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Über Die Haut,<br />
in der ich wohne<br />
Pedro Almodóvar<br />
Es gibt unumkehrbare Prozesse, Wege ohne<br />
Wiederkehr, Reisen mit Einwegticket. Die<br />
Haut, in der ich wohne erzählt die Geschichte<br />
eines solchen Prozesses. Unfreiwillig beschreitet<br />
die Protagonistin einen solchen<br />
Weg, wird gewaltsam zum Antritt einer<br />
Reise gezwungen, von der es kein Zurück<br />
mehr gibt. Ihre kafkaeske Geschichte gleicht<br />
der Verurteilung durch ein Schwurgericht,<br />
das aus nur einer Person besteht: ihrem ärgsten<br />
Feind. Der Schuldspruch ist demnach<br />
nichts anderes als eine extreme Form von<br />
Rache. Die Haut, in der ich wohne erzählt die<br />
Geschichte dieser Rache. Die ersten Bilder<br />
des Films zeigen die idyllische Welt einer<br />
von Bäumen umstandenen Villa. Sie heißt El<br />
Cigarral und ist durch eine Mauer und ein<br />
hohes Gittertor abgeschirmt. Durch eines<br />
der Villenfenster erspähen wir eine weibliche<br />
Gestalt, die sich bewegt. Die scheinbar<br />
nackte Frau in dem Zimmer ist mit komplizierten<br />
Yogaübungen beschäftigt. In der<br />
Nahaufnahme sehen wir, dass sie nicht<br />
nackt, sondern in einen fleischfarbenen<br />
Ganzkörperbody gehüllt ist. In der Küche<br />
bereitet die Haushälterin Marilia das Frühstück<br />
zu, das sie der Frau mittels einer Drehdurchreiche<br />
zukommen lässt.<br />
Von Beginn an stellt sich El Cigarral als Gefängnis<br />
inmitten der Natur dar. In den sechs<br />
„Die Haut ist die Grenze,<br />
die uns von den anderen<br />
trennt; sie spiegelt unsere<br />
Gefühle und verrät<br />
unsere biologischen oder<br />
geografischen Wurzeln.“<br />
Jahren ihrer Zwangsklausur hat Vera unter<br />
anderem das ausgedehnteste Organ des<br />
menschlichen Körpers verloren, die eigene<br />
Haut. Diese ist buchstäblich auf der Strecke<br />
geblieben. Die Haut ist die Grenze, die uns<br />
von den anderen trennt; sie spiegelt unsere<br />
— 94 —<br />
Gefühle und verrät unsere biologischen oder<br />
geografischen Wurzeln. Oft gibt sie unsere<br />
Seelenlagen wieder. Vera hat zwar die Haut<br />
gewechselt, aber ihre Identität nicht eingebüßt.<br />
Der Verlust der eigenen Haut ist unvorstellbar<br />
grauenhaft. Und dies ist nur einer<br />
der Verluste, die Vera an die Schwelle des<br />
Todes bringen – eines Todes aus eigenem<br />
Willen von der Hand des Chirurgen Robert.<br />
Doch sie ist zum Überleben geboren, und so<br />
beschließt sie nach vielen Rückschlägen,<br />
dass sie „lernen muss, in der Haut zu leben,<br />
in der sie wohnt“, selbst wenn sie von Dr. Robert<br />
stammt. Nachdem Vera ihre zweite<br />
Haut angenommen hat, trifft sie die für ihr<br />
Weiterleben zweitwichtigste Entscheidung:<br />
warten zu können. Elias Canetti bemerkt in<br />
seinem posthum erschienenen Buch Über<br />
den Tod zum Thema „Feind des Todes“: „Das<br />
unentwegte Auf und Abschreiten des Tigers<br />
hinter den Stäben seines Käfigs, auf dass ihm<br />
der einmalige, winzige Augenblick der Errettung<br />
nicht entgehe.“<br />
Gegenüber: Ich beobachte Elena, die sich auf die<br />
nächste Einstellung konzentriert.<br />
Oben: Ich rücke Elena Anaya das Kinn zurecht,<br />
während sie die Yogastellung des „Kriegers“ probt.<br />
Unten: Dr. Roberts Hände applizieren die Haut, die<br />
er selber entwickelt und gezüchtet hat, auf eine<br />
Puppe, eine Abformung von Veras Körper.<br />
Rechts: Der von Juan Gatti gestaltete Teaser<br />
veranschaulicht grafisch die „Transgenesis“, das<br />
heißt, das natürliche Zusammenleben von<br />
Lebewesen aller Gattungen und Arten.<br />
Für Vera kommt dieser kurze Augenblick, in<br />
Gestalt eines als Tiger verkleideten Mannes,<br />
der es an einem Tag im Karneval, bis an die<br />
hermetisch abgeriegelte Tür von Veras Zimmer<br />
schafft und auf diese Weise die Situation,<br />
in der die drei Personen in El Cigarral<br />
leben, durchbricht.<br />
Die Figuren legen in diesem Moment ihre<br />
Masken ab, und das tragische Ende wirft seinen<br />
dunklen Schatten voraus.<br />
Eine Geschichte mit solchen Merkmalen<br />
ließ mich an Luis Buñuel, an Alfred Hitchcock<br />
und an alle Filme von Fritz Lang denken.<br />
Auch dachte ich an die Popästhetik der<br />
Horrorfilme aus der HammerProduktion<br />
oder an den eher psychedelischen und kitschigen<br />
Stil des italienischen Giallo (Dario<br />
Argento, Mario Bava, Umberto Lenzi, Lucio<br />
Fulci …) und natürlich an Georges Franjus<br />
lyrisch gestimmtes Werk Augen ohne Ge-<br />
„Ein paar Monate lang<br />
erwog ich ernsthaft, einen<br />
Stummfilm in Schwarz<br />
Weiß zu drehen.“<br />
sicht. Nachdem ich alle diese Referenzen<br />
ausgewertet hatte, wurde mir klar, dass keine<br />
davon dem entsprach, was ich für Die Haut,<br />
in der ich wohne brauchte. Ein paar Monate<br />
lang erwog ich ernsthaft, einen Stummfilm in<br />
SchwarzWeiß zu drehen, mit Zwischentiteln,<br />
die Beschreibungen und Dialoge enthalten<br />
sollten. Nach monatelangem Zweifeln<br />
beschloss ich schließlich, meinen eigenen<br />
Weg zu gehen und mich von meiner Intuition<br />
leiten zu lassen– ohne den Schatten der<br />
Meister des Genres und mein kinematografisches<br />
Gedächtnis außen vorzulassen. Ich<br />
wusste, dass ich eine strenge Erzählform<br />
wahren musste, frei von visueller Rhetorik<br />
und ganz ohne Gore, auch wenn in den Momenten,<br />
die für den Betrachter unsichtbar<br />
bleiben, viel Blut vergossen wird.<br />
Nicht zum ersten Mal habe ich mir das vor<br />
den Dreharbeiten zur Auflage gemacht, mit<br />
dem Film Die Haut, in der ich wohne bin ich<br />
dem wohl am nächsten gekommen.<br />
Begleitet haben mich bei alldem der Kameramann<br />
José Luis Alcaine, dem ich nicht erklärte,<br />
was ich wollte, sondern was ich nicht<br />
wollte. Er hat es verstanden, den Bildern die<br />
Dichte, Brillanz und Düsternis zu verleihen,<br />
die dem Stoff am besten gerecht werden.<br />
Dann der Musiker Alberto Iglesias, der einzige<br />
mir bekannte Künstler ohne Ego, unermüdlich,<br />
flexibel, geduldig, imstande, in<br />
einer Richtung und, wenn ich nicht zufrieden<br />
war, in der entgegengesetzten zu suchen.<br />
Dazu kommen großherzige, sehr genau arbeitende<br />
Schauspieler, trotz der offenkundigen<br />
Zumutungen in manchen Szenen. Ich<br />
nenne sie alle: Antonio Banderas, Elena<br />
Anaya, Marisa Paredes, Jan Cornet, Roberto<br />
Álamo, Blanca Suárez, Eduard Fernández,<br />
Susi Sánchez, Bárbara Lennie und José Luis<br />
Gómez.<br />
Vera und die Bildschirme<br />
Wir leben inmitten von Bildern, die von Monitoren<br />
aller Formate eingerahmt sind. Ständig<br />
werden wir mit Bildern ganz unterschiedlicher<br />
Herkunft und Absicht bombar<br />
— 95 —<br />
diert: Kontrolle in jeglicher Form, überbordende<br />
Informationen. Wir können einen<br />
Krieg in Direktübertragung sehen, Tod und<br />
Verwüstung live erleben. Wir können unsere<br />
in fernen Ländern lebenden Freunde und<br />
Familienangehörigen auf einem Computerbildschirm<br />
sehen, während wir mit ihnen<br />
sprechen. Der Computerbildschirm ist ein<br />
auf alles nur Vorstellbare geöffnetes Fenster.<br />
Auf Straßen und Autobahnen, in Fahrstühlen<br />
und in unserem eigenen Haushalt sind<br />
Kameras angebracht. Den Wolkenkratzern<br />
in Blade Runner, auf deren Außenflächen<br />
unablässig Werbebilder projiziert wurden,<br />
hat mittlerweile jede beliebige Fassade am<br />
Times Square den Rang abgelaufen. Es hat<br />
den Anschein, lebendig sei nur, was vorher<br />
aufgezeichnet wurde und so ununterbrochen<br />
projiziert werden kann.<br />
Die Generation der heute um die Vierzigjäh<br />
rigen könnte sich visuelles Material über nahezu<br />
alle Momente ihres Lebens verschaffen,<br />
von dem Augenblick, als sie zur Welt<br />
kamen, bis zu ihrem letzten Seufzer. Michael<br />
Powells Peeping Tom (der Protagonist wird<br />
als Kind von seinem Vater ständig gefilmt,<br />
sogar wenn er schläft) würde heute nicht<br />
mehr als krankhaft obsessiv bewertet werden.<br />
Das Familienfotoalbum wurde durch<br />
den Film über das Leben der Familienangehörigen<br />
abgelöst. Wir sind von lebendigen<br />
und bewegten Bildern umgeben. Schlechte<br />
Zeiten für Bürgerrechte, die so leicht zu verletzen<br />
und so schwer zu verteidigen sind.<br />
Nicht einmal bei uns zu Hause sind wir sicher;<br />
vielfach werden wir von Überwachungskameras<br />
aufgenommen, um Einbrüche<br />
oder häusliche Vorfälle zu verhindern<br />
(eine Ohrfeige vom Ehemann, Misshand