Berner Kulturagenda 2017 N° 29-30
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27. Juli – 9. August <strong>2017</strong> Anzeiger Region Bern 25<br />
3<br />
Party mit Stosszähnen<br />
Das Sommerfest auf dem Vorplatz der Reitschule, No Borders<br />
No Nations, geht in die vierte Runde. Getanzt wird etwa<br />
zu entschleunigtem House aus Johannesburg.<br />
Sie sind wunderhübsch, die Sujets der<br />
Solidaritätsbändel des No Borders No<br />
Nations-Festivals. Ein schnaubendes<br />
Nashorn und ein wütender Elefant sind<br />
es dieses Jahr, Tiere mit Stosszähnen<br />
also – schliesslich ist das Sommerfest<br />
der Reitschule kein Kuschelanlass.<br />
Ausgelassen Feiern mit politischer Botschaft<br />
ist das Hauptanliegen dieses<br />
Formats, das am 1. August 2014 seinen<br />
Anfang nahm. Auf eigenwillige Weise<br />
wird so der Nationalfeiertag zelebriert,<br />
ohne Sponsoren und offen für alle. Mit<br />
Gewalt hat das nichts zu tun, wie die<br />
Veranstalter deklarieren: «Rassismus,<br />
Sexismus, Homophobie, Transphobie,<br />
Gewalt und übergriffiges Verhalten jeglicher<br />
Art hat hier keinen Platz!»<br />
Entschleunigte Gesellschaftskritik<br />
Tagsüber gibt es Vorträge und Führungen<br />
durch die Reitschule, abends<br />
Musik. Das Programm birgt heuer<br />
nebst dem lokalen Liebling Baze eine<br />
Entdeckung aus Johannesburg: Das<br />
Kollektiv Batuk, das den Musikstil<br />
Kwaito, eine verlangsamte Version von<br />
House, nach Bern bringt. Die gesellschaftskritischen<br />
Texte, gesungen und<br />
gerappt von der Künstlerin Manteiga,<br />
sind ein Mix aus Portugiesisch und<br />
Englisch, das Gesamtpaket ist tanzbar<br />
und lebensfroh. Düsterer und nicht<br />
minder energisch ist die Londoner<br />
Band Skinny Girl Diet, die sich in klassischer<br />
Punkmanier das Patriarchat<br />
vorknöpft. <br />
Milena Krstic<br />
Reitschule, Bern<br />
Fr., 28. und Sa., <strong>29</strong>.7.<br />
Batuk: Fr., 21 Uhr<br />
www.nbnn.ch<br />
Batuk aus Südafrika spielen verlangsamten House mit politischer Botschaft.<br />
Justice Machaba<br />
Es brodelt unaufhaltsam<br />
Im Zentrum des Kammerspiels «The Party» der Britin Sally<br />
Potter stehen vier unterschiedliche Paare und verhängnisvolle<br />
Ankündigungen. Die Tragikomödie läuft bei Quinnie.<br />
ebenfalls etwas zu verkünden, gerät<br />
alles aus den Fugen. Abgründe tun sich<br />
unaufhaltsam auf.<br />
ZVG<br />
Wie schlammig klingt die Aare? Vorort geht ihr auf den Grund.<br />
Das Meer bei Wohlen<br />
TICKETS<br />
Die Gastgeberin Janet (Kristin Scott<br />
Thomas) öffnet die Haustüre, mit zitternden<br />
Händen richtet sie den Lauf<br />
einer Pistole zur Kamera. Das Anfangsbild<br />
des Films «The Party» wirft<br />
sofort die Frage auf, wie um alles in der<br />
Welt sich die Frau in diese Situation<br />
manövriert hat.<br />
Um ihre Wahl zur Gesundheitsministerin<br />
zu feiern, lädt die linke Politikerin<br />
Janet drei befreundete Paare in<br />
ihr Londoner Stadthaus ein. Während<br />
sie sich – aus der Übung gekommen –<br />
als Köchin versucht, sitzt ihr Mann Bill<br />
(Timothy Spall) bereits vor der Ankunft<br />
der Gäste trinkend und träge im Wohnzimmer.<br />
Er wirkt frustriert und verlässt<br />
den Sessel höchstens, um die Schallplatten<br />
zu wechseln. Bald taucht<br />
Janets beste Freundin April (Patricia<br />
Clarkson) mit ihrem untersetzten<br />
Mann Gottfried (Bruno Ganz) auf. April<br />
vergöttert Janet, für die beiden Männer<br />
scheint sie aber nichts als Verachtung<br />
übrig zu haben. Der geschniegelte<br />
und nervöse Finanzhai Tom (Cillian<br />
Murphy) kreuzt ohne seine Frau auf,<br />
diese schaffe es wohl erst auf das Dessert.<br />
Martha (Cherry Jones) und ihre<br />
jüngere Ehefrau Jinny (Emily Mortimer)<br />
kommen dazu. Das lesbische Paar<br />
hat etwas zu verkünden: Sie erwarten<br />
Drillinge. Als sogleich Bill, der eine<br />
Professur in Yale aufgegeben hat, um<br />
seine Frau in der Politik zu unterstützen,<br />
das Wort ergreift und sagt, er habe<br />
Ungebremst<br />
«The Party» ist eine kurzatmige Komödie<br />
mit tragischer Wendung von<br />
Sally Potter («Orlando»), die fünf Jahre<br />
nach ihrem letzten Film «Ginger &<br />
Rose» in die Kinos kommt. Die emotional<br />
überbordende Geschichte, in der<br />
Idealismus und Wirklichkeit ungebremst<br />
aufeinanderprallen, wird in<br />
Echtzeit erzählt. Der Schwarz-Weiss-<br />
Film der britischen Regisseurin, die<br />
auch das Drehbuch geschrieben hat,<br />
begeistert durch scharfen Witz,<br />
schnelle Dialoge und eine herausragende<br />
Besetzung.<br />
<br />
Lula Pergoletti<br />
CineCamera, Bern<br />
14.15, 18.15 und 20.15 Uhr<br />
www.quinnie.ch<br />
Das Theaterkollektiv Vorort lässt sich von Orten zu seinen<br />
Stücken inspirieren. «Moby Dick im Wohlensee» hat Pyrokinetik<br />
und einen Wassercellisten an Bord.<br />
Dieses Mal schwimmt die Bühne. Nach<br />
Maestro Fellini ins alte Tramdepot<br />
Burgernziel hievt die Gruppe Vorort<br />
den berühmtesten Wal der Literatur in<br />
den Wohlensee. Mathis Künzler,<br />
Co-Leiter des Theaterkollektivs, inszeniert<br />
«Moby Dick im Wohlensee» nach<br />
dem Roman von Herman Melville.<br />
Das Publikum hört über Kopfhörer<br />
zu, was das Gefühl des Eintauchens verstärken<br />
dürfte. Schwimmende Elemente<br />
werden ebenso bespielt wie die Wohleibrücke.<br />
Für die Bühne verantwortlich ist<br />
Renato Grob, erfahren in Pyrokinetik bei<br />
grossen Freiluftkisten wie Karl’s kühne<br />
Gassenschau.<br />
Einer, der die Inszenierung auf dem<br />
Wasser immer wieder sucht, ist der Cellist<br />
Mich Gerber. Er hat neben Moritz<br />
Alfons und Moritz Steiner den Sound<br />
des Meeres bei Wohlen kreiert. Wer hätte<br />
geahnt, wie stürmisch, schlammig<br />
und rau das Antlitz der Aare sein kann.<br />
Céline Graf<br />
Wohleibrücke, Wohlensee<br />
Premiere: Di., 8.8., 19.<strong>30</strong> Uhr<br />
Vorstellungen bis 9.9.<br />
www.vorort.be<br />
Wir verlosen 2 × 2 Tickets für<br />
eine Vorstellung nach Wahl:<br />
tickets@bka.ch<br />
Filmcoopi<br />
Er betrinkt sich an «The Party» noch bevor die Gäste eintreffen: Timothy Spall als Bill.<br />
Pegelstand<br />
Kolumne<br />
von Manuel C. Widmer<br />
Irgendwo im Keller, zwischen ungebrauchter<br />
Werkbank, vergilbten Vorhangfetzen<br />
und defektem Kinderspielzeug<br />
verstauben sie ganz langsam: An<br />
die hundert CDs des Debütalbums, auf<br />
die man stolz war wie Bolle. Die erste eigene<br />
CD! Damit schien der Weg in die<br />
Hitparade, auf die grossen Bühnen und<br />
ins Bewusstsein des Feuilletons geebnet.<br />
Jetzt gammlen die Silberlinge – wie ihre<br />
Kollegen bei den anderen Bandmitgliedern<br />
– in einem Keller, auf einem Dachboden<br />
oder einer Garage vor sich hin.<br />
Die Stadt Bern fördert die Produktion<br />
von Tonträgern jedes Jahr mit weit<br />
über 100 000 Franken. Genaue Zahlen<br />
sind aus den Jahresberichten von<br />
«Statt Kleinbeiträge an<br />
CD-Produktionen im Giesskannenprinzip<br />
auszurichten,<br />
könnte die Stadt ein professionelles<br />
Studio einrichten.»<br />
«Kultur Stadt Bern» nur knapp abzulesen.<br />
Unter dem Titel «Musik» wird<br />
kaum differenziert, wofür ein Beitrag<br />
gesprochen wurde. Soweit nachvollziehbar,<br />
teilen aber jedes Jahr über 50<br />
«Tonträgerproduktionen» das Schicksal<br />
eingangs erwähnter Audiodatenträger.<br />
Wie damit das kulturelle Vorwärtskommen<br />
der bedachten Bands<br />
gesichert werden soll, ist unter der<br />
Staubschicht schwer erkennbar.<br />
Was will man als junge, hoffnungsvolle<br />
Combo mit 5000 CDs, die nach<br />
«Üben im Keller» klingen? Wichtiger<br />
wäre doch eine professionelle Aufnahme,<br />
die für alle Verwendungszwecke,<br />
zum Beispiel auch Streaming, verwendet<br />
werden kann sowie Hilfe bei der<br />
Distribution und Auftrittsmöglichkeiten<br />
vor Publikum.<br />
Statt Kleinbeiträge an CD-Produktionen<br />
im Giesskannenprinzip auszurichten,<br />
könnte die Stadt ein professionelles<br />
Studio einrichten und den<br />
Bands, inklusive Techniker, als Förderung<br />
zur Verfügung stellen. Damit hätten<br />
die Musiker ein Profi-Mastertape<br />
in der Hand, das sie bedürfnisorientiert<br />
verwenden können. Und die Stadt<br />
sollte eine (bestehende) Bühne zur<br />
Verfügung stellen, wo die Geförderten<br />
auch wirklich vor Publikum auftreten<br />
können. So würde aus dem Staubfänger<br />
«Tonträgerförderung» ein Staubaufwirbler.<br />
Manuel C. Widmer ist Primarlehrer,<br />
Stadtrat (GFL), als plattenleger mcw<br />
(Zweitklass-)DJ in diversen <strong>Berner</strong> Klubs<br />
und als YB-Fan auch an Fussballkultur<br />
interessiert. Er ist leidenschaftlicher<br />
Koch und Vorstand der IG Nachtleben.<br />
Illustration: Rodja Galli, a259