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Zeit für Reform von Ellen G. White

Vor fünfhundert Jahren, eine Zeit der Reform war ausgebrochen. Die Aufmerksamkeit aller Parteien richtete sich nun auf die Versammlung der deutschen Länder, die kurz nach Karls Thronbesteigung in Worms tagte. Wichtige politische Fragen und Belange sollten auf diesem Reichstag erörtert werden; zum erstenmal sollten die deutschen Fürsten ihrem jugendlichen Monarchen auf einer Ratsversammlung begegnen. Aus allen deutschen Landen hatten sich die Würdenträger der Kirche und des Reiches eingefunden. Der weltliche Adel, gewaltig und eifersüchtig auf seine Erbrechte bedacht; Kirchenfürsten, stolz in dem Bewußtsein ihrer Überlegenheit an Rang und Macht; höfische Ritter und ihr bewaffnetes Gefolge; Gesandte aus fremden und fernen Ländern — alle versammelten sich in Worms. Und auf dieser großartigen Versammlung erregte die Sache des sächsischen Reformators die größte Aufmerksamkeit.

Vor fünfhundert Jahren, eine Zeit der Reform war ausgebrochen. Die Aufmerksamkeit aller Parteien richtete sich nun auf die Versammlung der deutschen Länder, die kurz nach Karls Thronbesteigung in Worms tagte. Wichtige politische Fragen und Belange sollten auf diesem Reichstag erörtert werden; zum erstenmal sollten die deutschen Fürsten ihrem jugendlichen Monarchen auf einer Ratsversammlung begegnen. Aus allen deutschen Landen hatten sich die Würdenträger der Kirche und des Reiches eingefunden. Der weltliche Adel, gewaltig und eifersüchtig auf seine Erbrechte bedacht; Kirchenfürsten, stolz in dem Bewußtsein ihrer Überlegenheit an Rang und Macht; höfische Ritter und ihr bewaffnetes Gefolge; Gesandte aus fremden und fernen Ländern — alle versammelten sich in Worms. Und auf dieser großartigen Versammlung erregte die Sache des sächsischen Reformators die größte Aufmerksamkeit.

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<strong>Zeit</strong> <strong>für</strong> <strong>Reform</strong><br />

bitteren Verwünschungen beantwortet. Wurfspieße schleuderte man nach ihm, ihrem letzten menschlichen<br />

Vermittler, als er vor ihnen stand, um mit ihnen zu verhandeln. Die Juden hatten die Bitten des Sohnes Gottes<br />

verwor- fen, und nun machten die ernsten Vorstellungen und flehentlichen Bitten sie nur um so<br />

entschiedener, bis zum letzten Widerstand zu leisten. Die Bemühungen des Titus, den Tempel zu retten,<br />

waren vergeblich. Ein Größerer als er hatte erklärt, daß nicht ein Stein auf dem andern bleiben sollte.<br />

Die blinde Hartnäckigkeit der führenden Juden und die verabscheuungswürdigen Verbrechen, die in<br />

der belagerten Stadt verübt wurden, erweckten bei den Römern Entsetzen und Entrüstung, und endlich<br />

beschloß Titus, den Tempel im Sturm zu nehmen, ihn aber, wenn möglich, vor der Zerstörung zu bewahren.<br />

Seine Befehle wurden jedoch mißachtet. Als er sich abends in sein Zelt zurückgezogen hatte, unternahmen<br />

die Juden einen Ausfall aus dem Tempel und griffen die Soldaten draußen an. Im Handgemenge wurde <strong>von</strong><br />

einem Soldaten ein Feuerbrand durch die Öffnung der Halle geschleudert, und unmittelbar darauf standen<br />

die mit Zedernholz getäfelten Räume des heiligen Gebäudes in Flammen. Titus eilte mit seinen Obersten<br />

und Legionären herbei und befahl den Soldaten, die Flammen zu löschen. Seine Worte blieben unbeachtet.<br />

In ihrer Wut schleuderten die Legionäre Feuerbrände in die an den Tempel stoßenden Gemächer und<br />

metzelten viele, die dort Zuflucht gesucht hatten, mit dem Schwert nieder. Das Blut floß gleich Wasser die<br />

Tempelstufen hinunter. Tausende und aber Tausende <strong>von</strong> Juden kamen um. Das Schlachtgetöse wurde<br />

übertönt <strong>von</strong> dem Ruf: „Ikabod!“, das heißt die Herrlichkeit ist dahin.<br />

„Titus war es unmöglich, der Wut der Soldaten Einhalt zu gebieten; er trat mit seinen Offizieren ein<br />

und besichtigte das Innere des heiligen Gebäudes. Der Glanz erregte ihre Bewunderung, und da die Flammen<br />

noch nicht bis zum Heiligtum vorgedrungen waren, unternahm er einen letzten Versuch, es zu retten. Er<br />

sprang hervor und forderte die Mannschaften auf, das Umsichgreifen der Feuersbrunst zu verhindern. Der<br />

Hauptmann Liberalis versuchte mit seinem Stab Gehorsam zu erzwingen; doch selbst die Achtung vor ihrem<br />

Feldherrn verging vor der rasenden Feindseligkeit gegen die Juden, der heftigen Aufregung des Kampfes<br />

und der unersättlichen Beutegier. Die Soldaten sahen alles um sich herum <strong>von</strong> Gold blitzen, das in dem<br />

wilden Lodern der Flammen einen blendenden Glanz ausstrahl te; sie wähnten unermeßliche Schätze im<br />

Heiligtum aufgespeichert. Unbemerkt warf ein Soldat eine brennende Fackel zwischen die Angeln der Tür,<br />

und im Nu stand das ganze Gebäude in Flammen. Die dichten Rauchschwaden und das Feuer zwangen die<br />

Offiziere, sich zurückzuziehen und das herrliche Gebäude seinem Schicksal zu überlassen.<br />

War es schon <strong>für</strong> die Römer ein erschreckendes Schauspiel, wie mögen es erst die Juden empfunden<br />

haben! Die ganze Höhe, die die Stadt weit überragte, erschien wie ein feuerspeiender Berg. Ein Gebäude<br />

nach dem andern stürzte mit furchtbarem Krachen zusammen und wurde <strong>von</strong> dem feurigen Abgrund<br />

verschlungen. Die Dächer aus Zedernholz glichen einem Feuermeer, die vergoldeten Zinnen glänzten wie<br />

flammende Feuerzungen, die Türme der Tore schossen Flammengarben und Rauchsäulen empor. Die<br />

benachbarten Hügel waren erleuchtet; gespenstisch wirkende Zuschauergruppen verfolgten in <strong>für</strong>chterlicher<br />

Angst die fortschreitende Zerstörung; auf den Mauern und Höhen der oberen Stadt drängte sich Kopf an<br />

Kopf. Manche waren bleich vor Angst und Verzweiflung, andere blickten düster, in ohnmächtiger Rache.<br />

Die Rufe der hin und her eilenden römischen Soldaten, das Heulen der Aufständischen, die in den Flammen<br />

umkamen, vermischten sich mit dem Brüllen der Feuersbrunst und dem donnernden Krachen des stürzenden<br />

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