Infobrief_StRR_1_2017
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<strong>StRR</strong><br />
Straf Rechts Report<br />
Editorial<br />
Herausgeber:<br />
Detlef Burhoff<br />
Rechtsanwalt, Richter am OLG a.D., Münster/Augsburg<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />
liebe Leserinnen und Leser,<br />
mit der Übersendung der Januar-Ausgabe <strong>2017</strong> wünsche ich Ihnen zum Neuen Jahr<br />
zunächst noch einmal alles Gute. Möge es für alle ein erfolgreiches Jahr werden.<br />
Mit der vorliegenden Ausgabe starten wir dann das zweite <strong>StRR</strong>-Jahr im (neuen)<br />
Online-Format. Wir hoffen, dass Ihnen das erste Jahr gefallen hat. Wir meinen: Der<br />
eingeschlagene Weg ist gut, aber natürlich sind wir für Anregungen dankbar. Und:<br />
Ich freue mich über jede Entscheidung, die mir von einem Leser übersandt wird. Wir<br />
werden sie nach Möglichkeit veröffentlichen, schon um nicht immer nur den Mainstream<br />
zu bringen.<br />
Zur aktuellen Ausgabe: Im Praxisreport geht es in diesem Monat um Fragen in<br />
Zusammenhang mit der Unterbringung im Pflegeheim, und zwar um die Frage der<br />
Freiheitsberaubung durch Fixierung – sicherlich eine Frage, die mit fortschreitender<br />
Alterung der Bevölkerung an Bedeutung zunehmen wird.<br />
Im Rechtsprechungsreport habe ich in dieser Ausgabe einen revisionsrechtlichen<br />
Schwerpunkt gesetzt, wobei ich besonders auf die damit zusammenhängende<br />
Entscheidung des BGH zur Zulässigkeit der Besetzungsrüge hinweise (s. S. 11).<br />
Im materiellen Teil schließt die vorgestellte Entscheidung des OLG Rostock die<br />
Diskussion um den „Rabaukenjäger“ ab.<br />
Die Rubrik „Anwaltsvergütung“ wartet mit einem Bereich auf, der in der Praxis für<br />
manche Kollegen eher eine untergeordnete Rolle spielt, nämlich mit der Frage der<br />
Vergütung in Strafvollzugssachen. Da ist die richtige Bemessung des Streitwerts von<br />
entscheidender Bedeutung, wenn man kein Geld verschenken will.<br />
Zum Schluss: Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen!<br />
11. Jahrgang<br />
01<br />
JAN <strong>2017</strong><br />
Inhalt<br />
<strong>StRR</strong>-Kompakt.....................2<br />
Praxisforum<br />
Pflegende im Konflikt zwischen<br />
Aufsichtsverletzung und Freiheitsberaubung.......................4<br />
Rechtsprechungsreport<br />
Verfahrensrecht<br />
Auskunftserteilung durch Postunternehmen..........................9<br />
Zulässigkeit der Besetzungsrüge......................................10<br />
Formgerechte Unterzeichnung<br />
der Revisionsbegründung......13<br />
Bindungswirkung der Anfrage<br />
einer Sitzgruppe für eine andere<br />
Sitzgruppe des Senats?..........14<br />
StGB/Nebengebiete<br />
Ausübung eines öffentlichen<br />
Amtes...................................15<br />
Vermögensbetreuungspflicht<br />
des Vertragsarztes einer<br />
Krankenkasse........................16<br />
Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion;<br />
Wertgrenze...........18<br />
Pressefreiheit; Schmähkritik...19<br />
Haftrecht<br />
Persönlicher Besitz eines<br />
Gegenstandes im Maßregelvollzug/Strafvollzug...............20<br />
Anwaltsvergütung<br />
Streitwertbeschwerde in Strafvollzugssachen......................22<br />
Herzliche Grüße<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report<br />
01 | JAN <strong>2017</strong><br />
1
<strong>StRR</strong>-Kompakt<br />
Stichprobenartige Durchsuchung von Strafgefangenen: Abweichung<br />
im Einzelfall<br />
Die einen Strafgefangenen betreffende Durchsuchungsanordnung vor dem Gang zu<br />
einem Besuch verletzt das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Strafgefangenen,<br />
wenn sie keine Abweichungen im Einzelfall zulässt und daher dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />
nicht ausreichend Rechnung trägt (Art. 91 Abs. 2 Satz 1 BayStVollzG).<br />
BVerfG, Beschl. v. 8.12.2016 – 2 BvR 6/16<br />
Verfassungsrecht<br />
Einstellung des Verfahrens: erkennungsdienstliche Maßnahme<br />
Ist das Strafverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden, darf die Behörde<br />
ihre Prognose über die Notwendigkeit der Anordnung der erkennungsdienstlichen<br />
Maßnahmen nicht ungeprüft an die Beschuldigteneigenschaft knüpfen (§ 81b Alt. 1<br />
StPO).<br />
OVG Bautzen, Beschl. v. 18.10.2016 – 3 B 325/15<br />
Videovernehmung: Englisches Modell<br />
§ 247a Abs. 1 StPO gestattet die einzig zulässige Art und Weise der Videovernehmung<br />
eines Zeugen in der Hauptverhandlung (sog. Englisches Modell). Andere<br />
Formen der audiovisuellen Zeugenvernehmung, insbesondere solche, bei denen der<br />
Vorsitzende des Gerichts sich mit dem Zeugen außerhalb des Sitzungszimmers<br />
befindet und diesen dort befragt (sog. Mainzer Modell), sind nicht zulässig.<br />
BGH, Beschl. v. 20.9.2016 – 3 StR 84/16<br />
JGG-Verfahren: Anforderungen an die Urteilsbegründung<br />
§ 54 Abs. 1 JGG enthält eine gegenüber § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO erweiterte<br />
Begründungspflicht. Bei der Anwendung von Jugendstrafrecht hat sich der Tatrichter<br />
im Urteil mit der Biografie des Angeklagten auseinanderzusetzen, eine Bewertung<br />
der Tat im Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen des Angeklagten vorzunehmen<br />
und die Auswahl der hiernach als erforderlich angesehenen Rechtsfolge zu<br />
begründen, wobei die Anforderungen an die Begründung tendenziell mit der<br />
Eingriffsintensität der angeordneten Rechtsfolge ansteigen. Diese Darstellungserfordernisse<br />
gelten insbesondere auch dann, wenn die Voraussetzungen für eine Aussetzung<br />
der Verhängung einer Jugendstrafe gemäß § 27 JGG geprüft werden, und in<br />
gesteigertem Maße in Fallkonstellationen, in denen trotz Fehlens strafrechtlicher<br />
Vorbelastungen die Verhängung einer Jugendstrafe vorbehalten werden soll.<br />
OLG Celle, Beschl. v. 24.8.2016 – 2 Ss 94/16<br />
Maßregelvollzug: nächtliche Sichtkontrollen<br />
Bei nächtlichen Überprüfungen eines Untergebrachten in Form von nächtlichen<br />
Sichtkontrollen handelt es sich um an § 21 Abs. 1 MRVG NRW zu messende besondere<br />
Sicherungsmaßnahmen.<br />
OLG Hamm, Beschl. v. 24.11.2016 – 1 Vollz (Ws) 302/16<br />
Hauptverhandlung<br />
Rechtsmittelverfahren<br />
Vollzug<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
2
<strong>StRR</strong>-Kompakt<br />
Raub: Beisichführen eines gefährlichen Werkzeugs<br />
Das Beisichführen eines gefährlichen Werkzeugs im Sinne von § 250 Abs. 1 Nr. 1<br />
Buchst. a StGB erfordert nicht, dass der Tatbeteiligte es nach Eintritt in das Versuchsstadium<br />
in der Hand hält oder am Körper trägt. Ausreichend kann sein, wenn das<br />
Werkzeug sich in Griffweite des Beteiligten befindet oder er sich seiner jederzeit ohne<br />
nennenswerten Zeitaufwand bedienen kann. Dies allein genügt allerdings nicht:<br />
Findet der Beteiligte den Gegenstand lediglich am Tatort vor und lässt ihn unangetastet,<br />
liegt kein Beisichführen vor.<br />
BGH, Beschl. v. 5.10.2016 – 3 StR 328/16<br />
StGB – Besonderer Teil<br />
Pentedron: nicht geringe Menge<br />
Der Grenzwert der nicht geringen Menge liegt bei „Pentedron“ bei 18 g Pentedronhydrochlorid<br />
und entsprechend 15 g Pentedronbase.<br />
BGH, Beschl. v. 13.10.2016 – 1 StR 366/16<br />
Führungsaufsicht: Weisungsverstoß<br />
In Anbetracht des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG und der Tatsache,<br />
dass § 68b Abs. 2 StGB auch nicht strafbewehrte Weisungen ermöglicht, muss bei<br />
einer Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen § 145a StGB der Beschluss über die<br />
Führungsaufsicht jedenfalls insoweit auszugsweise in den Urteilsgründen wiedergegeben<br />
werden, wie dies eine Prüfung ermöglicht, ob hierin unmissverständlich<br />
klargestellt wurde, dass es sich bei den in Rede stehenden Weisungen um solche<br />
handelt, die gemäß § 68b Abs. 1 StGB strafbewehrt sind.<br />
OLG Braunschweig, Beschl. v. 21.11.2016 – 1 Ss 65/16<br />
Diebstahl: geringwertige Sache<br />
Die Grenze zur Geringwertigkeit einer Sache i.S.d. §§ 243 Abs. 2, 248a StGB liegt bei<br />
50,– EUR (Bestätigung von OLG Frankfurt NStZ-RR 2008, 311). Kann nicht ausgeschlossen<br />
werden, dass sich die Tat gemäß § 243 Abs. 2 StGB auf eine geringwertige<br />
Sache bezogen hat, so scheidet ein besonders schwerer Fall des Diebstahls i.S.v.<br />
§ 243 Abs. 1 StGB aus. Ein zugebilligter vertypter Strafmilderungsgrund kann – jedenfalls<br />
im Zusammenwirken mit den allgemeinen Strafmilderungsgründen – Anlass<br />
geben, trotz Vorliegen eines Regelbeispiels einen besonders schweren Fall zu<br />
verneinen. Die Darlegungen des Tatrichters müssen erkennen lassen, dass er sich<br />
dieser Möglichkeit bewusst ist.<br />
OLG Frankfurt, Beschl. v. 28.10.2016 – 1 Ss 80/16<br />
Verstoß gegen Weisungen: Urteilsfeststellungen<br />
Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des objektiven Tatbestandes des § 145a Satz<br />
1 StGB ist, dass die Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht rechtsfehlerfrei ist.<br />
Weisungen, die von vornherein unzulässig oder nicht hinreichend bestimmt sind oder<br />
an die Lebensführung des Verurteilten unzumutbare Anforderungen stellen (§ 68b<br />
Abs. 3 StGB), können die Strafbarkeit nach § 145a Satz 1 StGB hingegen nicht<br />
begründen. Um eine Überprüfung insoweit zu ermöglichen, muss der Beschluss über<br />
die Führungsaufsicht in einem wegen Verstoßes gegen § 145a StGB verurteilenden<br />
Urteil jedenfalls auszugsweise wiedergegeben werden.<br />
OLG Naumburg, Beschl. v. 2.12.2016 – 2 Rv 105/16<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
3
<strong>StRR</strong>-Kompakt<br />
PoliScan Speed: kein standardisiertes Messverfahren<br />
Wegen außerhalb der Verkehrsfehlergrenzen liegender Abweichungen bei der<br />
Messwertbildung stellt die Verwendung des Gerätes PoliScan Speed kein standardisiertes<br />
Messverfahren dar.<br />
AG Mannheim, Beschl. v. 29.11.2016 – 21 OWi 509 Js 35740/15<br />
Längenzuschlag: Mittagspause<br />
Bei der Ermittlung der für die Zusatzgebühr nach Nr. 4122 VV RVG maßgeblichen<br />
Dauer der Hauptverhandlung ist eine Mittagspause nicht in Abzug zu bringen.<br />
OLG Brandenburg, Beschl. v. 23.8.2016 – 2 Ws 76/16<br />
Ordnungswidrigkeiten<br />
Anwaltsvergütung<br />
Ersatz der Wahlverteidigergebühren: gleichzeitige Beiordnung eines<br />
Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung<br />
Erfolgt die erneute (zusätzliche) Beiordnung des zunächst entpflichteten Verteidigers,<br />
um die zeitnahe Durchführung der in einer eilbedürftigen Haftsache terminierten<br />
Hauptverhandlung trotz (teilweiser) Verhinderung des gewählten Verteidigers zu<br />
ermöglichen, hat der später Freigesprochene keinen Anspruch gegen die Staatskasse<br />
auf Erstattung der Wahlverteidigergebühren (§§ 464a Abs. 2 Nr. 2, 464b StPO; 91<br />
Abs. 2 S. 3 ZPO).<br />
OLG Rostock, Beschl. v. 8.11.2016 – 20 Ws 276/16<br />
Vergütungsvereinbarung: Mindesthonorar<br />
Die Vereinbarung eines Mindesthonorars in Höhe des 2-fachen der gesetzlichen<br />
Gebühren durch allgemeine Geschäftsbedingung ist zulässig. Sie stellt keine überraschende<br />
Klausel im Sinne des § 307c Abs. 1 BGB dar, und zwar auch dann nicht,<br />
wenn die Vergütungsvereinbarung zuerst ein Zeithonorar regelt und im Anschluss<br />
daran, aber noch unter der gleichen Gliederungsnummer, das Mindesthonorar.<br />
OLG München, Urt. v. 30.11.2016 – 15 U 1298/16 Rae<br />
Praxisforum<br />
Pflegende im Konflikt zwischen Aufsichtsverletzung und Freiheitsberaubung<br />
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht Juri Goldstein, Lehrbeauftragter an der<br />
University of Applied Sciences Jena, Fachgebiet: Recht für Pflegeberufe<br />
Bei der Vereinbarkeit einer Freiheitsberaubung gem. § 239 StGB und der Erteilung<br />
einer richterlichen Genehmigung wird die Schnittmenge von dem, welche Aspekte in<br />
medizinischer Hinsicht sinnvoll und notwendig sind, und dem, was juristisch eine<br />
Verletzung eines unserer höchsten Rechtsgüter aus Art. 2 Satz 2 GG rechtfertigt,<br />
sichtbar klein. Dennoch kocht das Thema der Fixierung unter der Oberfläche und in<br />
den Köpfen so mancher Menschenrechtler weiter. Nach der Freiburger Studie beläuft<br />
sich die Anzahl der freiheitsentziehenden Maßnahmen in deutschen Pflegeheimen<br />
auf 400.000 pro Tag. Die Anwendung und genaue Ausgestaltung der Fixierung<br />
bewegt sich trotz gesetzgeberischen Bemühungen immer noch in einer Grauzone,<br />
die das Betreuungspersonal überfordert und juristische Aufklärung notwendig macht.<br />
Im folgenden Aufsatz geht es um den Tatbestand freiheitsentziehende Maßnahmen<br />
(FeM), der eine scheinbar noch nicht abschließend geklärte Rechtslage bei Ärzten,<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
400.000 Maßnahmen pro Tag<br />
in Pflegeheimen<br />
4
Praxisforum<br />
Pflegern und Juristen erörtert. In diesem Artikel werden die Voraussetzungen der<br />
Rechtfertigung einer Freiheitsberaubung durch eine solche Maßnahme im Kontext<br />
der betreuungsgerichtlichen Genehmigung erläutert. Danach sollen Ausführungen<br />
zum Schadensersatz seitens der Pflegenden sowie der Angehörigen dabei helfen, sich<br />
selbst einen Standpunkt in der immer noch umstrittenen und in der Überarbeitung<br />
längst überfälligen Thematik zu schaffen. Vor allen Dingen soll im folgenden Artikel<br />
für Praktiker ein Überblick über Problemschwerpunkte der Fixierung in der Pflege<br />
geschaffen werden, um diesen in Zukunft entgegenzuwirken.<br />
I. Tatbestand der freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
Allein der Tatbestand der freiheitsentziehenden Maßnahme (FeM) ist umfangreicher,<br />
als oftmals angenommen wird. Häufig wird als fachterminologischer Begriff der<br />
Pflege auch „Fixierung“ verwendet. Eine Fixierung beschreibt eine FeM, die im<br />
Gegensatz zu der in den Grundrechten gewährleisteten Fortbewegungsfreiheit steht.<br />
Die Praxis unterscheidet die verschiedensten Arten von Fixierungen, und auch der<br />
Gesetzgeber differenziert in den Regelungen über die Genehmigung einer solchen in<br />
§ 1906 Abs. 4 BGB. Zu der geläufigsten Form zählt die direkte Fixierung in Form von<br />
mechanischen Maßnahmen, welche vom Anbringen einer Bettseitenstütze bis hin<br />
zum völligen Entzug der Bewegungsfreiheit durch Zwangsjacken oder ein spezielles<br />
„Fünf-Punkt-System“ reicht. Der Gebrauch von Fixierungssystemen fällt im Übrigen<br />
unter den Anwendungsbereich der Medizinproduktebetreiberverordnung. Der<br />
Gesetzgeber erfasst aber beispielsweise auch Fälle, in denen der Rollstuhl des<br />
Patienten festgestellt wird, ohne dass dieser ihn selbstständig lösen kann, sowie<br />
Fälle, in denen der Betroffene mittels Schutzdecken am Verlassen des Bettes gehindert<br />
wird. Des Weiteren stellt auch die räumliche Isolation eine solche Maßnahme<br />
dar. Ebenso kann es sich um freiheitsentziehende Maßnahmen handeln, wenn das<br />
Heimpersonal auf die Heimbewohner psychischen Druck ausübt durch Verbote,<br />
Drohungen und Einschüchterungen. Auch diese individuellen Einschränkungsmaßnahmen<br />
werden bei einer weiten und allgemeinen Wortlautauslegung der Norm („...<br />
oder in sonstiger Weise“) erfasst. Zusammenfassend ergibt sich folgende Definition:<br />
Freiheitsentziehende Maßnahmen sind alle Handlungen, die die körperliche Bewegungsfreiheit<br />
eines geistig fortbewegungsfähigen Menschen unter Zwang über eine<br />
gewisse Dauer allseitig verhindern.<br />
Begriff der Fixierung<br />
„Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)<br />
§ 1906 Genehmigung des Betreuungsgerichts bei der Unterbringung<br />
(1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung<br />
verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil<br />
1. aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung<br />
des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen<br />
Schaden zufügt, oder<br />
2. zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine<br />
Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher<br />
Eingriff notwendig ist, ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt<br />
werden kann und der Betreute aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen<br />
oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen<br />
oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.<br />
(2) Die Unterbringung ist nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig.<br />
Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub<br />
Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen. Der Betreuer<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
5
Praxisforum<br />
hat die Unterbringung zu beenden, wenn ihre Voraussetzungen wegfallen. Er hat die<br />
Beendigung der Unterbringung dem Betreuungsgericht anzuzeigen.<br />
(…)<br />
(4) Die Absätze 1 und 2 gelten entsprechend, wenn dem Betreuten, der sich in einer<br />
Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, ohne untergebracht zu<br />
sein, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über<br />
einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll.<br />
(…)“<br />
II. Rechtfertigung durch Betreuungsrecht<br />
Aus dem Blickwinkel eines Strafrechtlers mag diese Vorschrift auf den ersten Blick ein<br />
wenig fremdartig wirken, denn Strafrecht und Betreuungsrecht fallen in vielerlei<br />
Hinsicht weit auseinander. § 1906 Abs. 4 BGB stellt jedoch einen Rechtfertigungsgrund<br />
für die strafrechtlich relevante Freiheitsberaubung dar. § 1906 Abs. 4 BGB<br />
formuliert den Schutzgedanken freiheitsentziehender Maßnahmen aus den vorherigen<br />
Absätzen. Grundsätzlich ist eine solche Maßnahme stets nur zum Wohle des<br />
Betroffenen vorzunehmen, § 1906 Abs. 4 i.V.m. § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB. Dies zu<br />
beurteilen liegt in der Hand des Betreuungsgerichts, welches zusätzliche Gesichtspunkte<br />
in seine Entscheidung einbeziehen muss. Das Betreuungsgericht urteilt jedoch<br />
nur über die grundsätzliche Genehmigung einer FeM. Im Hinblick auf die weiteren<br />
Voraussetzungen der Regelmäßigkeit oder Dauerhaftigkeit finden häufig keine<br />
Konkretisierungen statt. Zu beachten ist, dass diese Vorschrift allein in Einrichtungen<br />
wie psychiatrischen Krankenhäusern, Altenpflegeheimen oder sonstigen Krankenhäusern<br />
Anwendung findet, nicht jedoch im Bereich der familiären häuslichen Pflege. Nur<br />
an betreuten Heimbewohnern können freiheitsentziehende Maßnahmen nach § 1906<br />
Abs. 4 BGB legitimiert werden. Allerdings verneinte die Rechtsprechung in einem<br />
aufsehenerregenden Fall die Strafbarkeit einer Frau, die ihre pflegebedürftige<br />
Stiefmutter aufgrund psychischer Wahnvorstellungen mehrere Stunden über Tage und<br />
Jahre hinweg in einem Raum einsperrte. Zunächst ging der BGH unstrittig von der<br />
Verwirklichung einer gemeinschaftlichen schweren Freiheitsberaubung nach § 239<br />
Abs. 2 StGB aus. Im Ergebnis hat das Gericht eine Rechtfertigung bejaht (vgl. BGHSt<br />
13, 197).<br />
Ferner werden von § 1906 Abs. 4 BGB nur solche freiheitsentziehenden Maßnahmen<br />
erfasst, welche sich über einen längeren Zeitraum erstrecken oder eine gewisse<br />
Regelmäßigkeit aufweisen. Was darunter zu verstehen ist, wirft momentan in<br />
Rechtsprechung und Literatur nur einige Fragen auf. Eine Ansicht zieht als Maßstab<br />
den Grundsatz des § 128 StPO heran. Danach liegt ein solcher Zeitraum vor, wenn<br />
die Maßnahme nicht spätestens am nächsten Tag wieder beendet wird. Danach ist<br />
sogar denkbar, dass ein längerer Zeitraum erst nach 48 Stunden einschlägig ist.<br />
Weitere Ansichten vertreten einen noch weiter gefassten Zeitrahmen. Nach der<br />
einschlägigen Literatur und Rechtsprechung beläuft sich dieser teilweise auf drei<br />
Tage, noch darüber hinausgehend in Anlehnung an § 239 Abs. 3 Nr. 1 StGB auf<br />
mindestens eine Woche. Beachtlich scheint, dass angesichts dieser Auslegung für<br />
einen „längeren Zeitraum“ im Sinne des § 1906 Abs. 4 BGB nicht ausreichend ist,<br />
dass ein Betroffener über mehrere Stunden hinweg der wohl intensivsten FeM<br />
ausgesetzt ist, einer sogenannten 5-Punkt-Fixierung des ganzen Körpers mit Gurten<br />
an Händen, Füßen, Bauch und Brust. § 1906 Abs. 4 stellt somit einen strafrechtlichen<br />
Rechtfertigungsgrund dar, wonach die Strafbarkeit des Betreuers nach Einholung<br />
einer Genehmigung entfällt.<br />
Rechtfertigungsgrund<br />
Anwendungsbereich des<br />
§ 1906 Abs. 4 BGB<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
6
Praxisforum<br />
Ein rechtmissbräuchliches Handeln des Betreuers schlägt sich indes nicht zwangsläufig<br />
auf das Pflegepersonal nieder. Die Einwilligung des Betreuers in freiheitsentziehende<br />
Maßnahmen am Betreuten kann das Pflegepersonal weiterhin legitimieren.<br />
Dies folgt vor allen Dingen aus der Schutzwürdigkeit des Pflegepersonals, das im<br />
Sinne seiner Aufgabenerfüllung handelt und nicht jede Weisung kritisch hinterfragen<br />
muss. Das Außenverhältnis – in Abgrenzung zum Innenverhältnis der Vertretungsmacht<br />
– zwischen Pflegepersonal und Betreutem einerseits und dem Betreuer und<br />
Betreutem andererseits bleibt davon in der Regel unberührt. Zweifelt das Pflegepersonal<br />
die Vollmacht hingegen an oder bemerkt eklatante Missstände, die einem<br />
verständigen objektiven Dritten sofort ins Auge fallen würden, verliert es damit seine<br />
Schutzwürdigkeit. Es bleibt also festzuhalten, dass zunächst Mängel einer fehlerhaften<br />
Zustimmung, also im Innenverhältnis zwischen Betreuer und Betreutem, ohne<br />
Auswirkungen bleiben. Diese setzen sich im Außenverhältnis fort und durchbrechen<br />
die Vertretungsmacht des Betreuers einzelfallabhängig von der Kenntnis des Mangels<br />
oder einem offensichtlichen Missverhältnis. Das Pflegepersonal sei gewarnt, denn mit<br />
dem Enden der Vertretungsmacht des Betreuers enden die Möglichkeit der Rechtfertigung<br />
einer Freiheitsberaubung und auch der Verstoß gegen die mit der FeM einhergehenden<br />
Pflichten wie in etwa die Dokumentation über die Ausgestaltung der FeM.<br />
Dies kann rechtlich relevante Folgen nach sich ziehen.<br />
III. Sturzprophylaxe – zur Verpflichtung der Pflegeeinrichtung, einen Patienten zu<br />
fixieren<br />
Vor allen Dingen die Angst vor haftungsrechtlichen Konsequenzen führt in vielen<br />
Pflegeeinrichtungen zu übermäßiger Fixierung. Patienten mit somatischen Störungen<br />
oder im halbnarkotisierten Zustand stehen unter extrem hoher Sturzgefahr. Daraus<br />
resultieren Schäden, die Gegenstand zahlreicher haftungsrechtlicher Fallgestaltungen<br />
sind. Meist dreht sich alles um die Frage, ob die Pflegeeinrichtung eine Fixierung des<br />
Patienten als Sturzprophylaxe in der Form von FeM hätte vorsehen müssen. Die<br />
Spruchpraxis hat sich dahingehend seit mehreren Jahren in eine einheitliche Richtung<br />
weiterentwickelt.<br />
In den Leitsätzen des OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.7.2010 (I 24 U 16/10) wurde u.a.<br />
bestätigt, dass bei einem Sturzfall, sofern dieser im üblichen alltäglichen Gefahrenbereich<br />
einer Pflegeeinrichtung geschieht, der Geschädigte den vollen Beweis zu führen<br />
hat, dass der Träger der Pflegeeinrichtung Obhutspflichten verletzt hat. Zur Vermeidung<br />
eines Sturzes sei der Patient weder ständig zu fixieren noch ununterbrochen zu<br />
überwachen, es sei denn, im Einzelfall erforderten konkrete Hinweise auf eine<br />
Sturzgefahr eine entsprechende Maßnahme. Hier ist bereits ein Anfang zu sehen, das<br />
Pflegepersonal durch die Beweislast auf der Gegnerseite zu unterstützen und damit<br />
letztendlich auch dem Patienten als mittelbare Folge gerecht zu werden. Im konkreten<br />
Fall hatte übrigens die Krankenkasse des Patienten, der in einer Pflegeeinrichtung<br />
gestürzt war, wegen aus § 116 Abs. 1 SGB X übergegangenem Schadensersatzanspruch<br />
vor dem LG Mönchengladbach erfolglos geklagt. Zur Begründung der<br />
zurückgewiesenen Klage führt das OLG Düsseldorf an, dass der Pflegeeinrichtung<br />
zunächst aus deliktischer Pflicht zur Verkehrssicherung Obhutspflichten zum Schutz<br />
des Patienten erwachsen sowie ferner auch aus dem Krankenhausaufnahmevertrag.<br />
Allerdings müssen in einer Gesamtbetrachtung die finanziellen und personellen<br />
Aufwände sowie die Realisierbarkeit solcher Maßnahmen gegeneinander abgewogen<br />
werden. Die Leistungen, die eine Pflegeeinrichtung erbringen muss, richteten sich<br />
nach dem jeweils anerkannten Stand der medizinisch-pflegerischen Erkenntnis.<br />
Zusammenfassend kann man sagen: Wenn sich der Patient zum Sturzzeitpunkt in<br />
einer konkreten – eine besondere Sicherungspflicht der Pflegeeinrichtung auslösen-<br />
Rechtsmissbräuchliches<br />
Handeln des Betreuers<br />
Fixierung als Sturzprophylaxe?<br />
OLG Düsseldorf<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
7
Praxisforum<br />
den – Gefahrenlage befunden hat, hat die Pflegeeinrichtung darzulegen und zu<br />
beweisen, dass der Unfall nicht auf einem pflichtwidrigen Verhalten der Ärzte oder<br />
des Pflegepersonals beruhte. Realisiert sich im Unfall nur das übliche und alltägliche<br />
Gefährdungsrisiko – welches grundsätzlich in der eigenverantwortlichen Risikosphäre<br />
des Geschädigten verbleibt –, muss der Geschädigte nachweisen, dass der Träger der<br />
Pflegeeinrichtung seine Obhutspflichten verletzt hat und dass der eingetretene<br />
Schaden auf dieser Pflichtverletzung beruht.<br />
Das OLG Schleswig setzt die Voraussetzung einer Haftung für eine unterlassene<br />
Fixierung in einer Entscheidung sehr hoch an (vgl. Urt. v. 17.12.2003 – 9 U 120/02).<br />
Es spricht dem Geschädigten nur dann Schadensersatz zu, wenn die unterlassene<br />
Fixierung unvertretbar war. Auch der BGH schließt sich dem an und führt aus: „Die<br />
Pflichten sind begrenzt auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen, die mit einem<br />
vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind. Maßstab<br />
müssen das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal<br />
Zumutbare sein. Dabei ist insbesondere auch zu beachten, dass die Würde sowie die<br />
Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und<br />
die Selbstständigkeit und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und zu<br />
fördern ist.“<br />
IV. Fazit<br />
Abschließend zeigt sich, dass die „freiheitsentziehende Maßnahme“ eine Vielzahl an<br />
Fortbewegungseinschränkungen umfasst, die auf unterschiedliche Art den Weg in<br />
deutsche Pflegeinrichtungen finden. Die Probleme, die diesen Themenbereich<br />
betreffen, sind aber nicht nur ethischer Natur. Viel mehr noch geht es um die<br />
richtige Ausgestaltung und das komplexe Zusammenwirken von unterschiedlichen<br />
Institutionen, die davon betroffen sind. Darunter fallen vor allen Dingen Schwerpunkte<br />
wie die medizinische Erforderlichkeit, wirtschaftliche Möglichkeiten der Förderung<br />
und Entlastung von Pflegediensten und natürlich eine klare und transparente<br />
Ausgestaltung durch Juristen. Der freiheitsentziehenden Maßnahme an einem<br />
Menschen kann von Natur aus keine gänzlich objektiv einschätzbare Diagnose<br />
vorausgehen. Umso mehr ist eine Abwägung jedes Einzelfalls unter besonderer<br />
Betrachtung aller Umstände erforderlich. Für Praktiker – sowohl Juristen als auch<br />
Pflegepersonal und Betreuer – ist die unübersichtliche Ausgestaltung der spezifischen<br />
Tatbestände von Arten der Fixierung bis hin zu der Definition der Dauerhaftigkeit und<br />
Regelmäßigkeit einer der größten Gründe für Spannungen. Gerade das Gebot der<br />
Rechtssicherheit sollte hier als Grundlage für ein Überdenken dieser schon seit Jahren<br />
existierenden Grauzone herangezogen werden. Mithin muss den Betreuern deutlich<br />
gemacht werden, dass eine richterliche Genehmigung noch lange keine Pflicht für<br />
diese Maßnahme statuiert. Vielmehr sollten sich Pflegepersonal und Juristen die<br />
freiheitsentziehende Maßnahme wieder als ultimo ratio des Grundrechtseingriffs vor<br />
Auge führen, anstatt als wirtschaftlich kostengünstigere und routinemäßige Ruhigstellung<br />
eines Menschen. Hilfe sollte beim Schwächsten beginnen. Und wer könnte<br />
dem gerechter werden als ein Richter, der die Betreuer zwingt, sich über die zahlreichen<br />
bereits angewandten und mit Erfolg getesteten Alternativen zur FeM zu<br />
informieren und diese als „Erstmaßnahmen“ vor der letztmöglichen – der FeM<br />
– anzuwenden. Vor allen Dingen aber herrscht bei den Angestellten der Pflege- und<br />
Krankeneinrichtungen rechtlicher Aufklärungsbedarf sowohl präventiv als auch im<br />
Falle von den ihrerseits so gefürchteten haftungsrechtlichen Klagen. Auch Anwälte,<br />
die sich in dieser Grauzone positionieren und für Betroffene und ihre Angehörigen<br />
vor Gericht stark machen oder es sich zur Aufgabe machen, den Dienst der Pflege<br />
und der psychiatrischen Einrichtungen aufzuklären, gerichtlich zu unterstützen und<br />
OLG Schleswig<br />
Zusammenfassung<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
8
Praxisforum<br />
über die Möglichkeiten umfassend aufzuklären, müssen hier stärker für eine Änderung<br />
plädieren. Für die Strafverteidiger in diesem Bereich bleibt es eine unerlässliche<br />
Notwendigkeit, sich in Facetten des Zivilrechts auszukennen, um nicht nur mit den<br />
Möglichkeiten, die die StPO und das StGB uns hier zur Verfügung stellen, sondern<br />
auch mit den für die Strafrichter eher unbequemen Regelungen des Zivilrechts für den<br />
Mandanten punkten zu können. In dieser zivilrechtlich angehauchten Problematik<br />
spielt die Musik meist in den durch das Zivilrecht beherrschten Regelungen und<br />
Sichtweisen. Unterschätzt der Strafverteidiger diese Spielfelder, begibt er sich in freie<br />
Gewässer der für den Strafrichter zu beherrschenden Thematik und überlässt das<br />
Endergebnis eher dem Zufall der Rechtsprechungskenntnisse der Staatsanwaltschaft<br />
und weiterer Spieler auf dem Strafverteidigerspielfeld.<br />
Rechtsprechungsreport<br />
Verfahrensrecht<br />
Auskunftserteilung durch Postunternehmen<br />
Postunternehmen können betreffend sich nicht mehr in deren Gewahrsam<br />
befindliche Postsendungen weder gemäß § 99 StPO noch gemäß § 94 StPO<br />
zur Auskunft verpflichtet werden. (Leitsatz des Gerichts)<br />
BGH, Beschl. v. 27.10.2016 – 1 BGs 107/16<br />
I. Sachverhalt<br />
In einem Verfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zu einer schweren staatsgefährdenden<br />
Gewalttat gemäß § 89a i.V.m. § 27 StGB hat der GBA beantragt, gemäß<br />
§§ 99, 100 Abs. 1, § 162 Abs. 1 Satz 1, § 169 Abs. 1 Satz 2 StPO dem Paketzustelldienst<br />
pp. aufzugeben, für einen bestimmten Zeitraum über sämtliche Lieferungen<br />
Auskunft zu erteilen, die u.a. an den Beschuldigten gerichtet waren. Die Auskunft<br />
sollte sich insbesondere auf die Namen und Anschriften der Absender, Hinweise auf<br />
den Inhalt der Lieferung(en), den Sendungsverlauf sowie alle Unterlagen, die<br />
Aufschluss über die Person(en) geben, die die Lieferung(en) in Empfang genommen<br />
hat/haben, beziehen. Die Auskunftserteilung sollte ferner die Herausgabe von<br />
Unterlagen, insbesondere unterschriebenen Quittungen – auch in elektronischer<br />
Form –, die eine Identifizierung des tatsächlichen Empfängers ermöglichen, umfassen.<br />
Der Ermittlungsrichter des BGH hat diesen Antrag abgelehnt.<br />
II. Entscheidung<br />
Nach Auffassung des Ermittlungsrichters sieht die StPO keine Eingriffsnorm für die<br />
Anordnung der begehrten Auskunftserteilung vor. Im Hinblick auf das Postgeheimnis<br />
aus Art. 10 Abs. 1 GG, § 39 PostG komme als einzig denkbare Rechtsgrundlage § 99<br />
StPO in Betracht. Nach allgemeiner Meinung enthalte die Vorschrift des § 99 StPO als<br />
weniger einschneidende Maßnahme zur (Post-)Beschlagnahme einen Auskunftsanspruch<br />
gegen das Postunternehmen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 99<br />
Rn 14; Greven, in: KK-StPO, 7. Aufl., § 99 Rn 11). Das Auskunftsverlangen sei jedoch<br />
nur dann von § 99 StPO gedeckt, wenn zum Zeitpunkt des Auskunftsersuchens die<br />
Voraussetzungen des § 99 StPO erfüllt seien, sich mithin die Postsendung noch im<br />
Gewahrsam des Postunternehmens befinde. Dies sei vorliegend nicht der Fall.<br />
Eine Absage erteilt der Ermittlungsrichter der im Beschluss des Ermittlungsrichters<br />
des BGH vom 11.7.2012 – 3 BGs 211/12 – und teilweise in der Literatur (KK/Greven,<br />
Antrag auf Auskunft durch<br />
einen Paketzustelldienst<br />
Keine Eingriffsnorm<br />
Keine entsprechende Anwendung<br />
von § 99 StPO<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
9
Rechtsprechungsreport<br />
§ 99 Rn 11; BeckOK StPO/Graf, Stand: 1.7.2016, § 99 Rn 16) vertretenen Auffassung,<br />
dass in entsprechender Anwendung § 99 StPO auch auf solche Postsendungen<br />
bezogen werden könne, die sich nicht mehr im Gewahrsam der Stelle befinden.<br />
Vielmehr sei § 99 StPO für die Verpflichtung zur Auskunftserteilung keine taugliche<br />
Eingriffsgrundlage, wenn sich die Postsendung nicht mehr im Gewahrsam des<br />
Postunternehmens befinde (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, a.a.O.; LG Hamburg<br />
StV 2009, 404; LG Landshut, Beschl. v. 21.5.2012 – 6 Qs 82/12). Die Zulässigkeit der<br />
Auskunftserteilung über Umstände, die dem verfassungs- und einfachrechtlich<br />
geschützten Postgeheimnis unterliegen, sei gesetzlich nicht explizit geregelt. Im<br />
Gesetzgebungsverfahren zu § 39 PostG sei diese Problematik gesehen und ausführlich<br />
diskutiert worden. Der Bundesrat hatte insoweit angeregt, mit Blick auf § 39<br />
PostG ein Auskunftsrecht ausdrücklich gesetzlich zu regeln. Dem sei die Bundesregierung<br />
mit dem Hinweis entgegengetreten, nach h.M. sei in der Beschlagnahmebefugnis<br />
das geringere Recht enthalten, von einem Postunternehmen Auskunft zu verlangen,<br />
so dass weiterer Gesetzgebungsbedarf nicht bestehe (vgl. BT-Drucks 13/8453,<br />
S. 4, 12; Menges, in: LR, 26. Aufl., § 99 Rn 29). Der Gesetzgeber habe sich damit<br />
bewusst dafür entschieden, einen über § 99 StPO hinausgehenden Auskunftsanspruch<br />
nicht zu regeln. Bereits aus diesem Grund verbiete sich eine über den originären<br />
Anwendungsbereich des § 99 StPO hinausgehende analoge Anwendung der<br />
Norm auf Auskünfte betreffend Postsendungen, die sich nicht mehr im Gewahrsam<br />
des Postunternehmens befinden. Eine analoge eingriffserweiternde Anwendung sei<br />
ferner aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zulässig, denn der Schutz des<br />
Grundrechts aus Art. 10 Abs. 1 GG erstreckt sich auf die Aspekte, ob, wann und<br />
warum zwischen mehreren Beteiligten unter welchen Umständen eine Korrespondenz<br />
stattgefunden habe. Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, nicht der Rechtsprechung,<br />
eine Gesetzeslücke zu schließen.<br />
III. Bedeutung für die Praxis<br />
Die Entscheidung entspricht der vom BGH zutreffend angeführten überwiegenden<br />
Meinung in Rechtsprechung und Literatur. Es ist im Übrigen auch ein Rückgriff auf<br />
die allgemeinen Vorschriften zur Beschlagnahme gemäß §§ 94 ff. StPO ausgeschlossen.<br />
Dem stehen verfassungsrechtliche Gründe und der Vorrang des § 99 StPO<br />
entgegen (so auch BGH, a.a.O., anders aber LG Landshut, a.a.O.).<br />
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg<br />
Kein Rückgriff auf die allgemeinen<br />
Beschlagnahmevorschriften<br />
Zulässigkeit der Besetzungsrüge<br />
Soweit die falsche Zusammensetzung der Richterbank gerügt wird, setzt<br />
der vollständige Vortrag nicht nur die namentliche Bezeichnung des Richters,<br />
der in der Sache nicht hätte mitwirken dürfen, voraus, sondern auch<br />
die Angabe des Richters, der – bei ordnungsgemäßer Zusammensetzung<br />
des Spruchkörpers – zur Entscheidung berufen war. (Leitsatz des Verfassers)<br />
BGH, Urt. v. 7.9.2016 – 1 StR 422/15<br />
I. Sachverhalt<br />
Das LG hatte den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs<br />
Monaten verurteilt. Hiergegen wandte dieser sich mit seiner u.a. auf die Verletzung<br />
formellen Rechts gestützten Revision. Das vom GBA vertretene Rechtsmittel hatte<br />
keinen Erfolg. Mit einer Verfahrensrüge hatte der Angeklagte geltend gemacht, der<br />
absolute Revisionsgrund des § 338 Abs. 1 StPO liege vor, weil anstelle der RiinLG C<br />
Rüge der Verletzung des § 338<br />
Nr. 1 StPO<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
10
Rechtsprechungsreport<br />
vorrangig Riin A oder RiLG B als Vertreter zur Mitwirkung an der Hauptverhandlung<br />
berufen gewesen wären. Die Rüge blieb ohne Erfolg.<br />
Der Beanstandung lag folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Nachdem ein<br />
reguläres Mitglied der erkennenden Strafkammer kraft Gesetzes von der Ausübung<br />
des Richteramts ausgeschlossen war, wäre nach den Bestimmungen des Geschäftsverteilungsplans<br />
eigentlich Riin A zur Vertretung berufen gewesen. Der Präsident des<br />
LG stellt indes in einem Vermerk deren Verhinderung fest, da A angesichts ihrer<br />
geringen beruflichen Erfahrung im Strafrecht und des unmittelbar bevorstehenden<br />
Beginns der Hauptverhandlung nicht (mehr) in der Lage sei, sich (noch) sachgemäß<br />
auf das Verfahren vorzubereiten. Ebenso sei RiLG B verhindert, da ihm Erholungsurlaub<br />
gewährt worden und auch ohne Widerruf des Urlaubs die Weiterbetreibung des<br />
Verfahrens unter Wahrung des Beschleunigungsgrundsatzes gesichert sei. Als<br />
Vertreterin nahm dann RiinLG C an der Hauptverhandlung teil, was den Verfahrensbeteiligten<br />
gemäß § 222a StPO rechtzeitig mitgeteilt worden war. Noch vor der<br />
Vernehmung des Angeklagten zur Sache rügte der Verteidiger die Besetzung des<br />
Gerichts. Er begründete dies unter Bezugnahme auf den Vermerk des Präsidenten des<br />
LG; die Annahme, Riin A sei aufgrund ihrer fehlenden strafrechtlichen Kenntnisse<br />
nicht in der Lage, sich einzuarbeiten, sei unzutreffend. Die festgestellte Verhinderung<br />
von RiLG B bezeichnete er in dem Einwand als „fraglich“. Die Strafkammer wies noch<br />
am selben Tag den Besetzungseinwand als unbegründet zurück und nahm dabei<br />
Bezug auf den Vermerk des Präsidenten.<br />
II. Entscheidung<br />
Die Besetzungsrüge (§ 338 Nr. 1 StPO) hatte keinen Erfolg; sie sei – so der BGH<br />
– präkludiert. Denn der vor der erkennenden Strafkammer geltend gemachte<br />
Besetzungseinwand habe nicht der in § 222b Abs. 1 StPO vorgeschriebenen Form<br />
entsprochen und sei damit unzulässig. Die Zulässigkeit der Besetzungsrüge setze<br />
voraus (§ 338 Nr. 1 lit. b StPO), dass der Besetzungseinwand bereits in der Hauptverhandlung<br />
vor dem LG „rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend<br />
gemacht“ worden sei. Die Vorschrift des § 338 Nr. 1 lit. b StPO nehme damit Bezug<br />
auf § 222b Abs. 1 S. 2 StPO, der bestimme, dass die Tatsachen, aus denen sich die<br />
vorschriftswidrige Besetzung ergeben soll, anzugeben seien. Mit den durch das<br />
StVÄG 1979 eingeführten Rügepräklusionsvorschriften der § 338 Nr. 1, § 222b<br />
Abs. 1 StPO habe der Gesetzgeber erreichen wollen, dass Besetzungsfehler bereits in<br />
einem frühen Verfahrensstadium erkannt und geheilt würden, um zu vermeiden, dass<br />
ein möglicherweise mit großem justiziellen Aufwand zustande gekommenes Strafurteil<br />
allein wegen eines Besetzungsfehlers aufgehoben und in der Folge die gesamte<br />
Hauptverhandlung – mit erheblichen Mehrbelastungen sowohl für die Strafjustiz als<br />
auch für den Angeklagten – wiederholt werden muss (BT-Drucks 8/976, S. 24 ff.;<br />
BGH NStZ 2007, 536). Deshalb müssten alle Beanstandungen gleichzeitig geltend<br />
gemacht werden (§ 222b Abs. 1 S. 3 StPO). Ein Nachschieben von Gründen sei nicht<br />
statthaft. Mit Blick auf den Normzweck würden hohe Anforderungen an den Inhalt<br />
des Besetzungseinwands gestellt. Die Begründungsanforderungen an den Besetzungseinwand<br />
entsprächen dabei nach den Vorstellungen des Gesetzgebers weitgehend<br />
den Rügeanforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO, wie schon die insoweit<br />
wortgleiche Formulierung zeige (vgl. BGH NStZ-RR 2016, 12, vgl. auch Arnoldi, in:<br />
MüKo-StPO, § 222b Rn 13) Es müssten ebenso wie bei der Verfahrensrüge der Revision<br />
(§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) alle Tatsachen angeführt werden, aus denen sich die<br />
Fehlerhaftigkeit der Zusammensetzung des Gerichts ergebe. Diesen inhaltlichen<br />
Anforderungen des § 222b Abs. 1 StPO genüge der erhobene Besetzungseinwand<br />
nicht. Der Senat hat dabei ausdrücklich offen gelassen, ob beim Besetzungseinwand<br />
Verfahrensgeschehen<br />
Besetzungsrüge nicht formgerecht<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
11
Rechtsprechungsreport<br />
nach § 222b Abs. 1 S. 2 StPO, anders als bei § 344 Abs. 2 S. 2 StPO, im Rahmen der<br />
Angabe der Tatsachen, aus denen sich die vorschriftswidrige Besetzung des Gerichts<br />
ergeben soll, Bezugnahmen auf Unterlagen bei den Strafakten des Gerichts, das über<br />
den Besetzungseinwand zu entscheiden hat, zulässig sind (vgl. BGHSt 44, 161, 163).<br />
Mit der Besetzungsrüge habe der Angeklagte vor allem geltend gemacht, Riin A sei<br />
gesetzwidrig als verhindert erklärt worden. Darüber hinaus würde aber auch in<br />
Zweifel gezogen, dass RiLG B zu Recht als verhindert erklärt worden sei. Die behauptete<br />
rechtsfehlerhaft angenommene Verhinderung von Riin A würde jedoch nur dann<br />
zu einer „vorschriftswidrigen Besetzung“ des Gerichts führen, wenn diese gesetzliche<br />
Richterin gewesen wäre. Das habe der Angeklagte aber nicht ausreichend dargelegt.<br />
Es würden nämlich auch Zweifel an der Gesetzmäßigkeit der Verhinderung von RiLG<br />
B geltend gemacht. Der Besetzungsrüge sei nicht zu entnehmen, ob A oder B anstelle<br />
welches tatsächlich an der Entscheidung mitwirkenden berufsrichterlichen Mitglieds<br />
der Strafkammer vorschriftswidrig hätte teilnehmen müssen. Dieser Klarstellung hätte<br />
es wegen § 222b Abs. 1 S. 2, 3 StPO aber bedurft.<br />
III. Bedeutung für die Praxis<br />
Die Besetzungsrüge erscheint im Anschluss an einige jüngere höchstrichterliche<br />
Entscheidungen eine gewisse Renaissance zu erleben (vgl. etwa BGHSt 53, 268; BGH<br />
NJW 2015, 2597; NStZ 2016, 562; siehe zudem die weiteren Nachweise bei Schmitz,<br />
StraFo 2016, 397).<br />
1. Zu Recht weist der BGH in der vorliegenden Entscheidung aber darauf hin, dass im<br />
Anwendungsbereich der §§ 222a, 222b StPO hohe Anforderungen an den Inhalt des<br />
Besetzungseinwands gestellt werden. Insoweit gelten – nach dem BGH jedenfalls<br />
weitgehend – dieselben Voraussetzungen wie bei § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Dies folgt<br />
zum einen aus dem dieser Norm nachempfundenen Wortlaut des § 222b Abs. 1 S. 2<br />
StPO und zum anderen aus dem vom BGH dargestellten Sinn und Zweck. Soweit die<br />
falsche Zusammensetzung der Richterbank gerügt wird, setzt der vollständige<br />
Vortrag nicht nur die namentliche Bezeichnung des dort zu Unrecht sitzenden<br />
Richters voraus, sondern nach h.M. auch die Angabe des Richters, der – bei ordnungsgemäßer<br />
Zusammensetzung des Spruchkörpers – zu einer Mitwirkung berufen<br />
war. Dieses Erfordernis ist in Rechtsprechung und Literatur schon wiederholt hervorgehoben<br />
worden (vgl. BGHSt 39, 138 [139]; BGH GA 1983, 180; NJW 1991, 50 [51];<br />
Franke, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 338 Rn 134; Meyer-Goßner/Schmitt,<br />
StPO, 59. Aufl., § 338 Rn 21; offen gelassen von BGH NJW 2002, 2963; a.A.<br />
Gericke, in: KK, 7. Aufl., § 344 Rn 44). Diesen Anforderungen wurde der hier<br />
erhobene Besetzungseinwand nicht gerecht. Denn danach blieb offen, ob A, B oder<br />
ein anderer Richter anstelle der C an der Hauptverhandlung hätte mitwirken müssen.<br />
2. Entscheidungserheblich war danach nicht mehr, ob bei dem Besetzungseinwand<br />
anstelle eigenen Tatsachenvortrags – wie hier geschehen – eine Bezugnahme auf<br />
andere Schriftstücke ausreichend sein kann. Der BGH meldet insoweit aber „erhebliche<br />
Zweifel“ an; meines Erachtens zu Recht. Hierauf deutet wiederum der nahezu<br />
identische Wortlaut von § 222b Abs. 1 S. 2 („Die Tatsachen, aus denen sich die<br />
vorschriftwidrige Besetzung ergeben soll, sind dabei anzugeben“) und § 344 Abs. 2<br />
S. 2 StPO („müssen die den Mangel enthaltenden Tatsachen angegeben werden“)<br />
hin. Im Anwendungsbereich letztgenannter Norm ist eine Bezugnahme jedoch<br />
unstreitig ausgeschlossen (vgl. nur Gericke, in: KK a.a.O. Rn 39). Auch Sinn und<br />
Zweck der §§ 222a, b StPO sprechen dafür. Denn danach stellt der Besetzungseinwand<br />
nichts anderes als eine in die Hauptverhandlung vorverlagerte Besetzungsrüge<br />
im Sinne des § 338 Nr. 1 StPO dar. Es wäre indes nicht einsichtig, den Umfang des<br />
erforderlichen Vortrags für eine Verfahrensrüge vom Zeitpunkt ihrer Erhebung<br />
Hohe Anforderungen an den<br />
Inhalt der Rüge<br />
Bezugnahme auf andere<br />
Schriftstücke?<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
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Rechtsprechungsreport<br />
abhängig zu machen (so im Ergebnis auch Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche<br />
Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 795). Der Verteidiger ist daher gut beraten,<br />
schon den Besetzungseinwand umfassend und aus sich heraus verständlich zu<br />
erheben (vgl. dazu umfassend Burhoff, HV, Rn 802 ff.).<br />
VRiKG Olaf Arnoldi, Berlin<br />
Formgerechte Unterzeichnung der Revisionsbegründung<br />
Zur formgerechten Unterzeichnung der Revisionsbegründungsschrift. (Leitsatz<br />
des Verfassers)<br />
BGH, Beschl. v. 5.10.2016 – 3 StR 268/16<br />
I. Sachverhalt<br />
Der Angeklagte hat Revision gegen ein Urteil des LG Kleve eingelegt. Der BGH hat<br />
die Revision auf Antrag des GBA gemäß § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen.<br />
II. Entscheidung<br />
Der BGH führt aus: Die Revision sei unzulässig, weil sie nicht formgerecht i.S. des<br />
§ 345 Abs. 2 StPO begründet worden sei. Die Revisionsbegründungsschrift sei<br />
entgegen dieser Vorschrift nicht vom Pflichtverteidiger des Beschuldigten, Rechtsanwalt<br />
Dr. S., sondern „pro abs. Dr. S.“ von der in derselben Kanzlei tätigen Rechtsanwältin<br />
H. unterzeichnet; auf diese habe der Pflichtverteidiger seine Befugnisse indes<br />
nicht wirksam übertragen können. Anhaltspunkte dafür, dass die Unterzeichnerin als<br />
allgemeine Vertreterin des Pflichtverteidigers gemäß § 53 Abs. 2 BRAO tätig<br />
geworden sei, seien nicht ersichtlich. Hierauf habe der GBA in seiner Antragsschrift<br />
hingewiesen. Dem sei der Beschuldigte nicht entgegengetreten (vgl. BGH NStZ 2012,<br />
276, 277; Beschl. v. 16.12.2015 – 4 StR 473/15).<br />
Rechtsanwalt Dr. S. sei entgegen seiner Auffassung auch nicht – gleichzeitig neben<br />
dem Pflichtmandat – als Wahlverteidiger mandatiert, so dass sich auch hieraus keine<br />
Befugnis zur Erteilung einer Untervollmacht an Rechtsanwältin H. ergeben habe.<br />
Zwar habe Rechtsanwalt Dr. S. eine vom 18.9.2014 datierende Verteidigervollmacht<br />
des Beschuldigten vorgelegt. Doch sei diese mit seiner Bestellung zum Pflichtverteidiger<br />
am 14.1.2015 erloschen. Die Pflichtverteidigerbestellung setze nach § 141 Abs. 1<br />
StPO das Nichtbestehen eines Wahlmandates voraus (vgl. auch § 143 StPO). Entsprechend<br />
enthalte der Antrag des Wahlverteidigers, ihn als Pflichtverteidiger beizuordnen,<br />
die Erklärung, die Wahlverteidigung solle mit der Bestellung enden (Meyer-<br />
Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 142 Rn 7 m.w.N.). Werde dem Antrag<br />
stattgegeben, endet das zivilrechtliche Auftrags- bzw. Geschäftsbesorgungsverhältnis<br />
(§ 675 BGB) des Rechtsanwalts, der in der Folge seine Tätigkeit als Pflichtverteidiger<br />
allein auf der Grundlage der öffentlich-rechtlichen Bestellung ausführe. Das Ende des<br />
Vertragsverhältnisses habe das Erlöschen der zuvor erteilten Strafprozessvollmacht<br />
zur Folge (BGHSt 59, 284, 286 f. = <strong>StRR</strong> 2015, 61; vgl. auch BGH, Beschl. v.<br />
15.1.2014 – 4 StR 346/13).<br />
Schließlich habe Rechtsanwältin H. die Revisionsbegründung auch nicht ihrerseits als<br />
Wahlverteidigerin des Beschuldigten unterzeichnet. Zwar hat der Beschuldigte am<br />
18.9.2014 jeden der in der Kanzlei des Pflichtverteidigers tätigen Rechtsanwälte „zur<br />
Einzelvertretung“ in der gegen ihn anhängigen Strafsache bevollmächtigt. Doch sei<br />
dem Zusatz der Unterschrift unter der Revisionsbegründung „pro abs. Dr. S.“ eindeutig<br />
zu entnehmen, dass Rechtsanwältin H. nicht als Wahlverteidigerin des Beschuldigten<br />
tätig geworden ist, sondern in Vertretung des Pflichtverteidigers Rechtsanwalt Dr. S.<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
Verwerfung als unzulässig<br />
Pflichtverteidiger kann nicht<br />
unterbevollmächtigen<br />
Mit Pflichtverteidigerbestellung<br />
erlischt das Wahlmandat<br />
Keine Unterzeichnung mit<br />
„pro abs.“<br />
13
Rechtsprechungsreport<br />
III. Bedeutung für die Praxis<br />
Die Entscheidung ruft noch einmal in Erinnerung, worauf bei der Unterzeichnung der<br />
Revisionsbegründung durch einen anderen Rechtsanwalt als den (Pflicht)Verteidiger<br />
zu achten ist (vgl. dazu grundlegend BGHSt 59, 284 ff.; Burhoff, Handbuch für die<br />
strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2266 ff.; Junker, in: Handbuch<br />
für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 2. Aufl. 2016, Teil A<br />
Rn 2054 ff.): Der Pflichtverteidiger muss die Revisionsbegründung grundsätzlich stets<br />
selbst unterzeichnen. Ein ggf. vor der Pflichtverteidigerbestellung bestehendes<br />
Wahlmandat ist durch die Bestellung zum Pflichtverteidiger erloschen, so dass die<br />
Unterbevollmächtigung eines anderen Rechtsanwalts als (Wahl)Verteidiger ausscheidet.<br />
Und unterzeichnet – wie hier – ein Rechtsanwalt, dem an sich eine Wahlanwaltsvollmacht<br />
erteilt ist, dann darf er für den Pflichtverteidiger nicht „pro abs.“ oder<br />
mit ähnlichen Formulierungen unterzeichnen, sondern muss im eigenen Namen tätig<br />
werden.<br />
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg<br />
Unterzeichnungsproblematik<br />
noch einmal im Fokus<br />
Bindungswirkung der Anfrage einer Sitzgruppe für eine andere<br />
Sitzgruppe des Senats?<br />
Eine Sitzgruppe eines anfragenden Senats ist nicht gehindert, während der<br />
Dauer des von einer anderen Sitzgruppe desselben Senats beschlossenen<br />
Anfrageverfahrens auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung zu<br />
entscheiden.<br />
Eine Bindungswirkung entsteht erst durch den Antwortbeschluss des<br />
angefragten Senats, wenn dieser seine Zustimmung zu einer Änderung der<br />
bisherigen Rechtsprechung erteilt. (Leitsätze des Gerichts)<br />
BGH, Urt. v. 22.9.2016 – 2 StR 27/16<br />
I. Sachverhalt und Entscheidung<br />
Der Angeklagte C. sei rechtsfehlerfrei wegen Anstiftung zur räuberischen Erpressung<br />
verurteilt worden. Wer – wie hier A. – einen Rauschgifthändler oder -kurier mit<br />
Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zur Herausgabe von<br />
Drogen nötigt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern, mache sich der<br />
räuberischen Erpressung schuldig. Die Rechtsordnung kenne im Bereich der Vermögensdelikte<br />
kein wegen seiner Herkunft, Entstehung oder Verwendung schlechthin<br />
schutzunwürdiges Vermögen. Auch an Sachen wie Rauschgift, die jemand aufgrund<br />
einer strafbaren Handlung besitzt und als Tatmittel zur Begehung geplanter Straftaten<br />
bereitstellt, könne unbeschadet ihrer Zweckbestimmung oder Bemakelung Erpressung<br />
und Betrug begangen werden. Dies entspreche der ständigen Rechtsprechung<br />
des BGH (NStZ 2002, 33; NJW 2006, 72).<br />
Eine vom GBA beantragte Aussetzung des Verfahrens sei nicht veranlasst. Zwar habe<br />
der erkennende Senat in anderer Besetzung im Verfahren NStZ 2016, 596 m. Anm.<br />
Krell = <strong>StRR</strong> 8/2015, 15 [Deutscher] die Revisionshauptverhandlung unterbrochen<br />
und, verbunden mit einer Anfrage an die übrigen Strafsenate des BGH, ob an<br />
bisheriger Rechtsprechung festgehalten werde, ausgeführt, er beabsichtige zu<br />
entscheiden: „Die Nötigung zur Herausgabe von Betäubungsmitteln richtet sich nicht<br />
gegen das Vermögen des Geschädigten und erfüllt daher nicht den Tatbestand der<br />
Erpressung.“ Jedoch hindere ein solches Anfrageverfahren nach § 132 GVG nicht<br />
eine Sachentscheidung auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des BGH. Dass<br />
Schutzunwürdiges Vermögen?<br />
Keine Aussetzung des Verfahrens<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
14
Rechtsprechungsreport<br />
ein Anfragebeschluss die angefragten Senate, die an der bisherigen Rechtsprechung<br />
festhalten wollen, nicht hindert, auf dieser Grundlage weiter zu entscheiden, habe<br />
der BGH unter Hinweis auf eine fehlende Sperrwirkung bereits entschieden (BGH,<br />
Beschl. v. 24.8.2000 – 1 StR 349/00, juris; zur Vorlage beim Großen Senat BGH NStZ<br />
2010, 227). Ebenso wenig sei ein anfragender Senat gehindert, bei Vorliegen einer<br />
Binnendivergenz zwischen verschiedenen Sitzgruppen abweichend von seiner<br />
eigenen Anfrage zu entscheiden. Der Anfragebeschluss entfalte keine Sperrwirkung.<br />
Er diene lediglich der Vorbereitung der Herbeiführung einer Rechtsprechungsänderung,<br />
sei aber selbst keine bindende Entscheidung, von der nicht abgewichen werden<br />
könnte. Eine Bindungswirkung entstehe erst durch den Antwortbeschluss des<br />
angefragten Senats, der seine Zustimmung zu einer Änderung der bisherigen<br />
Rechtsprechung erteilt. Dann könne der anfragende Senat nicht mehr zu seiner<br />
ursprünglichen Rechtsprechung zurückkehren, ohne den Großen Senat für Strafsachen<br />
anzurufen. Eine Binnendivergenz führe auch nicht zu der Verpflichtung, eine<br />
Entscheidung des in der Sache unzuständigen Senatsplenums herbeizuführen. Eine<br />
solche „Entscheidung“ hätte für die zuständige Sitzgruppe keine rechtliche Bindungswirkung.<br />
II. Bedeutung für die Praxis<br />
Für Nichtjuristen wirkt die Juristerei manchmal befremdlich. Ein Senat, aber nahezu<br />
zeitgleich zwei entgegenstehende, jeweils entscheidungserhebliche Ansichten zu<br />
einer Rechtsfrage? Dieser oder jener mag es für symptomatisch halten, dass dieses<br />
Phänomen jetzt gerade beim „Fischer-Senat“ auftritt. Auch wenn es der Einheitlichkeit<br />
der Rechtsanwendung zumindest für eine gewisse Zeit nicht eben förderlich ist,<br />
stellt dies aber eine konsequente Auswirkung des Prinzips der verschiedenen Sitzgruppen<br />
eines Senats dar. Auch die Ausführungen zur fehlenden Bindungswirkung<br />
des Anfragebeschlusses der einen für die andere Sitzgruppe bis zum Antwortbeschluss<br />
sind durchaus folgerichtig. Zudem dürfte in der Sachfrage der Anfragebeschluss<br />
der anderen Sitzgruppe wegen seiner weitgehenden Abkehr vom herrschenden<br />
ökonomisch-juristischen Vermögensbegriff kaum zu einem Sinneswandel bei den<br />
anderen Senaten führen (näher Deutscher, <strong>StRR</strong> 8/2016, 16).<br />
RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum<br />
Befremdlich<br />
StGB/Nebengebiete<br />
Ausübung eines öffentlichen Amtes<br />
Als Inhaber eines öffentlichen Amtes gibt sich aus, wer auf seine Funktion<br />
als Amtsinhaber ausdrücklich oder konkludent, sei es auch nur durch eine<br />
allgemein gehaltene Kennzeichnung als Funktionsträger, hinweist; des<br />
Zugehörigkeitshinweises zu einer bestimmten Dienststelle bedarf es nicht.<br />
(Leitsatz des Gerichts)<br />
BGH, Beschl. v. 9.8.2016 – 3 StR 109/16<br />
I. Sachverhalt<br />
Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen vielfacher Amtsanmaßung verurteilt. Der<br />
Angeklagte gab in Telefongesprächen mit den Opfern zuvor von ihm entwendeter<br />
EC- oder Kreditkarten vor, die Polizei habe die aufgefundenen Zahlungskarten<br />
routinemäßig sperren lassen, um von den Geschädigten die entsprechende PIN in<br />
Erfahrung zu bringen. Der BGH hat seine Revision in diesem Punkt zurückgewiesen.<br />
Herausgabe der PIN gefordert<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
15
Rechtsprechungsreport<br />
II. Entscheidung<br />
Der Angeklagte habe sich mit der Ausübung eines öffentlichen Amtes i.S.v. § 132<br />
Alt. 1 StGB befasst, indem er ausdrücklich auf seine angebliche Funktion als Amtsinhaber<br />
hinwies und sich so verhielt, als nehme er Aufgaben und Befugnisse der ihm<br />
verliehenen Amtsstellung – der eines Polizisten – wahr. Schon eine allgemein<br />
gehaltene Kennzeichnung als Funktionsträger von Polizeigewalt sei ausreichend. Im<br />
Gegensatz zu § 132a Abs. 1 Nr. 1 StGB, der die Verwendung einer dem Täter nicht<br />
zukommenden förmlichen Amtsbezeichnung erfasst, werde § 132 StGB maßgeblich<br />
durch die missbräuchliche Ausübung einer sachlich angemaßten Amtsbefugnis<br />
bestimmt, ohne dass es dabei auf die förmliche Bezeichnung oder überhaupt auf eine<br />
ausdrückliche Hervorhebung von Namen und Art des öffentlichen Amts ankomme;<br />
insbesondere bedürfe es keines Zugehörigkeitshinweises zu einer bestimmten<br />
Dienststelle (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2002, 301; Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 132<br />
Rn 6; a.A. OLG Koblenz NStZ 1989, 268 m. abl. Bespr. Krüger, NStZ 1989, 477).<br />
Hiernach genüge es, dass das Handeln des Angeklagten nach außen als Ausübung<br />
hoheitlicher Tätigkeit erscheint, wobei auf den Empfängerhorizont eines unbefangenen<br />
Dritten abzustellen sei (OLG Karlsruhe a.a.O.). Abzugrenzen sei solches Handeln<br />
von einem rein privaten Auftreten oder erwerbswirtschaftlich-fiskalischer Tätigkeit;<br />
im Übrigen brauche es sich nicht um eine für den jeweiligen angeblichen Hoheitsträger<br />
zulässige Amtsausübung zu handeln. So aber hat es sich hier verhalten: Die vom<br />
Angeklagten geäußerte Sperrung kann sowohl im Rahmen der Fundsachenbearbeitung<br />
als auch zur Verhinderung von Straftaten in den Zuständigkeitsbereich der<br />
Polizeibehörden fallen. Durch das Angebot, in Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse<br />
diese Sperrung wieder rückgängig zu machen, habe der Angeklagte nicht nur<br />
vorgespiegelt, eine „soziale Gefälligkeit“ erbringen zu wollen, sondern vermittelte<br />
den Geschädigten, dass er – wenn auch in ihrem Interesse – sich amtlich betätigte.<br />
III. Bedeutung für die Praxis<br />
Der Senat begründet in dem Beschluss überzeugend, dass es bei § 132 StGB anders<br />
als bei § 132a Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht um die Verwendung einer förmlichen Amtsbezeichnung<br />
geht, sondern um die unbefugte Ausübung einer hoheitlichen Tätigkeit.<br />
Entscheidend ist daher im konkreten Fall, anhand sämtlicher Umstände festzustellen,<br />
ob der Angeklagte, der keine Amtsbezeichnung angibt, ein Verhalten an den Tag<br />
legt, das den Anschein erweckt, er übe die Funktion eines öffentlichen Amtes aus.<br />
Das kann im Einzelfall schwierig sein (Nw. bei Fischer, a.a.O., § 132 Rn 9).<br />
RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum<br />
Ausübung eines öffentlichen<br />
Amtes<br />
Abgrenzung vom rein privaten<br />
Auftreten<br />
Überzeugende Begründung<br />
Vermögensbetreuungspflicht des Vertragsarztes einer Krankenkasse<br />
Den Vertragsarzt einer Krankenkasse trifft dieser gegenüber eine Vermögensbetreuungspflicht<br />
im Sinn des § 266 Abs. 1 StGB, die ihm zumindest<br />
gebietet, Heilmittel nicht ohne jegliche medizinische Indikation in der<br />
Kenntnis zu verordnen, dass die verordneten Leistungen nicht erbracht,<br />
aber gegenüber den Krankenkassen abgerechnet werden sollen. (Leitsatz<br />
des Gerichts)<br />
BGH, Beschl. v. 16.8.2016 – 4 StR 163/16<br />
I. Sachverhalt<br />
Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen Untreue in 479 Fällen verurteilt. Er ist Arzt<br />
mit eigener Praxis und als sog. „Kassenarzt“ zur vertragsärztlichen Versorgung<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
Verordnungen ohne Indikation<br />
16
Rechtsprechungsreport<br />
zugelassen. Er erstellte Heilmittelverordnungen für physiotherapeutische Leistungen<br />
für „Patienten“ ohne Untersuchung oder anderweitige Konsultation; eine medizinische<br />
Indikation bestand für sie nicht. Die Heilmittelverordnungen leitete der Angeklagte<br />
sodann den als Physiotherapeuten tätigen Eheleuten T. zu. Diese ließen sich<br />
die Erbringung der vom Angeklagten verordneten Leistungen von den „Patienten“<br />
bestätigen, obwohl sie – was der Angeklagte ebenfalls wusste und billigte – in<br />
keinem der Fälle erbracht worden waren, und rechneten sodann mit verschiedenen<br />
Krankenkassen ab. Der BGH hat die Revision des Angeklagten weitgehend verworfen.<br />
II. Entscheidung<br />
Die Verurteilung des Angeklagten wegen Untreue in 479 Fällen begegne keinen<br />
rechtlichen Bedenken. Dem Angeklagten habe eine Vermögensbetreuungspflicht<br />
i.S.d. § 266 Abs. 1 StGB gegenüber den geschädigten Krankenkassen oblegen, die<br />
ihm zumindest geboten hat, Heilmittel nicht ohne jegliche medizinische Indikation in<br />
der Kenntnis zu verordnen, dass die verordneten Leistungen nicht erbracht, aber<br />
gegenüber den Krankenkassen abgerechnet werden sollen. Leistungen, die nicht<br />
notwendig oder unwirtschaftlich sind, könnten Versicherte nicht beanspruchen,<br />
dürften die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.<br />
Die Verordnung des Vertragsarztes konkretisiere die gesetzlichen Leistungsansprüche<br />
der Versicherten auf Sachleistungen. Für ein Heilmittel sei die ordnungsgemäße<br />
vertragsärztliche Verordnung Grundvoraussetzung. Der Vertragsarzt erkläre mit<br />
der Heilmittelverordnung in eigener Verantwortung gegenüber dem Versicherten,<br />
dem nichtärztlichen Leistungserbringer und der Krankenkasse, dass alle Anspruchsvoraussetzungen<br />
des durch die Krankenversicherungskarte als berechtigt ausgewiesenen<br />
Versicherten auf das verordnete Heilmittel nach allgemein anerkanntem Stand<br />
der medizinischen Erkenntnisse aufgrund eigener Überprüfung und Feststellung<br />
erfüllt sind. Auf dieser Grundlage eröffne sich dem Vertragsarzt bei der Verordnung<br />
von Heilmitteln nicht nur eine rein tatsächliche Möglichkeit, auf fremdes Vermögen,<br />
nämlich das der Krankenkassen, einzuwirken, auch begründe das hierbei von ihm zu<br />
beachtende Wirtschaftlichkeitsgebot nicht lediglich eine unter- oder nachgeordnete<br />
Pflicht zur Rücksichtnahme auf das Vermögen der Krankenkassen. Ihm obliegt daraus<br />
vielmehr – jedenfalls in den hier zu entscheidenden Fällen – eine Vermögensbetreuungspflicht<br />
i.S.d. § 266 Abs. 1 StGB.<br />
Bei dieser Vermögensbetreuungspflicht handele es sich auch um eine Hauptpflicht. Es<br />
müsse sich dabei nicht um „die“ (wichtigste oder einzige) Hauptpflicht des Betreffenden<br />
handeln. Die Bedeutung des Wirtschaftlichkeitsgebots ergebe sich schon daraus,<br />
dass es für alle Leistungserbringer im Gesundheitswesen gilt. Es sei Grundlage für<br />
das notwendigerweise auch auf Vertrauen gestützte Abrechnungssystem. Es solle<br />
– nicht anders als in Fällen der sog. Haushaltsuntreue – die bestmögliche Nutzung<br />
der vorhandenen Ressourcen sicherstellen, zumal der in einem System der Sozialversicherung<br />
Pflichtversicherte typischerweise keinen unmittelbaren Einfluss auf die Höhe<br />
seines Beitrags und auf Art und Ausmaß der ihm im Versicherungsverhältnis geschuldeten<br />
Leistungen hat. Der Vertragsarzt sei dabei „Sachwalter der Kassenfinanzen<br />
insgesamt“.<br />
Dem stehe nicht entgegen, dass die Grundpflicht eines Arztes auf die Wahrung der<br />
Interessen des Patienten gerichtet ist. Das schließe es nicht aus, ihnen weitere<br />
Hauptpflichten aufzuerlegen und Vertragsärzte zur Wahrung der Vermögensinteressen<br />
der Krankenkassen im Rahmen des Wirtschaftlichkeitsgebots zu verpflichten.<br />
Ebenso wenig stehe dem entgegen, dass auch der Heilmittelerbringer den Inhalt der<br />
ärztlichen Verordnung prüfen muss. Denn dies ändere nichts daran, dass zunächst<br />
der Vertragsarzt über die Verordnung und auch deren Wirtschaftlichkeit entscheiden<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
Vermögensbetreuungspflicht<br />
gegenüber der Krankenkasse<br />
Hauptpflicht<br />
Grundpflicht steht nicht<br />
entgegen<br />
17
Rechtsprechungsreport<br />
muss und ihm auch die Entscheidung über eine Änderung oder Ergänzung des<br />
Therapieplans, eine neue Verordnung oder die Beendigung der Behandlung obliegt.<br />
Ähnliches gelte für das Prüfungsrecht der kassenärztlichen Vereinigung und der<br />
Krankenkassen.<br />
III. Bedeutung für die Praxis<br />
Die Bestimmung und Abgrenzung der Vermögensbetreuungspflicht in § 266 StGB<br />
gehört zu den schwierigsten Aufgaben im materiellen Strafrecht, wobei die besondere<br />
Problematik im Grunde darin besteht, strafbare Untreue von bloßem Zivilunrecht<br />
abzugrenzen. Dabei hat sich eine kaum mehr zu überblickende Kasuistik entwickelt<br />
(Übersicht bei Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 266 Rn 47 ff.). Der BGH hat hier mit<br />
eingehender Begründung und zahlreichen Nachweisen die Vermögensbetreuungspflicht<br />
des Kassenarztes gegenüber der Krankenkasse im Rahmen der Erstellung von<br />
Heilmittelverordnungen in überzeugender Weise bejaht. Dabei hat er die früher auch<br />
vom BGH vertretene Ansicht, nach der dem Vertragsarzt eine Vermögensbetreuungspflicht<br />
im Rahmen des Treubruchstatbestands bereits deshalb obliegt, weil er als<br />
Vertreter der Krankenkasse handelt (BGHSt 49, 17, 24 = NJW 2004, 454; vgl. a.<br />
BGHSt GS 57, 202, 214 = NJW 2012, 2530 = <strong>StRR</strong> 2012, 390 [Sahan]), dahinstehen<br />
lassen. Zur Abrundung des Arztsstrafrechts ist auf die seit dem 4.6.2016 geltenden<br />
Vorschriften der §§ 299a und 299b StGB zur Bestechung und Bestechlichkeit im<br />
Gesundheitswesen hinzuweisen (hierzu Dann/Scholz, NJW 2016, 2077).<br />
RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum<br />
Umfangreiche Kasuistik<br />
Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion; Wertgrenze<br />
Die Wertgrenze für die Annahme der Gefährdung einer fremden Sache von<br />
bedeutendem Wert im Sinne des § 308 Abs. 1 StGB liegt bei 1.500 EUR.<br />
(Leitsatz des Verfassers)<br />
BGH, Urt. v. 13.10.2016 – 4 StR 239/16<br />
I. Sachverhalt<br />
Die Angeklagten waren zu Gesamtfreiheitsstrafen verurteilt worden, nachdem sie u.a.<br />
mehrere Zigarettenautomaten aufgesprengt hatten. In den Fällen, in denen die hierdurch<br />
verursachten Sachschäden jeweils unter 1.500 EUR lagen, hat die Strafkammer<br />
die Angeklagten lediglich wegen versuchten Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion<br />
schuldig gesprochen, da die Explosionen objektiv in keinem der Fälle zu einer konkreten<br />
Gefahr für Sachen von bedeutendem Wert i.S.d. § 308 Abs. 1 StGB geführt hätten. Die<br />
u.a. hiergegen gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft blieb ohne Erfolg.<br />
II. Entscheidung<br />
Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts, wonach die Wertgrenze für die<br />
Annahme einer (konkreten) Gefährdung einer fremden Sache von bedeutendem Wert<br />
auch bei § 308 Abs. 1 StGB mit 750 EUR zu beziffern sei, bemisst der 4. Strafsenat<br />
die Wertgrenze auf 1.500 EUR. Zuvor hatte bereits der 1. Strafsenat (BGH, Urt. v.<br />
10.2.2015 – 1 StR 488/14) ausgeführt, er neige im Hinblick auf die auf der Ebene der<br />
Tathandlung auch erfassten Explosionen durch Sprengkörper mit geringer Sprengkraft<br />
zu einem Grenzwert von 1.500 EUR. Dem ist der 4. Senat nunmehr beigetreten.<br />
Hierfür sprächen systematische Erwägungen, um dem Charakter der Vorschrift des<br />
§ 308 Abs. 1 StGB als Verbrechen bereits im Grundtatbestand und der damit<br />
verbundenen deutlich erhöhten Strafdrohung Rechnung zu tragen. Der identische<br />
Sprengung mehrerer<br />
Zigarettenautomaten<br />
Anschluss an Rechtsprechung<br />
des 1. Strafsenats<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
18
Rechtsprechungsreport<br />
Wortlaut der §§ 315b, 315c StGB und deren Einstellung in den gleichen Abschnitt<br />
des StGB stünden dem nicht entgegen.<br />
III. Bedeutung für die Praxis<br />
Mit der vorliegenden Entscheidung ist die Frage, wo bei § 308 Abs. 1 StGB die<br />
Wertgrenze anzusetzen ist, nunmehr höchstrichterlich geklärt. Auswirkungen auf die<br />
§§ 315b, 315c StGB sind hiermit jedoch nicht verbunden; der Senat hält an der<br />
bisherigen Rechtsprechung, wonach dort die Grenze bei 750 EUR liege, unter Hinweis<br />
auf den Schutz des Allgemeininteresses an der Sicherheit des Straßenverkehrs fest.<br />
RiLG Thomas Hillenbrand, Stuttgart<br />
Frage geklärt<br />
Pressefreiheit; Schmähkritik<br />
Die Meinungs- und Pressefreiheit genießt bei der kritisch kommentierenden<br />
Berichterstattung über tatsächliche Geschehnisse in der Öffentlichkeit<br />
Vorrang vor dem Persönlichkeitsschutz des Betroffenen, solange die Grenze<br />
zur Formalbeleidigung und zur Schmähkritik nicht überschritten wird.<br />
In der bloßen Wiedergabe als solcher gekennzeichneter, herabsetzender<br />
Werturteile Dritter in einem Zeitungsbericht liegt keine persönliche Identifizierung<br />
des Verfassers mit dieser Begriffsverwendung. (Leitsätze des<br />
Verfassers)<br />
OLG Rostock, Beschl. v. 9.9.2016 – 1 Ss 46/16<br />
I. Sachverhalt<br />
Der Angeklagte ist Reporter bei einer Lokalzeitung. In dieser Eigenschaft berichtete er<br />
über einen Vorgang, bei dem ein Jäger ein totes Reh, welches auf einer Bundesstraße<br />
gelegen hatte, mit einem Seil an der Anhängerkupplung seines Fahrzeugs befestigt<br />
und „abgeschleppt“ hatte. Nachdem er den Jäger für eine Stellungnahme nicht<br />
erreicht hatte, verfasste der Angeklagte einen Artikel mit der Überschrift „Rabauken-<br />
Jäger erhitzt die Gemüter“. In dem Artikel berichtete der Angeklagte auch darüber,<br />
dass der Vorfall in den sozialen Netzwerken für heftige Diskussionen gesorgt hatte,<br />
wo der Jäger u.a. als „Drecksjäger“ beschimpft worden sei. Nachdem der Angeklagte<br />
gegen einen Strafbefehl Einspruch eingelegt hatte, verurteilte ihn das AG wegen<br />
Beleidigung zu einer Geldstrafe. Seine hiergegen gerichtete Berufung verwarf das LG.<br />
Auf die Revision des Angeklagten hob das OLG das Urteil auf und sprach frei.<br />
II. Entscheidung<br />
Das OLG: Zwar beinhalte die dem Angeklagten vorgeworfene Äußerung bei isolierter<br />
Betrachtung eine ehrverletzende Komponente. Dies relativiere sich jedoch bereits<br />
dadurch, dass sich die Bezeichnung als „Rabauken-Jäger“ alleine auf die Tätigkeit<br />
des Anzeigeerstatters als Jäger beziehe und gerade nicht auf dessen Gesamtpersönlichkeit.<br />
Seine Betroffenheit beschränke sich auf einen auf einem konkreten Lebenssachverhalt<br />
beruhenden Vorwurf. Zudem handele es sich im Vergleich zu anderen<br />
denkbaren Bezeichnungen um eine eher harmlose Herabsetzung, und es lasse sich in<br />
dem Artikel eine feuilletonistisch-ironisierende Verwendung des Begriffs erkennen. Es<br />
sei daher durchaus zweifelhaft, ob überhaupt die Voraussetzungen des § 185 StGB<br />
vorlägen.<br />
Jedenfalls sei die Äußerung aber als Wahrnehmung berechtigter Interessen i.S.d.<br />
§ 193 StGB nicht strafbar. Es liege weder ein Angriff auf die Menschenwürde des<br />
Bei isolierter Betrachtung<br />
ehrverletzende Komponente<br />
Wahrnehmung berechtigter<br />
Interessen<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
19
Rechtsprechungsreport<br />
Jägers vor noch stelle sich die Äußerung als Formalbeleidigung oder Schmähkritik<br />
dar. Die vorzunehmende Abwägung zwischen Meinungs- und Pressefreiheit und dem<br />
Ehrenschutz führe zum Vorrang der Meinungs-/Pressefreiheit. Angesichts der<br />
tatsächlichen Umstände des in dem Artikel berichteten Geschehens erscheine die in<br />
der Bezeichnung als „Rabauken-Jäger“ zum Ausdruck kommende Kritik noch als<br />
angemessen und verhältnismäßig. Jedermann müsse jederzeit damit rechnen, dass<br />
sein Verhalten in der Öffentlichkeit im Gegensatz zum Verhalten in den eigenen vier<br />
Wänden insbesondere von der Presse kritisch gewürdigt wird. Ein Verhalten im<br />
öffentlichen Raum genieße dabei umso weniger Schutz vor Kritik, je mehr es berechtigten<br />
Anlass zu einer solchen liefert. Gemessen daran erweise sich das Verhalten des<br />
Jägers als durchaus kritikwürdig. Dieser habe gegen Jagdgrundsätze verstoßen.<br />
Weiter könne dem Angeklagten auch nicht vorgeworfen werden, nicht ausreichend<br />
die Möglichkeit von Entschuldigungsgründen in den Blick genommen zu haben. Einer<br />
solchen Erwägung stehe schon entgegen, dass er sich vergeblich bemüht hatte, den<br />
Jäger für eine Stellungnahme zu erreichen.<br />
Der Angeklagte habe sich auch nicht durch die Wiedergabe des in sozialen Netzwerken<br />
verwendeten Begriffs „Drecksjäger“ strafbar gemacht. Die bloße Weitergabe<br />
beleidigender Urteile Dritter ohne Hinzutreten weiterer Umstände stelle grundsätzlich<br />
keine Beleidigung dar. Der Angeklagte referiere die Tatsache der Begriffsverwendung,<br />
ohne sie sich durch eine entsprechende Formulierung zu eigen zu machen.<br />
III. Bedeutung für die Praxis<br />
Das Verfahren, das als „Angriff auf die Pressefreiheit“ bundesweit für Schlagzeilen<br />
sorgte, zeigt sehr anschaulich, dass eine Entscheidung nicht alleine dadurch besser<br />
oder „richtiger“ wird, dass sie von einer übergeordneten Behörde erlassen wird.<br />
Zunächst hatte nämlich die zuständige Staatsanwaltschaft das angesichts der<br />
Harmlosigkeit des Begriffs „Rabauken-Jäger“, des offensichtlich kritikwürdigen<br />
Verhaltens des Anzeigeerstatters sowie der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 5 GG<br />
einzig richtige getan und das Verfahren zwei Mal (!) eingestellt, ehe die Generalstaatsanwaltschaft<br />
die Anklageerhebung erzwang (Putzke, ZjS 2016, 391). Das OLG<br />
hat diese Posse nunmehr mit einer in jeder Hinsicht zutreffenden Entscheidung<br />
beendet, sodass man der Einschätzung des Chefredakteurs der betroffenen Zeitung,<br />
wonach der Beschluss des OLG zeige, dass der Rechtsstaat funktioniere, durchaus<br />
beitreten kann. Man möchte allerdings ergänzen, dass der Rechtsstaat leider erst in<br />
letzter Minute funktioniert hat, nachdem weder das AG noch die Berufungskammer<br />
den Mut aufbrachten, auf den offensichtlich haltlosen Tatvorwurf in der gebotenen<br />
Weise zu reagieren, nämlich durch Nichterlass des Strafbefehls bzw. durch Freispruch.<br />
Niemals hätte ein OLG-Senat mit einem solchen Verfahren befasst werden dürfen.<br />
RiLG Thomas Hillenbrand, Stuttgart<br />
Drecksjäger<br />
Fast zu späte Reaktion<br />
Haftrecht<br />
Persönlicher Besitz eines Gegenstandes im Maßregelvollzug/Strafvollzug<br />
Ein Strafgefangener, dem der persönliche Besitz eines Gegenstandes in<br />
einem dem Strafvollzug unmittelbar vorangegangenen Maßregelvollzug<br />
gestattet war, genießt insofern gegenüber der JVA keinen Bestandsschutz<br />
oder Vertrauensschutz.<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
20
Rechtsprechungsreport<br />
Die Erlaubnis zum persönlichen Besitz von Hornhautraspeln und Hornhauthobeln<br />
kann einem Strafgefangenen wegen der hiermit verbundenen<br />
abstrakt-generellen Gefahr für die Sicherheit der JVA versagt werden.<br />
(Leitsätze des Gerichts)<br />
OLG Celle, Beschl. v. 18.8.2016 – 1 Ws 323/16 (StrVollz)<br />
I. Sachverhalt<br />
Der Verurteilte befindet sich im Strafvollzug in der JVA S. Die JVA S. hat es abgelehnt,<br />
dem Verurteilten Hornhautbearbeitungsgeräte (Hornhautraspeln und Hornhauthobel)<br />
zum persönlichen Besitz in seinem Haftraum aus seiner Habe auszuhändigen, weil ein<br />
Besitz dieser im Eigentum des Verurteilten stehenden Gerätschaften mit den Sicherheitsbelangen<br />
der Anstalt, bei der es sich um eine JVA des geschlossenen Vollzugs<br />
mit hohem Sicherheitsstandard handelt, nicht vereinbar sei. Die Hornhautbearbeitungsgeräte<br />
verfügten über scharfkantige Metalleinsätze, die missbräuchlich zum<br />
Schärfen und Anspitzen von Gegenständen und damit zur Herstellung von Waffen<br />
verwendet werden könnten. Der Verurteilte hat sich dagegen mit einem Antrag auf<br />
gerichtliche Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer gewandt und darauf<br />
berufen, er sei im Februar 2016 aus dem Maßregelvollzugszentrum M. in den<br />
Strafvollzug in die JVA S. verlegt worden. Im Maßregelvollzug seien ihm der Erwerb<br />
der Hornhautbearbeitungsgeräte und deren ständiger Besitz in seinem Unterkunftsraum<br />
gestattet gewesen. Beanstandungen seitens der Maßregelvollzugseinrichtung<br />
habe es insoweit nicht gegeben. Deswegen genieße er, was dieses Besitzrecht<br />
anbelange, Bestandsschutz. Die Strafvollstreckungskammer hat dem Verurteilten<br />
Recht gegeben. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde der JVA hatte Erfolg.<br />
II. Entscheidung<br />
Anders als die Strafvollstreckungskammer geht das das OLG davon aus, dass die<br />
Gestattung des persönlichen Besitzes bestimmter Gegenstände im Unterkunftsraum<br />
eines Untergebrachten im Maßregelvollzug bei einem Wechsel des Betroffenen in den<br />
Strafvollzug nicht fortgilt. Es könne auch kein aus dem früheren Besitzrecht im<br />
Maßregelvollzug abgeleitetes rechtlich schützenswertes Vertrauen auf erneute<br />
Besitzgestattung im Strafvollzug anerkannt werden. Bei einer Entscheidung über die<br />
Gestattung des Besitzes von Gegenständen im Haftraum im Strafvollzug nach § 21<br />
NJVollzG brauche die JVA daher den Umstand einer früheren Besitzgestattung in<br />
einem vorangegangenen Maßregelvollzug bei ihrer Ermessensentscheidung nicht als<br />
solchen (unter dem Gesichtspunkt eines Bestands- oder Vertrauensschutzes) zu<br />
berücksichtigen.<br />
Davon ausgehend verneint das OLG Ermessensfehler bei der Versagungsentscheidung<br />
der JVA, deren Entscheidung sei auch verhältnismäßig. Die JVA habe erkennbar eine<br />
Ermessensentscheidung getroffen und das Besitzinteresse des Verurteilten rechtsfehlerfrei<br />
mit den Sicherheitsbelangen der Anstalt abgewogen. Die JVA habe dargetan,<br />
dass der Verurteilte einen Bimsstein benutzen dürfe, der grundsätzlich geeignet sei,<br />
Hornhaut an den Füßen zu entfernen. Sollte der Verurteilte unter einer so starken<br />
Hornhautbildung an den Füßen leiden, dass eine solche Eigenpflege der Füße nicht<br />
ausreiche, könne er den medizinischen Dienst in Anspruch nehmen und könne ihm<br />
bei entsprechender medizinischer Indikation eine professionelle Fußpflege verordnet<br />
werden. Eine medizinische Indikation für eine Benutzung von Hornhautraspeln und<br />
einem Hornhauthobel durch den Verurteilten liege nach Mitteilung der Anstaltsärztin<br />
nicht vor. Auch komme eine Aushändigung lediglich der Raspeln nicht in Betracht,<br />
weil auch diese als Werkzeuge zur Waffenherstellung verwendet werden könnten.<br />
Besitz von Hornhautbearbeitungsgeräten<br />
im Strafvollzug<br />
wird untersagt<br />
Besitzerlaubnis aus dem<br />
Maßregelvollzug gilt nicht fort<br />
Ermessensentscheidung<br />
verhältnismäßig<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
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Rechtsprechungsreport<br />
Eine bloß zeitweilige Aushändigung der Hornhautbearbeitungsgeräte zur Benutzung<br />
unter Aufsicht von Justizvollzugsbeamten komme nicht in Betracht, weil der damit<br />
verbundene Aufwand nicht zu rechtfertigen sei.<br />
III. Bedeutung für die Praxis<br />
Auf folgende Punkte ist hinzuweisen:<br />
1. Beim Übergang vom Maßregelvollzug in den „normalen“ Strafvollzug gehen im<br />
Maßregelvollzug erworbene Rechte und Privilegien verloren. Es geht für den Verurteilten<br />
zurück auf den Nullpunkt bzw. gegebene Erlaubnisse pp. müssen und werden<br />
neu geprüft und entschieden.<br />
2. Die Kenntnisse des OLG betreffend Hornhautentfernung sind beachtlich. Es weist<br />
den Verurteilten nämlich auch noch darauf hin, dass es neben der von ihm „bislang<br />
praktizierten mechanischen Hornhautentfernung bekanntlich auch wirksame Cremes<br />
zur Hornhautentfernung gibt, die aus medizinischer Sicht ohnehin regelmäßig<br />
gegenüber einer mechanischen Hornhautentfernung mittels Raspel und Hobel wegen<br />
der damit verbundenen Verletzungs- und Infektionsgefahr vorzugswürdig sind“.<br />
3. Die individuelle Zuverlässigkeit des Verurteilten im Umgang mit den streitgegenständlichen<br />
Gerätschaften im Maßregelvollzug brauchte die JVA in ihre Ermessensausübung<br />
nicht einzustellen (vgl. insofern BVerfG NStZ 1994, 453; 2003, 621; NStZ-RR<br />
1996, 252; 1997, 24; BVerfG, Beschl. v. 28.2.1994 – 2 BvR 2731/93, NStZ 1994, 453).<br />
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg<br />
Zurück auf den Nullpunkt<br />
Andere Hornhautentfernungsmethoden<br />
vorzugswürdig<br />
Individuelle Zuverlässigkeit im<br />
Maßregelvollzug ohne Belang<br />
Anwaltsvergütung<br />
Streitwertbeschwerde in Strafvollzugssachen<br />
1. Eine Streitwertbeschwerde ist in Strafvollzugssachen unabhängig von<br />
einer Anfechtung der Hauptentscheidung statthaft.<br />
2. Der Senat des OLG hat bei einer Streitwertbeschwerde in Strafvollzugssachen<br />
in der Besetzung mit drei Richtern zu entscheiden.<br />
3. Bei dem Streitwert nach § 52 Abs. 2 GKG in Höhe von 5.000 EUR handelt<br />
es sich in Strafvollzugssachen lediglich um einen subsidiären Ausnahmewert.<br />
(Leitsätze des Gerichts)<br />
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 10.3.2016 – 2 Ws 67/16<br />
I. Sachverhalt<br />
Die StVK des LG hat festgestellt, dass die zeitweise Fesselung des Antragstellers<br />
anlässlich einer Ausführung rechtswidrig war. Hintergrund des Verfahrens war die<br />
von der Antragsgegnerin angeordnete zeitweise Fesselung des Antragstellers<br />
während dessen stationären Aufenthalts im Klinikum der Universität Freiburg vom<br />
21.7.2015 bis 27.7.2015. Nachdem der Antragsteller am 27.7.2015 entlassen worden<br />
war, stellte er mit Schriftsatz vom 27.10.2015 Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit<br />
der Anordnung. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des<br />
Antragstellers wurden der Staatskasse auferlegt.<br />
Der Gegenstandwert wurde auf 500 EUR festgesetzt. Der Rechtsanwalt des Antragsstellers<br />
hatte Beschwerde eingelegt, mit der er die Festsetzung eines Streitwertes<br />
nach § 52 Abs. 2 GKG in Höhe von 5.000 EUR erstrebt. Das Rechtsmittel hatte einen<br />
Teilerfolg.<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
Verfahrensgegenstand:<br />
zeitweise Fesselung während<br />
eines siebentägigen stationären<br />
Aufenthalts im Uni-Klinikum<br />
Gegenstandswert 500 EUR?<br />
22
Rechtsprechungsreport<br />
II. Entscheidung<br />
Das OLG stellt zunächst fest, dass die Beschwerde nach § 68 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1<br />
Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 GKG zulässig sei. Sie sei insbesondere unabhängig von der Hauptentscheidung<br />
– § 68 GKG enthalte keine Beschränkung des Beschwerderechts –<br />
statthaft. So haben bereits das OLG Karlsruhe (Beschl. v. 1.12.2009 – 3 Ws 436/09;<br />
Beschl. v. 25.11.2010 – 2 Ws 409/10) und auch das KG (vgl. RVGreport 2014, 323 =<br />
<strong>StRR</strong> 2014, 262) entschieden (aus der Literatur Hartmann, Kostengesetze, 46. Aufl.<br />
2016, § 68 GKG Rn 3; AK-Kamann/Spaniol, StVollzG, 6. Aufl. 2012, § 121 Rn 12;<br />
BeckOK, Strafvollzug Bund/Euler, StVollzG, § 121 Rn 8). A.A. sind das OLG Rostock<br />
(NStZ-RR 2013, 92) und das OLG Stuttgart (Justiz 2006, 15), die davon ausgehen,<br />
dass § 464 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz StPO i.V.m. § 121 Abs. 4 StVollzG anwendbar<br />
sei (vgl. aus der Literatur Arloth, StVollG, 3. Aufl. 2011, § 121 Rn 1). Der Verfahrensbevollmächtigte<br />
sei auch nach § 32 Abs. 2 Satz 1 RVG aus eigenem Recht zur<br />
Einlegung des Rechtsmittels befugt.<br />
Der Beschwerdewert ist nach Auffassung des OLG aus der Differenz der Rechtsanwaltsgebühren<br />
zwischen dem festgesetzten und dem angestrebten Streitwert zu<br />
berechnen (OLG Karlsruhe, a.a.O.; KG Berlin, a.a.O.). Danach war der maßgebliche<br />
Wert von 200 EUR überstiegen. Angesetzt hat das OLG mangels sonstiger Angaben<br />
des Beschwerdeführers jeweils die Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG (d.h. das<br />
1,3-Fache der in § 13 Abs. 1 RVG bestimmten Gebühr), die Post- und Telekommunikationspauschale<br />
von 20 Prozent bzw. 20 EUR nach Nr. 7002 VV RVG sowie die auf<br />
diese Vergütung anfallende Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG. Während sich bei<br />
einem Streitwert von 500 EUR ein Vergütungsanspruch von 83,54 EUR (58,50 EUR<br />
und 11,70 EUR zuzüglich Umsatzsteuer) ergebe, betrage dieser bei einem Streitwert<br />
von 5.000 EUR 492,54 EUR (393,90 EUR und 20 EUR zuzüglich Umsatzsteuer),<br />
sodass sich eine Differenz von 409 EUR errechne.<br />
Der Senat hat nicht durch den Einzelrichter, sondern in der Besetzung mit drei<br />
Richtern entschieden. Eine Entscheidung durch den Einzelrichter käme – so das OLG<br />
– nur in Betracht, wenn die StVK „durch eines ihrer Mitglieder als Einzelrichter“<br />
entschieden hätte (§ 66 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG). Dies sei aber<br />
nicht der Fall, da sie – wie in § 65 Abs. 1 GKG vorgesehen – über den Streitwert<br />
zusammen mit der Hauptsache in einem Beschluss befunden habe. Damit sei sie nicht<br />
mit einem Einzelrichter im Sinne von § 66 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. § 68 Abs. 1 Satz 5<br />
GKG, sondern gemäß § 78b Abs. 1 Nr. 2 GVG besetzt gewesen (OLG Rostock,<br />
a.a.O.; OLG Stuttgart, a.a.O.).<br />
Für die streitige Bemessung des Streitwertes hat der Senat nach § 52 i.V.m. § 60 GKG<br />
die sich nach dem Antrag des Gefangenen für ihn ergebende Bedeutung der Sache<br />
nach Ermessen herangezogen. Dabei seien die Tragweite der Entscheidung und die<br />
Auswirkungen eines Erfolgs des Antrags zu berücksichtigen. Dazu verweist das OLG<br />
darauf, dass in Rechtsprechung und Literatur Einigkeit bestehe, dass der in § 52<br />
Abs. 2 GKG genannte Betrag von 5.000 EUR in der Regel außer Betracht zu bleiben<br />
habe, da es sich nur um einen subsidiären Ausnahmewert handelt (OLG Karlsruhe,<br />
a.a.O.; KG, a.a.O.; OLG Koblenz StraFo 2013, 305; Bachmann, in: LNNV, Strafvollzugsgesetze,<br />
12. Aufl. 2015, Abschn. P Rn 141; AK-Kamann/Spaniol, a.a.O., Rn 9;<br />
Arloth, a.a.O., Rn 1; BeckOK/Euler, a.a.O.). Angesichts der geringen Leistungsfähigkeit<br />
vieler Gefangener sei der Streitwert prinzipiell eher niedrig anzusetzen, da seine<br />
Bemessung aus rechtsstaatlichen Gründen nicht dazu führen dürfe, dass die Anrufung<br />
des Gerichts für den Betroffenen mit einem unzumutbar hohen Kostenrisiko<br />
verbunden sei; andererseits dürfe er aber auch nicht so niedrig sein, dass die<br />
anwaltliche Tätigkeit in wirtschaftlicher Hinsicht völlig unmöglich werde (KG, a.a.O.;<br />
Zulässigkeit des Rechtsmittels,<br />
Statthaftigkeit<br />
Beschwerdewert<br />
Entscheidung durch den Senat<br />
Bemessung des Gegenstandswertes<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
23
Rechtsprechungsreport<br />
AK-Kamann/Spaniol, a.a.O., Rn 10; BeckOK/Euler, a.a.O., Rn 8). Gänzlich außer<br />
Betracht zu bleiben habe der Ausgang des Verfahrens, d.h. der Streitwert dürfe bei<br />
einer Zurückweisung eines Antrags nicht niedriger als bei einer stattgebenden<br />
Entscheidung festgesetzt werden.<br />
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das OLG einen Streitwert von<br />
1.000 EUR als angemessen angesehen. Bei der Bemessung hat es darauf abgestellt,<br />
dass die für den Krankenhausaufenthalt angeordnete Fesselung zwar einen erheblicheren<br />
Eingriff darstellte, der jedoch dadurch relativiert wurde, dass sie nur für die<br />
Zeit vorübergehender Abwesenheit der Vollzugsbeamten (z.B. Toilettengang)<br />
angeordnet worden war. Andererseits wurde die Anordnung über immerhin sieben<br />
Tage hinweg vollstreckt (21.7. bis 27.7.2015), nachdem der Antrag auf gerichtliche<br />
Entscheidung bereits am 23.7.2015 eingegangen, jedoch kein Antrag auf Aussetzung<br />
der Maßnahme (§ 114 Abs. 2 und 3 StVollzG) gestellt worden war. Ferner sei in die<br />
Bemessung einzustellen, dass die Entscheidung letztlich nicht mehr in der Hauptsache<br />
ergangen sei, sondern lediglich die Rechtswidrigkeit der zeitweisen Fesselung<br />
festgestellt wurde. Als Besonderheit, die sich erhöhend auf die Streitwertbemessung<br />
auswirke, komme hinzu, dass kurze Zeit zuvor in einem früheren Verfahren wegen<br />
eines ganz ähnlichen Sachverhalts durch Beschluss des LG eine Fesselungsanordnung<br />
aufgehoben worden sei und die Antragsgegnerin jene Vorgaben der StVG betreffend<br />
die Anordnung einer Fesselung während eines stationären Krankenhausaufenthalts<br />
bei der erneuten Anordnung ersichtlich nicht beachtet hat. Vor diesem Hintergrund<br />
habe für den Antragsteller eine besondere – zusätzliche – Bedeutung der Herbeiführung<br />
einer gerichtlichen Entscheidung vorgelegen.<br />
III. Bedeutung für die Praxis<br />
1. Die Entscheidung ist im Ergebnis zutreffend, wobei man allerdings über die Höhe<br />
des festgesetzten Gegenstandswertes sicherlich aus anwaltlicher Sicht streiten kann.<br />
Sie entspricht sowohl hinsichtlich der Zulässigkeit des Rechtsmittels (vgl. dazu a.<br />
Volpert, in: Burhoff (Hrsg.), RVG Straf- und Bußgeldsachen, 4. Aufl. 2014, Teil A:<br />
Gegenstandswert, Festsetzung [§ 33]), Rn 959 ff. m.w.N.) als auch hinsichtlich der<br />
Begründetheit (vgl. dazu KG, a.a.O. und auch noch KG RVGreport 2007, 312 = AGS<br />
2007, 353 und OLG Celle AGS 2010, 224) der h.M. in Rechtsprechung und Literatur.<br />
2. Der vom OLG festgesetzte Streitwert lässt sich messen an anderen Streitwertbemessungen,<br />
wie z.B.<br />
• für eine Woche Arrest ein Streitwert von 500 EUR (AK-Kamann/Spaniol, a.a.O.,<br />
Rn 11),<br />
• für drei Disziplinarmaßnahmen – Entzug des Radio- und Fernsehempfangs, der<br />
Gegenstände für eine Beschäftigung in der Freizeit wie Radio und TV-Gerät und<br />
getrennte Unterbringung in der Freizeit – jeweils für sieben Tage 1.000 EUR (KG;<br />
Beschl. v. 28.1.2011 – 2 Ws 383/11 Vollz),<br />
• für Rückverlegung in den offenen Vollzug bei verbleibender Vollzugsdauer von<br />
(voraussichtlich) viereinhalb Jahren 2.000 EUR (KG RVGreport 2014, 323 = <strong>StRR</strong><br />
2014, 262),<br />
• für ein Strafvollzugsverfahren mit dem Antrag des Betroffenen, von einer Strafvollzugsanstalt<br />
in eine andere zurückverlegt zu werden, wenn die beiden Vollzugsanstalten<br />
nur 35 km voneinander entfernt liegen und der Betroffene nicht geltend<br />
macht, dass ihn die Verlegung in persönlicher, sozialer oder beruflicher Weise<br />
besonders nachteilig getroffen hat, und wenn die Restfreiheitsstrafe nur noch rund<br />
5 Monate betrug, 250 EUR (OLG Hamm RVGreport 2004, 359),<br />
Abwägung im Einzelfall:<br />
1.000 EUR angemessen<br />
Entscheidung entspricht der<br />
h.M.<br />
Rechtsprechungsübersicht<br />
<strong>StRR</strong> Straf Rechts Report 01 | JAN <strong>2017</strong><br />
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Rechtsprechungsreport<br />
• für Anfechtung der Verlegung in eine andere JVA 800 EUR (KG RVGreport 2015, 34),<br />
• für ein gerichtliches Verfahren über einen Antrag auf Lockerungen in Form von<br />
unbegleiteten Tagesausgängen eines Maßregelpatienten 400 EUR (OLG Celle AGS<br />
2010, 224).<br />
RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg<br />
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