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Takte_1_17

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[t]akte<br />

1I20<strong>17</strong><br />

Wo das Adagio blüht<br />

Werke aus dem Nachlass Jean Barraqués<br />

Olivier Messiaen bewunderte ihn für die „noble Art<br />

seiner Kunst und seines Denkens“: Nun liegt die<br />

Edition von zwei unveröffentlichten Werken Jean<br />

Barraqués vor, die aus den Archiven der Association<br />

Jean Barraqué bzw. der Bibliothèque nationale<br />

de France stammen und neue Erkenntnisse liefern.<br />

Melos<br />

Melos, ein in den Jahren 1950/51 für den Prix Biarritz<br />

komponiertes Ballett, ist die Synthese der musikalischen<br />

Denkweise, die sich Barraqué im Laufe der Jahre<br />

1948–1951 durch die Lektüre der Werke von René Leibowitz<br />

und das Studium bei Jean Langlais und anschließend<br />

bei Olivier Messiaen angeeignet hatte. Darin<br />

finden sich – veredelt durch hier erstmals verwendete<br />

spezifische Orchesterklänge – Barraqués Lied Les nuages<br />

s’entassent sur les nuages auf ein Gedicht von Tagore,<br />

seine Kantate La nature s’est prise aux filets de ta vie auf<br />

ein Gedicht von Paul Éluard sowie sein Streichquartett<br />

wieder. Das Szenario – eine herrlich antiquierte Handlung<br />

von Marie-Laure de Noailles (1902–1970) – hebt<br />

sich deutlich von den schwermütigen Tönen der in<br />

denselben Jahren komponierten Klaviersonate ab; sie<br />

atmet den Duft der Pariser Salons, in denen Jean Cocteau,<br />

Man Ray, Luis Buñuel, Jacques Lacan oder auch<br />

Francis Poulenc verkehrten. Letzterer war, gemeinsam<br />

mit anderen Größen des Musiklebens, Jurymitglied<br />

Fein gewebte Texturen: Barraqués „Melos“-Handschrift (Association Jean Barraqué)<br />

des Prix Biarritz. Laut Barraqué geht es darin um „die<br />

Bestrebungen eines jungen Mannes, der unsicher ist,<br />

welcher Kunst er sich widmen soll, und der sich dann<br />

für seine erste Liebe, die Musik, entscheidet“.<br />

Das Ballett besteht aus sieben Abschnitten oder<br />

„morceaux“, wie Barraqué sie nennt: Prélude / I. Rêverie<br />

et danse du jeune homme / II. Entrée de la promeneuse<br />

Poésie (pas de deux) / III. Entrée du promeneur Peinture<br />

(pas de trois) / IV. Jalousie du jeune homme (pas seul) /<br />

V. Entrée de la promeneuse Sculpture, puis double pas de<br />

deux (en canon) / VI. Entrée du promeneur Architecture<br />

(fugue) / VII. Final: 1. Introduction, 2. Entrée et chant<br />

de Mélodie, 3. Danse du jeune homme et de Mélodie<br />

(Rondo), 4. Final.<br />

Nach einem elaborierten Prélude in der Form ABA,<br />

das einige grundlegende Linien des Werks einführt,<br />

hebt sich der Vorhang, und ein Jüngling bringt „seinen<br />

Stolz, seine Unentschlossenheit, seine Hoffnungen“<br />

zum Ausdruck. In der Musik wechseln sich Schlagwerk,<br />

kurze serielle Figuren und eine eindringliche Linie der<br />

Oboe ab. Mit einem Unisono-Ostinato der Streicher<br />

col legno tritt die Poesie auf. Über dem stetig dichter<br />

werdenden Orchestersatz erhebt sich ein Flötensolo. Die<br />

Flöte und ein Horn führen, recht eigenständig, in eine<br />

Steigerung, bevor das Englischhorn zart und traurig die<br />

Melancholie des Jünglings wiedergibt, dessen Blick in<br />

die Wellen vertieft ist. Dann folgt der Auftritt der Malkunst,<br />

begleitet von einer äußerst dichten Polyphonie<br />

(erst zu drei, dann aufsteigend auf sieben und wieder<br />

zurück auf drei Stimmen). Verstärkt scheinen hier die<br />

Elemente der raschen Sätze des kurz zuvor entstandenen<br />

Streichquartetts Eingang gefunden zu haben. Die<br />

Eifersucht des jungen Mannes, der von der, nunmehr<br />

für die Malkunst Modell stehenden Poesie verlassen<br />

wurde, spiegelt sich in einem heftig bewegten, mit<br />

vielen Oktaven durchsetzten und in Blöcken orchestrierten<br />

Abschnitt wider, der in einem spektakulären<br />

„fff“ und einer Coda gipfelt. Darauf entwickelt sich<br />

mit dem majestätischen Erscheinen der allegorischen<br />

Gestalt der Bildhauerkunst eine serielle Polyphonie, in<br />

der sich Melodien, Harmonien und Kanons über einer<br />

Reihe schichten, deren Grundformen nicht transponiert<br />

werden. Mit dem Auftritt der Baukunst setzt<br />

passenderweise eine Fuge ein, dreistimmig und mit<br />

einem Staccato-Thema, einer Exposition, einem Zwischenspiel,<br />

einer Kontraexposition und einer Stretta.<br />

Im Finale findet die Apotheose der Musik statt: Die<br />

Einleitung ist eine Art Duo für Klavier und Celesta, mit<br />

einigen Einwürfen des Orchesters und der erwähnten<br />

obsessiven Linie aus dem ersten Satz im Fagott, die<br />

dann im Englischhorn zu einem Wiegenlied der personifizierten<br />

Melodie für den schlummernden Jüngling<br />

wird, deren Partie mit folgenden Versen versehen ist:<br />

„Connais-tu le pays / Où fleurit l’adagio ? Où la fugue<br />

mûrit / sur les noires clefs de sol ? / Reconnais-tu<br />

l’abeille / Mourante sous nos archets<br />

? / Le son du cor sommeille /<br />

Au fond de nos vergers“ („Kennst<br />

du das Land, / Wo das Adagio<br />

blüht? Wo die Fuge reift / bei den<br />

schwarzen Violinschlüsseln? /<br />

Erkennst du die Biene, / Sterbend<br />

unter unseren Bögen? / Der Klang<br />

des Horns schlummert / Am Ende<br />

des Obstgartens“). Ein frenetischer<br />

Tanz des Jünglings und der Melodie<br />

führt sodann ins Finale, wo in<br />

einem Hochzeitsmarsch die Elemente<br />

der vorangegangenen Sätze<br />

Jean Barraqué (1928–1973)<br />

höchst virtuos übereinandergelegt<br />

werden. Eine Einschiffung nach<br />

Kythera dreier Paare: der Jüngling<br />

und die Melodie, Poesie und Malerei, Bildhauerkunst<br />

und Architektur.<br />

Musique de scène<br />

In den Jahren 1958/59 – die Klaviersonate ist vollendet,<br />

ebenso Séquence, eine Étude für Elektronik auf Gedichte<br />

von Nietzsche, sowie (noch nicht instrumentiert) Le<br />

Temps restitué – komponierte Barraqué für eine Aufführung<br />

des Regisseurs und Theoretikers Jacques Polieri<br />

eine Musique de scène zu kurzen Stücken von Jean<br />

Thibaudeau. An der Schauspielmusik sollten mehrere<br />

Maler, unter ihnen Sonia Delaunay und Jean-Michel<br />

Atlan, beteiligt sein, die „die Musik in Bilder umsetzen“,<br />

aber auch die Mitarbeit von Maurice Béjart wurde in<br />

Erwägung gezogen. Mit Jacques Polieri (1928–2011)<br />

hatte Barraqué gerade an dem Projekt einer szenischen<br />

Komposition mit dem Titel Sonorité jaune (nach Wassily<br />

Kandinsky) gearbeitet, für die bereits seit 1957 einige<br />

Skizzen vorlagen. Jean Thibaudeau (1935–2013) war<br />

Romanautor, Essayist, Dramatiker und Übersetzer<br />

von Calvino, Cortázar und Sanguineti; er arbeitete außerdem<br />

als Redakteur für die angesehene Zeitschrift<br />

Tel Quel. Mit seinen Romanen befand er sich in der<br />

Nähe des Nouveau Roman. Die sieben kurzen Stücke<br />

entstanden in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre; sie<br />

wurden von Barraqué zurückgehalten und blieben unveröffentlicht:<br />

La Chambre, Invitation au voyage, Échelle<br />

visuelle, Comédie intrigante, Le Voyage und Le Regard.<br />

Das Werk wurde dann unter dem Titel … au-delà du<br />

hasard neu geschrieben und stark erweitert. Es sieht<br />

Sprechstimmen und Instrumentalensemble vor und<br />

ist von der rein linearen Dramaturgie von Melos weit<br />

entfernt. Zum ersten Mal wendet Barraqué seine Technik<br />

der „proliferierenden Reihen“ an. Es wechseln sich<br />

mehr oder weniger kurze Abschnitte miteinander ab,<br />

die wie „Scherben“ oder „Bruchstücke“ anmuten und<br />

die in …au-delà du hasard zu einem Mosaik wurden. So<br />

besteht La Chambre nur in einem einzigen Abschnitt<br />

von fünf <strong>Takte</strong>n. Comédie intrigante ist in zwölf Abschnitte<br />

zu zwei bis elf <strong>Takte</strong>n aufgeteilt, während Le<br />

Voyage und Le Regard größere Entwicklungen – und<br />

Barraqués unvermittelt heftige Lyrik – zeigen.<br />

Mit Melos und Musique de scène gewinnen wir zwei<br />

Werke, die für die Bühne gedacht waren und weit von<br />

Hermann Brochs Welt entfernt liegen, aus dessen Werk<br />

Barraqué für seine vollendeten Kompositionen fast<br />

ausschließlich schöpfte. Genannt sei insbesondere<br />

das Opernprojekt L’Homme couché, von dem leider nur<br />

Textskizzen existieren: Vergil wartet auf den Tod, denkt<br />

über die Kindheit nach, über Liebe, Rache, radikalen<br />

Aufstand, Unterwerfung, Talent und wie man es annimmt,<br />

Strenge, Einsamkeit, Genie, tödliche Krankheit,<br />

Heiligkeit und den Umgang mit sich selbst.<br />

Laurent Feneyrou<br />

Jean Barraqué<br />

Melos<br />

Uraufführung: 24.6.20<strong>17</strong> Köln (Funkhaus) WDR<br />

Sinfonieorchester, Leitung: Jean-Michael Lavoie<br />

Besetzung: 2 Fl (1 auch Picc), Ob (auch Eh), 2 Klar<br />

(1 auch BKlar), Fag, Hn, Trp, Pos, Klav, Cel, Schlg<br />

(2), Str<br />

Verlag: Bärenreiter<br />

Weitere Werke (Auswahl)<br />

Le temps restitué für Solostimme, Chor und Orchester.<br />

BA 7360<br />

… au delà du hasard für Solostimmen und Orchester<br />

in 4 Gruppen. BA 7361<br />

Chant après chant für sechs Schlagzeuger, Sopran<br />

solo und Klavier. BA 7362<br />

Sequence für Solostimme und Instrumentalensemble.<br />

BA 7359<br />

Concerto pour six formations instrumentales et<br />

deux instruments, BA 7363<br />

Quatuor à cordes. BA 11015<br />

Sonate pour piano. BA 7284<br />

Sonate für Violine solo. BA 9374<br />

Ecce videmus eum für 5-stimmigen gemischten<br />

Chor a cappella. BA 110<strong>17</strong><br />

La nature s‘est prise aux filets de ta vie pour<br />

choeur mixte, contralto solo et instruments.<br />

Cantate. BA 11103<br />

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