Wissenschaft und Kunst: Die vollendete ästhetische Kultur verdeutlicht sich in der<br />
Begegnung zwischen <strong>Faust</strong> und Helena. Diese Kultur wird aufgefächert in die Erscheinungsformen<br />
der Poesie, z.B. stellt Euphorion die Allegorie der romantischen<br />
Poesie dar – Helenas und <strong>Faust</strong>s Sohn, der allzu schnell verblüht.<br />
• großes naturphilosophisches Konzept: Goethe betont hier die beträchtliche Spannung,<br />
die er zwischen Kultur und Natur sieht<br />
• das Militärische im Gegensatz zum Organischen<br />
Generell ist der Zusammenhang zwischen <strong>Faust</strong> I und <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> nicht sehr groß, im Gegenteil<br />
zu manchen Forschungsmeinungen ergibt sich doch ein gemeinsamer Bogen:<br />
Goethe schließt nämlich mit der Auflösung der Wette in der Grablegung- und Bergschluchten-Szene<br />
jenen himmlischen Erzählrahmen, der mit dem Prolog im Himmel eröffnet<br />
wurde.<br />
Zusammenhänge zwischen <strong>Faust</strong> I und <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />
So geht die ältere <strong>Faust</strong>-Forschung von wenigen Zusammenhängen und zwei sehr unterschiedlichen<br />
Texten aus. Doch bei der Frage nach dem inneren Zusammenhang sind<br />
Gemeinsamkeiten festzustellen. Zwar geht es in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> um eine allgemeine zivilisatorische<br />
Entwicklung, doch besteht durch die Klammer der Wette immerhin eine formale<br />
Verbindung.<br />
So wird zu Beginn beim Prolog im Himmel die Wette geschlossen und am Ende von<br />
Mephisto eingefordert. Selbst die Engel sprechen wieder von <strong>Faust</strong>s eigenem Streben<br />
und nicht etwa einer gesellschaftlichen Entwicklung.<br />
Dadurch wird auch eine inhaltliche Verbindung deutlich: Die Ambivalenz des individuellen<br />
Strebens in <strong>Faust</strong> I und des neuzeitlichen generellen Fortschrittstrebens in
<strong>Faust</strong> <strong>II</strong>. Beide Arten des Strebens haben eine negative Kehrseite: In <strong>Faust</strong> I Gretchens<br />
Verderben, in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> unter anderem die Zerstörung der Natur. Der unbändige Forschungsdrang<br />
<strong>Faust</strong>s richtet sich nämlich gegen die alte naturgegebene Ordnung, die in<br />
dem alten Ehepaar Philemon und Baucis konkretisiert wird.<br />
Welt- und kulturgeschichtlicher Horizont von Urfaust zu <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />
<strong>Faust</strong> ist der sich autonom stellende Mensch der Moderne. Das Prinzip der Autonomie<br />
spielt eine zentrale Rolle in der Kunstauffassung des 18. Jahrhunderts Kant spricht von<br />
»interesselosem Wohlgefallen«, das heißt Kunst muss nur dem Betrachter selbst immanent<br />
und unvermittelt gefallen.<br />
Es ist ein Zeichen dafür, wie sehr sich die Welt in der Zeit vom Urfaust (1775) zu<br />
<strong>Faust</strong> <strong>II</strong> (1831) grundlegend verändert hatte. Nach anfänglicher Begeisterung war Goethe<br />
den Ideen der Französischen Revolution gegenüber skeptisch, die Umsetzung ihrer<br />
Vorstellungen, v.a. das Köpfen des Adels, rief Abscheu hervor. Goethe stellte fest: »Die<br />
Revolution fraß ihre Kinder.« Anschließend leiteten die Napoleonischen Kriege die Neuordnung<br />
Europas ein, ein Motiv, das sich auch in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> zeigt. Ebenso spiegelt sich die<br />
Restauration in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> wider: Die alten Mächte (Adel, Kirche, Militär) erstarken wieder<br />
unter Metternich, der ein repressives System vertritt. Doch auch damit war Goethe nicht<br />
einverstanden.<br />
Neben diesen politischen Umwälzungen paart sich gleichzeitig ein ungeheurer technischer<br />
Fortschritt mit ökonomischen Neuerungen. Goethe erlebt im Alter noch den<br />
Beginn der Industriellen Revolution in Deutschland – Dampfmaschine, Dampfeisenbahn<br />
und -schiffe, Beschleunigung von Handel und Transport, ein abstraktes Finanz- und<br />
Bankwesen. Es sind Entwicklungen, die sich in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> in den Akten 1 bis 5 als Allegorien<br />
widerspiegeln. In jener Beschleunigung durch neue Fortbewegungsmittel und der<br />
Multiplikation von Wissen, Nachrichten etc. sieht Goethe nachteilige Folgen für das<br />
Individuum.<br />
Dies sind Veränderungen, die sich auch im Militärwesen der Napoleonischen Kriege<br />
zeigen. Diese waren stark technisiert; es gab Pioniergruppen und eine regelrechte<br />
Heeresmaschinerie. Auch die soziale Frage ist von Wichtigkeit: Der Saint-Simonismus,<br />
der frühsozialistische Gedanken propagierte, schaffte erstmals ein Bewusstsein für diese<br />
Fragen. Sie sind besonders wichtig für das Verständnis des 5. Akts von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>.<br />
1830 erlebte Goethe noch die Julirevolution, für ihn das »Pariser Erdbeben« und eine<br />
Reprise der Tragödie von 1789. Ein halbes Jahr danach begann er die Arbeit am vierten<br />
Akt des <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> und kritisiert darin sowohl die Revolution als auch die Restauration.<br />
Davor, im zweiten und dritten Akt, dem großen Helena-Bogen, setzt sich Goethe mit<br />
dem Wandel von Mentalität, Stil in der Kunst und Literatur und Kultur auseinander.<br />
Goethe steht also mit <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> am Beginn des Industriezeitalters, welches das Ende<br />
des Kults um die Individualität einleitet, der vor allem während des Klassizismus und<br />
der Romantik betrieben wurde. Goethe knüpft somit in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> bewusst an unmoderne<br />
Strömungen an. Das Zeitalter des Idealismus wird durch die Fragestellungen der Alltagsrealität<br />
einer stark verarmten sowie ausgebeuteten Bevölkerung kritisiert und abgelöst.<br />
Immanuel Kant: (1724–1804)<br />
Deutscher Philosoph, untersuchte<br />
die Bedingungen und Grenzen des<br />
menschlichen Erkenntnisvermögens.<br />
Das Resultat ist eine Erkenntnistheorie,<br />
welche sich sowohl von spekulativer<br />
Metaphysik als auch von naturwissenschaftlichem<br />
Empirismus<br />
abgrenzt. [MLK]<br />
Französische Revolution: Von<br />
1789–1799 lehnt sich das französische<br />
Bürgertum gewaltsam gegen<br />
eine erstarrte absolutistische Monarchie<br />
auf. Um ihre Forderungen<br />
nach mehr Mitspracherecht durchzusetzen,<br />
wurde eine konstitutionelle<br />
Monarchie eingeführt, später, im<br />
Zuge einer Radikalisierung, richtete<br />
man nicht nur große Teile des Adels<br />
hin, sondern auch politische Gegner,<br />
die sich gegen die Erste Französische<br />
Republik von 1792 stellten. Nachdem<br />
gemäßigtere Republikaner die Macht<br />
an sich rissen, die Nöte der Bevölkerung<br />
jedoch ignorierten, war der Weg<br />
frei für Napoléon Bonapartes Machtübernahme<br />
Ende 1799. [ZWK]<br />
Napoleonische Kriege: Ab 1803<br />
weigerte sich Napoléon I., Kompromisse<br />
mit anderen europäischen<br />
Mächten einzugehen. Stattdessen<br />
vertrat er französische Territorialinteressen<br />
in Italien, der Schweiz, den<br />
Niederlanden und im Heiligen Römischen<br />
Reich. Sukzessive besiegte er<br />
Österreich-Ungarn, die ehemaligen<br />
deutschen Verbündeten und drängte<br />
Russland zurück. Trotz Erfolgen im<br />
Süden verlor Napoléon 1813 Spanien,<br />
konnte die britische Seemacht<br />
niemals brechen und geriet durch<br />
Befreiungskriege im restlichen Europa<br />
zunehmend unter Druck. Im April<br />
1814 musste Napoléon schließlich<br />
abdanken und Frankreich sah sich einem<br />
feindlichen Europa gegenüber.<br />
[ZWK]<br />
Restauration: Zeit von 1815 bis<br />
1830, in der die europäischen Staaten<br />
versuchten, die politischen<br />
Verhältnisse der Zeit vor der Französischen<br />
Revolution wieder herzustellen.<br />
[ZWK]<br />
13
Klemens Wenzel Fürst von Metternich:<br />
(1773–1859) Österreichischer<br />
Staatsmann, der für sein Verhandlungsgeschick<br />
bekannt war. Er<br />
schaffte es, die Feindseligkeiten zwischen<br />
Frankreich und Österreich-Ungarn<br />
vorerst zu beenden, wird dann<br />
aber 1813 Teil einer antifranzösischen<br />
Koalition. Auf dem Wiener Kongress<br />
1815 verhinderte er, dass Frankreich<br />
allzu hart bestraft wurde – es sollte<br />
vielmehr Teil der europäischen Restauration<br />
werden. Ab 1836 führte<br />
er als Teil der »Staatskonferenz« die<br />
Regentschaft für Kaiser Ferdinand I.,<br />
musste allerdings im Zuge der Märzrevolution<br />
1848 flüchten. [ZWK]<br />
Saint-Simonismus: Theorie, nach<br />
der die produktiven Tätigen, das<br />
heißt Unternehmer, aber auch Arbeiter<br />
und Bauern, die gesellschaftliche<br />
Elite seien. Sie sollten in einer hierarchischen<br />
Gesellschaft allen Arbeit<br />
und Wohlstand zukommen lassen.<br />
Der Begründer dieser Theorie, Saint-<br />
Simon, trat somit für die bessere Nutzung<br />
von Privateigentum ein. [ZWK]<br />
Industrielle Revolution: Bezeichnet<br />
die Phase beschleunigter technologischer,<br />
ökonomischer und sozialer<br />
Veränderungen. Sie begann um 1785<br />
in Großbritannien und folgte im 19.<br />
Jahrhundert unterschiedlich schnell<br />
in den restlichen Ländern der Welt.<br />
Die Industrielle Revolution markiert<br />
den Übergang von einer Agrar- zur<br />
Industriegesellschaft. Damit einhergehend<br />
ist ein Erstarken des Bürgertums<br />
und der Arbeiterklasse. [ZWK]<br />
Julirevolution: Erhebung der Pariser<br />
Bevölkerung im Juli 1830. Der<br />
französische König Karl X. wurde gestürzt<br />
und durch den »Bürgerkönig«<br />
Louis Philippe, eine Marionette des<br />
Bürgertums, ersetzt. [ZWK]<br />
Klassizismus: Bezeichnet ästhetische<br />
Positionen und künstlerische<br />
Verfahrensweisen in allen künstlerischen<br />
Bereichen, welche auf die<br />
griechisch-römische Antike zurückgreifen.<br />
Hier als Synonym für die<br />
Klassik verwendet, ein Rückbesinnen<br />
auf antike Wertvorstellungen im<br />
Zuge der Aufklärung. [MLL]<br />
14<br />
Goethes Geschichtsauffassung<br />
Goethe nahm jedoch nicht immer diese greifbaren Phänomene der Zeit in den Text auf,<br />
die Anspielungen sind nicht überall gleich intensiv. Zwar ging Goethe stark von den<br />
Erfahrungen seiner Zeit aus, er wollte jedoch das Wesen der Neuzeit insgesamt erfassen.<br />
So sieht Goethe die Neuzeit, welche in der Epoche des historischen <strong>Faust</strong>us begann,<br />
zusammen mit seiner eigenen Epoche nach 1789. Goethe will Grundstrukturen und<br />
Konstanten der Neuzeit hervorheben und prägte dazu den Begriff ›Symphronismus‹. Er<br />
betrachtete dabei Epochen, Ereignisse der Geschichte nicht mehr synchron, d.h. gleichzeitig,<br />
sondern fragte danach, was in den Epochen parallel, analog und typisch sei. Das<br />
Analoge und Typische arbeitete Goethe dann im Text heraus. Es entsteht eine übergeordnete<br />
Synchronie für die Wahrnehmung der Neuzeit. Die Phänomene des 16. Jahrhunderts<br />
und der Gegenwart Goethes werden eins und als ein Ganzes gesehen.<br />
Die Funktion der Epochendiagnose und der Geschichtsreflexion haben weder Urfaust<br />
noch <strong>Faust</strong> I. Jochen Schmidt spricht hier von einer »historisierenden Patina«, wenn die<br />
Rolle der Gelehrten etc. dargestellt wird – es lässt sich alles den entsprechenden Epochen<br />
zuordnen.<br />
Einige Symphronismen zwischen dem 16. Jahrhundert und<br />
18. Jahrhundert<br />
• der desolate Zustand des spätmittelalterlichen Reiches entspricht der Agonie und<br />
dem Untergang des Reiches von 1806, des ›Ancient Régime‹<br />
• den Beginn des Kapitalismus sieht Goethe an der Schwelle der Neuzeit, er entspricht<br />
der beginnenden Hochblüte des Kapitalismus im 19. Jahrhundert<br />
• die Wiederbelebung der Antike sieht Goethe in der Renaissance (Beginn der Neuzeit)<br />
und im Klassizismus und in der Weimarer Klassik<br />
• die naturwissenschaftlichen Neuerungen zum Beginn der Neuzeit entsprechen den<br />
großen Erfindungen in Goethes Zeit (Erfindungen in der Chemie, Neuerungen im<br />
Militär durch das Schießpulver etc.)<br />
• die Entdeckung Amerikas und Spaniens damit einhergehende Vorrangstellung entspricht<br />
laut Goethe der, durch weltweiten Handel aufgebauten, Macht der Kolonialmächten<br />
England und Norwegen<br />
Jene strukturellen Entsprechungen können auch als Klammer zwischen <strong>Faust</strong> I und <strong>Faust</strong><br />
<strong>II</strong> gesehen werden. Goethe sieht zwischen den großen Entwicklungen also erstaunliche<br />
Parallelen, die eine Diagnose der Neuzeit erlauben. Ein Beispiel aus dem Text (Vers<br />
11186–11188) zeigt eine Einheit von Krieg und Piraterie, die eine Parallele des Krieges<br />
zwischen England und Spaniens darstellt. Solche Anspielungen in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> gäbe es laut<br />
Goethe zuhauf: »Mancher wird noch mehr finden, als ich geben konnte.«<br />
Ziel von Goethes symphronistischer Methode ist eine Diagnose der Neuzeit. Durchgehende<br />
Grundmuster sollen in den einzelnen Abschnitten der Neuzeit aufgedeckt werden.<br />
Zum Beispiel finden sich im Schlussmonolog <strong>Faust</strong>s Spuren des revolutionären<br />
Zeitalters und des Frühsozialismus.
<strong>Faust</strong> als Träger moderner Züge<br />
<strong>Faust</strong> repräsentiert somit moderne Grundhaltungen und ist im Text eine Idealvorstellung,<br />
eine Rolle und eben nicht so sehr ein Individuum. Er tritt als Militärstratege und später<br />
als Kolonisator auf, ist also Repräsentant für die jeweilige Weltanschauung, Ideologie.<br />
Der Figur des <strong>Faust</strong> kommt dadurch eine zentrale Funktion zu: Er soll den modernen<br />
autonomen Menschen vorführen. Denn für Goethe ist jene Autonomie typisch für<br />
den neuzeitlichen Menschen. Eine Autonomie, die auch Unabhängigkeit von geistlicher<br />
Metaphysik bedeutet. Und so tritt <strong>Faust</strong> in Opposition zu Kräften, die Vertreter der<br />
mittelalterlich geprägten Ordnung und gegen die Autonomie des Menschen gerichtet<br />
sind, wie zum Beispiel der Kanzler des Reiches (Vers 44894 f.), der meint: »Natur ist<br />
Sünde, Geist ist Teufel«. Schließlich waren Klerus und Adel die Stützen der Monarchie<br />
und dafür wurden sie dann von der weltlichen Krone durch Ländereien, Geld, Macht<br />
und Einfluss belohnt. Doch <strong>Faust</strong>s Auflehnung gegen solche Mächte ist selten von Erfolg<br />
gekrönt, scheitert er doch stets in seinem Streben.<br />
Wie Goethe selbst festhält, ist <strong>Faust</strong> ein Mensch, der sich beschränkt fühlt durch<br />
das Dasein auf der Erde und den Besitz weltlicher Güter. <strong>Faust</strong> ist ein Geist, der nach<br />
allen Seiten sich wendend, immer wieder zurückkehrt – eine unglückliche Existenz. Ein<br />
Zustand der sich in Goethes Augen analog zur modernen Gesinnung, Existenz verhält.<br />
<strong>Faust</strong> repräsentiert also ein spezifisch modernes unglückliches Bewusstsein – das sich<br />
gegen alte Mächte und Vorstellung zwar wehrt, sie aber nicht brechen kann.<br />
Der erste Akt<br />
Im ersten Akt überschreitet Goethe die Grenze zu jener Kunst, die sich nicht durch reinen<br />
»Schönheits-Charakter« auszeichnet. Für die Figuren- und Denkwelt gibt es keine<br />
harmonische Einheit von Sinnlichem und Sittlichem. Das fortschreitende Leben brau<br />
cht eine andere Form von Kunst, die Auffassung von Kunst wird immer stärker philosophisch.<br />
In diesem Sinn ist <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> das modernste Werk Goethes.<br />
<strong>Faust</strong> <strong>II</strong> zeichnet sich unter anderem durch seine Natursymbolik aus – einer der<br />
wichtigsten Schlüssel für das Werk. So entsteht die Dynamik im Text durch die stetige<br />
Verwandlung. Dies ist ein Grundprinzip, das bei Goethe für die Naturformen ganz allgemein<br />
gilt. Die Verwandlung hat universelle Gültigkeit. Goethe meint dazu »Gestaltenlehre<br />
sei Verwandlungslehre«, die Lehre von den Metamorphosen wäre also der Schlüssel<br />
zu den Naturformen.<br />
Ein Beispiel ist der erste Akt. Am Anfang zeigt er <strong>Faust</strong> schlafend; ein Schlaf, in dem<br />
er vergessen und gleichzeitig bereit werden muss für neue Taten (Vers 4650). Gretchens<br />
und <strong>Faust</strong>s Schuld werden abgelegt. Und auch die Frage des Ethischen und Moralischen<br />
spielt keine Rolle mehr, sie war in <strong>Faust</strong> I noch ein wichtiger Antrieb.<br />
Die Perspektive ist nicht länger die <strong>Faust</strong>s. In <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> wird in der Welt das Objektiv-<br />
Seiende dargestellt, die Subjektivität tritt in den Hintergrund. So gibt es diesbezüglich<br />
auch keinen dramatischen Austausch mehr zwischen den Personen. Eine Voraussetzung<br />
für <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> wäre demnach die Dominanz der naturphilosophischen und erkenntnistheoretischen<br />
Erkenntnisse.<br />
Anmutige Gegend<br />
Die Szene beginnt mit Ariel (vgl. Prolog im Himmel) und endet mit dem Monolog <strong>Faust</strong>s.<br />
Sie liest sich wie ein Programmheft – bereits die gesamte Ästhetik von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> wird hier<br />
umrissen. Ariels Worte (Vers 4658–4665) klingen zwar verführerisch, aber sie werden<br />
Romantik: Kulturgeschichtliche<br />
Epoche, die vom Ende 18. Jahrhundert<br />
bis Mitte 19. Jahrhundert Kunst<br />
als aus der Einsamkeit des Genies<br />
geboren sieht. Inspirierende und enthusiastische<br />
Innerlichkeit wird propagiert,<br />
die Gefühlswelt in Vers- und<br />
Prosadichtung betont. [MLL]<br />
Idealismus: Bezeichnet philosophiegeschichtlich<br />
die letzten Dekaden<br />
des 18. Jahrhunderts, in denen<br />
die menschliche Erkenntnis vor dem<br />
Wirklichen zurückstecken muss. So<br />
könne der Mensch die Wirklichkeit<br />
nur teilweise erkennen, laut Hegel<br />
wären die Dinge nämlich Gegenstand<br />
einer gottgleichen Einheit. [MLK]<br />
Neuzeit: Geschichtliche Epoche,<br />
welche Mitte des 15. Jahrhunderts<br />
einsetzt, das Mittelalter beendet und<br />
bis in die Gegenwart hineinreicht.<br />
Entdeckung Amerikas 1492 und Martin<br />
Luthers Reformation von 1517<br />
sind Eckpunkte jener beginnenden<br />
Zeit, welche die absolutistische Monarchie<br />
und die Vorrangstellung der<br />
Kirche beenden sollte. [ZWK]<br />
Ancient Régime: Französisch für<br />
die »alte Regierungsform«, bezeichnet<br />
der Ausdruck das absolutistische<br />
Frankreich vor 1789 und allgemein<br />
die politischen und gesellschaftlichen<br />
Verhältnisse im Europa des<br />
17./18. Jahrhunderts, die auf einer<br />
privilegierten Adelswelt aufbauten.<br />
[ZWK]<br />
Weimarer Klassik: Auf wenige<br />
Autoren begrenzte Richtung der<br />
deutschen Kulturgeschichte. Zwischen<br />
Sturm und Drang sowie der<br />
Hochromantik angesiedelt, bestand<br />
sie von ca. 1786 bis 1805. Ein<br />
Großteil von Goethes Werken sowie<br />
Schillers spätere Arbeiten werden<br />
ihr zugerechnet. Die Weimarer Klassik<br />
begrenzte das schwärmerische<br />
Subjekt des Sturm und Drang und<br />
distanzierte sich durch Formstrenge<br />
und Stilisierung vom unmittelbaren,<br />
überschwänglichen künstlerischen<br />
Ausdruck. [MLL]<br />
15
Augsburger Reichstag: In Augsburg<br />
wurden mehrmals ab dem 12.<br />
Jahrhundert Reichstage des Heiligen<br />
Römischen Reichs abgehalten. Kaiser,<br />
Kurfürsten, Fürsten, später auch<br />
Vertreter der Reichsstädte stimmten<br />
dort ihr weiteres Vorgehen ab und<br />
trafen Entscheidungen, welche das<br />
gesamte Reich betrafen. Diesbezüglich<br />
ist vor allem der Augsburger Religionsfrieden<br />
von 1555 hervorzuheben,<br />
welcher nicht nur die lutherische<br />
Kirche als gleichberechtigt neben der<br />
katholischen etablierte, sondern den<br />
weltlichen Reichsständen auch Religionsfreiheit<br />
garantierte. [ZWK]<br />
Mummenschanz: Maskenfest. [WAH]<br />
16<br />
nicht gehalten, in <strong>Faust</strong>s Monolog heißt es nämlich: »Unerhörtes hört sich nicht«. Dennoch<br />
ist <strong>Faust</strong> nunmehr entschlossen, weiter nach dem höchsten Dasein zu streben.<br />
Im Schlussmonolog (Vers 4715–4727) zeigt sich die Opposition von Absolutem und<br />
Relativem, wie anhand mehrerer Beispielen deutlich wird. So ist der Monolog unter dem<br />
Aspekt der Kunsttheorie zu lesen. Stark antiklassizistisch handelt er von der Buntheit,<br />
Farbigkeit und dem prallen Leben. Von Goethes Beschreibung unterscheiden sich klassizistische<br />
Studien zur antiken weißen Plastik grundlegend. Ein weiterer Zugang ist die<br />
Vermittlung des Uneigentlichen, nicht mehr des Primären oder in der Welt Existierenden.<br />
Diese Theorie vom farbigen Abglanz weist bereits auf die Moderne voraus.<br />
Jene Kunsttheorie vom farbigen Abglanz lässt sich nur dann komplett erschließen,<br />
wenn man sie mit der Naturphilosophie Goethes verbindet. Denn daraus speisen sich<br />
Goethes Kunstanschauungen, die Metaphorik Goethes. In Goethes Kunstrevue Pandora<br />
von 1807 veranschaulicht er mit der Beschreibung der Sonne die Theorie vom Licht,<br />
welche wiederum tief mit Goethes Wissenschaftslehre verbunden ist. So besagt Goethes<br />
Farbenlehre, dass das Wesentliche der Dinge nicht erfasst werden könne, aber deren<br />
Wirkungen. Vergebens bemühe man sich, den Charakter eines Menschen zu bestimmen,<br />
seine Eigenschaften könne man nur beschreiben und so ein Bild vom Menschen<br />
erzeugen. Das Absolute, das Eigentliche eines Menschen bzw. Objekts lässt sich somit<br />
nicht erkennen. Der Mensch kann höchstens einen Abglanz, relativ zu sich selbst, erfassen.<br />
Thronsaalszene<br />
Inhaltlich ist die Szene schnell umrissen. Es treten die verschiedensten Vertreter auf und<br />
beklagen den finanziellen Niedergang des Reichs (Vers 4730 f), der kaiserlichen Pfalz.<br />
Der Kaiser eruiert bei seinen Repräsentanten den Zustand des Staates. Und Mephisto<br />
tritt als Hofnarr auf.<br />
Goethe bereitet 1816 eine Skizze vor, die das historische Milieu der Szene darstellt<br />
und stark an historischen Fakten angelehnt ist. Sie wird jedoch kaum übernommen,<br />
die historischen Fakten (z.B. der Augsburger Reichstag) werden immer mehr reduziert.<br />
Dennoch bleibt ein Portrait des feudalen Charakters und der höfischen Gesellschaft,<br />
des Historischen enthoben, erhalten. Eine Fixierung in Ort und Zeit ist nicht länger<br />
möglich, was bleibt ist ein ungefährer zeitlicher Rahmen. Zusätzlich wird die folgende<br />
Mummenschanz-Szene vorbereitet. <strong>Faust</strong> befreit sich aus der kleinen Welt und tritt in die<br />
große Welt der Staatsgeschäfte ein, die allerdings wiederum durch viele Momente des<br />
Pittoresken, Absonderlichen und Phantastischen kontrastiert wird.<br />
In der Szene wird der zerrüttete Zustand einer feudalen Ordnung dargestellt. Um<br />
seine Herrschaft nun neu zu begründen, will der Kaiser einen Schatz heben lassen. <strong>Faust</strong><br />
und Mephisto werden zu Wächtern des Schatzes bestellt und müssen danach graben.<br />
In der Folge fällt die Grabung jedoch unter den Tisch, inhaltlich geht die Szene nicht<br />
mehr darauf ein. Stattdessen müssen die zwei sich die Gunst des Kaisers im 4. Akt durch<br />
Kriegsdienst verdienen.<br />
Wilhelm Emrich meint, die Szene sei eine symbolische Gesellschaftsrevue und keine<br />
psychologische Darstellung der Figuren. Die Figuren wären Funktionsträger in der feudalen<br />
korrupten Staatsmaschinerie und keine realen, individuellen Figuren. Die Szene<br />
wäre demnach ein »symbolisches Vorbeiziehen der Wirkungen der Staatsverfassung am<br />
Auge des Betrachters«. So schildert Goethe mit der Geldnotenpresse das Motiv der Erfindung<br />
des Papiergelds.<br />
Goethe hatte als Staatsminister in Weimar durchaus praktische Erfahrungen mit dem<br />
Hof. Und so gestaltet er diese Szene als Ausdruck des staatlichen Verfalls. Der Kaiser
verlangt beispielsweise den Karneval und sorgt sich mehr um seine Narren denn um<br />
seine Untertanen. Die Würdenträger gehen nicht mehr ihrer Arbeit nach, jeder verfährt<br />
nach eigenem Willen (Vers 4784–4786). In diesem Chaos entfaltet sich eine Welt des<br />
Irrsinns, alle Regeln und Normen, was sich gehört und gebührt, lösen sich auf. Der<br />
Kaiser erscheint ohnmächtig und sein Handeln als Farce. In Verschwendungssucht und<br />
Geldmangel manifestiert sich das Übel.<br />
In den 70er Jahren hatte diese Szene auf neomarxistische Interpretationen großen<br />
Einfluss: Der Reichtum der Feudalgesellschaft beruhe auf Raub und nicht auf Arbeit.<br />
Und Plünderung ist in dieser Szene ja durchaus ein Motiv. Die Szene erschöpft sich<br />
jedoch nicht nur in einem Negativbild der Feudalgesellschaft, es geht nicht nur um eine<br />
ästhetische Allegorie der feudalen Gesellschaft. Vielmehr ist sie eine Kritik an einem falschen<br />
Verhältnis der feudalen Gesellschaft zur Natur – ein Motiv das prägend ist für den<br />
gesamten ersten Akt.<br />
Mummenschanzszene<br />
Goethe war als Zeremonienmeister mit den Maskenzügen der Mummenschanz-Zeit,<br />
eine Periode der Verstellung, Erotik und vorgehaltenen Spiegel, sehr vertraut. Neben persönlichen<br />
Erfahrungen greift er aber auch auf Beschreibungen zurück. Zum Beispiel die<br />
des italienischen Dichters Grazzini – dessen komische Literatur, Gedichte mit satirischen<br />
und burlesken Inhalten, kannte Goethe gut. Außerdem hatte Goethe den Karneval in<br />
Rom sehr aufmerksam verfolgt und in der Italienischen Reise beschrieben. Goethe nimmt<br />
soziologische Befunde des Maskenzuges vor, er beschreibt, was im Betrachter vorgeht,<br />
nämlich die Aufhebung zwischen Reich und Arm, Hoch und Niedrig.<br />
In der Szene finden sich durchaus Elemente des Volkfestes, das sich abgrenzt von den<br />
feudalen und geistlichen Festen. Auch dies beobachtete Goethe in Italien. Das Volk war<br />
unmittelbar beteiligt und nur hier, im Wahnsinn des Karnevals, konnten Freiheit und<br />
Gleichheit realisiert werden.<br />
Die Szene bezieht sich allerdings nicht nur auf die Italienische Reise, sondern auch auf<br />
Andrea Mantegnas Bilderzyklus Triumphzug Caesars. Aus dem Zyklus von Mantegna,<br />
ein berühmter italienischer Maler, der sich durch seine starken Farben und würdevollen<br />
Figuren auszeichnet, entnahm Goethe die Idee einer dramatischen Form, die erhabenste<br />
Stoffe mit trivialen Materialien verschränkt. Die Gestaltenvielfalt des römischen Volksfestes<br />
wird so zur eigenen Poesie.<br />
Übergeordnetes, ökonomisches Thema dieser Szene ist aber die Balance von Reichtum,<br />
Verschwendung und Sparsamkeit. Denn in der feudalen Kultur lässt sich durchaus<br />
von einer Verschwendungsästhetik sprechen. Eine Ästhetik, die sich in der Mummenschanzszene<br />
beim höfischen Fest mit dem Volk als Zaungast spiegelt. Die Herold-Figur<br />
übernimmt dabei die Rolle des Festordners und Interpreten der Allegorien. Hier findet<br />
sich eine weitere Parallele zu Goethes Lebensabschnitt als Festordner in der Weimarer<br />
Hofgesellschaft. Dem nachempfunden, dürfen weitere Personen und Gruppen (Gärtnerinnen<br />
und Gärtner, Mütter, Kinder, etc.) im höfischen Welttheater nicht auftreten, weil<br />
es den Anstand verletzten würde. Das Trinklied gen Ende sprengt dann aber doch noch<br />
die Grenzen des höfischen Theaters.<br />
Die Figur des Knaben (Lenker)<br />
Die Figuren des ersten Aktes sind allesamt Allegorien, die die Fülle des Lebens verdeutlichen<br />
sollen. Der Knabe ist eine Allegorie auf die Poesie. In der Mummenschanzszene<br />
kommen vielfältige Kunsttheorien zur Sprache. Pluto wird vom Knaben (Lenker) ge-<br />
17
Homunkulus: Künstlich erzeugter<br />
Mensch. [WAH]<br />
Junges Deutschland: Politischoppositionelle<br />
literarische Bewegung<br />
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.<br />
Die Jungdeutschen wollten die<br />
Literatur aus einer wirklichkeitsabgewandten,<br />
ästhetisch-idealistischen<br />
Daseinsform herausführen und zu<br />
einem wirksamen Organ des gesellschaftlichen<br />
Lebens machen.<br />
Die Literatur sollte der ethischen,<br />
politischen und sozialen Erneuerung<br />
dienen. [ZWK]<br />
18<br />
fahren und ist ein Vertreter des Reichtums der Poesie, symbolisiert durch die Macht<br />
des Kaisers. Die Poesie hat in der Mummenschanzszene ihre eigene Wirklichkeit, sie<br />
ist nicht abhängig von bürgerlichen Gesichtspunkten wie z.B. der Aufklärung und ist<br />
Inbegriff des Überflusses und der Verschwendung. Außerdem ist sie das dominierende<br />
Gestaltungsmittel für die Szene.<br />
Die Poesie besteht bei Goethe darin, dass die Natur über die Kunst, wie sie bisher definiert<br />
wurde, hinausgeht. In Vers 5519f und Vers 5689–96 wird die Poesie beschrieben,<br />
die Kunst hat eine »scheckige Wildheit« und ist einsam, erhöht und kein Massenphänomen.<br />
Auch Euphorion ist wie der Knabe (Lenker) eine Allegorie auf die Kunst und Poesie.<br />
Wenn Verschwendung das Prinzip der Poesie ist, dann zeigt sich dies auch anhand der<br />
Fülle von Formen, Gattungen, Versen und Motiven im Werk Goethes.<br />
Euphorion, Homunkulus und der Knabe (Lenker) sind als Allegorien androgyne Wesen,<br />
ihre Geschlechtlichkeit ist nicht sicher. Die Auswirkungen auf die Kunsttheorie: Das<br />
ideale Wesen der Allegorien ist für Goethe problematisch, denn sie sind nicht lebensfähig.<br />
Schließlich gilt für die Symbole und Allegorien generell, dass es keine eindeutige<br />
Deutung gibt. So fliegt etwa auch der Knabe (Lenker) am Ende aus seinem Kästchen in<br />
die Weite. Ein Hinweis darauf, dass diese Kunstgestalten bloß eine sehr kurze Lebensdauer<br />
besitzen. Und somit auch ihre Allegorien.<br />
Szene Kaiserliche Pfalz<br />
In dieser Szene zeigt sich, dass das Thema von der Verschwendung der Kunst etwas Neues<br />
ist, denn in der Poetik der Aufklärung galten die Begriffe prodesse et delectare – Kunst<br />
muss nützen und/oder erfreuen. Kunst als bloßer Luxus gab es in der bürgerlichen Ästhetik,<br />
die Goethes Zeitgenossenschaft prägte, nicht. Diese Idee kommt unter anderem<br />
aus der verschwenderischen und opulenten Ästhetik der feudalen Repräsentation: jeder<br />
noch so kleine Hof in Deutschland feierte Feste etc. Diese Momente der Verschwendung<br />
erfuhr Goethe in Weimar. Die feudale Ästhetik sollte die Mängel des bürgerlichen Lebens<br />
ausgleichen und eine Gegenwelt schaffen, das nicht gelebte Leben des Einzelnen<br />
ersetzen. Goethe wurde nach seinem Tod vom Jungen Deutschland heftig für diese feudale<br />
Repräsentation kritisiert. Der Überfluss zeigt sich aber nicht nur in den Themen, sondern<br />
auch im Stil; hier ist Goethe auf Abwechslung bedacht und beeinflusst von der orientalischen<br />
Poesie (Vers 5512–5520). Mit dem Bild der magischen Laterne, der laterna<br />
magica, und anderen Bildern werden Vorstellungen vom farbigen Abglanz des Lebens<br />
vorgestellt. Für Goethe ist der Orient das Ursprungsland der Poesie (vgl. seine Schrift<br />
Westöstlicher Diwan). Er erkannte den Despotismus der orientalischen Regenten und<br />
Herrscher, sah ihn allerdings gleichzeitig als großen Förderer der Poesie. In der Tat waren<br />
die orientalischen Höfe viel poesieträchtiger als die kaiserlichen Höfe des Mittelalters.<br />
Aber auch hierfür wurde Goethe angegriffen, schließlich sei der orientalische Despotismus<br />
grausamer als der mittelalterliche gewesen. Der Knabe (Lenker), die Poesie,<br />
tritt dementsprechend als Sohn eines orientalischen Herrschers auf, nicht als der eines<br />
mittelalterlichen Herrschers.<br />
Für Goethe waren Freiheit und Knechtschaft zwei Pole, die einander bedingen, er<br />
macht diese Vorstellung für sein Werk fruchtbar (vgl. Noten und Abhandlungen). Gleichgewicht<br />
zwischen den beiden Polen kann hingegen nur für kurze Zeit gefunden werden.<br />
Als der Kaiser mit der Maske des Pan im Feuer auftritt, spielt Goethe auf eine weit<br />
verbreitete Stimmung innerhalb des deutschen Adels an. Dieser liebäugelte mit der Französischen<br />
Revolution, bedachte allerdings, in Goethes Augen, nicht die Konsequenzen
dieser Koketterie. Auch in Goethes Unterhaltung deutscher Ausgewanderten wird diese<br />
Haltung des Adels satirisch aufgearbeitet.<br />
Am Ende der Lustgarten-Szene ist der Narr der eigentliche Gewinner. Die Mummenschanzszene<br />
erscheint als die szenische, revueartige Darstellung des Wahnsinns, des<br />
Chaos, der Raserei. Ein Wahnsinn, der aus der Nivellierung der Stände resultiert. Die<br />
Abkehr von ständischen Prinzipien führe demnach laut Goethe in die Unfreiheit. Ein<br />
Punkt, der Goethe viel Kritik einbrachte. Da sich Goethe allerdings in seinem Spätwerk<br />
von allen Eindeutigkeiten losgesagt hat, können solche Kritiken nicht wirklich greifen,<br />
da sie nicht alle Aspekte von Goethes Einstellung erfassen.<br />
Nach der Mummenschanzszene folgen die ersten Vorboten der Helena-Handlung.<br />
Diese wird stärker mit <strong>Faust</strong> und Mephisto in Verbindung gebracht. So sind Paris und<br />
Helena Musterbilder von Mann und Frau – Musterbilder, zu denen der Teufel keinen<br />
Zugang hat. Es wird der Versuch sichtbar, die Macht des Teufels mit der antiken Heroine<br />
zurückzunehmen (Vers 6201). Diese Figuren sind der Gewalt des christlichen Teufels<br />
entzogen, Mephisto gerät an die Grenzen seiner eigenen Kunst. Mephisto ist nun in<br />
seinem Wesen unproduktiv, er kann nur bereits Gewesenes hervorbringen, nichts Eigenes.<br />
Helena aber ist einerseits eine Figur der Antike und andererseits der Inbegriff des<br />
gewesenen Seins. Sie ist also nicht nur historisch zu sehen, sondern verkörpert auch die<br />
Vergänglichkeit.<br />
Die Fragen des Seins, des Lebens und der Historizität haben bei Goethe immer auch<br />
Dimensionen seiner Kunstphilosophie, eine ontologische Dimension der antiken Kunst<br />
für die Moderne. Die antike Kunst ist also nichts, das längst vergangen wäre, sondern<br />
sie hat immer noch große Bedeutung für die Moderne: Die antike Kunst ist gleichzeitig<br />
Ursprungswelt der Moderne als auch ein mögliches Potential. Darin unterscheidet sich<br />
Goethe von Schiller, bei dem die Moderne die Folge der Vertreibung aus dem antiken<br />
Kunstparadies darstellt. Bei Schiller wird die Antike mit Idylle gleichgesetzt, die nicht<br />
in die Moderne zurückgeholt werden kann. Goethe begreift dagegen die antike Welt als<br />
Chance für die Gegenwart, solange sie nur richtig genutzt wird. Die antike Welt gibt so<br />
viel frei von der eigenen Menschenkraft, dass sie für die Moderne ein wichtiges kreatives<br />
Potential darstellt. Es findet eine Relativierung des historisch Entstandenen statt. Die<br />
Antike wird bei Goethe als ein Potential für neue kreative Möglichkeiten des Lebens und<br />
der Kunst gedeutet.<br />
Schließlich stand Goethe der Mittelalterideologie der Romantiker kritisch gegenüber,<br />
er hielt sie für reinen Eskapismus. Dies verdeutlicht sich in den Aussagen des Architekten<br />
über die gotische Kunst. Wie wichtig Goethe die Antike war, lässt sich auch daran<br />
erkennen, dass antike Kunstformen nicht einfach nur abgebildet, sondern neu geschaffen<br />
werden. Im Mittelpunkt steht das Lebendige, die Kraft und Energie, die diese Formen<br />
bereithalten, wenn man mit ihnen kreativ umgeht. Im <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> zeigt sich ein meisterhafter<br />
Umgang mit diesen Formen. So lässt sich zwar vieles auf seine Ursprünge zurückführen,<br />
z.B. die antiken Kunstformen – wesentlich wichtiger ist aber ihre Umgestaltung.<br />
Dabei bedient sich Goethe sogenannter »lebender Bilder«. Diese waren eine Art Gesellschaftsspiel<br />
im 18. Jahrhundert, bei dem berühmte Gemälde mit Szenen der antiken<br />
Mythologie durch lebende Personen nachgestellt wurden. Das Erscheinen Helenas ist<br />
diesen Bildern nachgestaltet.<br />
Und ist in <strong>Faust</strong> I die Figur <strong>Faust</strong>s in seiner Entwicklung und seinen Irrtümern noch<br />
psychologisch dargestellt, so ist dies in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> nicht mehr der Fall. Im ersten Akt tritt<br />
er in der Maske Plutos’ auf. Die Masken sind nicht mehr Teil einer psychologischen Entwicklung,<br />
sondern Ausdruck der Prinzipien Wiederholung, Variation und Steigerung.<br />
Ontologie: Teil der antiken Philosophie,<br />
die das eigentliche Wesen der<br />
Entitäten (Dinge) erforscht. In der<br />
modernen Philosophie werden diese<br />
Untersuchungen auf die gesamte<br />
Existenz ausgeweitet. [DDP]<br />
Pluto: Er ist der Gott des Reichtums<br />
und Sohn von Demeter, der Göttin der<br />
Fruchtbarkeit. Nicht zu verwechseln<br />
mit Pluto, dem Beinamen von Hades,<br />
dem Gott der Unterwelt. [WWM]<br />
19
20<br />
Der Zweite Akt<br />
Die Antike sieht Goethe nicht nur als die Epoche der höchsten Kunst, sondern als jene<br />
Epoche, in der der Ursprung der Dinge in ihre Erscheinung selbst hinein tritt. Der Ursprung<br />
nimmt also Gestalt an in der Erscheinung, die lebendig wird.<br />
Am Schluss des ersten Aktes wird dies deutlich: Er hat nichts mit Harmonie und<br />
Einfalt (im Sinne von Einfachheit) zu tun. Mit einem solchen Verständnis der Antike<br />
hat Goethe im Alterswerk nichts mehr zu tun, wie sich auch im zweiten und dritten Akt<br />
zeigt.<br />
Denn Goethe hat sich erst im Frühjahr 1829 mit dem zweiten Akt beschäftigt. Anhand<br />
der zahlreichen Notizen und Beobachtungen lässt sich belegen, dass er etwa mit<br />
den Homunkulus-Szenen dem Werk mehr symbolische Tiefe verleihen wollte. Und der<br />
abschließende Walpurgisnachtkomplex sollte in den dritten Akt zu Helena hinüberleiten.<br />
Neben der wichtigen Figur des Homunkulus spielen im zweiten Akt vor allem Themenschwerpunkte<br />
des Zeugens, des Ins-Leben-Tretens eine Rolle. Diese gipfeln in der<br />
Schöpfungsfeier des Meeres, worin Homunkulus das Element findet, dem er entsprungen<br />
ist.<br />
Erste Szene<br />
Diese Szene ist die Kulisse für eine Zeitreise in das Vergangene. Die hohen gotischen<br />
Zimmer erinnern an eine Schreckensreise in die Vergangenheit (Vers 6567–6569). Ursprünglich<br />
war eine Zeitreise in eine alternative Vergangenheit <strong>Faust</strong>s mit Gretchen geplant,<br />
doch diese Idee ließ Goethe völlig fallen.<br />
Vielmehr konzentriert sich Goethe auf alles Entstandene, alles Gewesene, auf die<br />
Existenz in einem möglichst umfassenden Sinn. In diesen Kosmos wird <strong>Faust</strong> hineingestellt,<br />
er muss dies erleben, bevor Helena erneut und dauerhaft erscheinen kann.<br />
Mephisto ist in diesem Akt nicht mehr <strong>Faust</strong>s Gegenspieler, sondern jener Helenas.<br />
Dies ist die Kernkonstellation des zweiten Aktes. Mephisto ist der Gebieter einer pervertierten<br />
jungen Schöpfung, des Homunkulus; er ist die personifizierte Hässlichkeit,<br />
während Helena die personifizierte Schönheit darstellt. Mephisto ist der Handlanger des<br />
Bösen in einem christlichen Verständnis, für die Antike gilt dies jedoch nicht. Und auch<br />
wenn er das Hässliche in sich vereint, so kann er nicht die Schönheit Helenas vernichten.<br />
Der Gegensatz zwischen Mephisto und Helena lässt sich als Gegensatz der hässlichen<br />
Moderne zur antiken Schönheit deuten. Die Verse 6678–6682 sprechen laut dem Komparisten<br />
Gert Mattenklott für eine Deutung, die höchste Aktualisierung anstrebt: Die<br />
Figurenkonstellationen können als Comicstrip gelesen werden.<br />
Der Bakkalaureus dieser ersten Szene ist nicht mehr mit dem Sturm und Drang in<br />
Verbindung zu bringen, sondern mit der Jugend der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts.<br />
So sind die Verse 6807–6814 eine Persiflage auf jene Jugend und ihre Grünschnäbelei.<br />
Allerdings ist dies auch die Fortsetzung der Wissenschaftssatire aus <strong>Faust</strong> I, in dem Goethe<br />
mit vergangenen Wissenschaftsmodellen abrechnet; in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> geht Goethe mit der<br />
jungen Generation der Romantik scharf ins Gericht. So ist zum Beispiel Euphorion ein<br />
Symbol für die nicht lebensfähige romantische Poesie.<br />
Der Bakkalaureus vertritt die Generation der jungen Aufsteiger, die viele Kompromisse<br />
eingeht (Vers 6786 f.). Er wäre demnach eine Satire auf die jungen Romantiker.<br />
Goethe überschreitet dabei allerdings selbst in seinem Spätwerk die Grenzen der Klassik<br />
und nähert sich zum Teil (vor allem in den Wahlverwandtschaften) der Romantik an.<br />
Insgesamt jedoch argumentiert Goethe in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> aus einer defensiven Rolle heraus, in
der er sich gegen das Neue verteidigt. So sind die Satiren auf das Neue Teil der Gesamtkonzeption<br />
des zweiten Aktes, des Verhältnisses vom Alten zum Neuen.<br />
Zusätzlich verkörpert Bakkalaureus aber auch Goethes Kritik am Fortschritt, den der<br />
Kapitalismus hervorgebracht hat. Im 4. und 5. Akt wird jene Kritik noch deutlicher:<br />
Philemon und Baucis, die aus ihrer angestammten Gegend vertrieben werden, sind ein<br />
Beispiel für die Skrupellosigkeit dieses Fortschritts. In diesem Zusammenhang beklagte<br />
Goethe zum Beispiel, dass die Lebenserfahrung nichts mehr zählt, was sich im Text<br />
durch Bakkalaureus’ Abneigung gegenüber der Erfahrung zeigt. Bakkalaureus wird als<br />
verblendet gezeichnet, er will das Universum aus seinem eigenen Geist neu erschaffen –<br />
ein nach Goethes Ansicht kurzsichtiges und kaum mögliches Unterfangen.<br />
Homunkulus<br />
Wie wichtig die Homunkulus-Figur ist, lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass der<br />
zweite Akt häufig als Homunkulusakt bezeichnet wird.<br />
Homunkulus untersteht nicht Mephisto; vielmehr dient er <strong>Faust</strong> bei seinem Gang<br />
in die Unterwelt zu Helena. Mephisto kann <strong>Faust</strong> dorthin nämlich nicht leiten, nur<br />
begleiten. Wie Euphorion ist auch der Homunkulus ein androgynes Wesen, also von<br />
geschlechtlicher Uneindeutigkeit gekennzeichnet. Er wird als Symbol des Dämonischen<br />
gedeutet, aber auch als eine Figur der ansteckenden Tatkraft. Als ambivalente Figur angelegt,<br />
trägt er Züge des Monströsen in sich. Vor allem aber zeigt der Homunkulus eine<br />
ungeheure Tatkraft, sein Wesen ist völlige Tätigkeit, die künstlich gezeugt ist. Zu den<br />
elementaren Energien gehörend, verflüchtigt sich der Homunkulus wieder, als er aus<br />
der Phiole herauskommt und sich als nicht lebensfähig erweist. Dass die Figur Goethe<br />
wichtig erschien, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass Homunkulus unter dem Namen<br />
Mignon in Wilhelm Meisters Lehrjahre wieder auftritt.<br />
Wie der Knabe (Lenker) hat auch Mignon eine Neigung zum Schönen, mit einem<br />
Hang zur Dämonie. Der deutsche Literaturwissenschaftler Wilhelm Emrich hat die Verwandtschaft<br />
zwischen Mignon, dem Knaben (Lenker), Homunkulus und Euphorion<br />
herausgearbeitet. Sie sind die geniale Möglichkeit ohne Verwirklichung und teilen sich<br />
die Eigenschaft der Sehnsucht, Schwerelosigkeit und Geschlechtslosigkeit.<br />
Homunkulus nötig, um <strong>Faust</strong> an dieser Stelle nicht im Vergangenen verharren und<br />
umkommen zu lassen; denn diese Gefahr droht in der ersten Szene durchaus. Doch<br />
<strong>Faust</strong> entwickelt sich auch nicht wirklich weiter, vielmehr durchläuft er bloße symbolische<br />
Abschnitte.<br />
Die klassische Walpurgisnacht<br />
Die klassische Walpurgisnacht ist in drei Szenen gegliedert, die durch griechische Landschaften<br />
geprägt sind – nämlich durch den Flusslauf Peneios, der Hauptstrom der griechischen<br />
Region Thessalien, sowie die obere Peneios-Region und die Felsbucht des Ägäischen<br />
Meeres.<br />
Den römischen Wurzeln der Figur Erichtho (Szene Pharsalische Felder), einer Hexe,<br />
die auf den antiken römischen Dichter Lukan zurückgeht, kann Goethe nicht viel abgewinnen.<br />
Er gestaltet sie neu und gestaltet ihren Monolog so, dass darin die kommende<br />
Begegnung von <strong>Faust</strong> und Helena vorweggenommen wird. Erichtho kennzeichnet das<br />
Schauderhafte und das Negative der historischen Vergangenheit. Diese politische Geschichte<br />
ist eine Geschichte der Herrscherkämpfe, in denen Gewalt triumphiert hat.<br />
Genau dieses Bild ist nicht die Antike, nach der sich <strong>Faust</strong> sehnt (Vers 6956 f.). Im<br />
historischen Hin und Her stellt sich für Goethe das Ringen der politischen Kräfte dar.<br />
21
22<br />
Goethe bewertet die politische Geschichte negativ, als Teil des ewigen Geschiebes von<br />
politischen Kräften.<br />
Die Verbindung von heidnischer und christlicher Welt wird sehr harmonisch dargestellt,<br />
eine Verbindung von Nord und Süd, von klassischer Schönheit und moderner,<br />
sehnsüchtiger Begehrlichkeit. Damit wird bereits die Verbindung von <strong>Faust</strong> und Helena<br />
angedeutet.<br />
So ist Erichthos Funktion in dieser Sequenz dann auch Vorausdeutung, Vorwegnahme<br />
und Vorspiel.<br />
Die Zeit ist in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> rein symbolisch, doch der Text ist naturgemäß gezwungen,<br />
eine Aufeinanderfolge zu gestalten. Sie ist aber nicht chronologisch zu verstehen. Die<br />
dramatische Handlung gehorcht keiner logischen Abfolge, sondern einer symbolischen.<br />
Die Walpurgisnacht muss demnach als Vor- und Zwischenspiel für den Helenaakt gesehen<br />
werden. Die konkret-reale Geschichte der Antike lehnt Goethe als Vorbereitung für<br />
den Helenaakt ab, stattdessen werden Aspekte der Schönheit hervorgestrichen. Ein Widerstreit<br />
von Realismus und Idealismus zeichnet sich da bereits ab; Goethe löst sich vom<br />
Realismus der politischen Geschichte. Die politische Geschichte wird in der Symbolik<br />
des Textes als ein Totenreich gesehen, Unerwartetes geschieht hier nicht mehr.<br />
Goethe hebt stattdessen das Zentrale seiner Antike hervor: Der Mensch muss in der<br />
Antike lebendig werden und sich darstellen. Die Antike gestaltet sich demzufolge als ein<br />
Gegenbild der Moderne. Nicht jedoch als die Summe nachahmenswerter Kunstwerke<br />
oder zu wiederholender politischer Geschichte, sondern als Inbegriff von Lebensintensität,<br />
die an den modernen Menschen weitergegeben werden muss. Diese Lebensintensität<br />
wird durch die vielen Figuren der Mythologie, die verschiedensten Vorstellungen und<br />
die mannigfaltigen Themen in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> repräsentiert.<br />
Goethe behandelt die politische Geschichte der Antike mit Geringschätzung, er verachtet<br />
die immer wiederkehrenden Machtkämpfe, die aber auch im Mythos nicht wegzudenken<br />
sind. So wird die mythische Welt in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> als ein Totenreich gesehen, es passiert<br />
nichts Unerwartetes – wie auch in der politischen Geschichte. Damit ist die Antike<br />
das Gegenbild der Moderne. Die Antike ist nicht eine Summe von nachahmenswerten<br />
Kunstwerken, sondern der Inbegriff von Lebensintensität.<br />
Die Anregung für die lebensspende Kraft des Südens erhielt Goethe bereits während<br />
seiner Italien-Reise, mit der er dem Weimarer Hof und der dort herrschenden menschlichen<br />
Erstarrung entfliehen wollte. Ganz ähnlich gestaltet Goethe dann auch <strong>Faust</strong>s<br />
Eintreten in die Antike.<br />
Die Reihe an mythischen Episoden folgt dabei keiner logischen Reihenfolge, sondern<br />
jener des Märchens. Als Vorbild dienten Goethe die orientalischen Sammlungen wie<br />
zum Beispiel Tausendundeine Nacht. Der Orient regt Goethes Formphantasie an, im<br />
Text gibt es Anklänge an orientalische Märchen, die zum Inbegriff der Phantasie werden.<br />
Wichtig ist vor allem die Auflösung von Raum und Zeit, was auch für die deutschen<br />
Volksmärchen gilt. Letztere waren für Goethe inhaltlich aber nicht relevant, Vorbild für<br />
<strong>Faust</strong>s Reise, die von Mephisto sowie die des Homunkulus ist stattdessen das orientalische<br />
Stationenmärchen.<br />
Die Stationen, die <strong>Faust</strong> durchläuft, sind bestimmt von Sphinxen, Sirenen und Greifen.<br />
Diese stellen eine Antike dar, die wenig mit Winckelmanns Auffassung der Antike<br />
als »edle Einfalt [Einfachheit] und stille Größe« zu tun hat. Johann Joachim Winckelmann,<br />
deutscher Archäologe und Kunsthistoriker aus dem 18. Jahrhundert, vertrat die<br />
Auffassung, dass Schönheit die höchste Aufgabe der Kunst sei. Doch die Sphinxen, Sirenen<br />
und Greifen gehören einer Ästhetik des Hässlichen an. So weist etwa Mephisto<br />
darauf hin, dass diese Monster den Besucher aus dem Norden durchaus ästhetisch interessieren.<br />
Über die Ästhetik, gleich welcher Natur, rückt das Ziel <strong>Faust</strong>s, die Begegnung
mit Helena, näher – somit auch durch die Konfrontation mit den Monstern. Als nächste<br />
Station folgt dann der Fluss Peneios.<br />
Das leitende Bild ist jenes des Traums. Das Thema des Traums lässt sich auf den<br />
gesamten zweiten Akt übertragen und somit ließe sich der Akt als Versuch <strong>Faust</strong>s, ein<br />
Leben wieder zu finden, das ihn an einen Traum erinnert hat, interpretieren.<br />
Die darauf folgende Chiron-Passage wird in der Forschung durchaus als ironisch gesehen,<br />
die der Naivität der Anbetung des Südens durch die Romantiker entgegengesetzt<br />
wird.<br />
Rolle der Musik<br />
Die Szenenangaben beinhalten stets Vermerke zur Musik. So soll Musik erklingen, die<br />
das Arkadien idyllisch untermalen soll. Musikangaben finden sich auch bei den Sphinxen<br />
und den singenden Sirenen, wobei die Wirkung des Gesangs der Sirenen bei Mephisto<br />
nicht bis zum Herzen vordringt. Es wird erneut deutlich, dass Mephisto kein<br />
Recht im antiken Kosmos hat. Denn die Musik ist dem Schönen verbunden, gleichsam<br />
verführerisch und außerdem ist sie ein Antipode zur Erstarrung. Im Text wird also eine<br />
Opposition zwischen dem Granit, Material der Sphinx und Symbol der Bewahrung, und<br />
der Musik, dem Verführerischen, Verflüssigenden und trotzdem Beruhigenden sowie Lebenserweckenden,<br />
deutlich.<br />
Prinzip der Behaglichkeit – Neptunismus<br />
Im Alterswerk <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> zeigt sich Goethes Lust am Fabulieren. Dies führt dazu, dass<br />
Wichtiges von seiner Sinnschwere befreit werden soll. In zweideutigen Szenen kommt<br />
zum Beispiel das Verschmitzte deutlich zum Vorschein. Eine solche Interpretation wird<br />
durch Selbstäußerungen Goethes gestützt. In der Frage nach der ästhetischen Funktion<br />
der Kunst für die Gesellschaft, die seit der Aufklärung relevant ist, hat Goethe etwa<br />
seine Anforderungen im Alter durchaus zurückgenommen. Dadurch wird die These der<br />
Behaglichkeit Goethes weiter gestützt, er zeigt diese Distanz von überspannten Erwartungen<br />
im gesamten <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>. Behaglichkeit tritt an die Stelle des Pathos, Gelassenheit an<br />
die Stelle des (gesellschaftlichen) Kämpferischen. Hegel hat diese Liberalität und den Altershumor<br />
unter dem Stichwort des »objektiven Humors« zusammengefasst, womit eine<br />
Haltung der Versöhnlichkeit gegenüber den Widrigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft<br />
gemeint ist. Die Walpurgisnacht lässt also Gelassenheit und Heiterkeit erkennen.<br />
Im Text hat aber das seismische Beben nicht nur die geologische Welt verändert,<br />
sondern auch die soziale und politische Welt der klassischen Walpurgisnacht (Vers 7875).<br />
Das gegenseitige Vernichten, dieser darwinistische Kampf (Vers 7884-7947), in dem<br />
kurzzeitig die Stärkeren siegen und schließlich eine Macht von außen ein Ende setzt,<br />
ließe sich als Allegorie der Französischen Revolution bis zur Machtübernahme Napoleons<br />
deuten. Der Kampf zwischen Kranichen und Pygmäen würde dann auf den Kampf<br />
zwischen Neureichen aus dem dritten Stand, die Revolutionsgewinner, und Anhängern<br />
der französischen Monarchie anspielen. Und die Freisetzung des Goldes aus dem Boden<br />
wäre eine Allegorie für die gewaltsame Kapitalisierung von Grund in Boden im Verlauf<br />
der Revolution. Goethe war von diesen unausweichlichen Vorgängen der Revolution<br />
fasziniert wie von einem Naturereignis. Auch Napoleon übte auf Goethe eine große<br />
Faszination aus. Er traute ihm eine ungeheure Kraft in der Umgestaltung Europas zu.<br />
Die Klassenkämpfe der Französischen Revolution sind Folgen einer Umwälzung, die an<br />
sich produktiv ist, die aber zerstört wird durch die moralische Wendung zum Schlechten.<br />
Die Akteure sind dem Geschehen moralisch schlichtweg nicht gewachsen. Zerstörend<br />
Chiron: In der griechischen Mythologie<br />
ein weiser, menschenfreundlicher<br />
Kentaur, sprich Pferdemensch. Erzieher<br />
großer Helden wie zum Beispiel<br />
des Achilleus. [WWM]<br />
Georg Wilhelm Friedrich Hegel:<br />
(1770–1831) Deutscher Philosoph,<br />
der in die Phänomenologie des Geistes<br />
(1807) den Bildungsgang des<br />
menschlichen Geistes vom Bewusstsein<br />
zum spekulativen Denken der<br />
Philosophie verfolgt. In den posthum<br />
veröffentlichen Schriften Vorlesungen<br />
über Ästhetik (1835–1838) wird der<br />
Anspruch gestellt, nicht nur die Geschichte<br />
der Kunst, sondern auch die<br />
Idee des Kunstschönen systematisch<br />
zu erfassen. Auffallend ist an den<br />
Schriften die Idealisierung antiker<br />
Kunst, besonders der Plastiken sowie<br />
der Dramen, sprich der Tragödien.<br />
Prosa stünde dagegen im Zeichen<br />
des sich abzeichnenden »Ende der<br />
Kunst«. [MLK]<br />
23
Galathea: Statue aus Elfenbein,<br />
geschaffen vom Künstler Pygmalion,<br />
der nichts von den lasterhaften,<br />
weltlichen Frauen wissen wollte und<br />
sich stattdessen ein Abbild, schöner<br />
als jedes Mädchen, schuf. Erst in der<br />
Neuzeit bekommt die Statue ihren<br />
Namen, benannt nach der gleichnamigen<br />
Meergöttin. [WWM]<br />
24<br />
ist auch die Gewaltherrschaft der Kleinen, nicht nur der Großen (vgl. Auerbachs Keller,<br />
<strong>Faust</strong> I).<br />
Goethe bestreitet nicht die schöpferische Energie solcher politischen Umwälzungen.<br />
Doch die Umwälzungen können allerdings genauso schnell wieder verschwunden sein,<br />
wie sie auftraten. Goethe stand in der zeitgenössischen Tradition zwischen den Vulkanisten,<br />
die Verfechter großer, eruptiver Veränderungen, und den Neptunisten, die, ähnlich<br />
dem Wasser, durch stetige, sanfte Bewegung Veränderungen bewirken wollen. Das<br />
Wasser vermag leblose, erstarrte Formen aufzuweichen, im Gegensatz zur harten Gewalt<br />
des vulkanischen Bebens. Im Text ist etwa Thales, ein griechischer Naturphilosoph, der<br />
Prophet des weichen Wassers (Vers 7861). Die seismologische Revolte korrespondiert<br />
mit der Flammengaukler-Episode der Mummenschanzszene. Dort gibt es eine Entfesselung<br />
plutonischer Mächte, auch finden sich die Goldmetaphorik und Anspielungen<br />
auf die vier Elemente und das Erscheinen Napoleons. In der Walpurgisnacht ist neu, dass<br />
die politische Geschichte in die Erdgeschichte projiziert wird und daraus ergibt sich eine<br />
neue Sicht und Beurteilung der politischen Geschichte. Thales, Vertreter des neptunischen<br />
Prinzips, und nicht Anaxagoras, Vertreter des vulkanischen Prinzips, wird zum<br />
Lehrer des Homunkulus. Der Gegensatz von Stein und Wasser wird auch in der ästhetischen<br />
Konzeption deutlich. Geschichtliches, Mythologisches spielt zusammen und wird<br />
humorvoll eingesetzt – eine Entsprechung zur weichen Gewalt des Wassers. Das Prinzip<br />
der Behaglichkeit widerspricht beispielsweise Hegels Selbstgerechtigkeit gegenüber der<br />
eigenen Gegenwart. Diese Behaglichkeit soll versöhnen mit der Zeit, die notwendig<br />
ist, damit etwas Dauerhaftes entstehen kann. Je gemächlicher die Wahrnehmung wird,<br />
desto reicher und vielseitiger ist die Fülle dessen, was man sieht. Und die Ausbreitung<br />
der Fülle von Möglichkeiten und Wahrnehmungen steht wiederum in Einklang mit<br />
Goethes verschwenderischem Umgang mit Figuren und Gestalten.<br />
In Vers 8264 ff. zeigt sich als weiterer Aspekt der Wassermetaphorik eine gewisse<br />
Erotik im Text, so tritt das Phallische gegenüber dem Erotischen zurück.<br />
Szene Felsbuchten des Ägäischen Meeres<br />
Diese Szene wird immer wieder als einer der Höhepunkte von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> angesehen, besonders<br />
wegen des hymnischen Tons in den letzten Zeilen der Szene. Diese hymnischen<br />
Partien lassen sich als Verklärungen des Augenblicks lesen. Es geht um Einkehr und<br />
einen mystischen Zustand, so ist das Wasserfest ein Moment, der zur Ewigkeit geweitet<br />
wird, weil er eine unendliche Produktivität in sich birgt. Das Symbol vom zur Ewigkeit<br />
geweiteten Augenblick ist die entscheidende Konstellation der Schlussszene des zweiten<br />
Akts, so heißt es zum Beispiel »Mond im Zenit verharrend«. Der Augenblick wird hier<br />
als Fest gestaltet, was auf eine lange Festtradition seit dem 17./18. Jahrhundert zurückgeht,<br />
die im Stillstand der Zeit große Produktivität verborgen sieht. Diese letzte Szene<br />
entspricht dem barocken Fest in der Mummenschanzszene.<br />
In dem Fest treten nicht nur Götter des Altertums und mythologische Figuren, sondern<br />
auch sagenhafte Ureinwohner der griechischen Inseln auf. Hier werden die Grenzen<br />
der barocken Feste von Goethe gesprengt und durch heidnische Kulthandlungen, Natursymbolik<br />
und Monstergestalten halb tierischer, halb menschlicher Gestalt erweitert. Der<br />
Höhepunkt des Wasserfests ist die Hochzeit von Galathea und Homunkulus. Galatheas<br />
Schönheit ist in Höhlen versteckt, sie wirkt also nur noch im Verborgenen fort. Als die<br />
Phiole des Homunkulus am Wagen der Galathea zerspringt, ist diese Katastrophe keine<br />
seismische Revolution in ihrer Bedeutung, sondern ein Übergang in eine neue Produktivität<br />
(Vers 8435–8437). Dieses Zerbrechen entspricht Goethes naturphilosophischer
Überzeugung, dass das Leben aus hermaphroditischen Wesen entstanden ist. Erst durch<br />
das Zerbrechen werden die Menschen von ihrem hermaphroditischen Dasein erlöst.<br />
Thales ist wiederum ein Sprachrohr für Goethes evolutionäre Naturphilosophie (Vers<br />
8321 f.). Diese Vorstellung lässt sich auch auf Goethes Sicht auf die Gesellschaft übertragen.<br />
Die Auflösung des Homunkulus entspricht der Ansicht, dass Auflösung und Zerstörung<br />
auch Entstehungskräfte beinhalte – die Geschichte wäre demnach ein unendlicher<br />
evolutionärer Prozess. Das ständige Werden und Vergehen wird auf gesellschaftliche<br />
Vorgänge übertragen und ist bezeichnend für Goethes Alterswerk. Ebenso treten Figuren<br />
auf, die zugleich das Heroische und das Gewöhnliche repräsentieren. So erhebt Goethe<br />
in seinen späteren Werken den Aufstieg des Gewöhnlichen zum Heroischen zum gesellschaftlichen<br />
Prinzip.<br />
Doch die Vermählung von Homunkulus und Galathea ist nicht nur als biologischer<br />
Mythos zu feiern, sie ist auch ein Symbol für die Kunst. Schließlich ist für Goethe die<br />
Erneuerung der Kunst nicht zu trennen von der Erneuerung des Lebens. Künstliches löst<br />
sich auf und macht neuen Formen Platz. Galathea erscheint somit als die letzte Präfiguration<br />
Helenas, bevor Helena nun im dritten Akt endlich selbst auftritt.<br />
Verhältnis <strong>Faust</strong> und Mephisto in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />
Im Gegensatz zu <strong>Faust</strong> I erscheinen <strong>Faust</strong> und Mephisto ganz rollenhaft, Mephisto ist<br />
nicht mehr als Alter Ego <strong>Faust</strong>s zu sehen. Mephisto steht stattdessen ganz im Dienst der<br />
Allegorien. Der hässliche Phorkyas ist jene Rolle, in die Mephisto schlüpft und somit<br />
zum Kontrast zu Helenas Schönheit wird. Mephisto ist das verneinende, vernichtende<br />
Prinzip des geschichtlichen Lebens, das die Vergänglichkeit ist. Dabei ist Mephisto in<br />
seiner Negation nicht als moralisch zu sehen, sondern dieser Geist der Verneinung und<br />
Zerstörung ist Teil der ambivalenten Struktur des neuzeitlichen Geschehens. Manipulation<br />
sowie Instrumentalisierung alles Menschlichen macht die Maske des Mephisto<br />
aus. Als <strong>Faust</strong> in die Sphäre Helenas tritt, spricht er in jambischen Trimetern, bedächtig,<br />
sanft, langsam, entsprechend dem Symbol der Wolke als Tragewerk. Mephisto hingegen<br />
tritt mit Siebenmeilenstiefeln auf, dem Symbol für Fortschritt, den sie gleichzeitig karikieren.<br />
Die Widernatur, dargestellt durch die Siebenmeilenstiefel, bewirkt, im Gegensatz zur<br />
Natur, den Fortschritt. Die Stiefel sind Ausdruck von Magie, was in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> die Aufhebung<br />
der natürlichen Kräfte durch die instrumentelle Vernunft bedeutet.<br />
Goethe setzt mit Mephisto einen Kontrapunkt zum natürlichen Verlauf der Geschichte,<br />
mit dem Erdbeben in der Walpurgisnacht, das auf die Französische Revolution verweist.<br />
Das Auftreten von <strong>Faust</strong> und Mephisto im dritten Akt hat unterschiedliche Form<br />
und Funktion: <strong>Faust</strong> hat Zugang zum Schöpferisch-Ursprunghaften, den Mephisto eben<br />
nicht hat. Trotzdem gehören Mephisto und <strong>Faust</strong> zusammen, denn das Wesen der Neuzeit<br />
ist ambivalent. Der Prozess der Denaturierung ist so gestaltet, dass er an die Grundlagen<br />
des menschlichen Daseins rührt und die humanen Substanzen bedroht.<br />
Der moderne Fortschritt, dessen Repräsentant Mephisto ist, führt zur Entfremdung.<br />
Doch <strong>Faust</strong> wehrt sich gegen die mephistophelischen Praktiken der Magie, weil er bemerkt,<br />
dass auch er von der Naturentfremdung zunehmend beherrscht wird.<br />
25
26<br />
Dritter Akt – Der Helenaakt<br />
Die Arbeit an diesem Akt hat Goethe erst 1825 wieder aufgenommen und eigentlich<br />
als separate Veröffentlichung geplant. Dieser Akt sollte der Gipfel des gesamten Werkes<br />
werden. Helena kommt bereits im <strong>Faust</strong>buch von 1587 vor, wo es eine Verbindung zwischen<br />
<strong>Faust</strong> und Helena gibt. Und auch Marlowe greift die Figur Helenas auf.<br />
Die ersten beiden Akte führen zur endgültigen Begegnung <strong>Faust</strong>s mit Helena hin.<br />
Im ersten Akt beschwört <strong>Faust</strong> als Zauberkünstler Helena. Im zweiten Akt gibt es die<br />
Andeutung von Homunkulus, dass <strong>Faust</strong> von Helena träumt. Im dritten Akt schließlich<br />
begegnet <strong>Faust</strong> Helena und vereinigt sich mit ihr in Liebe, es ist der Gipfel der bisherigen<br />
Geschehnisse.<br />
Der dreiteilige Aufbau des Aktes entspricht einer dreiphasigen Geschichtskonzeption,<br />
in der die Antike vermittelt werden soll. In der ersten Szene wird die Antike noch<br />
lediglich historisch vermittelt, in der zweiten Szene wird sie über das Spätmittelalter<br />
und die Renaissance näher gebracht und in der dritten Szene wird sie in der Klassik und<br />
Romantik vergegenwärtigt. Die Figur Phorkyas, sprich Mephisto hinter seiner Maske,<br />
ist dabei das personifizierte Bewusstsein von Zeit und Geschichte. Phorkyas rafft mit<br />
magischen Kräften die Zeit zusammen, die zwischen Antike und Mittelalter verflossen<br />
ist (Vers 9574 ff). Diese kühne Zeitregie ist bereits im Helena-Drama des Euripides<br />
vorgegeben, worauf Phorkyas direkt anspielt. Die Gestalt des Mephisto verlegt sich aufs<br />
Moralisieren, besonders die Schönheit betreffend. Generell aber sollen Schönheit und<br />
Sittlichkeit nicht im Einklang gesehen werden. Stattdessen wird Helena als Inbegriff der<br />
zeitlosen Schönheit und der ästhetisch-erotischen Faszination gestaltet. Diese Überzeitlichkeit<br />
ist nicht mehr mit moralischen Kategorien zu erfassen. Spielen mit Versformen<br />
und weitere Stilelemente sind Ausdruck der Vielstimmigkeit. In <strong>Faust</strong> I und <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> gilt,<br />
dass den für Goethe relevanten Epochen durch Versmaße Ausdruck verliehen werden<br />
soll.<br />
Helena und Euphorion<br />
Die Helena-Figur weist vielfältige historische Schichten auf, konstituiert sich demnach<br />
nicht nur aus Elementen der Antike. Vorbild beziehungsweise Ursprung für die Figur<br />
ist die Helena-Tragödie des Euripides. Neben dem antiken Vorbild für Helena müssen<br />
Goethes zeithistorische Kontexte beachtet werden, so zum Beispiel der Einfluss Johann<br />
Joachim Winckelmanns, deutscher Kunsthistoriker und Archäologe, der ein Ideal der<br />
antik-klassischen Schönheit entworfen hatte. Goethe hat Helena stark an Winckelmanns<br />
Darstellung der antiken griechischen Kunst und Wissenschaft angelehnt. Winckelmann<br />
und Goethe interessierten sich bei den antiken Griechen vor allem für das Individuum<br />
und die vollkommene menschliche Gestalt. Dabei hat Winckelmann noch stärker als<br />
Goethe die Freiheit als höchsten Wert der antiken Kultur hervorgehoben. Die Forderung<br />
nach Nachahmung begründet Winckelmann mit der Ansicht, die Werke der griechischen<br />
Kunst seien »idealisch schön«, d.h. die Schönheit gehe über die Nachahmung<br />
der Natur hinaus und erreiche eine Erhöhung in das Ideale. Die griechischen Kunstwerke<br />
gelten als ideal, weil sie nach Ideen gestaltet sind, die über alles Empirische hinausgehen,<br />
und in ihrer Darstellung nicht der realen Natur folgen. Diese antirealistische,<br />
idealtypische Tendenz, wonach die antiken Skulpturen Menschliches und Göttliches<br />
vereinen, ist auch für Goethe von Bedeutung. Das Menschliche verkörpert in Helena<br />
der schöne Körper, das Göttliche die idealtypische Gestalt. Als grundlegendes Prinzip<br />
gelten »edle Einfalt [Einfachheit] und stille Größe«. Mit der Größe ist eine seelische<br />
Größe gemeint, die über das Naturhafte hinausgeht. Winckelmann spricht weiter von<br />
einer »großen und gesetzten Seele«, die antike Figuren aufweisen und die Winckelmann
an der Laokoongruppe aufzeigt. Es geht um die Fragen der realistischen Darstellung bzw.<br />
der Darstellung eines Ideals. Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele werden<br />
in der Laokoongruppe in Balance gehalten, die Affekte und Gefühle werden gebändigt,<br />
was ein Hinweis auf die stoische Ruhe ist.<br />
Goethe stilisiert in dieser Weise Helenas Seelengröße und Geistesstärke, die ihr helfen,<br />
den Affektsturm in Anbetracht der Lebensbedrohung durch Menelaos zu beherrschen.<br />
Weiters zeichnet Helena das Schickliche, das sich Geziemende aus, das die stoische<br />
Haltung ebenso kennzeichnet. Ein Beispiel für das sich Geziemende, worin sich<br />
Parallelen zu Iphigenie finden, sind etwa im Auftrittsmonolog Helenas zu finden (Vers<br />
8604 ff). Ihre Haltung zeigt Würde und auch Distanz zum Geschehen. Ethische Haltung<br />
und ästhetische Vollendung sind die Komponenten des Ideals, das Helena verkörpert.<br />
Der Schauplatz der dritten Szene ist Arkadien, eine Landschaft im Zentrum der Peloponnes.<br />
Es trägt Züge einer Innerlichkeit, die poetisch überhöht ist und einen idyllischen<br />
Rückzugsort darstellt. Euphorion ist eine allegorische Figuration der subjektivistischen<br />
Poesie, in der eine Betonung und hohe Bewertung der dichterischen, künstlerischen und<br />
menschlichen Subjektivität liegt. Für Goethe liegt hier in der neuen romantischen Poesie<br />
ein Höhepunkt, eine Grenzüberschreitung dieser Entwicklung.<br />
Zu Euphorion<br />
Euphorion ist gezeichnet von einer tragischen Hybris, dem Nichterkennen von eigenen<br />
Grenzen, die Goethe mit seinen eigenen Reminiszenzen an den Urfaust in der Sturm<br />
und Drang Zeit verbindet, so z.B. an den Werther (Vers 9691 ff.). Euphorion wäre die<br />
allegorisierte Romantik. Der Chor ist gestaltet als charakterlicher Wankelmut, damit<br />
verbunden verkörpert der Chor die Stimme eines Modepublikums.<br />
Die Romantik erscheint wie eine radikalisierende Wiederkehr eines übersteigerten<br />
Subjektivismus. Dies zeigt sich auch an Euphorions hoffnungsloser Verfallenheit an sich<br />
selbst, er ist einer übersteigerten Egozentrik zum Opfer gefallen. Auch die musikalischen,<br />
gefühlsbetonten Aspekte der Romantik finden sich in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> wieder. Das sich Bändigen,<br />
das in Bezug auf Euphorion häufiger relevant ist, setzt sich deutlich vom Urfaust und von<br />
den Motiven der Sturm und Drang Zeit ab. Im Gegensatz zur Romantik soll man sich<br />
die der Antike in einer produktiven Neuaneignung im humanistisch-ästhetischen Sinne<br />
neu zu Eigen machen. Vieles im Helena-Akt weist auf die beiden letzten Akte hin, die<br />
Sphären des zivilisatorischen Fortschritt und seiner zerstörerischen Dimensionen.<br />
Szene Innerer Burghof<br />
Allgemein zeigt sich der Helena-Akt als eine Verbindung des griechisch-humanistischen<br />
Ideals, das das ethisch Gute und das Schöne zum Edlen vereint. Wobei das Edle mit ritterlichen<br />
Idealen gepaart ist. An dieser Stelle wird die aristokratisch-höfische »Großheit«<br />
in Helena mit <strong>Faust</strong>, dem Vertreter der ritterlich-höfischen Würde, neu verbunden. Als<br />
Fürst tritt <strong>Faust</strong> Helena entgegen. Die höfische aristokratische Kultur sieht Goethe nicht<br />
kritisch, sondern als ein Medium der Verbindung und Begegnung.<br />
In der Szene Innerer Burghof begegnen sich thematisch Moderne und Antike, außerdem<br />
kommt es zu einer Vollendung der Kultur sowie der Gewinnung idealer Natur. Die<br />
Szene handelt vom Ethos und ist dabei stark beeinflusst von der antiken Stoa und von<br />
Winckelmanns Schriften. Der Rückgriff auf die Stoa, mit dem Ideal der Mäßigung und<br />
Bändigung, ist die Grundlage für das Ideal. So entwirft die Chorführerin in Vers 9127<br />
bis 9134 ein Gegenbild zu Helena, in dem Helena selbst allerdings schon angedeutet<br />
wird. Das stoisch grundierte Ideal beinhaltet eine große innerliche Unabhängigkeit, die<br />
Laokoon: Priester aus Troja, der seine<br />
Mitbürger vor dem Trojanischen Pferd<br />
warnte. Doch zwei riesige Schlangen<br />
töteten ihn und seine zwei Söhne. Die<br />
Trojaner nahmen daraufhin das Pferd<br />
in die Stadt. Die Laokoongruppe ist<br />
eine von drei antiken Künstlern aus<br />
Rhodos geschaffene Statue, die eben<br />
an jene Geschichte erinnert. [WWM]<br />
Menelaos: Jüngerer Bruder Agamemnons,<br />
bekommt den Thron<br />
von Sparta und heiratet die schöne<br />
Helena. Nach deren Entführung tut<br />
sich Menelaos im Trojanischen Krieg<br />
im Zweikampf mit Paris hervor und<br />
kehrt erst nach achtjähriger Irrfahrt<br />
von der Eroberung Trojas zurück.<br />
[WWM]<br />
Iphigenie: Tochter von Agamemnon,<br />
die von ihrem Vater als Buße der<br />
Göttin Artemis geopfert werden soll.<br />
Doch die Göttin entführt das Mädchen<br />
nach Tauris. Dort muss Iphigenie<br />
ihr fortan als Priesterin dienen<br />
und ihr alle Fremden, die die Insel<br />
betreten, opfern. [WWM]<br />
27
28<br />
als Motiv für die Dichtungstheorie von der Klassik hervorgehoben wird, in welcher die<br />
Kunst unabhängig wäre. Unabhängig ist man auch von Fortuna, das heißt von Glück<br />
und Unglück. Die stoische Haltung erfordert strenge Selbsterziehung und Aneignung.<br />
Ein weiterer Grundzug Helenas ist ihre Würde. Gleichzeitig ist Würde ein zentraler<br />
Begriff, um die Begegnung von <strong>Faust</strong> und Helena zu kennzeichnen. Es zeigt sich wieder,<br />
dass sich die Figuren in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> nicht entwickeln, sondern als Allegorien auf festgelegte<br />
Begriffe verweisen. Der Begriff der Würde findet sich, abseits der Antike, vor allem im<br />
Mittelalter und der Renaissance wieder. So zeichnet sich der höfische Mensch durch die<br />
adelige Herkunft, die äußere Ehre und seine Würde aus.<br />
Der dritte Akt von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ist also eine Renaissance, welche eine neue Lebenshaltung<br />
herausbildet, die sich nicht allein durch die Verbindung von Antike und Mittelalter<br />
beschreiben lässt. Wesentliches Merkmal und Grundlage jener Lebenshaltung ist die<br />
Würde. Vorläufer sieht Goethe hier in der Antike und im höfischen Mittelalter, in denen<br />
Goethe wichtige Bausteine für seine Utopie auffinden konnte. Und die Synopse<br />
von Antike und Renaissance ergänzt Goethe durch seine eigene, auf Kant und Schiller<br />
basierenden Klassik. In seiner Schrift Über Anmut und Würde meint Schiller etwa: »Die<br />
Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde heißt<br />
ihr Ausdruck in der Erscheinung«. Den höchsten Grad der Würde sieht Schiller in der<br />
Majestät, die Helena verkörpert. Goethe projiziert nun diese Würde auf die griechische<br />
Vollendung der menschlichen Gestalt, die sich in Helena zeigt. Die äußere Erscheinung<br />
ist gleichzeitig Ausdruck der inneren Würde, wie es sich auch in der Plastik der bildenden<br />
Kunst zeigt.<br />
Szene Arkadien<br />
Es wird ein utopisches Bild vom arkadischen Glück entworfen, beeinflusst von Winckelmanns<br />
Schriften. Goethes Gegenwart beeinflusst also die Kriterien des utopischen<br />
Bildes. So ist die Idee der Ganzheit als Modell der Klassik von großer Bedeutung. Nur<br />
in vollkommen erfüllter Gegenwart kann sich der Mensch ganzheitlich erfahren. Der<br />
Bezug auf die Gegenwart, die Ausklammerung der Vergangenheit, spielt im Helena-Akt<br />
eine große Rolle (Vers 9381 f.), wobei diese Gegenwart überhöht und idealisiert wird.<br />
Goethe überträgt die von Winckelmann an der Plastik gepriesene klare Kontur auf den<br />
Menschen. Im Liebesglück zwischen Helena und <strong>Faust</strong> steigert sich die Gegenwart zu einer<br />
endlosen Erfahrung (Vers 9412), was eine Entsprechung in Goethes Winckelmann-<br />
Schrift findet.<br />
In der Szene ist die Strophenform Ausdruck einer lyrischen Ekstase, die in einem<br />
Höhepunkt der menschlichen Glückserfahrung endet. War Arkadien in der Antike noch<br />
eine kahle Landschaft, wurde sie durch den römischen Dichter Vergil zu einer Utopie<br />
eines Naturreichs, das vollkommen idyllisch und jenseits aller geschichtlichen Drangsale<br />
und zivilisatorischen Entfremdung liegt. <strong>Faust</strong>s Wunschbild ist eine kulturelle Erinnerung,<br />
die sich auf die Versatzstücke des antiken Arkadiens bezieht. Auch hier spricht<br />
man von einer Art Wiedergeburt, Renaissance Arkadiens. Der utopische Zustand reicht<br />
in das zeitlos Unsterbliche, das Ähnlichkeiten mit dem göttlichen Dasein hat. So heißt<br />
es in Vers 9556 f.: »[…] Noch immer bleibt die Frage:/ ob’s Götter, ob es Menschen<br />
sind?«.<br />
Damit eröffnet Goethe eine antichristliche Dimension, indem er die Frage aufwirft,<br />
ob Menschen göttergleich sein können. Dabei handelt es sich um eine Grundanschauung<br />
der Zeit, in der der arkadische Mensch zum Göttlichen erhoben werden sollte. Der<br />
alte Dualismus zwischen dem Menschlich-Irdischen und der unerreichbaren Höhe des<br />
Göttlichen soll aufgelöst werden. Diese sonst getrennten Welten gehen in dieser Utopie
ineinander über, Zeit und Geschichte hören auf, beziehungsweise werden überwunden<br />
(Vers 9563). Eine solche Vorstellung von Arkadien lehnt sich auch an Vergils Schilderung<br />
des Goldenen Zeitalters an. Allerdings ist diese Wunschprojektion bei Goethe nur<br />
im Moment möglich, wodurch die Diesseitigkeit der Welt betont wird. Die Romantik<br />
wiederum repräsentiert eine moderne Unendlichkeit und steht hier diametral zur Antike,<br />
da die Endlichkeit sich selbst genügt.<br />
Diese imaginierte Antike ist auch für die Person <strong>Faust</strong> eine Möglichkeit der Kompensation<br />
seiner Rastlosigkeit, Ungenügsamkeit – letztere sind beide Kennzeichen der<br />
Moderne. <strong>Faust</strong>s Ungenügsamkeit führt dazu, dass er die Vereinigung mit Helena nur<br />
im Moment genießen kann und sie somit Utopie bleiben muss. Begründung dafür sind<br />
dynamische Energien, die <strong>Faust</strong> weiterdrängen, was auf den vierten und fünften Akt<br />
verweist. Der moderne Unmensch wäre in seiner Rastlosigkeit nur für einen Augenblick<br />
und nicht auf Dauer zu heilen.<br />
Die ästhetischen, kunsttheoretischen Merkmale des Helena-Aktes ließen sich an den<br />
Versmaßen festmachen, können aber an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.<br />
Der vierte Akt<br />
Gerade der vierte Akt, den Goethe als letzten vor seinem Tod verfasst hat (der fünfte<br />
war schon zu Beginn fertig), ist von Gesprächen mit Eckermann, Goethes Sekretär und<br />
befreundeter Schriftsteller, geprägt. Die einzelnen Themenbereiche im <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> müssten<br />
Goethe nach diesen Gesprächen deutlich geworden sein. Doch insgesamt sollte <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />
(besonders der vierte Akt) bezüglich Themenvielfalt und Aussagekraft inkommensurabel,<br />
sprich unvergleichbar, bleiben. Das gesamte Werk sollte den Menschen zur wiederholten<br />
Betrachtung immer wieder anlocken.<br />
Die kleinen Weltenkreise des vierten Akts gehören einem anderen Bereich an als in<br />
den anderen Akten. Die früheren Interpretationen sprechen von einem abrupten Übergang<br />
vom dritten zum vierten Akt; ein Wechsel aus der ästhetischen in eine ethische<br />
Sphäre. Die ästhetische Sphäre wäre die jugendliche Phase, die nunmehr durch eine<br />
philosophische Phase abgelöst wird. In der heutigen Forschung geht man jedoch nicht<br />
mehr von einer so strikten Trennung aus. Dass im vierten und fünften Akt verschiedene<br />
Lebensstufen durchlaufen werden, wird abgelöst durch die Interpretation, dass <strong>Faust</strong><br />
verschiedene Lebensbereiche abschreitet. Wilhelm Emrich, der sich mit der Symbolik<br />
in <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> befasste, spricht von einem »Kampf mit der ewigen unfruchtbaren Wiederholung<br />
sinnlos gleicher Kräfte«, gekennzeichnet durch das Fehlen eines aufgeklärten<br />
Fortschrittsmodells. Als »die Rettung ewiger beständiger Taten im ewigen Kreislauf der<br />
Dinge« umschreibt Emrich das eigentliche Thema des fünften Aktes.<br />
<strong>Faust</strong>s Taten sollen in dieser Interpretation nicht an moralischen Maßstäben gemessen<br />
werden, nicht als unmoralisch, sondern vielmehr als fern aller Moral, amoralisch gesehen<br />
werden. Im dritten Akt gibt es bereits einen Ausblick auf ein latent überdauerndes<br />
Sein der Kunst am Beispiel der Antike. Im vierten Akt wechseln dann, so Emrich, die<br />
Weltenkreise, die Gebiete, auf denen der Kampf von Tat und Tod stattfindet. Es geht<br />
nicht mehr um die ethische, moralische Bewertung der Tat, sondern um die Vermittlung<br />
von Tat und Tod.<br />
Diese Interpretation erklärt einige Widersprüche im Text, die bisher in der Forschung<br />
nicht vereinbart werden konnten. So vermutete die Forschung, Goethe sei indifferent<br />
beziehungsweise gleichgültig gegenüber <strong>Faust</strong>s Taten und deren Folgen, da er sie nicht<br />
ethisch bewertet habe. <strong>Faust</strong>s Expansionsbestrebungen stünden demnach aufklärerischen<br />
29
30<br />
Idealen entgegen. Doch die These Emrichs, der Kampf um Tat und Tod, erklärt eben<br />
diese fehlende ethische Bewertung.<br />
Durch die gesamte Sekundärliteratur hindurch gibt es zwei wesentliche Interpretationsansätze.<br />
In der älteren Forschung wird <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> als am Fortschritt des frühen 19. Jahrhunderts<br />
orientiert gesehen – der Welt des ästhetischen Scheins des dritten Akts wird<br />
im vierten Akt die wirkliche Welt als Utopie, eine Welt des sozialen, politischen Scheins<br />
gegenübergestellt. Diese Interpretation wurde mit marxistischen Deutungsmodellen in<br />
Verbindung gebracht, das heißt der vierte Akt zeige, dass sich das Bürgertum gegenüber<br />
Räubern und Ausbeutern, sprich höheren sozialen Schichten, nicht durchsetzen könne.<br />
<strong>Faust</strong>s Taten wären in dieser Sichtweise jene der Räuber und Ausbeuter.<br />
Im zweiten Deutungsmodell repräsentiert <strong>Faust</strong> jedoch die menschliche Ohnmacht<br />
gegenüber einer Welt des ewigen Zyklus von Kultivierung und Zerstörung. Für dieses<br />
Modell spricht, dass sich die Revolutionen von 1789 und 1830 wie Naturkatastrophen<br />
darstellen ließen – deshalb unternimmt <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> den Versuch, eine Vorstellung von Dauer<br />
zu gewinnen, die jenseits des Vulkanisch-Eruptiven, dem Symbol für das zerstörerische<br />
Prinzip, angesiedelt ist.<br />
Goethe möchte aus diesem ewigen Wechsel von Revolution und Restauration heraustreten.<br />
Es sollen keine historischen Ereignisse abgebildet werden, sie sollen stattdessen<br />
symbolhaft den Weltgrund kontrastieren, in dem nur das Bestehen vor den ewigen<br />
Elementen zählt.<br />
Aus Goethes Tagebucheintragungen geht hervor, dass der vierte Akt als ein gesonderter<br />
Abschnitt gilt, er beinhalte »leise Anklänge« an die folgenden und vorangegangenen<br />
Akte. So handelt er wohl kaum vom Überwinden der Lebensstufen, letztlich sind die<br />
Szenen sogar bis zu einem gewissen Grad auch austauschbar.<br />
Der vierte Akt beginnt mit einer Verjüngung, die durch das Abstandnehmen eintritt,<br />
im wörtlichen und symbolischen Sinn. Abstand wird bereits dadurch genommen, dass<br />
die Szene in einem Niemandsland spielt. Auch die Gipfelmetaphorik gilt als Symbol<br />
der Distanz. Ein Motiv, das sich häufig findet – Gipfel sind Aussichtsorte, die sich im<br />
gesamten Alterswerk Goethes finden. Dieser Metaphorik haftet das Erhabene an und<br />
das Eingedenken, die Kontemplation wird von ihr mit eingeschlossen (Vers 10054 f.)<br />
– vor <strong>Faust</strong>s Augen erscheinen Gretchen und Helena wieder. Dieser Monolog, der das<br />
Vergangene kurz umreißt, ist gekennzeichnet von einer gewissen Melancholie bei eher<br />
lyrischem Duktus. Der Monolog stellt eine Distanz zur Gegenwart her und bereitet<br />
<strong>Faust</strong> darauf vor, sich in den nächsten Augenblick zu stürzen, also seinem Tatendrang<br />
Folge zu leisten.<br />
Die Eingangsszene hat märchenhafte Züge, so zum Beispiel die Erzählung, wie die<br />
Gebirgslandschaft entsteht. Für Mephisto hat die Naturwelt den Charakter der ethischen<br />
Verhältnisse, denn für ihn ist alles relativ (Vers 10088 f.) – die Berge sind eigentlich<br />
Abgründe, die nach oben gewendet sind. In <strong>Faust</strong>s Darstellung wird der Vulkanismus<br />
zum Bild für den Umbruch, der Revolutionen im sozial-ethischen Bereich herbeiführt<br />
(Vers 10125). Mephisto empfiehlt sich dabei als der Vollstrecker von <strong>Faust</strong>s Willen nach<br />
Macht und Ruhm.<br />
In den folgenden Szenen wird die Einstellung Goethes als eine dem Emanzipationswillen<br />
des Volks kritisch gegenüberstehende gedeutet. Das Selbstbewusstsein des Volkes<br />
kann zu einer verderblichen Revolution führen (Vers 10156 f.) – es ist ein ernüchternder<br />
Blick auf die Aufklärung. Goethe ist dabei nicht als Anti-Aufklärer zu sehen, er betrachtet<br />
die historischen Entwicklungen lediglich mit skeptischem Blick, kritischer als Zeitgenossen<br />
wie zum Beispiel Schiller. Dahinter steht ein Weltbild, in dem die Aufklärung<br />
des Absolutismus zwar human ist, aber gefährlich sein kann, weil Tumult, Gewalt und<br />
Unsinn damit einhergehen können. Doch früher oder später ist Aufklärung die notwen-
dige Folge von mehr Bildung und einer Emanzipation des Volkes. Mephisto rühmt dagegen<br />
eine feudale Gesellschaft und den Spätfeudalismus. <strong>Faust</strong> meint daraufhin jedoch,<br />
dass die Tat wichtiger als Ruhm sei (Vers 10187). Wichtig ist diese Stelle im Vergleich zu<br />
<strong>Faust</strong>s erstem Monolog in <strong>Faust</strong> I, wo es heißt: »Die Tat ist alles…«. Dieses Reflektieren<br />
des Tat-Motivs ist natürlich auch ein Mittel, um das Drama zu einem dramaturgisch<br />
schlüssigen Abschluss zu bringen.<br />
Motiv der Landgewinnung<br />
<strong>Faust</strong> hat die Absicht, Selbstbestimmung zu erreichen, was ein durchaus aufklärerisches<br />
Streben darstellt. Dieses Ziel will er mit dem Griff nach Herrschaft und Eigentum verwirklichen.<br />
Mephisto nennt das »die Grillen <strong>Faust</strong>s«, sprich seine Spinnereien. Doch<br />
<strong>Faust</strong> hat große Angst vor einer sinnleeren Naturgewalt, die durch die Meereswoge symbolisiert<br />
wird und im Gegensatz zum Gebirge steht (Vers 10212). <strong>Faust</strong>s Bestreben ist<br />
es der Natur standzuhalten und er hat mit den Landgewinnungsplänen nicht die Absicht<br />
sich zu bereichern oder gute Werke zu tun, sondern sein Wille ist das Begrenzen<br />
und Einengen des Elements. Die Begriffe des Eigentums, der Tat und der Herrschaft<br />
an diesen Textstellen ermöglichen nicht nur eine antikapitalistische Deutung, sie sind<br />
auch ambivalent – sowohl Begriffe der Plünderer als auch Symbole für <strong>Faust</strong>s Selbstbehauptung<br />
gegenüber einem sich ständig wiederholenden Zerstörungsszenario der Natur.<br />
Von Relevanz ist auch der ästhetische Aspekt der freien Sicht, die durch die Hütte von<br />
Philemon und Baucis verstellt ist.<br />
Das Hochgebirge ist im vierten Akt Symbol einer Potenz der Schöpfung, es ist ein<br />
absoluter Standpunkt, der ebenso göttlich wie teuflisch ist, schließlich spricht Mephisto<br />
ja von einem nach oben gestülpten Abgrund. Das Gebirge steht für das Starre und Unbewegliche,<br />
dem die Bewegungen des Meeres entgegengesetzt werden. Das Meer ist demnach<br />
Symbol des Lebendigen. In vielrezipierte Thesen kommen Literaturwissenschaftler<br />
nun zur Vermutung, dass sich <strong>Faust</strong> eine Verbindung zwischen dem absoluten Leben<br />
(Meer) und der absoluten Lebensferne (Gebirge) schaffen will. Hierin liegt der Sinn der<br />
Landnahme: <strong>Faust</strong> will ein Drittes gewinnen, das an beiden absoluten Elementen Teil<br />
hat. Somit wird im <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> ein Ausgleich von Realität und Idealität, von Besonderem<br />
und Allgemeinem angestrebt.<br />
Kritik an der Gesellschaft<br />
Chaos und Anarchie brechen im Reich des Kaisers aus, in weiterer Folge wird ein Gegenkaiser<br />
gewählt und bedrängt den rechtmäßigen Kaiser mit seinem Heer. <strong>Faust</strong> und<br />
Mephisto helfen dem Kaiser mit der Modernisierung des Kriegsgeräts, womit auf einen<br />
real-historischen Hintergrund Bezug genommen wird. Die Konstellation Kaiser und<br />
Gegenkaiser ist historisch orientiert an der Erhebung der Tiroler gegen die Habsburger.<br />
Die Tiroler sind hier Vorlage für das Bergvolk in der zweiten Szene des vierten Aktes.<br />
Mephisto stellt eine Geisterarmee auf, womit Goethe dem deutschen Widerstand<br />
mit veraltetem Kriegsgerät gegen Napoleon spottet. Das Volk wird mit verächtlichen<br />
Begleitkommentaren als dumm dargestellt, es kann zu allem manipuliert werden (Vers<br />
10403–10406). Jene militärischen Konflikte sieht Goethe zynisch, an der Darstellung<br />
der politischen Kräfte verdeutlicht sich seine Sichtweise. Denn wenn sich Vertreter des<br />
Volkes individualisieren, werden egoistische Ziele verfolgt und das Volk tritt roh, gemein<br />
und raffgierig auf, wie auch an den sprechende Namen »Habebald«, »Haltefest« etc. zu<br />
erkennen ist.<br />
31
Lektüreempfehlung:<br />
Jäger, Michael: <strong>Faust</strong>s Kolonie. Goethes<br />
kritische Phänomenologie der<br />
Moderne. Würzburg: Königshausen<br />
und Neumann, 2004.<br />
Schlaffer, Heinz: <strong>Faust</strong>, zweiter Teil.<br />
Die Allegorie des 19. Jahrhunderts.<br />
2., erweiterte Auflage. Stuttgart u.a.:<br />
Metzler, 1998.<br />
Philemon und Baucis: Ein Ehepaar,<br />
das Zeus und Hermes in Menschengestalt<br />
Obdach gewährt. Die Götter<br />
waren an allen anderen Türen abgewiesen<br />
worden, doch Philemon und<br />
Baucis sind sogar bereit, ihnen ihre<br />
einzige Gans zu opfern. Zeus und<br />
Hermes jedoch lehnen ab und fordern<br />
das Ehepaar auf, sie zu begleiten.<br />
Kaum sind sie außer Reichweite,<br />
versinken rund um die Hütte des<br />
Ehepaars die Häuser der hartherzigen<br />
Nachbarn in reißenden Fluten.<br />
Die Hütte transformiert sich in einen<br />
Tempel, den Philemon und Baucis bis<br />
ins hohe Alter hüten dürfen. Kurz vor<br />
ihrem Tod werden beide in Bäume<br />
verwandelt und empfangen seitdem<br />
göttliche Ehren. [WWM]<br />
32<br />
Neben Volk, Kaiser und weltlichem Adel geraten auch die Repräsentanten des kirchlichen<br />
Standes in die Kritik. Die Verbindung von Kirche und Staat und deren wechselseitige<br />
Stütze zum Machterhalt werden in der Figur des Erzbischofs heftig karikiert (Vers<br />
10864 ff.). Seit seiner ersten Italienischen Reise im Jahr 1786 sieht Goethe diesen Machterhalt<br />
sehr kritisch, für ihn wird Gotteslob auch im Sinne der politischen Manipulation<br />
missbraucht. Diese Skepsis hat sich im Alter nur weiter verstärkt.<br />
Im Text fungieren die Geisterschlachten als jene Kräfte, denen <strong>Faust</strong> Stand halten<br />
will, die nun aber zu seinen Gunsten wirken. Und auch hier trifft der Leser wieder auf<br />
die elementaren Gewalten des Wassers (Vers 10725 f.). Wasser ist das Symbol für politische<br />
Auflösung und Entgrenzung beziehungsweise für Zerstörung durch politische<br />
Revolutionen.<br />
All diese Aspekte des vierten Aktes sind nicht isoliert von Goethes Werk zu verstehen.<br />
Die Motive finden sich auch in den Wahlverwandtschaften und in Wilhelm Meisters Wanderjahre.<br />
In Anbetracht der damaligen Welt war die pessimistische Grundstimmung des<br />
Alterswerks für Goethe durchaus gerechtfertigt.<br />
Der fünfte Akt<br />
Die Forschung der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts sieht im fünften Akt die durch die<br />
moderne Zivilisation hervorgebrachte Gewalt widergespiegelt. Ein wesentlicher Teil der<br />
Schuld an den Expansionsbestrebungen wird dabei <strong>Faust</strong> zugesprochen, Mephisto verliert<br />
etwas von seiner treibenden Kraft.<br />
Es finden sich allerdings nicht nur Überlegungen zum Zerstörerischen im <strong>Faust</strong> <strong>II</strong>,<br />
auch wenn die Folgen von <strong>Faust</strong>s Zielen am Ende desaströs sind (Vers 10198 f.). Goethe<br />
ist an dieser Stelle von den Diskursen seiner Zeit beeinflusst, so zum Beispiel von den<br />
Phänomenen der Kolonialisierung. So verselbstständigen sich beispielsweise Mephisto<br />
und die drei Gewalttäter, <strong>Faust</strong> verliert die Kontrolle über deren Gewalt; eine mögliche<br />
Allegorie auf die Verselbstständigung der technischen Mittel im fortschreitenden Kolonisationsprozess.<br />
Das Geschehen kann nicht mehr gesteuert werden, der Mensch wird<br />
Teil eines sich selbst lenkenden Systems. In letzter Konsequenz trägt sich der Mensch<br />
damit selbst zu Grabe – wie dem blinden <strong>Faust</strong> das eigene Grab geschaufelt wird.<br />
Philemon und Baucis<br />
Philemon und Baucis symbolisieren am Beginn des fünften Aktes den Untergang der naturnahen<br />
alten Welt. Bei Goethe wird eine Idylle gezeichnet, die zentral-menschliche<br />
Tugenden, wie Menschlichkeit, Frömmigkeit und Gastfreundschaft, als selbstverständlich<br />
zeigt. Das alte Ehepaar ist in seinem bescheidenen Dasein mit sich selbst zufrieden.<br />
Die Frömmigkeit zeigt sich besonders in den letzten Worten des Ehepaares (Vers<br />
11139–11142), sie zeugen von einer Einordnung in eine große, evolutionär gewachsene,<br />
natürliche Ordnung. Während Philemon und Baucis die Welt unter dem alten Gott<br />
repräsentieren, die im Untergang begriffen ist, wirft <strong>Faust</strong> sich zum neuen Gott der Welt<br />
auf. Die Gefahr für Philemon und Baucis besteht in der elementaren Kraft des Meeres,<br />
dessen Symbolik im fünften Akt erneut aufgegriffen wird. Da das tobende Meer in seinem<br />
chaotischen Charakter Philemons und Baucis’ Idylle gegenübersteht, kann nicht<br />
von einer konservativ-bewahrenden Idylle gesprochen werden.<br />
Aber nicht nur das Meer, auch die Zerstörung der Linde steht für eine Destruktion<br />
durch den Fortschritt (Vers 11343 f.). Das Lied des Türmers (Vers 11288-11303) drückt<br />
die Trauer darüber aus, dass die natürliche Ordnung untergeht, weil eine als schön er-
fahrene Welt vergeht. Der Gesang behandelt auch ein vergangenes Kunstideal, zu dem<br />
außerdem der Helena-Akt gehört, das der modernen Kunst weichen muss. Goethe stellt<br />
so Kontemplation der Hektik gegenüber, mit dem Einbezug des Kosmos wird zusätzlich<br />
ein Konzept von Ganzheit vorgestellt.<br />
Die Sorge<br />
Die Sorge wird als Melancholie im Zustand der fortschreitenden Zivilisation verstanden.<br />
Sie ist nicht nur ein konkretes »Sich-Sorgen«, sondern ein Dasein, welches die Gegenwart<br />
und die Zukunft sichert. Die Sorge ist also eher Für- und Vorsorge. Die Verse<br />
11453–11466 werden dadurch zum Psychogramm der Melancholie beziehungsweise<br />
lassen sie sich mit Phasen der Depression vergleichen. Die Melancholie lehnt jede sinnliche<br />
Erfahrung und Aktivität ab. Und wenngleich das lateinische Wort »cura« Sorge<br />
bedeutet, muss es dennoch als Melancholie verstanden werden.<br />
Als wichtige Stimmung zieht sich die Melancholie durch den gesamten goethischen<br />
<strong>Faust</strong>, so zum Beispiel auch im ersten Teil, in dem die Osterglocken <strong>Faust</strong>s Selbstmord<br />
mittels der Phiole verhindern. In Vers 11471–11486 findet sich eine poetisch hoch stilisierte<br />
Diagnose der Depression und Melancholie beziehungsweise der Befindlichkeiten,<br />
die sich in diesen Zuständen auftun. Dabei wird der Zustand der Melancholie als ein<br />
Widerstand gegen den Fortschritt gesehen.<br />
Schluss des <strong>Faust</strong> <strong>II</strong><br />
Gegen Ende werden <strong>Faust</strong>s letzte Illusionen zerstört und die Sozialutopien ironisiert.<br />
Darauf kann nunmehr nur die Szene von <strong>Faust</strong>s Grablegung folgen. Mag Philemon etwa<br />
<strong>Faust</strong>s Kultivierungsarbeiten zunächst noch durchaus positiv geschildert haben, wird in<br />
der Folge jedoch der Gegensatz Herr-Knecht zugespitzt und eine kritische Dimension<br />
aufgezeigt. Goethe kritisiert dadurch den Saint-Simonismus und seine frühen sozialistischen<br />
Theorien.<br />
<strong>Faust</strong> wird nicht nur als Getriebener, sondern auch als Treibender der Kolonialisierung<br />
mit Mitteln eines skrupellosen Unternehmers gedeutet (Vers 11551 f.). Diese abschließende,<br />
von <strong>Faust</strong> entworfene Sozialutopie darf nicht als gültiges Ende beziehungsweise<br />
als Summe von <strong>Faust</strong>s Existenz, von seinem Streben durch das gesamte Werk,<br />
gesehen werden. Denn in den Szenen der Bergschlucht etc. eröffnen sich noch weitere<br />
Perspektiven. Die Ironie der Szene, in der <strong>Faust</strong>s Grab geschaufelt wird, liegt in einem<br />
Irrtum, der die Klammer zum Prolog im Himmel schließt, wo es etwa hieß: »Es irrt der<br />
Mensch solang er strebt«. Die gesamte Szene ist zugleich aber auch eine Metapher für<br />
die Illusion des Fortschrittsglaubens und die Skepsis gegenüber dem Fortschrittsdenken<br />
findet hier ihren Ausdruck.<br />
Die Sehnsucht nach der Aufhebung der eigenen Endlichkeit zeigt sich in den Versen<br />
11583 f. Im Schlussmonolog greift <strong>Faust</strong> ständig auf Allusionen auf das Grenzenlose<br />
zurück, sein Werk soll unendlich überdauern. Die hier im <strong>Faust</strong> entworfene Denkwelt,<br />
der Wunsch nach unbegrenztem Weiterwirken, steht im Gegensatz zum Konzept der<br />
Entsagung, das Goethe im zweiten Teil von Wilhelm Meisters Wanderjahren propagiert.<br />
So folgen nach dem Tod die Szenen der Grablegung und der Erlösung. Sie sind von<br />
reiner Innerlichkeit gekennzeichnet, die geschichtliche Sphäre hat der Text endgültig<br />
verlassen. Am Ende von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> finden sich vornehmlich Themen der Unendlichkeit,<br />
die Lösung des Problems des Kampfes zwischen Himmel und Hölle und das Parodieren<br />
der alten Muster.<br />
33
Pietismus: War nach der Reformation<br />
die wichtigste Reformbewegung<br />
im europäischen Protestantismus.<br />
Basiert auf den, durch das Erkennen<br />
ihres Leids hervorgerufenen, Sympathien<br />
für Mitmenschen. [DDP]<br />
Eros (hier): Liebe. In der Philosophie<br />
kann er auch Trieb nach Erkenntnis<br />
sowie schöpferische, geistige Tätigkeit<br />
bedeuten. [WAH]<br />
Aristoteles: (384–322 v. Chr.) Griechischer<br />
Philosoph, Schüler Platons,<br />
der sich danach jedoch gegen seinen<br />
Lehrer richtet. Er ist der Begründer<br />
der Logik, doch auch seine Metaphysik<br />
hatte großen Einfluss. Darin begründet<br />
er, dass konkrete Dinge die<br />
Substanz, sprich der Grund jeglicher<br />
Wirklichkeit ist. Und die Substanz der<br />
konkreten Dinge wiederum ist ihre<br />
Form. [DDP]<br />
Entelechie: Zustand des Wesens,<br />
das durch die Tat ihr Ziel, das dem<br />
Wesen innewohnt, verwirklicht hat.<br />
[DDP]<br />
Wilhelm Gottfried Leibniz:<br />
(1646–1716) Deutscher Philosoph<br />
und Gelehrter. Leibniz hat unter<br />
andere auch Innovationen in der<br />
Mathematik begründet. Als einer der<br />
bedeutendsten Philosophen des ausgehenden<br />
18. Jahrhunderts glaubt<br />
Leibniz daran, dass die Dinge eine<br />
Zusammensetzung einzelner, untrennbarer,<br />
atomarer Elemente sind.<br />
Monade: Bei Leibniz bezeichnet der<br />
Begriff unteilbare, atomare Elemente<br />
die in allen Dingen enthalten sind.<br />
Es sind jene einfachen Substanzen,<br />
welche gemeinsam komplexere Zusammensetzungen<br />
bilden. [DDP]<br />
34<br />
In der Grablegung-Szene wechseln sich Engel und Mephisto im Gesang ab, beide im<br />
Kampf um <strong>Faust</strong>s Seele. Es kommt zu einem »Allverein der Seligen«, es gibt weder Teufel<br />
noch Hölle, was christlichen Vorstellungen widerspricht. Voraussetzung einer solchen<br />
Allvereinigung ist die Idee, dass alle Menschen erlöst werden. Das Jüngste Gericht, dessen<br />
Vorstellung die traditionelle Kirche vertritt, steht dieser Idee der Allerlösung entgegen.<br />
Die Erlösung aller findet sich aber beispielsweise im Pietismus, etwa in den Schriften<br />
des Theologen Gottfried Arnold, die durchaus Einfluss auf Goethe hatten.<br />
Bergschluchten-Szene<br />
Ziel dieser Szene ist eine Apotheose, sprich Verklärung, des Eros und ein Fortschritt ins<br />
Unendliche. Die Schlussszene ist der letzte Teil des Handlungsrahmens von <strong>Faust</strong>, da<br />
sich ja die Frage nach dem Ausgang der Wette im Prolog im Himmel stellt.<br />
In der letzten Szene verwendet Goethe den von Aristoteles stammenden Begriff der<br />
Entelechie. Gleichwohl Goethe ihn von Leibniz übernommen hat, bezeichnet er hier die<br />
Seele, die das in ihr angelegte Mögliche vollenden möchte in einer dauernden Aktivität.<br />
Die Vorstellung von Entelechie ist eng verbunden mit Goethes späterer Idee vom Tod.<br />
Dabei geht es um den Wunsch, die Todesgrenze zu überschreiten. Goethes Vorstellung<br />
entspricht nicht der christlichen vom Jenseits, so meint er etwa: »Die entelechische Monade<br />
muss sich nur in rastloser Tätigkeit erhalten« – jene rastlose Tätigkeit soll helfen,<br />
die Todesgrenze zu überschreiten.<br />
Gestaltung der Schlussszene<br />
Bedeutend für die letzte Szene sind die Metaphern des Emporstrebens und Steigens. Es<br />
wird keine christliche Vorstellung des Transzendierens erzeugt, was sich nicht zuletzt am<br />
Fehlen Gottes zeigt, sondern die prägenden Motive sind erotische Sublimation und eine<br />
entelechische Dynamik der Steigerung. Christliche Momente werden durchaus immer<br />
wieder metaphorisch angesprochen, aber Goethe geht mit der christlichen Überlieferung<br />
poetisch frei um. Auch die Elemente katholischer Marienverehrung spielen nur unter<br />
mythologischen Aspekten und keineswegs theologischen herein.<br />
Der fünfte Akt ist von der zentralen Idee der Liebe getragen. Keine Liebe im christlichen<br />
Sinn, sondern innerhalb des Bedeutungsfelds des Eros, der das rein Körperlich-<br />
Sinnliche der Sexualität weit übersteigt und eine sublimierte Idee des Eros verdeutlicht.<br />
Dieser Eros trägt <strong>Faust</strong> die Stufen immer weiter bis zum Höchsten hinauf – ein neuplatonisches<br />
Konzept. Platon hatte im Symposion den Aufstieg von der Körperwelt in die<br />
Sphäre des rein Geistigen beschrieben, eine Idee an der sich Goethe stark orientiert hat.<br />
Schon beim italienischen Dichter Dante finden sich 1321 in der Göttlichen Komödie hierarchisch<br />
gestufte Ordnungen der Engel. Und auch hier gibt es mehrere Sphären; vom<br />
Purgatorium über die Himmelssphären bis hinauf zum Empyreum ist dabei stets das<br />
Motiv der Stufen prägend.<br />
In der Bergschluchten-Szene treten Anachoreten, urchristliche Einsiedler, die sich in<br />
die Wüste zurückgezogen haben, sowie Engel und Frauen auf. Die Anachoretenkolonien,<br />
sie sich unter anderem im Orient niedergelassen hatten, um dem Leben Christi<br />
nachzueifern und somit über Abscheidung von der Welt und völlige Einsamkeit in Gottesnähe<br />
zu gelangen, hatten Goethe nämlich besonders fasziniert.<br />
So ist dann spirituelle Vervollkommnung auch in den Bergschluchten ein Motiv. Goethe<br />
gestaltet sie auf dreifache Weise beziehungsweise in drei Stufen (Vers 11854 ff.): Der<br />
Pater Ecstaticus will sich in bedingungsloser Radikalität mit der Gottheit vereinigen,<br />
er repräsentiert also ein ekstatisches Verhalten. Eine kontemplative Weise verdeutlicht
der Pater Profundus, die Kontemplation soll zur geistigen Vervollkommnung führen.<br />
Pater Seraphicus praktiziert letztlich ein verinnerlichendes Verhalten. Damit kann er sich<br />
der Bedrängnisse der Natur erwehren und das Ziel der höchsten Vollkommenheit erreichen.<br />
Die Sphären der Anachoreten, der Engel und der Frauen sind hierarchisch geordnet.<br />
Die Sphäre der Engel ist die Ebene der himmlischen Hierarchie, die Engel erscheinen in<br />
verschiedenen Ordnungen übereinander. Jene Hierarchie wird aus dem neuplatonischen<br />
Muster abgeleitet, sie hat die Funktion der Vermittler zum Höchsten. Der Zweck hinter<br />
dem neuplatonischen Schema ist die Steigerung nach oben sowie die Vereinigung mit<br />
dem Absoluten. Das Unbeschreibliche erscheint dabei auch als theologische Kategorie,<br />
die sich in der Mystik findet. Gott sei in jener Sichtweise nur mit Negationen beschreibbar<br />
– er wäre der Unerreichbare, der Unzugängliche.<br />
Mindestens genauso zentral ist für die letzte Szene der Begriff der Reinigung. Auch er<br />
ist neuplatonisch und meint die Befreiung vom Irdischen, besonders vom Körperlichen<br />
und Sinnlichen. Nur durch diese Reinigung kann sich der Geist vollkommen rein zum<br />
Absoluten erheben. Doch die Engel (Vers 11954–11957) sind noch nicht völlig gereinigte<br />
Wesen. Hierzu braucht es die Gruppe der Büßerinnen. Sie betreiben Läuterung,<br />
um zur größten Vollkommenheit zu gelangen, auch Gretchen taucht nun als Büßerin<br />
wieder auf. Keineswegs ist die Buße jedoch eine Strafe, dieses Konzept stammt aus dem<br />
11. Jahrhundert. Goethe sieht die Buße unter dem neuplatonischen Aspekt des Gewinnens.<br />
Auch die seligen Knaben dienen dieser Figuration. Die Reinigung geht am Ende<br />
der Bergschluchten-Szene in eine Erlösung über.<br />
Wiederum neuplatonisch, meint die Erlösung eine Loslösung vom Irdischen. Dies<br />
geschieht in einem Prozess, der bis zur vollkommenen, reinen Vergeistigung führt. Dieses<br />
Prinzip ermöglicht die Erlösung <strong>Faust</strong>s trotz seiner schlechten Taten. Mit einer christlichen<br />
Erlösungsvorstellung wären diese Vorgänge keineswegs vereinbar, aber das christliche<br />
Problem der Rechtfertigung der Taten <strong>Faust</strong>s in Anbetracht seiner Erlösung nicht<br />
mehr gegeben.<br />
Und im Element der Erleuchtung – »erleuchte mein bedürftig Herz« – zeigt sich die<br />
Vorstellung der Vollendung. Es besteht in der Vergöttlichung, wie es die vergöttlichende<br />
Anrufung der Mater Gloriosa zeigt. Aus der neuplatonischen Mystik kommt dann auch<br />
das Prinzip der Analogie: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis«. Die Analogie, hier<br />
als Gleichnis, ist die Denkform, welche das Wesen der Vermittlung möglich macht. Das<br />
»Ereignis« meint etwas, das dem Auge offenbar wird, das Unzugängliche wird in der<br />
Bergschluchten-Szene nun also offenbar.<br />
Die Seele strebt im neuplatonischen Sinn nach dem Göttlichen, aber Goethe lässt<br />
die vom Eros erfüllte, männliche Seele als höchstes Erfüllungsziel das ewige Weibliche<br />
sehen. Auch diese Vorstellung weicht vom christlichen Modell ab. Hier finden sich zwar<br />
Analogien zu mittelalterlichen Madonnenbilder, Sünderinnen, Büßerinnen. Doch die<br />
Höchsterfüllung ist erotisch, es ist das ewig Weibliche, das an die Stelle Gottes rückt und<br />
somit christliche Vorstellungen aufhebt. Die alles beherrschende Macht des Eros wird<br />
durch das Auftreten der Frauen am Ende verdeutlicht.<br />
Zusammenfassend muss demnach festgehalten werden, dass neben den großen Themen<br />
wie Ökonomie, Kunstsphäre, Bildung, neuzeitliche Machtpolitik, Fortschrittszivilisation,<br />
durchaus auch eine esoterisch-erotische Botschaft im <strong>Faust</strong> enthalten ist. Sie<br />
entfaltet sich erst in der letzten Szene, lässt sich aber immer wieder mit den vorangegangenen<br />
Akten verbinden. Eros ist die Kraft, die <strong>Faust</strong> an Helena so fasziniert und<br />
die durch die Walpurgisnacht führt. Im fünften Akt erfährt der Eros gleichsam seinen<br />
Klimax.<br />
35
Lektüreempfehlung: Mahl, Bernd:<br />
Goethes »<strong>Faust</strong>« auf der Bühne. Fragment<br />
– Ideologiestück – Spieltext.<br />
Stuttgart u.a.: Metzler, 1999.<br />
Richard Wagner: (1813–1883)<br />
Wohl am bekanntesten für seine<br />
Opern, Tristan und Isolde (1859)<br />
und den Zyklus Der Ring des Nibelungen<br />
(1874), die auf mittelalterlichen<br />
Sagen gründen, hat Richard<br />
Wagner auch zahlreiche kunsttheoretische<br />
Schriften verfasst. In<br />
Mein Leben (1870) fordert er etwa<br />
eine »künstlerische Gestaltung der<br />
Gesellschaft«, Ansichten die er mit<br />
seinem künstlerischen Schaffen<br />
aktiv verfolgt. So will er über den<br />
Mythos, dem er im idealisierten<br />
Vorbild der griechischen Tragödie<br />
sinnstiftende und integrative<br />
Funktionen zuschreibt, ein neues<br />
völkisches Bewusstsein schaffen.<br />
[MLA]<br />
36<br />
Die Sphäre der Schlussszene schafft eine kosmische Konstellation beziehungsweise<br />
ein komisches Ordnungsgefüge, das <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> zusammenhält und abschließt. Der Kosmos,<br />
der am Schluss beschrieben wird, stellt eine Vision jenseits aller Geschichte dar,<br />
alles Geschichtliche will überwunden werden. Eine Skepsis gegenüber der Geschichte,<br />
die in den Akten eins bis vier von <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> bereits deutlich geworden ist. Dieses kosmologische<br />
Denken hat Analogien zu einigen anderen Werke des 18. Jahrhunderts, wie zum<br />
Beispiel dem Gedicht des englischen Dichters Alexander Pope. 1734 veröffentlicht, wird<br />
darin der Rang der natürlichen Ordnung ergründet. Jenen Vorstellungen ist Goethe<br />
stark verbunden, auch wenn er sie immer wieder sprengt.<br />
Neben der neuplatonischen Lesart gibt es eine Fülle von Interpretationen. Der Schöne-Kommentar<br />
deutet die Szene etwa als Interpretation des Bühnengeschehens selbst,<br />
also als Metatext. Die Darstellung des Jenseits wäre aber in diesem Sinne stets unvollkommen.<br />
Anmerkungen zur Inszenierungsgeschichte<br />
In der Regel ist <strong>Faust</strong> I jener Teil, der am häufigsten aufgeführt wird. Im 19. Jahrhundert<br />
hat man im Zuge von Richard Wagners Forderung nach dem Gesamtkunstwerk <strong>Faust</strong> einige<br />
Mal vollständig über mehrere Abende hinweg inszeniert. Und im Jahr 1895 wurde in<br />
München der gesamte <strong>Faust</strong> ohne Texteingriffe in einer Prunkaufführung inszeniert.<br />
Die Inszenierungen sind natürlich stark mit der Ideologiegeschichte verbunden. Ende<br />
des 19. Jahrhunderts dominierten realistische, naturalistische Inszenierungen. Auch Max<br />
Reinhardt, Mitbegründer der Salzburger Festspiele, führte 1933 im Salzburger Festspielhaus<br />
<strong>Faust</strong> auf. In den Jahren 1933 bis 1945 wird <strong>Faust</strong> vornehmlich als Kriegspropaganda<br />
inszeniert. Nach 1945 gibt es viele Versuche, den alten Stoff zu aktualisieren und ihn<br />
nach der NS-Zeit neu zu besetzen. Versuche in der Pop-Kultur sowie existenzialistische<br />
Deutungen etc. betreffen jedoch meist nur <strong>Faust</strong> I.
Gastvortrag von Markus Kreuzwieser –<br />
<strong>Faust</strong> <strong>II</strong> in der Schule<br />
Der Ruf nach Lesekompetenz wird in der Politik, besonders nach den aktuellen<br />
PISA-Ergebnissen, wieder lauter. Die Leseerziehung legt dabei den größten Wert auf eine<br />
basale Lesefähigkeit, also das Vermögen, Informationen aus einem Sachtext ziehen zu<br />
können. Dadurch gerät die literarische Leseerfahrung jedoch stark in den Hintergrund.<br />
Dabei böte gerade die Literatur Möglichkeiten, das Fantasievermögen zu schulen und<br />
bestehende Welten zu transzendieren.<br />
An jener Neubewertung des Lesens wird deutlich, dass man in Pädagogik und Politik<br />
von Bildungszielen zu bloßen Kompetenzen übergegangen ist. Denn emphatische, das<br />
heißt eindrückliche Leseerlebnisse lassen sich kaum oder nur schwer in »skills« beziehungsweise<br />
ökonomisches Know-how ummünzen. Vieles spricht dafür, dass es zurzeit<br />
wichtiger ist, basale Lesekompetenz zu fördern und damit die PISA-Hürde zu meistern.<br />
So lässt sich im Schulalltag zwischen »Harry-Potter-Kindern« und »PISA-Kindern«<br />
unterscheiden. Die »Potter-Kinder« besitzen eine hohe Lesekompetenz, die den »PISA-<br />
Kindern« fehlt.<br />
Doch auch »Potter-Kinder« verdienen Förderung, sie können literarische Leser werden,<br />
sie haben mit ihrer Lektüre der vielen Kinderbuch-Seiten den »epischen Atem« erlernt,<br />
also jenen langen Atem, den man benötigt, um an einer Geschichte dranzubleiben.<br />
So werden »Potter-Kinder« kaum vor späterer, umfangreicherer Lektüre zurückschrecken.<br />
Angesichts dieser Tatsachen muss gefragt werden: Könnte auf Krisen einer psychosozialen<br />
und pädagogischen Überforderung der Lehrer nicht mit der Erschließung neuer<br />
Welten reagiert werden? Lehrer sollten fordernde Förderer sein, die die Auseinandersetzung<br />
mit Klassikern als Bildungsauftrag sehen. Verstehendes literarisches Lesen soll als<br />
eine Herausforderung, eine Arbeit vermittelt werden, die neugierig auf anderes macht.<br />
Gerade die historische Entfernung zu älterer Literatur kann interessant sein, denn auch<br />
sie ermöglicht noch immer eine distanzlose Identifikation. Schließlich präsentiert sich<br />
das Alterswerk Goethes nicht als biologische Schwundstufe, vielmehr ist festzustellen,<br />
dass <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> in Bezug auf die Moderne und Postmoderne des 20. sowie 21. Jahrhunderts<br />
ein enormes Aktualitätspotential bereitstellt.<br />
Stattdessen jedoch ist <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> vom Nimbus der Unverständlichkeit umgeben. Das<br />
erklärt die Vermeidung des Stoffes, verhindert jedoch auch die Auseinandersetzung damit.<br />
Speziell der Literaturunterricht muss vielschichtige Texte anbieten können. Goethes<br />
literarische Werke sind das Medium, in dem ein gebildeter Beobachter die tiefgreifenden<br />
Verwerfungen des geistigen Europas zu entdecken vermag – gerade hierin ist großes Aktualitätspotenzial<br />
zu sehen.<br />
Bereits anhand einer kurzen, unvollständigen Liste an Anregungen für <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> im<br />
Unterricht wird sein Nutzen deutlich:<br />
• Goethe bezeichnet seinen <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> als »sehr ernste Scherze« beziehungsweise »offenbares<br />
Rätsel«, das die Menschen unterhalten soll.<br />
• Laut Hans Christoph Binswanger, Schweizer Wirtschaftswissenschaftler, der <strong>Faust</strong><br />
<strong>II</strong> im Zuge der Wirtschaftskrise ökonomisch auslegte, sei der Text von einer »kaum<br />
fassbaren Aktualität«.<br />
• Auch andere ökonomische Deutungen, zum Beispiel <strong>Faust</strong> <strong>II</strong> als Aufforderung zur<br />
Entschleunigung zu verstehen, sind leicht am Text festzumachen.<br />
• Der fünfte Akt bildet eine für sich bestehende kleine Welt, so kann er im Gesamten<br />
als eigenständige Lektüreaufgabe gestellt werden.<br />
Lektüreempfehlung:<br />
Für eine weitere Auseinandersetzung<br />
und mögliche Themenfelder<br />
im Unterricht ist die kommentierte<br />
Ausgabe von Albrecht Schöne und<br />
die Einführung Jochen Schmidts zu<br />
empfehlen.<br />
37
Zur Kommentierung verwendete Literatur<br />
• MLA – Lutz, Bernd und Jeßing, Benedikt [Hrsg.]: Metzler Lexikon Autoren. 4. Auflage. Stuttgart, Weimar:<br />
J. B. Metzler, 2010.<br />
• MLL – Burdorf, Dieter; Fasbender, Christoph und Moennighoff Burkhard [Hrsg.]: Metzler Lexikon<br />
Literatur. 3. Auflage. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler, 2007.<br />
• ZWK – Zeitverlag und Bibliographisches Institut [Hrsg.]: Welt- und Kulturgeschichte. Epochen, Fakten,<br />
Hintergründe in 20 Bänden. Lexikon der Geschichte. Band 17–19. Hamburg: Zeitverlag, 2006.<br />
• JOT – Klaus, Arnold: Johannes Trithemius. 1462–1516. Würzburg: Schöningh, 1971.<br />
• VEV – König, Helmut [Hrsg.]: Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit<br />
der deutschen Hochschulen. München: Beck, 1997.<br />
• WAH – Wahrig-Burfeind, Renate [Hrsg.]: Wahrig. Deutsches Wörterbuch. Gütersloh: Bertelsmann Lexikon<br />
Verlag, 1996.<br />
• WWM – Fink, Gerhard: Who’s who in der antiken Mythologie. Neuausgabe 2002. München: dtv,<br />
2005.<br />
• MLK – Nünning, Ansgar [Hrsg.]: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 4. Auflage. Stuttgart,<br />
Weimar: J. B. Metzler, 2008.<br />
• OCL – Birch, Dinah [Hrsg.]: The Oxford Companion to English Literature. 7. Edition. Oxford: Oxford<br />
University Press, 2009.<br />
• DDP – Russ, Jacqueline: Dictionnaire de philosophie. Paris: Bordas, 2004.<br />
39
Impressum<br />
Autor: Magdalena Stieb | Redaktion: Pit Thommes<br />
Grafische Gestaltung und Satz: Verena Vitzthum<br />
Hergestellt im Printcenter der Universität Salzburg