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2010 - Taschen

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Über Die Haut,<br />

in der ich wohne<br />

Pedro Almodóvar<br />

Es gibt unumkehrbare Prozesse, Wege ohne<br />

Wiederkehr, Reisen mit Einwegticket. Die<br />

Haut, in der ich wohne erzählt die Geschichte<br />

eines solchen Prozesses. Unfreiwillig beschreitet<br />

die Protagonistin einen solchen<br />

Weg, wird gewaltsam zum Antritt einer<br />

Reise gezwungen, von der es kein Zurück<br />

mehr gibt. Ihre kafkaeske Geschichte gleicht<br />

der Verurteilung durch ein Schwurgericht,<br />

das aus nur einer Person besteht: ihrem ärgsten<br />

Feind. Der Schuldspruch ist demnach<br />

nichts anderes als eine extreme Form von<br />

Rache. Die Haut, in der ich wohne erzählt die<br />

Geschichte dieser Rache. Die ersten Bilder<br />

des Films zeigen die idyllische Welt einer<br />

von Bäumen umstandenen Villa. Sie heißt El<br />

Cigarral und ist durch eine Mauer und ein<br />

hohes Gittertor abgeschirmt. Durch eines<br />

der Villenfenster erspähen wir eine weibliche<br />

Gestalt, die sich bewegt. Die scheinbar<br />

nackte Frau in dem Zimmer ist mit komplizierten<br />

Yogaübungen beschäftigt. In der<br />

Nahaufnahme sehen wir, dass sie nicht<br />

nackt, sondern in einen fleischfarbenen<br />

Ganzkörperbody gehüllt ist. In der Küche<br />

bereitet die Haushälterin Marilia das Frühstück<br />

zu, das sie der Frau mittels einer Drehdurchreiche<br />

zukommen lässt.<br />

Von Beginn an stellt sich El Cigarral als Gefängnis<br />

inmitten der Natur dar. In den sechs<br />

„Die Haut ist die Grenze,<br />

die uns von den anderen<br />

trennt; sie spiegelt unsere<br />

Gefühle und verrät<br />

unsere biologischen oder<br />

geografischen Wurzeln.“<br />

Jahren ihrer Zwangsklausur hat Vera unter<br />

anderem das ausgedehnteste Organ des<br />

menschlichen Körpers verloren, die eigene<br />

Haut. Diese ist buchstäblich auf der Strecke<br />

geblieben. Die Haut ist die Grenze, die uns<br />

von den anderen trennt; sie spiegelt unsere<br />

— 94 —<br />

Gefühle und verrät unsere biologischen oder<br />

geografischen Wurzeln. Oft gibt sie unsere<br />

Seelenlagen wieder. Vera hat zwar die Haut<br />

gewechselt, aber ihre Identität nicht eingebüßt.<br />

Der Verlust der eigenen Haut ist unvorstellbar<br />

grauenhaft. Und dies ist nur einer<br />

der Verluste, die Vera an die Schwelle des<br />

Todes bringen – eines Todes aus eigenem<br />

Willen von der Hand des Chirurgen Robert.<br />

Doch sie ist zum Überleben geboren, und so<br />

beschließt sie nach vielen Rückschlägen,<br />

dass sie „lernen muss, in der Haut zu leben,<br />

in der sie wohnt“, selbst wenn sie von Dr. Robert<br />

stammt. Nachdem Vera ihre zweite<br />

Haut angenommen hat, trifft sie die für ihr<br />

Weiterleben zweitwichtigste Entscheidung:<br />

warten zu können. Elias Canetti bemerkt in<br />

seinem posthum erschienenen Buch Über<br />

den Tod zum Thema „Feind des Todes“: „Das<br />

unentwegte Auf­ und Abschreiten des Tigers<br />

hinter den Stäben seines Käfigs, auf dass ihm<br />

der einmalige, winzige Augenblick der Errettung<br />

nicht entgehe.“<br />

Gegenüber: Ich beobachte Elena, die sich auf die<br />

nächste Einstellung konzentriert.<br />

Oben: Ich rücke Elena Anaya das Kinn zurecht,<br />

während sie die Yogastellung des „Kriegers“ probt.<br />

Unten: Dr. Roberts Hände applizieren die Haut, die<br />

er selber entwickelt und gezüchtet hat, auf eine<br />

Puppe, eine Abformung von Veras Körper.<br />

Rechts: Der von Juan Gatti gestaltete Teaser<br />

veranschaulicht grafisch die „Transgenesis“, das<br />

heißt, das natürliche Zusammenleben von<br />

Lebewesen aller Gattungen und Arten.<br />

Für Vera kommt dieser kurze Augenblick, in<br />

Gestalt eines als Tiger verkleideten Mannes,<br />

der es an einem Tag im Karneval, bis an die<br />

hermetisch abgeriegelte Tür von Veras Zimmer<br />

schafft und auf diese Weise die Situation,<br />

in der die drei Personen in El Cigarral<br />

leben, durchbricht.<br />

Die Figuren legen in diesem Moment ihre<br />

Masken ab, und das tragische Ende wirft seinen<br />

dunklen Schatten voraus.<br />

Eine Geschichte mit solchen Merkmalen<br />

ließ mich an Luis Buñuel, an Alfred Hitchcock<br />

und an alle Filme von Fritz Lang denken.<br />

Auch dachte ich an die Popästhetik der<br />

Horrorfilme aus der Hammer­Produktion<br />

oder an den eher psychedelischen und kitschigen<br />

Stil des italienischen Giallo (Dario<br />

Argento, Mario Bava, Umberto Lenzi, Lucio<br />

Fulci …) und natürlich an Georges Franjus<br />

lyrisch gestimmtes Werk Augen ohne Ge-<br />

„Ein paar Monate lang<br />

erwog ich ernsthaft, einen<br />

Stummfilm in Schwarz­<br />

Weiß zu drehen.“<br />

sicht. Nachdem ich alle diese Referenzen<br />

ausgewertet hatte, wurde mir klar, dass keine<br />

davon dem entsprach, was ich für Die Haut,<br />

in der ich wohne brauchte. Ein paar Monate<br />

lang erwog ich ernsthaft, einen Stummfilm in<br />

Schwarz­Weiß zu drehen, mit Zwischentiteln,<br />

die Beschreibungen und Dialoge enthalten<br />

sollten. Nach monatelangem Zweifeln<br />

beschloss ich schließlich, meinen eigenen<br />

Weg zu gehen und mich von meiner Intuition<br />

leiten zu lassen– ohne den Schatten der<br />

Meister des Genres und mein kinematografisches<br />

Gedächtnis außen vorzulassen. Ich<br />

wusste, dass ich eine strenge Erzählform<br />

wahren musste, frei von visueller Rhetorik<br />

und ganz ohne Gore, auch wenn in den Momenten,<br />

die für den Betrachter unsichtbar<br />

bleiben, viel Blut vergossen wird.<br />

Nicht zum ersten Mal habe ich mir das vor<br />

den Dreharbeiten zur Auflage gemacht, mit<br />

dem Film Die Haut, in der ich wohne bin ich<br />

dem wohl am nächsten gekommen.<br />

Begleitet haben mich bei alldem der Kameramann<br />

José Luis Alcaine, dem ich nicht erklärte,<br />

was ich wollte, sondern was ich nicht<br />

wollte. Er hat es verstanden, den Bildern die<br />

Dichte, Brillanz und Düsternis zu verleihen,<br />

die dem Stoff am besten gerecht werden.<br />

Dann der Musiker Alberto Iglesias, der einzige<br />

mir bekannte Künstler ohne Ego, unermüdlich,<br />

flexibel, geduldig, imstande, in<br />

einer Richtung und, wenn ich nicht zufrieden<br />

war, in der entgegengesetzten zu suchen.<br />

Dazu kommen großherzige, sehr genau arbeitende<br />

Schauspieler, trotz der offenkundigen<br />

Zumutungen in manchen Szenen. Ich<br />

nenne sie alle: Antonio Banderas, Elena<br />

Anaya, Marisa Paredes, Jan Cornet, Roberto<br />

Álamo, Blanca Suárez, Eduard Fernández,<br />

Susi Sánchez, Bárbara Lennie und José Luis<br />

Gómez.<br />

Vera und die Bildschirme<br />

Wir leben inmitten von Bildern, die von Monitoren<br />

aller Formate eingerahmt sind. Ständig<br />

werden wir mit Bildern ganz unterschiedlicher<br />

Herkunft und Absicht bombar­<br />

— 95 —<br />

diert: Kontrolle in jeglicher Form, überbordende<br />

Informationen. Wir können einen<br />

Krieg in Direktübertragung sehen, Tod und<br />

Verwüstung live erleben. Wir können unsere<br />

in fernen Ländern lebenden Freunde und<br />

Familienangehörigen auf einem Computerbildschirm<br />

sehen, während wir mit ihnen<br />

sprechen. Der Computerbildschirm ist ein<br />

auf alles nur Vorstellbare geöffnetes Fenster.<br />

Auf Straßen und Autobahnen, in Fahrstühlen<br />

und in unserem eigenen Haushalt sind<br />

Kameras angebracht. Den Wolkenkratzern<br />

in Blade Runner, auf deren Außenflächen<br />

unablässig Werbebilder projiziert wurden,<br />

hat mittlerweile jede beliebige Fassade am<br />

Times Square den Rang abgelaufen. Es hat<br />

den Anschein, lebendig sei nur, was vorher<br />

aufgezeichnet wurde und so ununterbrochen<br />

projiziert werden kann.<br />

Die Generation der heute um die Vierzigjäh­<br />

rigen könnte sich visuelles Material über nahezu<br />

alle Momente ihres Lebens verschaffen,<br />

von dem Augenblick, als sie zur Welt<br />

kamen, bis zu ihrem letzten Seufzer. Michael<br />

Powells Peeping Tom (der Protagonist wird<br />

als Kind von seinem Vater ständig gefilmt,<br />

sogar wenn er schläft) würde heute nicht<br />

mehr als krankhaft obsessiv bewertet werden.<br />

Das Familienfotoalbum wurde durch<br />

den Film über das Leben der Familienangehörigen<br />

abgelöst. Wir sind von lebendigen<br />

und bewegten Bildern umgeben. Schlechte<br />

Zeiten für Bürgerrechte, die so leicht zu verletzen<br />

und so schwer zu verteidigen sind.<br />

Nicht einmal bei uns zu Hause sind wir sicher;<br />

vielfach werden wir von Überwachungskameras<br />

aufgenommen, um Einbrüche<br />

oder häusliche Vorfälle zu verhindern<br />

(eine Ohrfeige vom Ehemann, Misshand­

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