ZAP-2020-04
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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
4 <strong>2020</strong><br />
19. Februar<br />
32. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />
BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />
Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />
Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />
Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />
Inklusive<br />
<strong>ZAP</strong> App!<br />
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AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
Gestörtes Fax und beA (S. 177)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Empfehlungen des 58. Verkehrsgerichtstags (S. 181) • Zahl der Telekommunikationsüberwachungen<br />
gestiegen (S. 182) • Handlungsbedarf für Windows 7‐Nutzer (S. 184)<br />
Aufsätze<br />
Viefhues, Basiswissen 2: Was der anwaltliche Berufsanfänger vom Unterhaltsrecht wissen muss (S. 189)<br />
Burhoff, Modernisierung des Strafverfahrens – Hauptverhandlung (S. 199)<br />
Hansens, Gebührentipps für Rechtsanwälte (S. 219)<br />
Rechtsprechung<br />
OLG Celle: Verstoß gegen Formvorschriften des § 7 Abs. 1 HOAI (S. 185)<br />
OVG Rheinland‐Pfalz: Arbeitszeitverlängerung bei erhöhtem Arbeitsaufkommen (S. 187)<br />
OLG Dresden: Fehlgeschlagene Telefaxübertragung (S. 188)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 177–178<br />
Anwaltsmagazin – – 178–184<br />
Rechtsprechung 1 21–24 185–188<br />
Viefhues, Basiswissen 2: Was der anwaltliche Berufsanfänger<br />
vom Unterhaltsrecht wissen muss –<br />
formelles Recht 11 1561–1570 189–198<br />
Burhoff, Modernisierung des Strafverfahrens –<br />
Teil 2: Hauptverhandlung 22 1009–1028 199–218<br />
Hansens, Gebührentipps für Rechtsanwälte (I/<strong>2020</strong>) 24 1737–1750 219–232<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />
Gelsenkirchen • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg • Dr. Christian Deckenbrock, Köln • RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum •<br />
Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar • RA<br />
Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • Prof. Dr. Martin<br />
Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst, Hannover/Solingen • RA Günter Lange, Haltern • Dr. David<br />
Markworth, Köln • RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RA beim BGH Prof. Dr.<br />
Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. • PräsLG a.D. Kurt Schellhammer,<br />
Konstanz • RA Dr. Harald Schneider, Siegburg • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />
RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen • RA<br />
Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
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ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />
Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />
service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
Gestörtes Fax und beA<br />
Bisher war der Fall, dass das gerichtliche Faxgerät<br />
nicht empfangsbereit ist, relativ klar. Solange<br />
wegen des Risikos der anderweitigen Belegung<br />
des Faxgeräts nicht so spät mit der Übermittlung<br />
begonnen worden war, dass keine Zeitreserve<br />
eingeplant war, war Wiedereinsetzung in den<br />
vorigen Stand zu gewähren.<br />
Mit dieser Rechtsprechung bricht das LG Krefeld<br />
in seinem Beschluss vom 10.9.2019 – 2 S 14/19,<br />
wenn es meint, es sei dann auch ohne qualifizierte<br />
elektronische Signatur eine Übermittlung<br />
über das besondere elektronische Anwaltspostfach<br />
(beA) vorzunehmen. Das LG macht es sich zu<br />
einfach, wenn es feststellt, dass § 130a Abs. 4 Nr. 2<br />
ZPO explizit die Einreichung über das beA als<br />
sicheren Übermittlungsweg definiert. Eine (ausreichende)<br />
einfache Signatur bestehe in der<br />
Namenswiedergabe der verantwortenden Person<br />
am Ende des Textes des elektronischen Dokuments;<br />
die verantwortende Person müsse lediglich<br />
Inhaber des beA sein.<br />
Das LG beantwortet damit lediglich die Frage, ob<br />
es neben der Faxeinreichung noch eine alternative<br />
Übermittlung gegeben hätte. Die sich stellende<br />
Frage wäre aber gewesen, ob es ein<br />
Verschulden i.S.v. § 233 ZPO darstellt, im Falle<br />
des bei Gericht gestörten Faxanschlusses keine<br />
weitere Übermittlung per beA zu versuchen.<br />
Richtigerweise hätte diese Frage verneint werden<br />
müssen, denn das BVerfG hat mehrfach entschieden,<br />
dass die Anforderungen an die Erlangung der<br />
Wiedereinsetzung nicht überspannt werden dürfen.<br />
Besonders bei Fehlern des Gerichts sind die Anforderungen<br />
an eine Wiedereinsetzung mit besonderer<br />
Fairness zu handhaben (BVerfG NJW 20<strong>04</strong>,<br />
2887). Fehler aus der Sphäre des Gerichts dürfen bei<br />
rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung nicht über<br />
die Begründung besonderer Prüfungspflichten auf<br />
den rechtsschutzsuchenden Bürger abgewälzt werden<br />
(BVerfG NJW 1995, 711). Weiter entspricht es<br />
einer langen Rechtsprechungslinie, dass Fristversäumungen,<br />
die auf Verzögerungen der Entgegennahme<br />
der Sendung durch das Gericht beruhen, der<br />
Partei nicht angelastet werden dürfen (BVerfG NJW<br />
1980, 580 m.w.N.). Ebenso liegt eine verfassungswidrige<br />
Erschwerung des Zugangs zum Gericht vor,<br />
wenn von einem Rechtsuchenden oder seinem<br />
Prozessbevollmächtigten, der sich und seine organisatorischen<br />
Vorkehrungen darauf eingerichtet<br />
hat, einen Schriftsatz weder selbst noch durch<br />
Boten oder per Post, sondern durch Fax zu übermitteln,<br />
beim Scheitern der gewählten Übermittlung<br />
infolge eines Defekts des Empfangsgeräts oder<br />
wegen Leitungsstörungen verlangt wird, dass er<br />
innerhalb kürzester Zeit eine andere als die gewählte,<br />
vom Gericht offiziell eröffnete Zugangsart<br />
sicherstellt (BVerfG NJW 2001, 3473).<br />
Es mag noch einsichtig sein, dass von einem<br />
Prozessbevollmächtigten verlangt werden kann,<br />
dass er eine Beschwerde per Fax beim Beschwerdegericht<br />
einlegt, wenn es ihm nicht gelingt, eine<br />
entsprechende Faxverbindung zum Prozessgericht<br />
herzustellen (BGH NJW 2012, 3516 f.), weil dieser<br />
Fall nicht anders behandelt werden kann, als wenn<br />
ein Gericht mehrere Faxnummern angibt, eine<br />
davon aber gestört ist – aber die angenommene<br />
Verpflichtung zur Nutzung eines anderen Übertragungsmediums,<br />
das zudem erst zum 1.1.2019<br />
verbindlich (zur passiven Benutzung) eingeführt<br />
wurde, überspannt die Sorgfaltsanforderungen,<br />
denn sie verlagert die Verantwortlichkeit für den<br />
Fehler einseitig in die Sphäre des Bürgers.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 177
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Über die Schwierigkeiten mit dem beA in der<br />
praktischen Anwendung soll hier nicht berichtet<br />
werden, da sie jeder Anwalt selbst kennt. Nur<br />
soviel:<br />
Wenn Schriftstücke von Seiten des Gerichts über<br />
das beA mit einem Informationsblatt, „Wie fülle ich<br />
ein Empfangsbekenntnis aus“, übermittelt werden<br />
müssen, da Empfangsbekenntnisse sonst massenweise<br />
gar nicht ausgefüllt werden, zeigt dies<br />
die flächendeckende mangelnde Vertrautheit mit<br />
dem beA, ggf. sogar die Benutzerunfreundlichkeit<br />
des Mediums insgesamt.<br />
Das LG Krefeld setzt sich mit dieser verfassungsgerichtlichen<br />
Rechtsprechungslinie nicht auseinander,<br />
ebensowenig wie das OLG Dresden in<br />
seinem Beschluss vom 29.7.2019 (<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 574/<br />
2019 = NJW 2019, 3312). Dieser Fall zeigt, wie<br />
schon der Fall der blassblauen Unterschrift (GEIPEL,<br />
Kolumne <strong>ZAP</strong> 2019, S. 651), dass bei der Abwägung<br />
der entscheidenden Kriterien für eine Wiedereinsetzung,<br />
nämlich einerseits die Rechtssicherheit<br />
und andererseits die materielle Gerechtigkeit<br />
i.V.m. der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs,<br />
letzteres zu oft nicht beachtet wird.<br />
Rechtsanwalt Dr. ANDREAS GEIPEL, München<br />
Anwaltsmagazin<br />
Bundesrat will Mietwucher besser<br />
bekämpfen<br />
Schon seit Längerem versucht die Bundesregierung,<br />
den Anstieg der Wohnungsmieten – insb. in<br />
den Ballungsgebieten – zu dämpfen. Nachdem die<br />
im Jahr 2015 eingeführte „Mietpreisbremse“ und<br />
eine gesetzliche Nachbesserung im vergangenen<br />
Jahr für den Fall des „Herausmodernisierens“ nur<br />
sehr begrenzte Effekte gezeigt hatten, ist vor<br />
wenigen Wochen mit einem weiteren Schritt des<br />
sog. Wohn- und Mietenpakets der Versuch unternommen<br />
worden, eine gewisse Entspannung für<br />
Wohnungsmieter herbeizuführen. So ist zum<br />
1. Januar eine Regelung in Kraft getreten, mit der<br />
der maßgebliche Betrachtungszeitraum für ortsübliche<br />
Vergleichsmieten von bislang vier auf sechs<br />
Jahre verlängert wurde (vgl. dazu Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong> <strong>2020</strong>, 69). Da die ortsübliche Vergleichsmiete<br />
die Grundlage für die zulässige Miethöhe bildet,<br />
erhofft sich die Bundesregierung von der Verlängerung<br />
des Betrachtungszeitraums, dass kurzfristige<br />
Schwankungen bei den Mietpreisen künftig<br />
weniger schnell auf die Vergleichsmieten durchschlagen.<br />
Eine weitere Verschärfung der Mietpreisbremse<br />
ist bereits in Vorbereitung, auch soll das<br />
gesamte Mietspiegelrecht reformiert werden (vgl.<br />
Anwaltsmagazin <strong>ZAP</strong> 2019, 942).<br />
Nun hat auch der Bundesrat die Initiative ergriffen,<br />
mit dem Ziel, die ärgsten Auswüchse auf dem<br />
Mietwohnungsmarkt strenger als bisher zu bekämpfen.<br />
Er hat im Januar den Entwurf eines<br />
Gesetzes zur besseren Bekämpfung von Mietwucher<br />
vorgelegt (BT-Drucks 19/16397) und begründet<br />
dies damit, dass aufgrund der anhaltend<br />
hohen Nachfrage nach Mietwohnungen insb. in<br />
Ballungszentren von einem kleinen Teil der Vermieter<br />
unangemessen hohe Mieten verlangt<br />
werden. Die Vorschriften im Bürgerlichen Gesetzbuch<br />
über die Miethöhe bei Mietbeginn und über<br />
Mieterhöhungen seien in der Praxis teilweise<br />
nicht ausreichend, um Mieter effektiv vor wucherischen<br />
Mieten zu schützen, und das Wirtschaftsstrafgesetz<br />
(WiStrG) sei in der Praxis<br />
weitgehend wirkungslos geworden. Darüber hi-<br />
178 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
naus sei der Bußgeldrahmen von max. 50.000 €<br />
nicht mehr zeitgemäß und vermöge heutzutage<br />
keine hinreichende generalpräventive Wirkung<br />
mehr zu entfalten.<br />
Nach dem Vorschlag der Länder soll das als Ordnungswidrigkeitstatbestand<br />
ausgestaltete Verbot<br />
der Mietpreisüberhöhung des § 5 WiStrG angepasst<br />
und verschärft werden, um einen erweiterten<br />
Anwendungsbereich für die Norm zu schaffen. Auf<br />
das Erfordernis der Ausnutzung eines geringen<br />
Angebots an vergleichbaren Räumen solle verzichtet<br />
werden, weil sich dieses Tatbestandsmerkmal<br />
bisher kaum je hätte nachweisen lassen.<br />
Stattdessen solle künftig bei der Frage der Unangemessenheit<br />
auf ein objektives Kriterium,<br />
nämlich das Vorliegen eines geringen Angebots,<br />
abgestellt werden. Hierdurch würden die bestehenden<br />
Beweisprobleme erheblich entschärft.<br />
Darüber hinaus solle der Bußgeldrahmen auf<br />
100.000 € erhöht werden. Die Neuregelung soll<br />
für alle Mietverhältnisse gelten, die ab Inkrafttreten<br />
des Gesetzes neu begründet werden.<br />
Der Bundesrat erwartet sich von der Novelle,<br />
dass Vermieter, die unangemessen hohe Mieten<br />
verlangen, künftig vermehrt mit der Verhängung<br />
eines Bußgeldes rechnen müssen. Zudem entstünden<br />
bestimmten Vermietern u.U. geringere<br />
Mieteinnahmen, weil sie sich durch die erleichterte<br />
Verfolgbarkeit von Mietwucher aufgrund<br />
der Neufassung des § 5 WiStrG künftig vom<br />
Verlangen überhöhter Mieten abhalten lassen.<br />
Da gegen § 5 WiStrG verstoßende Mietzinsvereinbarungen<br />
teilnichtig gem. § 134 BGB seien<br />
und sich entsprechende Verstöße auch im zivilrechtlichen<br />
Verfahren künftig leichter nachweisen<br />
lassen würden, drohten Vermietern, die wucherische<br />
Mieten verlangen, darüber hinaus in<br />
erhöhtem Maße Rückforderungsansprüche nach<br />
den §§ 812 ff. BGB.<br />
[Quelle: Bundesrat]<br />
DAV warnt vor Videoüberwachung<br />
mit Gesichtserkennung<br />
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat im Januar<br />
mit einer auch von der Tagespresse beachteten<br />
Erklärung vor einem breiten Einsatz von Gesichtserkennungssystemen<br />
an Flughäfen und Bahnhöfen<br />
gewarnt. Anlass des Vorstoßes waren Pläne<br />
aus dem Bundesinnenministerium (BMI), die<br />
Kompetenzen der Bundespolizei entsprechend<br />
zu erweitern. „Es ist zweifelhaft, ob eine Rechtsgrundlage<br />
geschaffen werden kann, die den Vorgaben<br />
des Bundesverfassungsgerichts entspricht“, begründete<br />
Rechtsanwalt Dr. DAVID ALBRECHT, Mitglied<br />
des DAV-Ausschusses Gefahrenabwehrrecht, die<br />
Bedenken des Vereins. Bereits zum Start des<br />
umstrittenen Pilotprojekts zur Gesichtserkennung<br />
am Bahnhof Südkreuz in Berlin hatte der<br />
DAV massive Kritik geäußert (s. dazu Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong> 2017, 895). Ein Scannen dieses<br />
Ausmaßes führe zu einem nicht hinnehmbaren<br />
Gefühl des Überwachtwerdens und der Einschüchterung.<br />
Es stünden, wie schon beim Testlauf<br />
am Südkreuz, hier folgende Fragen im Raum:<br />
Wie fehleranfällig ist das System? Können Missbrauch<br />
und Manipulation der Technik verhindert<br />
werden? Für wie lange, durch wen und wo<br />
werden diese Daten gespeichert?<br />
Der DAV kritisiert am Testlauf in Berlin u.a. eine<br />
mangelnde Diversität der Testpersonen (Alter,<br />
Geschlecht, Ethnie), die eingesetzten Vergleichsbilder<br />
und den parallelen Einsatz gleich dreier<br />
Systeme. Aus diesen Gründen seien die nach<br />
dem Testlauf am Berliner Südkreuz „als Erfolg<br />
verkauften Zahlen“ (rund 80 % Trefferquote) nicht<br />
nur nach empirischen Grundsätzen zweifelhaft,<br />
sie hielten auch einem Real-Einsatz nicht stand<br />
und böten daher eine trügerische Sicherheit.<br />
Hinzu komme eine Falsch-Positiv-Rate von<br />
0,67 % – bei rund 200.000 Fluggästen würden<br />
allein am Frankfurter Flughafen jeden Tag 1.340<br />
unbescholtene Menschen einen falschen Alarm<br />
auslösen und unrechtmäßig ins Visier der Ermittler<br />
geraten. Dies könne, so der DAV, nicht im<br />
Sinne des Rechtsstaats sein. [Quelle: DAV]<br />
Inzwischen hat der Bundesinnenminister SEEHOFER<br />
den entsprechenden Passus wieder aus der<br />
Reform des Bundespolizeigesetzes zurückgezogen.<br />
Es seien noch „einige Fragen rund um die<br />
gesellschaftliche Akzeptanz dieser Fahndungstechnik<br />
offen geblieben“, so der Minister.<br />
Experten sehen Handlungsbedarf<br />
beim Katastrophenschutz<br />
Insbesondere der Klimawandel, aber auch mögliche<br />
Cyber-Attacken und die weltweiten Migrationsbewegungen<br />
stellen den Zivil- und Katastro-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 179
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
phenschutz in Deutschland vor neue Herausforderungen.<br />
Dies war der Tenor einer Expertenanhörung<br />
Mitte Januar im Innenausschuss des<br />
Bundestags. Insgesamt sei hierzulande die Infrastruktur<br />
zur Abwehr von Gefahren für die Bevölkerung<br />
gut aufgestellt und gelte als weltweit<br />
vorbildlich, hieß es. Dennoch gebe es Handlungsund<br />
Nachholbedarf in wesentlichen Bereichen.<br />
So nannte etwa der ehemalige Präsident des<br />
Technischen Hilfswerks (THW) und heutige Vorsitzende<br />
des vereinsrechtlich organisierten Zukunftsforums<br />
Öffentliche Sicherheit, ALBRECHT<br />
BROEMME, in diesem Zusammenhang die Abwehr<br />
einer möglichen Pandemie, einer „eskalierenden<br />
Erkrankungswelle“, als Schwachstelle des Zivilschutzes.<br />
Der amtierende THW-Präsident GERD FRIEDSAM<br />
mahnte eine Ertüchtigung seiner Organisation<br />
insb. in den Bereichen der Notstrom- und der<br />
Trinkwasserversorgung an. Das THW müsse in<br />
der Lage sein, im Katastrophenfall „systemrelevante<br />
Einrichtungen“ zuverlässig mit Strom zu<br />
beliefern. Angesichts der mit dem Klimawandel<br />
zunehmenden Gefahr langanhaltender Dürreperioden<br />
seien auch die Kapazitäten auf dem<br />
Feld der Trinkwasserbeschaffung und -aufbereitung<br />
zu erweitern.<br />
Der Berliner Landesbranddirektor KARSTEN HOMRIG-<br />
HAUSEN, nach eigenen Worten Leiter der ältesten<br />
und größten Berufsfeuerwehr in Deutschland,<br />
beklagte eine „Vollkasko-Mentalität“ in Teilen der<br />
Gesellschaft. Schon bei der „erstbesten Störung“<br />
ertöne der Ruf nach dem Staat. Dagegen seien die<br />
Eigenverantwortung und die Selbsthilfefähigkeit<br />
der Menschen stärker zu betonen und einzufordern.<br />
Der Staat allein könne nicht alle erforderlichen<br />
Maßnahmen treffen.<br />
Der Katastrophenschutz-Beauftragte des Deutschen<br />
Roten Kreuzes (DRK), FRANK JÖRRES, erinnerte<br />
an die Flüchtlingskrise 2015/16 und an die verheerenden<br />
Waldbrände der jüngsten Zeit in Brandenburg<br />
und Mecklenburg-Vorpommern zur Begründung<br />
seiner Forderung, den Bevölkerungsschutz<br />
„neu zu denken“. JÖRRES mahnte, Vorsorgestrukturen<br />
auszubauen und das Ehrenamt zu stärken. Der<br />
Betreuungsbereich, also die Notunterbringung<br />
und Versorgung von Betroffenen einer Katastrophe,<br />
sei das Stiefkind des Bevölkerungsschutzes. Er<br />
zitierte die Faustformel, dass der Staat Notunterkünfte<br />
für 2 % der Bevölkerung, in Deutschland<br />
also 1,6 Mio. Menschen, vorhalten sollte.<br />
Der ehemalige Präsident des Deutschen Feuerwehrverbands,<br />
HELMUT ZIEBS, machte auf erhebliche<br />
Defizite in der Bevorratung mit Lebensmitteln und<br />
Ausrüstungsgegenständen aufmerksam. Wie schon<br />
andere Experten befürwortete er eine Rahmenkompetenz<br />
des Bundes im Katastrophenschutz.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
Clankriminalität in Deutschland<br />
Zu den Verbindungen zwischen sog. Clans und<br />
der organisierten Kriminalität (OK) hat sich<br />
kürzlich die Bundesregierung in ihrer Antwort<br />
auf eine Kleine Anfrage im Bundestag geäußert.<br />
Danach geht aus dem vom Bundeskriminalamt<br />
erstellten „Bundeslagebild Organisierte Kriminalität<br />
2018“ hervor, dass in Bund und Ländern 45<br />
OK-Verfahren erfasst wurden, die der sog. Clankriminalität<br />
insgesamt zugeordnet werden konnten.<br />
Dies entspreche einem Anteil von 8,4 % aller<br />
im Berichtsjahr erfassten OK-Verfahren.<br />
Was die Herkunft der Clan-Gruppen angeht,<br />
führt die Bundesregierung aus, dass die OK-<br />
Verfahren sich gegen 24 OK-Gruppierungen<br />
arabischstämmiger Herkunft, acht OK-Gruppierungen<br />
mit Herkunft aus Westbalkan-Staaten,<br />
drei OK-Gruppierungen türkisch-stämmiger<br />
Herkunft, eine OK-Gruppierung mit Herkunft<br />
aus den Maghreb-Staaten und neun OK-Gruppierungen<br />
anderer Herkunft richteten. Gemäß<br />
dem Bundeslagebild dominierten in den insgesamt<br />
45 der Clankriminalität zugeordneten<br />
OK-Verfahren den Angaben zufolge „Personen<br />
mit libanesischer Staatsangehörigkeit in elf OK-<br />
Verfahren, gefolgt von deutschen (acht OK-Verfahren)<br />
und türkischen Staatsangehörigen (vier OK-<br />
Verfahren)“. Des Weiteren seien drei OK-Verfahren<br />
von Personen albanischer und serbischer<br />
sowie zwei OK-Verfahren von Tatverdächtigen<br />
mazedonischer Staatsangehörigkeit dominiert<br />
worden, die überwiegend der sog. Clankriminalität<br />
im Zusammenhang mit den Westbalkan-<br />
Staaten zugeordnet werden können.<br />
Wie aus den Ausführungen der Bundesregierung<br />
weiter hervorgeht, wurden in den 45 OK-Ver-<br />
180 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
fahren 654 Tatverdächtige erfasst, davon u.a. 152<br />
libanesische, 148 deutsche, 54 syrische und 52<br />
türkische Staatsangehörige.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
Empfehlungen des<br />
58. Verkehrsgerichtstags<br />
Ende Januar tagte in Goslar der 58. Deutsche<br />
Verkehrsgerichtstag. Rund 2.000 Verkehrsfachleute<br />
aus Justiz, Ministerien, Verbänden und<br />
Wissenschaft beschäftigten sich mit aktuellen<br />
Fragestellungen, etwa der Elektromobilität, Aggressivität<br />
im Straßenverkehr und terroristischen<br />
Bedrohungen. Die auf dem Verkehrsgerichtstag<br />
ausgesprochenen Empfehlungen sind in erster<br />
Linie an den Gesetzgeber gerichtet, der ihnen in<br />
der Vergangenheit auch oft gefolgt ist.<br />
Auch in diesem Jahr sprachen die Experten wieder<br />
eine Reihe von Empfehlungen aus, so etwa die<br />
Schaffung eines neuen Bußgeldtatbestands und<br />
einer neuen Fachanwaltschaft. Die wichtigsten<br />
Beschlüsse der einzelnen Arbeitskreise sind nachstehend<br />
kurz zusammengefasst:<br />
• Grenzüberschreitende Unfallregulierung<br />
Trotz der in den vergangenen Jahren geschaffenen<br />
EU-Regulierungssysteme für internationale<br />
Verkehrsunfälle sehen die Experten Verbesserungsbedarf.<br />
So solle die Verjährung des Direktanspruchs<br />
des Geschädigten auf drei oder vier<br />
Jahre verlängert und europaweit harmonisiert<br />
werden. Auch fordern sie eine Garantiehaftung<br />
der Entschädigungsstelle für den Fall, dass der<br />
ausländische Versicherer die Zahlung verweigert.<br />
• Abrechnung eines fiktiven Schadenersatzes<br />
Die Experten sprachen sich fast einstimmig<br />
dagegen aus, die neue Rechtsprechung des BGH<br />
zur fiktiven Abrechnung von Mängelbeseitigungskosten<br />
auf den Straßenverkehr zu übertragen.<br />
Es solle weiterhin dabei bleiben, dass der<br />
Geschädigte seinen Unfallschaden fiktiv, d.h. auf<br />
Basis eines Gutachtens oder Kostenvoranschlags,<br />
abrechnen darf.<br />
• Agressivität im Straßenverkehr<br />
Der zuständige Arbeitskreis empfiehlt dem Gesetzgeber<br />
die Einführung eines neuen, punktebewehrten<br />
Bußgeldtatbestands für „aggressives Posing“.<br />
Auch sollen die Fahrerlaubnisbehörden ein<br />
Recht zur Einsicht in das Bundeszentral-/Erziehungsregister<br />
bekommen.<br />
• Elektrokleinstfahrzeuge<br />
Einspurige Elektrokleinstfahrzeuge (sog. E-Scooter)<br />
sollen künftig nur noch mit Prüfbescheinigung<br />
geführt werden dürfen und zudem mit<br />
Fahrtrichtungsanzeigern (Blinkern) ausgerüstet<br />
werden. Mit Blick darauf, dass deren winzige<br />
Kennzeichen von Geschädigten und Zeugen<br />
praktisch kaum zu erkennen sind, sollen speziell<br />
die Verleihfirmen die Nutzerdaten jedes Mal<br />
erfassen und den Verfolgungsbehörden ggf. zur<br />
Verfügung stellen.<br />
• Fahranfänger<br />
Der zuständige Arbeitskreis empfiehlt eine generelle<br />
Verlängerung der Probezeit von zwei auf drei<br />
Jahre mit der Möglichkeit einer Verkürzung bei<br />
freiwilliger Teilnahme an Schulungen oder am<br />
sog. Begleiteten Fahren.<br />
• Terroranschläge<br />
Unter Bezug auf die mit Lkw begangenen Terroranschläge<br />
aus jüngerer Vergangenheit (etwa auf<br />
dem Berliner Breitscheidplatz und in Nizza) empfehlen<br />
die Experten die Harmonisierung zivilund<br />
öffentlich-rechtlicher Opferansprüche. Auch<br />
befürworten sie die Einführung eines neuen<br />
Fachanwalts für Personenschadensrecht. Dieser<br />
könne den besonderen Herausforderungen der<br />
Interessenswahrnehmung von Terroropfern besser<br />
Rechnung tragen.<br />
• Kreuzfahrten<br />
Nicht zuletzt sorgten sich die Verkehrsfachleute<br />
auch um die Sicherheit von Kreuzfahrttouristen.<br />
Die boomende Branche zeige neue Risiken auf,<br />
wie etwa nicht ausreichende Rettungskapazitäten<br />
und drohende Terroranschläge. Den Reedereien<br />
müsse deshalb ein geeignetes Notfallund<br />
Krisenmanagement vorgeschrieben werden.<br />
Dazu zähle auch ein Fachkonzept zur Rettung<br />
von eingeschlossenen Personen auf gesunkenen<br />
Schiffen. Die Reiseveranstalter sollten verpflichtet<br />
werden, über die jeweiligen Sicherheits- und<br />
Umweltstandards der Schiffe bereits bei der Reisebuchung<br />
zu informieren.<br />
[Quelle: Verkehrsgerichtstag]<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 181
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
BMJV legt Gesetz zu fairen<br />
Verbraucherverträgen vor<br />
Die Bundesjustizministerin CHRISTINE LAMBRECHT will<br />
den Verbraucherschutz in Deutschland weiter<br />
ausbauen. Zu diesem Zweck hat ihr Ministerium<br />
einen Gesetzentwurf für faire Verbraucherverträge<br />
erarbeitet, der am 24. Januar vorgestellt<br />
wurde. Die in dem Vorhaben vorgesehenen<br />
Regelungen sollen die Position der Verbraucherinnen<br />
und Verbraucher gegenüber den Unternehmen<br />
weiter verbessern und erreichen, dass<br />
nicht nur der Vertragsschluss unter faireren Bedingungen<br />
erfolgt, sondern auch die Vertragsbedingungen<br />
ausgewogeneren Regelungen unterliegen.<br />
So sollen u.a. lange Vertragslaufzeiten und in AGB<br />
enthaltene automatische Vertragsverlängerungen<br />
um oft ein Jahr deutlich verkürzt werden,<br />
um den Kunden einen schnelleren Wechsel zu<br />
günstigeren und attraktiveren Angeboten zu<br />
ermöglichen. Auch sollen telefonische Kontakte<br />
und Absprachen künftig besser dokumentiert und<br />
teilweise von den Verbrauchern gesondert bestätigt<br />
werden müssen; damit sollen diese besser<br />
vor aufgedrängten und untergeschobenen Verträgen<br />
geschützt werden.<br />
Der Referentenentwurf aus dem BMJV sieht im<br />
Wesentlichen folgende Maßnahmen vor:<br />
• In AGB geregelte Abtretungsverbote für Geldforderungen<br />
sollen künftig unwirksam sein.<br />
• Durch AGB können nur noch kürzere Erstlaufzeiten<br />
und automatische Vertragsverlängerungen<br />
geregelt werden.<br />
• Für telefonisch abgeschlossene Fernabsatzverträge<br />
über Energielieferungen wird eine<br />
Bestätigungslösung eingeführt, d.h. Verbraucherinnen<br />
und Verbraucher müssen Gas- und<br />
Stromlieferverträge schriftlich oder per E-Mail<br />
bestätigen, nachdem die Verträge auf einen<br />
Datenträger zur Verfügung gestellt wurden.<br />
• Unternehmer werden verpflichtet, Einwilligungen<br />
der Verbraucherinnen und Verbraucher<br />
in Telefonwerbung zu dokumentieren<br />
und aufzubewahren.<br />
Bundesjustizministerin CHRISTINE LAMBRECHT erklärte<br />
zu dem Vorhaben: „Verbraucherinnen und Verbraucher<br />
werden viel zu häufig abgezockt und übervorteilt.<br />
Undurchsichtige Vertragsstrukturen und kalkulierte<br />
Kostenfallen sind leider immer noch an der Tagesordnung.<br />
Dem wollen wir mit dem Gesetz für fairere<br />
Verbraucherverträge einen Riegel vorschieben.“<br />
Der Gesetzentwurf ist bereits an Fachkreise und<br />
Verbände versandt worden. Diese haben noch bis<br />
zum 24. Februar Gelegenheit, zu dem Vorhaben<br />
Stellung zu nehmen, bevor es in das Gesetzgebungsverfahren<br />
übergeleitet wird.<br />
[Quelle: BMJV]<br />
Zahl der Telekommunikationsüberwachungen<br />
gestiegen<br />
Die Zahl der von Gerichten bundesweit angeordneten<br />
Telekommunikationsüberwachungsanordnungen<br />
nach § 100a StPO ist im Jahr 2018 um<br />
4,4 % auf insgesamt 19.474 gestiegen. Im Jahr<br />
davor waren es noch 18.651 Anordnungen. Gleichzeitig<br />
ist die Anzahl der Verfahren, in denen diese<br />
Anordnungen ergingen, gegenüber dem Vorjahr<br />
gesunken – von 5.629 Verfahren in 2017 auf 5.1<strong>04</strong><br />
Verfahren in 2018. Dies stellt einen Rückgang um<br />
9,3 % dar.<br />
Diese Zahlen teilte Mitte Januar das Bundesamt für<br />
Justiz (BfJ) mit. Wie das Amt weiter erläuterte,<br />
waren es wie in den vergangenen Jahren überwiegend<br />
Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz,<br />
die den Anlass für die Überwachungsmaßnahmen<br />
lieferten. Ebenfalls veröffentlicht hat das<br />
Bundesamt für Justiz die Statistik darüber, wie oft<br />
die Strafverfolgungsbehörden im Jahr 2018 gem.<br />
§ 100g StPO Verkehrsdaten erhoben haben, also<br />
etwa Daten über Beginn und Ende sowie über die<br />
Teilnehmenden an einer Telekommunikation. Als<br />
Folge gesetzlicher Änderungen haben die Bundesländer<br />
die entsprechenden Zahlen allerdings uneinheitlich<br />
erhoben. Daher enthält die aktuelle<br />
Statistik des Bundesamts Angaben nur für 11 der<br />
16 Bundesländer sowie für den Generalbundesanwalt.<br />
[Quelle: Bundesamt für Justiz]<br />
Juristinnen mahnen Folgenabschätzung<br />
bei Grundrente an<br />
Im Bundesministerium für Arbeit und Soziales<br />
wird derzeit daran gearbeitet, den Koalitions-<br />
182 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
kompromiss zu einer Grundrente umzusetzen.<br />
Vor einigen Wochen wurde ein Referentenentwurf<br />
vorgelegt, der derzeit auch zwischen den<br />
Ministerien abgestimmt wird. Mit dem Vorhaben<br />
soll die Rente von Personen mit langem Versicherungsverlauf<br />
aber trotzdem geringen Rentenanwartschaften<br />
durch einen Zuschlag an<br />
Entgeltpunkten aufgestockt werden. Dabei, so<br />
die Begründung des Gesetzentwurfs, soll insb.<br />
auch den Biographien von Frauen Rechnung<br />
getragen werden. Wie das Ministerium dies<br />
umsetzen will, stößt jedoch insb. beim Deutschen<br />
Juristinnenbund (djb) auf Kritik.<br />
Bereits ohne vertiefte Prüfung werde deutlich,<br />
dass den gleichstellungsrelevanten Belangen von<br />
Frauen mit dem Gesetzentwurf nicht ausreichend<br />
Rechnung getragen werde, bemängelte die Präsidentin<br />
des djb, Prof. Dr. MARIA WERSIG. Sie<br />
kritisiert insb., dass Zeiten geringfügiger Beschäftigung,<br />
sog. Minijobs, die in der Mehrzahl<br />
von (verheirateten) Frauen ausgeübt werden,<br />
nicht zu den anwartschaftsbegründenden Zeiten<br />
zählen sollen. Begründet wird diese Entscheidung<br />
vom Ministerium explizit damit, dass Minijobs<br />
lediglich die Bedeutung eines ergänzenden Einkommens<br />
hätten. „Deutschland weigert sich seit<br />
Jahren, den Empfehlungen der Europäischen Union<br />
nachzukommen und Fehlanreize im Steuer- und Sozialrecht<br />
abzubauen, die Frauen in geringfügiger Beschäftigung<br />
halten und die eigenständige Existenzsicherung<br />
behindern. Gleichzeitig sollen die Folgen der<br />
Fehlanreize Frauen bei der Grundrente zum Verhängnis<br />
werden“, soWERSIG.<br />
Dennoch sollen Frauen dem Referentenentwurf<br />
zufolge in besonderem Maße von der Grundrente<br />
und den parallel dazu eingeführten Freibetragsleistungen<br />
im Sozialhilferecht profitieren. Im<br />
Einführungsjahr sollen Frauen sogar 70 % der<br />
Menschen sein, die von der Grundrente profitieren.<br />
Wie diese Einschätzung zustande komme,<br />
bleibe allerdings, so der djb, trotz der Verpflichtung<br />
zu einer differenzierten gleichstellungsorientierten<br />
Gesetzesfolgenabschätzung offen. Der<br />
Juristinnenbund setzt sich deshalb für eine transparente<br />
Darstellung der Datenbasis für die genannten<br />
Zahlen und eine geschlechterdifferenzierte<br />
Einschätzung der Auswirkungen aller<br />
Anspruchsvoraussetzungen der Grundrente ein.<br />
[Quelle: djb]<br />
KG benötigt komplett neue<br />
IT-Infrastruktur<br />
Im Herbst vergangenen Jahres ist das Berliner<br />
Kammergericht (KG) Opfer eines Hackerangriffs<br />
geworden, der derart heftig ausfiel, dass das<br />
Gericht sofort entschieden hatte, offline zu<br />
gehen und alle IT-Systeme abzuschalten. Anschließend<br />
hatte das KG einen Dienstleister für<br />
Informations- und Kommunikationstechnologie<br />
– die T-Systems International GmbH – mit der<br />
forensischen Untersuchung des Trojaner-Angriffs<br />
auf sein Computernetzwerk beauftragt.<br />
Dessen Untersuchungsergebnisse wurden nun am<br />
24. Januar der Öffentlichkeit vorgestellt. Danach<br />
benötigt das Gericht offensichtlich den Aufbau<br />
einer komplett neuen IT-Infrastruktur. Der Präsident<br />
des KG Dr. BERND PICKEL fasste die Erkenntnisse<br />
von T-Systems wie folgt zusammen: „Die<br />
Untersuchung bestätigt die von mir immer wieder in den<br />
Vordergrund gestellte Einschätzung, dass es sich um<br />
einen äußerst gefährlichen und schwerwiegenden Sicherheitsvorfall<br />
handelte. Die Gefährlichkeit ergibt sich nach<br />
dem Gutachten daraus, dass der Angreifer in der Lage<br />
gewesen wäre, alle Daten des Kammergerichts entweder<br />
zu zerstören oder sich anzueignen. Die Entscheidung, das<br />
Kammergericht Ende September 2019 sofort vom Internet<br />
zu trennen und abzuschalten, war aus technischer<br />
Sicht alternativlos und hat das Schlimmste noch rechtzeitig<br />
verhindert. Zwar hat T-Systems jetzt festgestellt,<br />
dass aller Wahrscheinlichkeit nach Zugangsdaten – sog.<br />
credentials – abgeflossen sind. Diese nutzen den Angreifern<br />
aber nichts mehr, da das System des Kammergerichts<br />
sofort nach den ersten Hinweisen auf den<br />
Angriff vom Netz genommen wurde und in der alten<br />
Form auch keinesfalls wieder ans Netz gehen wird.<br />
Dagegen stimmt es auch nach der Untersuchung durch<br />
T-Systems nicht, dass festgestellt worden wäre, auch die<br />
auf den Kammergerichtssystemen gespeicherten Dokumente<br />
wie z.B. Urteile und Beschlüsse mit den darin<br />
enthaltenen Inhalten, Namen und Daten seien abgeflossen.“<br />
Für die Zukunft ergibt sich aus dem Gutachten,<br />
dass nicht eine Bereinigung des bisherigen Systems,<br />
sondern der vollständige Neuaufbau einer<br />
sicheren IT-Infrastruktur für das KG geboten ist.<br />
Mit diesem Neuaufbau werde – so der KG-<br />
Präsident – auf Basis anerkannter Standards<br />
eine sichere und zeitgemäße IT-Architektur für<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 183
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
das KG geschaffen und betrieben. Dieser Netzaufbau<br />
berücksichtige selbstverständlich auch im<br />
Gutachten genannte Erkenntnisse über bisherige<br />
Schwachstellen, wie etwa unzureichende Netzwerksegmentierungen.<br />
[Quelle: KG Berlin]<br />
Handlungsbedarf für Windows 7-<br />
Nutzer<br />
Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hat darauf<br />
hingewiesen, dass die Firma Microsoft seit<br />
Mitte Januar keine Sicherheitsupdates mehr für ihr<br />
Betriebssystem Windows 7 ausliefert. Das stelle, so<br />
die BRAK, auch für Rechtsanwaltskanzleien, die<br />
dieses Betriebssystem weiterhin nutzen, ein Sicherheitsrisiko<br />
dar.<br />
Die betroffenen Kollegen dürften damit nach<br />
Auffassung der Kammer auch die Anforderungen,<br />
die Art. 32 DSGVO an die Sicherheit der Datenverarbeitung<br />
stellt, nicht länger erfüllen können. Das<br />
Ende des Supports für Windows 7 bedeutet, dass<br />
ab sofort neue Sicherheitslücken in diesem Betriebssystem<br />
nicht mehr automatisch behoben<br />
werden. Dies stellt nach Ansicht von Experten ein<br />
hohes Sicherheitsrisiko dar, welches auch nicht<br />
durch den Einsatz einer Firewall oder eines Virenprogramms<br />
ausgeschlossen werde. Die BRAK<br />
spricht deshalb folgende Empfehlungen aus:<br />
Aus datenschutzrechtlicher Sicht sei ein Umstieg<br />
auf ein Betriebssystem anzuraten, für welches<br />
weiterhin regelmäßige Sicherheitsupdates zur Verfügung<br />
gestellt werden. Microsoft empfehle insoweit<br />
einen Umstieg auf Windows 10. Dem werde<br />
zwar bisweilen entgegengehalten, dass der Einsatz<br />
von Windows 10 seinerseits nicht datenschutzkonform<br />
möglich sei. Indes habe das gemeinsame<br />
Gremium der deutschen Aufsichtsbehörden – die<br />
Datenschutzkonferenz (DSK) – zwischenzeitlich<br />
eine Handreichung zu der Frage herausgegeben,<br />
wie ein datenschutzkonformer Einsatz von Windows<br />
10 möglich sei. Dieser Handreichung lasse<br />
sich zumindest entnehmen, dass die Aufsichtsbehörden<br />
den Einsatz von Windows 10 jedenfalls<br />
nicht per se für unzulässig erachten.<br />
Vorübergehende Abhilfe könne zudem ein Extended<br />
Security Update-Programm (ESU) – d.h. ein<br />
verlängerter Support für Windows 7 – bieten.<br />
Hierbei würden gegen Zahlung von Wartungsgebühren<br />
weiterhin Updates durch Microsoft geliefert.<br />
Für größere Unternehmen und die öffentliche<br />
Hand biete Microsoft schon länger ein ESU an.<br />
Kürzlich sei berichtet worden, dass Microsoft ESUs<br />
nun auch für kleinere und mittelgroße Unternehmen<br />
anbiete. Zu beachten sei hierbei aber, dass<br />
dieses Angebot nur für die Windows-Versionen<br />
„Professional“ und „Enterprise“ gelten solle, nicht<br />
aber für „Home“- oder „Ultimate“-Lizenzen. Bislang<br />
plane Microsoft, das Extended Security Programm<br />
noch bis 2023 laufen zu lassen. [Quelle: BRAK]<br />
Personalia<br />
Der bisherige Vorsitzende Richter am Bundessozialgericht<br />
Prof. Dr. ERNST HAUCK ist Ende Dezember<br />
vergangenen Jahres in den Ruhestand getreten;<br />
dies teilte das BSG im Januar mit. Prof. Dr. HAUCK<br />
war bereits seit 1987 in der nordrhein-westfälischen<br />
Sozialgerichtsbarkeit tätig, bevor er im Jahr 2005 an<br />
das BSG berufen wurde. Dort gehörte er dem u.a.<br />
für die gesetzliche Krankenversicherung zuständigen<br />
1. Senat an, dessen stellvertretender Vorsitzender<br />
er seit Januar 2011 war. Im August 2016 wurde<br />
ERNST HAUCK zum Vorsitzenden Richter ernannt und<br />
führte sodann den 1. Senat bis zu seinem Eintritt in<br />
den Ruhestand. Von August 2008 bis Ende September<br />
2016 war er auch Präsidialrichter des BSG.<br />
Seit rund acht Jahren ist Prof. Dr. HAUCK zudem<br />
Honorarprofessor an der Martin-Luther-Universität<br />
Halle-Wittenberg. Er ist Herausgeber und<br />
Mitherausgeber von Kommentaren zu Gerichtsverfahren<br />
und -verfassung, Krankenversicherung<br />
und Pflegeversicherung. Seit mehr als zwei Jahrzehnten<br />
ist er zudem im Nebenamt Prüfer im<br />
ersten und zweiten juristischen Staatsexamen.<br />
Wie der Deutsche Anwaltverein (DAV) kürzlich<br />
mitteilte, wird Rechtsanwältin Dr. SYLVIA RUGE zum<br />
April des Jahres neue Hauptgeschäftsführerin des<br />
Vereins. Sie tritt damit die Nachfolge von Rechtsanwalt<br />
PHILIPP WENDT an, der nach 18-jähriger Tätigkeit<br />
für den DAV und die Deutsche Anwaltakademie<br />
auf eigenen Wunsch ausscheidet. Die designierte<br />
neue Hauptgeschäftsführerin ist seit 16 Jahren als<br />
Rechtsanwältin tätig. Sie ist Wirtschaftsmediatorin<br />
und führt die Fachanwaltsbezeichnung für Medizinrecht.<br />
Derzeit ist sie als Geschäftsführerin der<br />
Schlichtungsstelle der Anwaltschaft tätig. Diese<br />
Aufgabe will sie bis zu ihrem Amtsantritt am<br />
1. April weiter ausüben. [Quellen: BSG/DAV]<br />
184 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 21<br />
Rechtsprechung<br />
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Allgemeines Zivilrecht<br />
Nutzungsausfallentschädigung: Abwarten mit Ersatzbeschaffung<br />
(LG Saarbrücken, Urt. v. 30.12.2019 – 13 S 168/19) • Ein Zeitraum von mehreren Monaten, die der<br />
Geschädigte mit der Wiederherstellung oder Ersatzbeschaffung zuwartet, steht der Gewährung einer<br />
Nutzungsausfallentschädigung nicht entgegen, wenn sich ein Nutzungswille des Geschädigten tatsächlich<br />
feststellen lässt. Hinweis: Es ging um eine Nutzungsausfallentschädigung i.H.v. 1.470 € (42 Tage à 35 €).<br />
Der Versicherer wollte keine Nutzungsausfallentschädigung im Hinblick darauf zahlen, dass der Kläger<br />
nahezu vier Monate mit der Ersatzbeschaffung abgewartet hatte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 73/<strong>2020</strong><br />
Kaufvertragsrecht<br />
Dieselskandal: Schlüssigkeit des Klagevortrags<br />
(OLG Stuttgart, Urt. v. 9.1.<strong>2020</strong> – 17 U 107/19) • Trägt der Kläger – ungeachtet eines Hinweises des<br />
Gerichts – ausschließlich zu den objektiven Umständen bezüglich eines sog. Thermofensters in der<br />
Motorsteuerung eines Kfz vor, äußert sich aber überhaupt nicht zu den subjektiven Tatbestandsmerkmalen<br />
des § 826 BGB, so ist die Schadenersatzklage nicht schlüssig. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 74/<strong>2020</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Geschäftsraummietverhältnis: Erleichterte Räumungsverfügung<br />
(OLG Celle, Urt. v. 9.1.<strong>2020</strong> – 2 U 116/19) • Die in § 940a ZPO zum Ausdruck kommende gesetzgeberische<br />
Wertung kann nicht i.R.d. Anwendung von § 940 ZPO auf Geschäftsraummietverhältnisse übertragen<br />
werden. Hinweis: § 940a ZPO findet ausschließlich für Wohnraum Anwendung und ist daher nicht, auch<br />
nicht analog anwendbar, wenn es um die Räumung von Gewerberaum geht. Denn für einen „wenn<br />
schon, dann erst recht“-Schluss ist bei Spezialvorschriften dieser Art kein Raum, weil er auf eine der<br />
Gewaltenteilung zuwiderlaufende Korrektur des Gesetzgebers hinausliefe. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 75/<strong>2020</strong><br />
Bauvertragsrecht<br />
Pauschalpreisabrede: Verstoß gegen Formvorschriften<br />
(OLG Celle, Urt. v. 8.1.<strong>2020</strong> – 14 U 96/19) • Die Formvorschriften des § 7 Abs. 1 HOAI dienen hauptsächlich<br />
dem nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 4.7.2019 – C-377/17 festgestellten – nicht mehr<br />
legitimen – Ziel, ein Abweichen von den Mindest- und Höchstsätzen zu erschweren. Der Zusammenhang<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 185
Fach 1, Seite 22 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
mit diesen ist daher so eng, dass die Norm nicht teilbar ist und sich der Anwendungsvorrang des<br />
Unionsrechts auf den gesamten § 7 Abs. 1 HOAI bezieht. Ein Verstoß gegen die Formvorschriften des § 7<br />
Abs. 1 HOAI führt nicht zur Unwirksamkeit einer Pauschalpreisabrede. Die HOAI-Mindestsätze treffen<br />
keine Aussage in Bezug auf die übliche Vergütung gem. § 632 Abs. 2 2. Alt BGB. Hinweis: In diesem Fall ging<br />
es um Architektenleistungen in Bezug auf ein Mehrfamilienhaus zur Sanierung von 13 Wohnungen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 76/<strong>2020</strong><br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
Eintragung im Grundbuch: Kostenvorschuss<br />
(OLG München, Beschl. v. 2.1.<strong>2020</strong> – 34 Wx 516/19) • Nach den Umständen des Einzelfalls kann auch<br />
dann, wenn mit dem geltend gemachten Vorschuss nur ein geringer Betrag (hier: 16,50 €) gefordert<br />
wird, die beantragte Eintragung im Grundbuch von der Leistung eines Kostenvorschusses abhängig<br />
gemacht werden. Hinweis: Die Rechtspflegerin hatte den beantragten Vollzug einer Eintragung von der<br />
Zahlung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht, weil weitere Zwangssicherungshypotheken<br />
eintragen seien und daher Zahlungsprobleme zu befürchten seien. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 77/<strong>2020</strong><br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Fahrtenbuchauflage: Rechtsanwalt<br />
(VG Saarland, Beschl. v. 23.12.2019 – 5 L 1926/19) • Geeichte Geschwindigkeitsmessgeräte mit<br />
Bauartzulassung der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt erbringen bei Fehlen konkreter Anhaltspunkte<br />
für eine Fehlfunktion oder unsachgemäße Bedienung für die Anordnung zur Führung eines<br />
Fahrtenbuchs hinreichend verlässlich Beweis für eine Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Behauptung<br />
eines Rechtsanwalts, er stelle sein Motorrad mit 110 kw (150 PS), einem Eigengewicht von 235 kg und einer<br />
Höchstgeschwindigkeit von 250 km/h als Kanzleifahrzeug seinem Mandanten zur Verfügung, steht der<br />
Anordnung eines Fahrtenbuchs nicht entgegen. Hinweis: Letztgenannte Behauptung erscheint ein wenig<br />
weit hergeholt, sofern man nicht überwiegend Profirennfahrer vertritt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 78/<strong>2020</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
Behaupteter Kfz-Diebstahl: Äußeres Bild einer bedingungsgemäßen Entwendung<br />
(OLG Dresden, Urt. v. 19.11.2019 – 4 U 479/19) • Mit einem aufgrund seines Aussageverhaltens<br />
unglaubwürdigen Zeugen lässt sich der Beweis des äußeren Bildes einer bedingungsgemäßen Entwendung<br />
in der Kfz-Versicherung nicht führen. Hinweis: Der Versicherungsnehmer hatte seinen Vortrag zur<br />
Aufbewahrung der Fahrzeugschlüssel mehrfach geändert. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 79/<strong>2020</strong><br />
Familienrecht<br />
Betreuungsverfahren: Erneute Anhörung des Betroffenen<br />
(BGH, Beschl. v. 4.12.2019 – XII ZB 392/19) • Hat das Beschwerdegericht in einem Betreuungsverfahren<br />
ein ergänzendes Sachverständigengutachten eingeholt, auf das es seine Entscheidung zu stützen<br />
beabsichtigt, ist der Betroffene vor der Entscheidung erneut persönlich anzuhören (im Anschluss an<br />
Senat, Beschl. v. 24.7.2019 – XII ZB 160/19, FamRZ 2019, 1735 und v. 2.12.2015 – XII ZB 227/12, FamRZ<br />
2016, 300). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 80/<strong>2020</strong><br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Unrichtiges Grundbuch: Beschwerdeberechtigung<br />
(OLG München, Beschl. v. 20.12.2019 – 34 Wx 468/19) • Wird in einem Verfahren nach § 22 Abs. 1 GBO<br />
geltend gemacht, dass der Nacherbenvermerk infolge Veräußerung des betroffenen Grundstücks durch<br />
den befreiten Vorerben gegenstandslos und das Grundbuch damit erwiesenermaßen unrichtig ist, so steht<br />
186 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 23<br />
die Beschwerde gegen die den Berichtigungsantrag ablehnende Entscheidung des Grundbuchamts nicht<br />
dem Veräußerer, sondern nur dem Erwerber zu. Da es die Aufgabe des Grundbuchamts ist, den Nacherben<br />
gem. Art. 103 Abs. 1 GG rechtliches Gehör zu gewähren, kann es vom Antragsteller nicht zu diesem Zweck<br />
durch Zwischenverfügung die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung über das Fehlen oder die<br />
Existenz weiterer als Nacherben in Betracht kommender Personen verlangen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 81/<strong>2020</strong><br />
Zivilprozessrecht<br />
Parteivernehmung von Amts wegen: Ausschöpfung aller Beweismittel<br />
(BGH, Urt. v. 12.12.2019 – III ZR 198/18) • Eine Parteivernehmung von Amts wegen kommt nur in Betracht,<br />
wenn zuvor alle angebotenen Beweismittel ausgeschöpft worden sind und keinen vollständigen<br />
Beweis erbracht haben. Weiterhin muss die beweisbelastete Partei alle ihr zumutbaren Zeugenbeweise<br />
angetreten haben. Dagegen ist es zur Wahrung der Subsidiarität der Parteivernehmung nach § 448 ZPO<br />
nicht erforderlich, dass die beweisbelastete Partei eine im Lager des Prozessgegners stehende Person als<br />
Zeugen benennt. Erst recht muss sie nicht die Parteivernehmung des Gegners beantragen (Fortführung<br />
von BGH, Urt. v. 26.3.1997 – IV ZR 91/96, NJW 1997, 1988). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 82/<strong>2020</strong><br />
Arbeitsrecht<br />
Saison- und Kampagnenbetrieb: Arbeitszeitverlängerung bei erhöhtem Arbeitsaufkommen<br />
(OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 10.12.2019 – 6 A 10942/19) • Eine Arbeitszeitverlängerung nach § 15 Abs. 1<br />
Nr. 2 ArbZG kommt dann in Betracht, wenn das erhöhte Arbeitsaufkommen aufgrund des Jahreslaufs<br />
eintritt und nicht lediglich das Ergebnis unternehmerischer Entscheidungen darstellt. Bei saisonalen<br />
Dienstleistungen muss die Kundennachfrage der jeweiligen Jahresperiode geschuldet sein. Sie darf<br />
hingegen nicht allein auf unternehmerischen Entscheidungen und Angeboten bzw. deren bewusster<br />
Konzeption beruhen. Ein Veranstaltungsunternehmen, dessen Betriebszweck in der Planung, Organisation<br />
und ganzjährigen Durchführung von Großveranstaltungen für elektronische Musik besteht, ist<br />
kein Saison- oder Kampagnebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Nr. 2 ArbZG. Hinweis: In diesem Fall ging es um ein<br />
Veranstaltungsunternehmen mit dem Geschäftszweck Planung, Organisation und Durchführung<br />
musikalischer Großveranstaltungen von 5.000 bis 65.000 Besuchern, wobei auch die Schankgastronomie<br />
bei den Veranstaltungen mit eigenem Personal durchgeführt wird. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 83/<strong>2020</strong><br />
Verfassungs-/Verwaltungsrecht<br />
Isolierter PKH-Antrag innerhalb der Rechtsmittelfrist: Darstellung des Streitverhältnisses<br />
(OVG NRW, Beschl. v. 17.12.2019 – 9 A 2203/18.A) • Ein mittelloser Rechtsmittelführer, der innerhalb einer<br />
Rechtsmittelfrist die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts<br />
beantragt hat, ist grds. bis zur Entscheidung über den Antrag ohne sein Verschulden an der Einlegung<br />
des Rechtsmittels verhindert, sodass regelmäßig eine Wiedereinsetzung in die versäumte Frist in<br />
Betracht kommt. Voraussetzung ist aber, dass innerhalb der Rechtsmittelfrist ein ordnungsgemäß<br />
begründetes und vollständiges Prozesskostenhilfegesuch eingereicht wird. Eine Wiedereinsetzung in die<br />
versäumte Rechtsmittelfrist scheidet aus, wenn ein anwaltlich vertretener Antragsteller nicht innerhalb<br />
der Rechtsmittelfrist wenigstens in groben Zügen dargelegt hat, inwiefern er einen Zulassungsgrund für<br />
gegeben hält (Abgrenzung zu BAG, Beschl. v. 5.7.2016 – 8 AZB 1/16). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 84/<strong>2020</strong><br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeitenrecht<br />
Diebstahl: Urteilsfeststellungen<br />
(OLG Hamm, Beschl. v. 7.1.<strong>2020</strong> – 1 RVs 79/19) • Tatsächliche Feststellungen zur Höhe des Diebesguts sind<br />
bei einer Verurteilung wegen Diebstahls schon deshalb erforderlich, weil sich das Maß der Schuld, das für<br />
den Rechtsfolgenausspruch maßgeblich ist, jedenfalls auch an der Höhe des verursachten Schadens<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 187
Fach 1, Seite 24 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />
orientiert. Soweit das Tatgericht i.R.d. konkreten Strafzumessung strafschärfend berücksichtigt, dass der<br />
Angeklagte bei der jeweiligen Begehung der Taten unter laufender Bewährung gestanden hat, sind<br />
konkrete Feststellungen zu den Bewährungs- oder Haftzeiten des Angeklagten zu treffen. Das Tatgericht<br />
hat sich i.R.d. Strafzumessung mit der Frage zu befassen, welchen Eindruck die nach Begehung der Taten<br />
verbüßte Strafhaft bei dem Angeklagten hinterlassen hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 85/<strong>2020</strong><br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Pflichtverteidiger: Strafvollstreckungsverfahren<br />
(OLG Celle, Beschl. v. 3.12.2019 – 2 Ws 352/19) • Der Umstand, dass der Verurteilte unter rechtlicher<br />
Betreuung steht, stellt für das Erfordernis der Beiordnung eines Verteidigers lediglich ein Indiz dar, das<br />
für sich allein genommen erhebliche Zweifel an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung nicht zu begründen<br />
vermag. Vielmehr ist erforderlich, dass kumulativ noch weitere Gesichtspunkte hinzukommen. Eine<br />
besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage ergibt sich nicht allein aus dem Umstand, dass die<br />
Justizvollzugsanstalt i.R.d. Verfahrens nach § 57 Abs. 1 StGB nacheinander mehrere divergierende<br />
Prognoseeinschätzungen abgegeben hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 86/<strong>2020</strong><br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Anwaltsverschulden<br />
(OLG Hamm, Beschl. v. 20.12.2019 – 2 UF 234/19) • Ein Rechtsanwalt genügt der von ihm geforderten<br />
üblichen Sorgfalt jedenfalls dann nicht mehr, wenn er dieselbe Kanzleikraft, die zuvor weisungswidrig<br />
den falsch adressierten und von ihm unterzeichneten fristgebundenen Schriftsatz gefertigt hat, anweist,<br />
einen korrigierten Schriftsatz zu erstellen, diesen ihm zur Unterschrift vorzulegen und anschließend an<br />
das dort aufgeführte Gericht zu übersenden, ohne die Durchführung dieser Weisung durch weitere<br />
Maßnahmen abzusichern (Anschluss an BGH, Beschl. v. 22.7.2015 – XII ZB 583/14). Dies gilt insb., wenn<br />
der Rechtsanwalt die Kanzleikraft anweist, den korrigierten Ausdruck des Schriftsatzes nicht ihm selbst,<br />
sondern einem Sozietätskollegen zur Unterschrift vorzulegen, weil er selbst für den Rest des Tages<br />
außer Haus ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 87/<strong>2020</strong><br />
Fehlgeschlagene Telefaxübertragung: Verpflichtung zur Übermittlung aus dem beA<br />
(OLG Dresden, Beschl. v. 18.11.2019 – 4 U 2188/19) • Scheitert die Übertragung eines fristgebundenen<br />
Schriftsatzes per Telefax, ist der Rechtsanwalt verpflichtet, den Schriftsatz über das beA zu versenden. Das<br />
Unterlassen ist der vertretenen Partei nur dann nicht als schuldhaftes Versäumnis zuzurechnen, wenn<br />
glaubhaft gemacht wird, dass die Übermittlung aus dem beA nicht möglich war. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 88/<strong>2020</strong><br />
Gebührenrecht<br />
Festsetzung von Bestattungskosten: Streitwert im Eilverfahren<br />
(OVG Lüneburg, Beschl. v. 13.12.2019 – 10 ME 259/19) • Bei Bescheiden über die Festsetzung von<br />
Bestattungskosten und Friedhofsgebühren, die auf bezifferte Geldleistungen gerichtet sind, ist in<br />
Anlehnung an Nr. 1.5 S. 1 Hs. 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Verfahren<br />
des vorläufigen Rechtsschutzes von einem Streitwert i.H.v. einem Viertel des für das Hauptsacheverfahren<br />
anzunehmenden Streitwerts auszugehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 89/<strong>2020</strong><br />
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188 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1561<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Familienrecht<br />
Unterhaltsrecht<br />
Basiswissen 2: Was der anwaltliche Berufsanfänger vom Unterhaltsrecht<br />
wissen muss – formelles Recht<br />
Von Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Weitere Aufsicht führender RiAG a.D., Gelsenkirchen<br />
Inhalt<br />
I. Das Unterhaltshauptsacheverfahren<br />
1. Die Darlegungslast im Leistungsverfahren<br />
2. Durchsetzung von Minderjährigenunterhalt<br />
3. Formulierung des Antrags auf Minderjährigenunterhalt<br />
II. Die Vollstreckung von Unterhaltsbeschlüssen<br />
III. Unterhalt im Scheidungsverbund<br />
IV. Abänderung von Unterhaltstiteln<br />
1. Die Abänderung von gerichtlichen Unterhaltstiteln<br />
2. Die Abänderung von Unterhaltsvergleichen<br />
und vollstreckbaren Urkunden<br />
3. Besonderheiten bei einseitigen notariellen<br />
Verpflichtungserklärungen und<br />
Jugendsamtsurkunden<br />
(§§ 59 Abs. 1 Nr. 3, 60 SGB VIII)<br />
4. Abänderungsantrag<br />
V. Die Kosten des Unterhaltsverfahrens<br />
(§ 243 FamFG)<br />
VI. Die einstweilige Unterhaltsanordnung<br />
(§ 246 FamFG)<br />
VII. Die Durchsetzung des Auskunftsanspruchs<br />
(§ 1605 BGB)<br />
VIII. Die Beschwerde in Unterhaltssachen<br />
(§§ 58 ff., 117 FamG)<br />
IX. Verfahrenskostenhilfe im Unterhaltsverfahren<br />
I. Das Unterhaltshauptsacheverfahren<br />
Das FamFG behandelt das Unterhaltsverfahren ausführlich in den §§ 231–260 FamFG. Der Begriff der<br />
Unterhaltssache wird in § 231 FamFG definiert.<br />
Das gerichtliche Unterhaltsverfahren wird eingeleitet durch einen bestimmten Unterhaltsantrag beim<br />
Familiengericht. § 232 FamFG regelt die örtliche Zuständigkeit in Unterhaltssachen.<br />
1. Die Darlegungslast im Leistungsverfahren<br />
Im Leistungsverfahren verlangt ein Unterhaltsberechtigter von einem Unterhaltspflichtigen einen zu<br />
zahlenden Unterhaltsbetrag. Der Unterhaltsberechtigte trägt dabei im Regelfall die Darlegungs- und<br />
Beweislast für seinen Bedarf und seine Bedürftigkeit.<br />
Hinweis:<br />
Lediglich minderjährige Kinder, die nur den Zahlbetrag der ersten Stufe der Düsseldorfer Tabelle (Mindestunterhalt<br />
abzüglich anteiligen Kindergeldes) geltend machen, sind von der Darlegungs- und Beweislast<br />
entbunden.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 189
Fach 11, Seite 1562<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Familienrecht<br />
Der Unterhaltspflichtige hat die Darlegungs- und Beweislast für die Umstände, aus denen sich seine<br />
eingeschränkte Leistungsfähigkeit ergeben soll (BGH, Urt. v. 7.11.1990 – XII ZR 123/89, FamRZ 1990, 283,<br />
287; OLG Karlsruhe FamRZ 1997, 1011).<br />
2. Durchsetzung von Minderjährigenunterhalt<br />
Das minderjährige Kind kann seinen Unterhalt nicht selbst geltend machen. Übt ein Elternteil die<br />
elterliche Sorge allein aus oder ist ihm die Entscheidung nach § 1628 BGB übertragen, vertritt dieser<br />
Elternteil das Kind allein (§ 1629 Abs. 1 S. 3 BGB). Ab Trennung der Eltern bis zur Rechtskraft der<br />
Scheidung besteht gem. § 1629 Abs. 3 S. 1 BGB Verfahrensstandschaft des betreuenden Elternteils,<br />
der im eigenen Namen den Unterhalt des Kindes geltend machen kann. Wird während eines in<br />
Verfahrensstandschaft zulässigerweise begonnenen isolierten Unterhaltsverfahrens die Ehe rechtskräftig<br />
geschieden, so dauert die Verfahrensstandschaft des Elternteils in Analogie zu § 265 Abs. 2 S. 1<br />
ZPO bis zum Verfahrensende fort, wenn diesem die elterliche Sorge für das Kind übertragen worden ist<br />
oder die vorherige gemeinsame elterliche Sorge nach der Rechtskraft der Scheidung fortbesteht und<br />
sich am Obhutsverhältnis nichts ändert (OLG Hamm FamRZ 1998, 379).<br />
Die Verfahrensstandschaft endet aber in jedem Fall mit der Volljährigkeit des Kindes. Das volljährige Kind<br />
kann nunmehr selbst als Beteiligter das Unterhaltsverfahren betreiben und ein laufendes gerichtliches<br />
Verfahren übernehmen (sog. gewillkürter Beteiligtenwechsel, BGH, Beschl. v. 19.6.2013 – XII ZB 39/11,<br />
FamRZ 2013, 1378). Andernfalls muss der bisher betreuende Elternteil, der jetzt keine Verfahrensbefugnis<br />
mehr besitzt, die Rücknahme erklären. In beiden Fällen ist kein Einverständnis des Verfahrensgegners<br />
erforderlich.<br />
3. Formulierung des Antrags auf Minderjährigenunterhalt<br />
Kindesunterhalt kann unterschiedlich tituliert werden.<br />
• Als statischer Titel:<br />
Der Antragsgegner wird verpflichtet, an den Antragsteller zu Händen seines gesetzlichen Vertreters ab … einen<br />
monatlichen Unterhalt i.H.v. …€zu zahlen.<br />
• Als dynamischer Titel:<br />
Der Antragsgegner wird verpflichtet, an den Antragsteller zu Händen seines gesetzlichen Vertreters ab … einen<br />
monatlichen Unterhalt i.H.v. … % des Mindestunterhalts der jeweiligen Altersstufe, abzüglich des hälftigen<br />
anteiligen Kindergelds zu zahlen.<br />
Der dynamische Titel hat den Vorteil, dass bei der Änderung der Düsseldorfer Tabelle und der<br />
Altersstufe kein Abänderungsverfahren eingeleitet werden muss.<br />
Das minderjährige Kind hat einen Anspruch auf einen dynamischen und unbefristeten Titel über seinen<br />
Unterhalt (OLG Celle, Beschl. v. 15.12.2016 – 19 UF 134/16, FuR 2017, 683; OLG Bamberg, Beschl. v.<br />
14.5.2018 – 2 UF 14/18, FamRZ 2019, 30). Es obliegt der Entscheidung des Unterhaltsberechtigten, ob der<br />
Unterhalt in statischer oder in dynamisierter Form tituliert werden soll (OLG Dresden, Beschl. v. 3.1.2011<br />
– 20 WF 1189/10, FamRZ 2011, 1407).<br />
II. Die Vollstreckung von Unterhaltsbeschlüssen<br />
Nach § 120 Abs. 2 S. 1 FamFG sind Beschlüsse mit Wirksamwerden kraft Gesetzes vollstreckbar, ohne<br />
dass es hierzu einer Vollstreckbarerklärung des Gerichts bedarf. Nach § 120 Abs. 2 S. 2 FamFG ist die<br />
Vollstreckung nur dann mit der Entscheidung in der Hauptsache einzustellen oder zu beschränken,<br />
wenn der Verpflichtete glaubhaft macht, dass die Vollstreckung für ihn einen nicht zu ersetzenden<br />
Nachteil bringen würde.<br />
190 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1563<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Definition:<br />
Die Vollstreckung bringt dem Schuldner dann einen nicht zu ersetzenden Nachteil, wenn der Gläubiger<br />
wegen Mittellosigkeit voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die beigetriebenen Geldbeträge zurückzuerstatten<br />
(BGH, Beschl. v. 30.1.2007 – X ZR 147/06, FamRZ 2007, 554).<br />
§ 120 Abs. 2 S. 2 FamFG ist nicht anwendbar im Falle der Vollstreckung einer einstweiligen Anordnung<br />
in Familienstreitsachen.<br />
III. Unterhalt im Scheidungsverbund<br />
Kindesunterhalt und Ehegattenunterhalt können gem. § 137 FamFG in einem anhängigen Scheidungsantrag<br />
anhängig gemacht werden, indem eine Entscheidung für den Fall der Scheidung begehrt wird.<br />
Dann sind alle im Verbund eingeleiteten Folgesachen gemeinsam mit der Scheidungssache und einheitlich<br />
durch Beschluss zu entscheiden.<br />
IV.<br />
Abänderung von Unterhaltstiteln<br />
1. Die Abänderung von gerichtlichen Unterhaltstiteln<br />
Gerichtliche Unterhaltstitel regeln ein Dauerschuldverhältnis für die Zukunft und erwachsen im<br />
Hauptsacheverfahren in Rechtskraft. § 238 FamFG ermöglicht die Abänderung gerichtlicher Unterhaltstitel<br />
aus dem Hauptsacheverfahren unter Durchbrechung der Rechtskraft vorangegangener<br />
Unterhaltsentscheidungen. Voraussetzung ist eine wesentliche und nachträgliche Änderung der<br />
Rechtslage (hierzu gehört auch eine Änderung der gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung<br />
des BGH) oder der Tatsachen, die der damaligen Entscheidung zugrunde lagen.<br />
Hinweis:<br />
Eine einstweilige Anordnung kann nicht nach § 238 FamFG abgeändert werden.<br />
Der Abänderungsantrag ist nur insoweit zulässig, als die Gründe, auf die er gestützt wird, erst nach dem<br />
Schluss der mündlichen Verhandlung, in der eine Antragserweiterung oder die Geltendmachung von<br />
Einwendungen spätestens hätte erfolgen müssen, entstanden sind.<br />
Nach § 242 FamFG i.V.m. § 769 ZPO kann das Gericht auf Antrag die einstweilige Einstellung der<br />
Zwangsvollstreckung anordnen.<br />
Rechtsfolge eines erfolgreichen Abänderungsverfahrens ist keine völlig freie Neufestsetzung, sondern eine<br />
„entsprechende“ Anpassung der Entscheidung unter Wahrung ihrer Grundlagen (§ 238 Abs. 4 FamFG).<br />
a) Änderung der tatsächlichen Verhältnisse<br />
Die in der Praxis wichtigsten Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse sind z.B.<br />
• unterhaltsrechtlich relevante Einkommensveränderungen, die sich auf Leistungsfähigkeit oder Bedarf<br />
auswirken,<br />
• Veränderung der Erwerbsobliegenheiten eines Beteiligten,<br />
• Erhöhung des Unterhaltsbedarfs durch Wechsel in eine andere Altersstufe der Düsseldorfer Tabelle<br />
sowie Änderung der Tabellenbeträge (i.d.R. jeweils zum Jahreswechsel),<br />
• Hinzutreten weiterer Unterhaltsberechtigter durch Wiederheirat des Unterhaltsschuldners oder<br />
nacheheliche Geburt eines Kindes,<br />
• Verlust des Arbeitsplatzes und Arbeitslosigkeit trotz Erwerbsbemühungen,<br />
• Erbringen von Versorgungsleistungen zugunsten eines neuen Lebenspartners,<br />
• eigene Einkünfte des Kindes z.B. in Form des Bezugs von BAföG-Leistungen,<br />
• Wegfall von eheprägenden Verbindlichkeiten oder Unterhaltsverpflichtungen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 191
Fach 11, Seite 1564<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Familienrecht<br />
Nach § 238 Abs. 1 S. 2 FamFG ist weitere Voraussetzung einer Abänderung die wesentliche<br />
Veränderung der der vorausgegangenen Entscheidung zugrunde liegenden tatsächlichen oder rechtlichen<br />
Verhältnisse. Nach verbreiteter Ansicht liegt eine Wesentlichkeit erst bei einer Änderung der<br />
Zahlbeträge um 10 % vor. Dies stellt jedoch lediglich einen Richtwert dar. Bei beengten wirtschaftlichen<br />
Verhältnissen kann eine Wesentlichkeit bereits deutlich unterhalb dieser Schwelle von 10 % angenommen<br />
werden (BGH, Urt. v. 29.1.1992 – XII ZR 239/90, NJW 1992, 1621). Eine Änderung der Bedarfssätze<br />
der Düsseldorfer Tabelle deutet in aller Regel darauf hin, dass die zugrunde liegenden wirtschaftlichen<br />
Veränderungen wesentlich sind (OLG Hamm, Beschl. v. 29.4.2011 – II-6 WF 128/11, FamRZ 2012, 53).<br />
b) Präklusion<br />
Ein Abänderungsantrag kann nur auf geänderte Tatsachen gestützt werden. Ausgeschlossen sind daher<br />
solche Umstände, die bereits der damaligen Entscheidung zugrunde gelegen haben oder die seinerzeit<br />
vorhanden waren, aber nicht in die Entscheidung eingeflossen sind (Tatsachenpräklusion). Dies ist<br />
einmal der Fall, wenn eine für die Unterhaltsbemessung relevante Tatsache vom damaligen Gericht<br />
übersehen worden ist (dann wäre ein Rechtsmittel erforderlich gewesen) oder vom Beteiligten gar nicht<br />
im Verfahren vorgetragen worden ist.<br />
Da gerichtliche Unterhaltsentscheidungen ein Dauerschuldverhältnis regeln und auf diese Weise in die<br />
Zukunft wirken, liegt ihnen auch immer eine Prognoseentscheidung zugrunde, nämlich die Überlegung,<br />
dass die Verhältnisse in der Zukunft gleich bleiben. Auf der Grundlage der in diesem Verfahren<br />
vorgetragenen Tatsachen versucht das Gericht, die Entwicklung des Unterhalts vorherzusehen.<br />
Der BGH hat in mehreren Entscheidungen deutlich gemacht, dass das Gericht bereits im Erstverfahren<br />
entscheiden muss, soweit eine Entscheidung aufgrund der gegebenen Sachlage und der zuverlässig<br />
voraussehbaren Umstände möglich ist (BGH, Beschl. v. 4.7.2018 – XII ZB 122/17, FamRZ 2018, 1421; BGH<br />
Beschl. v. 15.7.2015 – XII ZB 369/14, FamRZ 2015, 1694; BGH, Urt. v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011,<br />
454). Zumindest aus Gründen der anwaltlichen Vorsicht sollte daher in Unterhaltsverfahren davon<br />
ausgegangen werden, dass sicher bzw. zuverlässig vorhersehbare Änderungen bereits im Erstverfahren<br />
vorzutragen sind, um einem späteren Präklusionseinwand vorzubeugen.<br />
Zukünftige Umstände sind jedenfalls dann zuverlässig vorhersehbar, wenn zwei Faktoren eindeutig<br />
festgelegt werden können:<br />
1. der Zeitpunkt des Eintritts dieser Veränderung (Faktor „Zeit“) und<br />
2. die finanziellen Auswirkungen dieser Veränderung auf die Unterhaltsbemessung (Faktor „Geld“).<br />
c) Zeitgrenze<br />
Die Abänderung ist nach § 238 Abs. 3 S. 1 FamFG möglich ab Rechtshängigkeit – also förmlicher<br />
Zustellung – des Antrags. Jedoch sind unter besonderen Umständen auch rückwirkende Änderungen<br />
des Titels möglich.<br />
Ein Antrag auf Erhöhung des Unterhalts ist nach § 238 Abs. 3 S. 2 FamFG für die Zeit zulässig, für die<br />
nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts Unterhalt für die Vergangenheit verlangt werden kann.<br />
Dies kann einmal durch eine bezifferte Zahlungsaufforderung erfolgt sein, zum anderen aber auch gem.<br />
§ 1613 BGB durch ein korrektes Auskunftsverlangen. Entsprechend ist die Abänderung für die Vergangenheit<br />
von dem Zeitpunkt an möglich, zu welchem der Verpflichtete zum Zwecke der Geltendmachung<br />
des Unterhaltsanspruchs aufgefordert worden ist, über seine Einkünfte und sein Vermögen<br />
Auskunft zu erteilen. Den Zugang eines solchen Verlangens muss der Auffordernde nachweisen. Es<br />
ist ausreichend, aber auch erforderlich, dass die Aufforderung zur Auskunftserteilung Bezug zum<br />
bestehenden Unterhaltstitel aufweist und erkennbar darauf ausgerichtet ist, eine Erhöhung des<br />
titulierten Unterhalts zu erreichen (BGH, Urt. v. 22.11.2006 – XII ZR 24/<strong>04</strong>, NJW 2007, 511).<br />
192 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1565<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
§ 238 Abs. 3 S. 3 FamFG bestimmt für Anträge auf Herabsetzung des Unterhalts, dass diese auch für die Zeit<br />
ab dem Ersten des auf ein entsprechendes Auskunfts- oder Verzichtsverlangen des Antragstellers folgenden<br />
Monats zulässig sind. Auf diese Weise wird die Gleichbehandlung von Gläubiger und Schuldner erreicht.<br />
Das auf eine Herabsetzung gerichtete Verlangen unterliegt spiegelbildlich den Voraussetzungen, für die<br />
nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts Unterhalt für die Vergangenheit verlangt werden kann<br />
(vgl. § 1613 Abs. 1 BGB). Erforderlich ist daher entweder ein Auskunftsverlangen mit dem Ziel der<br />
Herabsetzung des Unterhalts gegenüber dem Unterhaltsgläubiger oder eine „negative Mahnung“, also<br />
die Aufforderung an den Unterhaltsgläubiger, teilweise oder vollständig auf den titulierten Unterhalt zu<br />
verzichten. Diesen Anforderungen genügt eine Mitteilung des Unterhaltsschuldners an den Unterhaltsgläubiger,<br />
in welcher der Unterhaltsschuldner schlüssig darlegt, dass nunmehr nur noch ein geringerer<br />
Unterhalt geschuldet sei, und den Unterhaltsgläubiger ernsthaft zu der Erklärung auffordert, die<br />
Herabsetzung des Unterhalts zu akzeptieren.<br />
d) Darlegungs- und Beweislast<br />
Grundsätzlich muss auch im Abänderungsverfahren nach § 238 FamFG der Antragsteller die Grundlagen<br />
des früheren Unterhaltstitels und die inzwischen eingetretenen Veränderungen darlegen und beweisen<br />
(BGH, Urt. v. 5.5.20<strong>04</strong> – XII ZR 15/03, FamRZ 20<strong>04</strong>, 1179).<br />
Betrifft der Abänderungsantrag den während der Minderjährigkeit titulierten Unterhaltsanspruch<br />
eines jetzt volljährigen Kindes, ist dieses für den Fortbestand des Unterhaltsanspruchs in der titulierten<br />
Höhe darlegungs- und beweispflichtig. Die Tatsache der Volljährigkeit führt zu einer Verlagerung der<br />
Darlegungs- und Beweislast auf das volljährige Kind, das das Fortbestehen der rechtlichen Grundlagen<br />
des Unterhaltsanspruchs und seine Bedürftigkeit darlegen muss, und zwar auch in einem Abänderungsverfahren<br />
des Unterhaltspflichtigen. Erforderlich ist also auch im Abänderungsverfahren eines<br />
Elternteils insb. der schlüssige Vortrag, welcher Haftungsanteil auf den antragstellenden Elternteil<br />
entfällt (BGH, Beschl. v. 7.12.2016 – XII ZB 422/15, FamRZ 2017, 370 mit Anm. KNITTEL; SCHWONBERG in<br />
Eschenbruch/Schürmann, Unterhaltsprozess, 2014, Kap. 2 Rn 1143 m.w.N.; OLG Bremen, Beschl.<br />
v. 29.6.2011 – 4 WF 51/11, NJW 2011, 2596).<br />
2. Die Abänderung von Unterhaltsvergleichen und vollstreckbaren Urkunden<br />
Die Änderung von gerichtlichen Vergleichen nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und vollstreckbaren Urkunden,<br />
sofern sie eine Verpflichtung zu künftig fällig werdenden wiederkehrenden Leistungen enthalten, richtet<br />
sich nach § 239 FamFG. Eine nach § 59 Abs. 1 S. 1 SGB VIII errichtete Jugendamtsurkunde steht nach § 60<br />
SGB VIII in ihrer vollstreckungsrechtlichen Wirkung einer durch das Gericht oder den Notar errichteten<br />
Urkunde gleich und unterliegt somit ebenfalls der Abänderung nach § 239 FamFG.<br />
Die Vertragspartner können die Kriterien der Abänderbarkeit selbst bestimmen. Andernfalls gelten die<br />
Regeln über die Störung bzw. den Wegfall der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB.<br />
Dabei unterliegt die Abänderung eines Vergleichs weder einer Wesentlichkeitsgrenze noch einer<br />
zeitlichen Beschränkung. Daher kann ein solcher Titel rückwirkend auch schon für die Zeit vor Erhebung<br />
des Abänderungsantrags ab dem Zeitpunkt abgeändert werden, in dem materiell-rechtlich ein Wegfall der<br />
Geschäftsgrundlage eingetreten ist. Allerdings müssen bei einer rückwirkenden Mehrforderung die<br />
Voraussetzungen des § 1613 Abs. 1 BGB vorliegen (OLG Naumburg, Urt. v. 8.12.2009 – 3 UF 9/09, FamRZ<br />
2010, 1458).<br />
Allerdings kann der Verzicht auf eine vorherige Aufforderung des Gegners zur freiwilligen Abänderung<br />
des Titels zur Ablehnung der Verfahrenskostenhilfe wegen Mutwilligkeit führen (OLG München, Beschl.<br />
v. 29.9.2010 – 33 WF 1567/10, FamRZ 2011, 386 [LS]; OLG Hamburg, Beschl. v. 5.12.012 – 7 WF 117/12,<br />
NJW 2013, 2<strong>04</strong>2) und dem Gegner die Möglichkeit eines sofortigen Anerkenntnisses mit der negativen<br />
Kostenfolge des § 243 Nr. 4 FamFG geben (OLG Oldenburg, Beschl. v. 15.2.2011 – 14 UF 213/10,<br />
FamRZ 2011, 1090; OLG Hamm, Beschl. v. 2.2.2011 – 8 WF 262/10, FamRZ 2011, 1245; OLG Stuttgart,<br />
Beschl. v. 31.8.2011 – 17 UF 194/11, FamRZ 2012, 809).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 193
Fach 11, Seite 1566<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Familienrecht<br />
Rechtsfolge ist eine richterliche Vertragsanpassung nach sorgfältiger Prüfung unter Berücksichtigung<br />
der Interessen beider Beteiligter. Es genügt nicht, dass ein weiteres Festhalten am Vereinbarten nur für<br />
einen Beteiligten unzumutbar erscheint; vielmehr muss das Abgehen vom Vereinbarten beiden<br />
Beteiligten zumutbar sein.<br />
Den die Abänderung begehrenden Antragsteller trifft die vollumfängliche Darlegungs- und Beweislast<br />
dafür, welche Umstände der damaligen Vereinbarung zugrunde gelegen haben und dass sich die<br />
maßgeblichen Verhältnisse seit dem Vergleichsschluss überhaupt geändert haben. Beruft sich ein<br />
Beteiligter darauf, dass in der Vereinbarung ausdrücklich auch eine Abänderbarkeit für den Fall einer<br />
späteren Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ausgeschlossen sei, trägt er hierfür die Darlegungsund<br />
Beweislast (BGH, Urt. v. 25.11.2009 – XII ZR 8/08; FamRZ 2010, 192, 194; NJW 2010, 444).<br />
3. Besonderheiten bei einseitigen notariellen Verpflichtungserklärungen und Jugendamtsurkunden<br />
(§§ 59 Abs. 1 Nr. 3, 60 SGB VIII)<br />
Bei einseitigen Unterhaltsverpflichtungen ergibt sich aus der Urkunde selbst nur eine Bindungswirkung<br />
für den Unterzeichner der Verpflichtungserklärung, der keine freie Abänderung der von ihm einseitig<br />
errichteten Jugendamtsurkunde ohne Berücksichtigung von deren Bindungswirkung beantragen kann<br />
(BGH, Urt. v. 4.5.2011 – XII ZR 70/09, NJW 2011, 1874, 1876).<br />
Erfolgreich ist sein Änderungsverlangen nur dann, wenn eine nachträgliche Änderung der tatsächlichen<br />
Umstände, des Gesetzes oder der höchstrichterlichen Rechtsprechung mit Auswirkungen auf die Höhe<br />
seiner Unterhaltspflicht eingetreten ist. Dazu muss er auch die seiner damaligen Verpflichtung nach<br />
Grund und Höhe zugrunde liegenden Umstände darlegen.<br />
Auch der Unterhaltsberechtigte muss, um eine Erhöhung der titulierten Zahlungen zu erreichen, einen<br />
Abänderungsantrag stellen. Er muss allerdings nur dann Abänderungsgründe vortragen, wenn der<br />
einseitigen Verpflichtungserklärung eine Vereinbarung der Beteiligten zugrunde liegt (BGH, Urt.<br />
v. 4.5.2011 – XII ZR 70/09, NJW 2011, 1874).<br />
4. Abänderungsantrag<br />
Der Antrag muss den abzuändernden Titel genau bezeichnen und den Betrag, auf den der Unterhalt<br />
abgeändert werden soll, nennen. Zumindest bei einer rückwirkend verlangten Abänderung sollte der<br />
Termin genannt werden, zu dem die Abänderung erfolgen soll; andernfalls besteht die Gefahr, dass das<br />
Gericht die Abänderung erst vom Zeitpunkt der Zustellung an ausspricht.<br />
V. Die Kosten des Unterhaltsverfahrens (§ 243 FamFG)<br />
Nach § 243 FamFG erfolgt die Kostenverteilung nach billigem Ermessen, wobei die wesentlichen<br />
Gesichtspunkte unter Nr. 1 bis Nr. 4 aufgezählt sind:<br />
• Kostenverteilung im Verhältnis von Obsiegen und Unterliegen, § 243 Nr. 1,<br />
• Auskunftsverweigerung, § 243 Nr. 2,<br />
• Ungenügende Auskunft gegenüber dem Gericht, § 243 Nr. 3,<br />
• Sofortiges Anerkenntnis, § 243 Nr. 4.<br />
VI. Die einstweilige Unterhaltsanordnung (§ 246 FamFG)<br />
Das Verfahren der einstweiligen Anordnung soll einen schnellen Unterhaltstitel ermöglichen, ist aber in<br />
der Praxis nicht ohne Risiken.<br />
In Unterhaltssachen ist wegen der Spezialregelung des § 246 FamFG kein dringendes Bedürfnis für ein<br />
sofortiges Tätigwerden erforderlich. Ein Anordnungsanspruch besteht, wenn sich nach dem Ergebnis<br />
194 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1567<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
des summarischen Erkenntnisverfahrens ein materiell-rechtlicher Unterhaltsanspruch des Anspruchsstellers<br />
für das Gericht ergibt. Allerdings kann im Verfahren der einstweiligen Unterhaltsanordnung nur<br />
zukünftiger Unterhalt, aber kein rückständiger Unterhalt tituliert werden.<br />
Die Begründung muss die wesentlichen verfahrensrechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen<br />
enthalten; zudem sind die Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 S. 2 FamFG glaubhaft zu machen.<br />
Die Glaubhaftmachung nach § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 294 ZPO erfolgt in der Praxis regelmäßig durch<br />
Vorlage von Belegen über die finanziellen Verhältnisse der Beteiligten, seltener durch eine Versicherung<br />
an Eides statt.<br />
Nach § 246 Abs. 2 FamFG ergeht die Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung, wenn dies zur<br />
Aufklärung des Sachverhalts oder für eine gütliche Streitbeilegung geboten erscheint. Damit ist die<br />
mündliche Verhandlung vom Gesetzgeber als Regelfall gewollt, bevor eine einstweilige Anordnung in<br />
Unterhaltssachen ergeht. Nur in einfach gelagerten oder besonders eilbedürftigen Fällen kann die<br />
Entscheidung ausnahmsweise ohne mündliche Verhandlung erfolgen.<br />
Im Antrag kann der volle Unterhalt geltend gemacht werden. Das Gericht kann auch einen in der Höhe<br />
begrenzten oder zeitlich befristeten Unterhalt zusprechen. Das auf einer nur summarischen Prüfung<br />
beruhende Verfahren der einstweiligen Anordnung ist auch nicht dazu vorgesehen, unklare Sachverhalte<br />
oder schwere Rechtsfragen zu klären. In diesen Fällen muss mit einer kostenpflichtigen<br />
Zurückweisung des Antrags gerechnet werden.<br />
Für das Verfahren der einstweiligen Unterhaltsanordnung – geregelt in den §§ 246 i.V.m. 49–57<br />
FamFG – besteht kein Anwaltszwang.<br />
Das Gericht entscheidet über den Unterhaltsanordnungsantrag durch zu begründenden Beschluss,<br />
der auch eine Kostenentscheidung enthält. Beim Verfahrenswert wird grds. die Hälfte des für die<br />
Hauptsache bestimmten Hauptsachewertes angesetzt, mithin der sechsfache Wert des Unterhaltsantrags,<br />
vgl. § 41 S. 2 FamGKG.<br />
Beachte:<br />
Die einstweilige Unterhaltsanordnung ist nach § 57 S. 1 FamFG nicht anfechtbar.<br />
Die einstweilige Anordnung schafft lediglich eine einstweilige Vollstreckungsmöglichkeit wegen<br />
eines vorläufig als bestehend angenommenen Anspruchs. Sie ist der Rechtskraft nicht fähig und kann<br />
mit Rückwirkung aufgehoben werden. Daher nimmt der Erlass einer einstweiligen Unterhaltsanordnung<br />
dem Unterhaltsgläubiger nicht das Rechtsschutzbedürfnis für ein Hauptsacheverfahren<br />
(OLG Thüringen, Beschl. v. 27.9.2010 – 1 WF 327/10, FamRZ 2011, 491; OLG München, Beschl.<br />
v. 30.8.2011 – 11 W 1535/11, FamRZ 2012, 391).<br />
Die einstweilige Unterhaltsanordnung ist eine Eilmaßnahme, d.h. es bedarf auch keiner Wirksamkeitsanordnung<br />
nach § 116 Abs. 3 FamFG – vielmehr ist die Unterhaltsanordnung mit Erlass der Verkündung<br />
sofort wirksam und vollziehbar. Der Unterhaltsanordnungsbeschluss ist vollstreckbar nach §§ 7<strong>04</strong> ff.<br />
ZPO (vgl. § 120 Abs. 1 FamFG); es bedarf nach § 53 Abs. 1 FamFG keiner Vollstreckungsklausel.<br />
Die einstweilige Anordnung tritt nach § 56 Abs. 1 FamFG bei Wirksamwerden einer anderweitigen<br />
Regelung außer Kraft, es sei denn, das Gericht hat einen früheren Zeitpunkt bestimmt. Erforderlich ist<br />
dafür die Rechtskraft einer anderweitigen Regelung in der betreffenden Unterhaltssache.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 195
Fach 11, Seite 1568<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Familienrecht<br />
Das Familiengericht kann nach § 54 Abs. 1 S. 1 FamFG auf Antrag die Entscheidungen in der einstweiligen<br />
Anordnungssache aufheben oder ändern. Die Änderung ist nur aufgrund neuer Tatsachen möglich, die<br />
der Antragsteller vortragen muss.<br />
Der im Verfahren unterlegene Beteiligte kann sich durch einen Antrag nach § 52 Abs. 2 FamFG zur Wehr<br />
setzen. Dann wird dem Beteiligten, der die einstweilige Anordnung erwirkt hat, aufgegeben, binnen<br />
einer zu bestimmenden Frist Antrag auf Einleitung des Hauptsacheverfahrens oder Antrag auf<br />
Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für das Hauptsacheverfahren zu stellen, § 52 Abs. 2 S. 1 FamFG.<br />
Dieses Fristsetzungsverfahren nach § 52 Abs. 2 FamFG ist aber i.d.R. ungeeignet, um eine schnelle<br />
Klärung der Berechtigung der einstweiligen Unterhaltsanordnung herbeizuführen, da der Berechtigte<br />
das Verfahren so verzögern kann, um weiter aus der einstweiligen Anordnung zu vollstrecken.<br />
Die h.M. gibt daher auch dem Unterhaltschuldner die Möglichkeit, mit einem negativen Feststellungsantrag<br />
(verbunden mit einem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 242<br />
FamFG) selbst die Initiative zu ergreifen.<br />
Ein Abänderungsverfahren nach § 238 Abs. 1 FamFG ist nicht zulässig, da diese Vorschrift eine<br />
Abänderung nur von „Endentscheidungen“ erlaubt. Die einstweilige Unterhaltsanordnung ist hingegen<br />
nur eine vorläufige Regelung (vgl. §§ 49 Abs. 1, 246 Abs. 1 FamFG).<br />
VII. Die Durchsetzung des Auskunftsanspruchs (§ 1605 BGB)<br />
Der materielle Auskunftsanspruch leitet sich aus § 1605 BGB ab. Darüber hinaus ist die Vorschrift auf<br />
den Unterhaltsanspruch zwischen den nicht verheirateten Eltern eines Kindes (§ 1615l Abs. 3 S. 1 BGB),<br />
zwischen getrennt lebenden (§ 1361 Abs. 4 S. 4 BGB) und geschiedenen Eheleuten (§ 1580 S. 2 BGB) sowie<br />
für den nachpartnerschaftlichen Anspruch nach § 16 LPartG anwendbar.<br />
Die Auskunft soll die die notwendigen Kenntnisse verschaffen, um den Unterhalt zutreffend berechnen<br />
zu können und so mittels Information einen Rechtsstreit zu vermeiden.<br />
Die Auskunft ist nach § 1605 Abs. 1 S. 1 BGB über Einkünfte und Vermögen zu erteilen. Sie wird<br />
umfassend geschuldet und hat alle Positionen zu enthalten, die insb. für die Beurteilung der<br />
Leistungsfähigkeit von Bedeutung sein können. Solche Positionen sind die Bezüge, Abzüge und<br />
Belastungen sowie u.U. auch das Vorhandensein von anderen vor- und gleichrangigen Unterhaltsberechtigten.<br />
Die Auskunft ist nach §§ 260, 261 BGB zu erteilen. Sie hat die systematische Zusammenstellung aller<br />
erforderlichen Angaben zu umfassen, die notwendig sind, um dem Auskunftsberechtigten ohne<br />
übermäßigen Arbeitsaufwand eine Berechnung seiner Unterhaltsansprüche zu ermöglichen. Die<br />
Auskunft ist eine Wissenserklärung, die der Schriftform bedarf und vom Auskunftspflichtigen persönlich<br />
in einem Schreiben zu erteilen ist (KG, Beschl. v. 30.1.2015 – 17 WF 1/15, FamRZ 2015, 1974). Der Anwalt ist<br />
nur Bote bei der Überbringung der persönlichen Erklärung des Mandanten.<br />
Der unselbstständige Arbeitnehmer hat das tatsächlich erzielte Einkommen (Bruttogehalt, gesetzliche<br />
Abzüge wie Steuern und Sozialabgaben, unterjährige Sonderzahlungen, Spesen, Auslösungen, Tantiemen,<br />
Einkünfte aus Nebentätigkeit, Krankengeld und sonstige Sozialleistungen, Kapitaleinkünfte,<br />
Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung) anzugeben. Dazu zählt auch, ob und mit welchem<br />
Ergebnis ein Steuererstattungsverfahren durchgeführt wurde. Vom selbstständig Erwerbstätigen kann<br />
regelmäßig Auskunft für einen Dreijahreszeitraum verlangt werden.<br />
Beachte:<br />
Der im gerichtlichen Verfahren gestellte Auskunftsantrag muss hinreichend bestimmt sein; andernfalls ist<br />
er nicht vollstreckbar.<br />
196 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Familienrecht Fach 11, Seite 1569<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Nach § 1605 Abs. 1 S. 2 BGB ist die Vorlage von Belegen geschuldet; dieser Anspruch bedarf der<br />
gesonderten Titulierung. Belege, die ein Auskunftspflichtiger vorlegen soll, müssen in dem Titel<br />
bezeichnet und daher jedenfalls in den Entscheidungsgründen konkretisiert werden. Hierzu ist es<br />
jedenfalls erforderlich, dass aus dem Titel der Zeitraum, auf den sich die vorzulegenden Belege beziehen<br />
müssen, hervorgeht (BGH, Beschl. v. 3.7.2019 – XII ZB 116/19, FamRZ 2019, 1442; BGH, Beschl. v. 11.5.2016 –<br />
XII ZB 12/16, FamRZ 2016, 1448).<br />
Der unselbstständig tätige Unterhaltspflichtige hat die Lohn- bzw. Gehaltsbescheinigungen i.d.R. für<br />
den Jahreszeitraum (letztes Kalenderjahr oder die vergangenen zwölf Monate) vorzulegen. Hinzu<br />
kommen ggf. Abrechnungen über Spesen und Auslösungen, Krankengeld-, Arbeitslosengeld-, Arbeitslosenhilfe-<br />
oder Rentenbescheide. Die Vorlagepflicht umfasst auch Steuerbescheide, die in dem von der<br />
Auskunft umfassten Zeitraum ergangen sind, sowie die Steuererklärung (BGH, Urt. v. 29.6.1983 – IVb ZR<br />
391/81, NJW 1983, 2243). Der Selbstständige hat auf Verlangen die Bilanzen nebst Gewinn- und<br />
Verlustrechnungen, die Einkommensteuererklärung und den Einkommensteuerbescheid vorzulegen.<br />
Die Vollstreckung aus dem Auskunftstitel kann sich nach § 887 ZPO oder nach § 888 ZPO richten, je<br />
nachdem ob die vorzunehmende Handlung nur von dem Schuldner selbst (Regelfall, § 888 ZPO mit der<br />
Möglichkeit der Zwangsgeldfestsetzung und Zwangshaft) oder selbstständig von Dritten (§ 887 ZPO mit<br />
der Möglichkeit der Ersatzvornahme) vorgenommen werden kann.<br />
Der Verfahrenswert des Auskunftsanspruchs beträgt i.d.R. einen Bruchteil des Leistungsanspruchs,<br />
meist 1/5 des Jahresbetrags des vom Antragsteller erstrebten Unterhalts.<br />
VIII. Die Beschwerde in Unterhaltssachen (§§ 58 ff., 117 FamFG)<br />
Gegen eine Hauptsacheentscheidung kann Beschwerde eingelegt werden, wenn der Beschwerdegegenstand<br />
600 € übersteigt.<br />
Die Beschwerde ist frist- und formgerecht gem. §§ 63, 64 FamFG zu erheben. Sie kann wirksam nur<br />
bei dem Gericht eingelegt werden, dessen Entscheidung angefochten wird, vgl. § 64 Abs. 1 FamFG. Es<br />
ist nicht möglich, bei dem Beschwerdegericht selbst Beschwerde einzulegen. Die Beschwerde darf<br />
auch keinesfalls „bedingt“ eingelegt werden, etwa durch Verfahrenskostenhilfe-Bewilligung. Dies ist<br />
unzulässig (vgl. BGH, Beschl. v. 8.12.2010 – XII ZB 140/10, FamRZ 2011, 366).<br />
Die Beschwerdeeinlegungsfrist beträgt nach § 63 Abs. 1 FamFG einen Monat und beginnt mit der – von<br />
Amts wegen erfolgenden – Zustellung des in vollständiger schriftlicher Form abgefassten Unterhaltsbeschlusses<br />
(§ 63 Abs. 3 FamFG).<br />
§ 117 Abs. 1 S. 1 FamFG statuiert abweichend von § 65 FamFG eine allgemeine Begründungspflicht für<br />
Beschwerden in Unterhaltssachen. Danach muss der Beschwerdeführer einen bestimmten Sachantrag<br />
stellen und diesen begründen.<br />
IX. Verfahrenskostenhilfe im Unterhaltsverfahren<br />
Die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe (Verfahrenskostenhilfe – VKH) setzt zunächst einen<br />
entsprechenden Antrag voraus.<br />
Die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung muss hinreichende Aussicht auf Erfolg<br />
bieten. Erforderlich ist die Zulässigkeit des beabsichtigten Verfahrens und die schlüssige Darlegung des<br />
Anspruchs mit Beweisantritt.<br />
Die Verfahrenskostenhilfebedürftigkeit hängt nach § 115 ZPO vom Einkommen und Vermögen des<br />
Antragstellers ab. Bei der Verfahrensstandschaft nach § 1629 Abs. 3 BGB ist nicht auf das Kind, sondern<br />
auf den klagenden Elternteil abzustellen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 197
Fach 11, Seite 1570<br />
Basiswissen Unterhaltsrecht<br />
Familienrecht<br />
Auch ein Anspruch auf einen Verfahrenskostenvorschuss (VKV) z.B. gegen die Ehefrau zählt zum<br />
Vermögen. Die Versagung von VKH wegen eines Vorschussanspruchs ist jedoch nur möglich, wenn der<br />
Anspruch realisierbar ist, d.h. unzweifelhaft besteht und kurzfristig durchsetzbar ist.<br />
Praxishinweis:<br />
Zu bedenken ist in der anwaltlichen Praxis, dass die Bewilligung der Verfahrenskostenhilfe immer nur<br />
eine Entlastung der eigenen Kosten des Mandanten bewirkt, nicht aber im Fall eines ganz oder teilweise<br />
verlorenen Verfahrens vor den Kosten der Gegenseite schützt. Ein zu optimistisch gestellter Antrag<br />
trägt daher erhebliche Risiken für den Mandanten in sich.<br />
Zudem ist die Bewilligung der Verfahrenskosten gegen Ratenzahlung letztlich nur ein zinsloser<br />
Staatskredit, bei dem im Ergebnis der Mandant alle Kosten selbst tragen muss.<br />
Die Prüfung erfolgt grds. aufgrund des Sach- und Streitstands zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife<br />
des VKH-Gesuchs.<br />
Mutwillig handelt eine Partei stets dann, wenn sie ihre Rechte in gleicher Weise, jedoch auf einem<br />
billigeren Wege verfolgen könnte. Maßstab für die Beurteilung der Mutwilligkeit ist letztlich das<br />
hypothetische Verhalten einer selbstzahlenden Partei, die sich in der Situation des Antragstellers<br />
befindet, ihre Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt.<br />
In der Praxis kommt es nicht selten vor, dass ein Antragsteller VKH für Unterhalt begehrt und dabei eine<br />
– für den Antragsgegner erkennbar – zu positive Berechnung vorlegt. So werden z.B. die Einkünfte<br />
deutlich besser dargestellt und Abzüge wie Schuldenbelastungen, weitere Unterhaltsforderungen von<br />
nichtehelichen Kindern usw. „vergessen“.<br />
Der Antragsgegner könnte diese – übersetzte – Forderung bereits im VKH-Prüfungsverfahren mit<br />
wenigen Sätzen entkräften, die Bewilligung der VKH für den Antragsteller verhindern und so die<br />
Rechtshängigkeit der Forderung verhindern. Stattdessen schweigt er im VKH-Prüfungsverfahren.<br />
Nachdem das Gericht dem Antragsteller daraufhin für die – überhöhte – Forderung VKH bewilligt hat,<br />
stellt der Antragsgegner Abweisungsantrag und beantragt seinerseits VKH.<br />
Umstritten ist, ob bei Schweigen des Antragsgegners im VKH-Verfahren dessen späteren VKH-Antrag<br />
der Einwand der Mutwilligkeit entgegengehalten werden kann (Mutwilligkeit bejahen z.B. OLG Celle,<br />
Beschl. v. 12.8.2011 – 10 WF 299/10, FamRZ 2012, 47; OLG Köln, Beschl. v. 11.8.2011 – 26 WF 143/11, FamRB<br />
2012, 11; OLG Oldenburg, Beschl. v. 17.2.2009 – 13 WF 24/09, FamRZ 2009, 895; Mutwilligkeit verneint<br />
z.B. OLG Oldenburg, Beschl. v. 25.4.2012 – 3 WF 98/12, FamRZ 2013, 59). Auf dieses Risiko sollte der<br />
Mandant hingewiesen werden.<br />
Praxishinweis:<br />
Zu bedenken ist in der anwaltlichen Beratungspraxis, dass auch ein letztlich gewonnenes gerichtliches<br />
Verfahren nicht immer dazu führt, die eigenen Kosten vom Gegner erstattet zu bekommen. Ist der<br />
Gegner mittellos – dies ist bei Antragstellern im Unterhaltsverfahren nicht selten –, bekommt auch<br />
der obsiegende Antragsgegner seine Anwaltskosten nicht erstattet und muss sie selbst zahlen.<br />
Wird der VKH-Antrag vom Familiengericht abgelehnt, ist dagegen die sofortige Beschwerde nach § 113<br />
Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. §§ 127 Abs. 2, Abs. 3, 567 ff. ZPO zulässig (vgl. dazu ROßMANN, Unterhaltsprozess,<br />
Kap. 3 Rn 1074 ff.).<br />
198 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1009<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
Strafverfahren<br />
Hauptverhandlung – StPO-Änderungen 2019<br />
Modernisierung des Strafverfahrens – Teil 2: Hauptverhandlung<br />
Von Rechtsanwalt DETLEF BURHOFF, RiOLG a.D., Leer/Augsburg<br />
Inhalt<br />
I. Vorbemerkung<br />
1. Gesetzgebungsverfahren<br />
2. Wesentlicher Inhalt der Neuregelung<br />
II. Änderungen im Ablehnungsrecht<br />
(§§ 25, 26, 29 StPO)<br />
1. Neuregelung<br />
2. Ablehnungszeitpunkt (§§ 25, 26 StPO)<br />
3. Ablehnungsverfahren (§ 29 StPO)<br />
4. Erfolgreiches Ablehnungsgesuch<br />
(§ 29 Abs. 4 StPO)<br />
III. Besetzungsfragen/-mitteilung<br />
(§§ 222a, 222b, 338 StPO)<br />
1. Neuregelung<br />
2. Änderungen im Überblick<br />
3. Rechtsmittelverfahren/Revision<br />
(§ 338 StPO)<br />
IV. Unterbrechung der Hauptverhandlung<br />
(§ 229 StPO)<br />
1. Neuregelung<br />
2. Erweiterung des Katalogs der Hemmungsgründe<br />
3. Höchstdauer der Hemmung<br />
V. Neuregelungen im Beweisantragsrecht<br />
(§§ 219, 244, 245 StPO)<br />
1. Neuregelung<br />
2. Legaldefinition des Begriffs des Beweisantrags<br />
(§ 244 Abs. 3 S. 1 StPO)<br />
3. Systematisierung der Ablehnungsgründe<br />
(§ 244 Abs. 3 S. 2 und 3 StPO)<br />
4. „Beweisersuchen“ mit dem Ziel der<br />
Prozessverschleppungsabsicht<br />
5. Beweisanträge im Ermittlungsverfahren<br />
(§ 219 StPO)<br />
6. Präsente Beweismittel (§ 245 Abs. 2 StPO)<br />
VI. Verhandlungsleitung/Gesichtsverhüllung<br />
(§ 68 StPO, § 176 GVG)<br />
1. Neuregelung<br />
2. Verbot der Gesichtsverhüllung (§ 176 GVG)<br />
3. Vernehmung von Personen/Zeugenschutz<br />
(§ 68 Abs. 3 S. 3 StPO)<br />
VII. Vorführung einer Bild-Ton-Aufnahme nach<br />
§ 255a StPO<br />
1. Neuregelung<br />
2. Zulässigkeit der Vorführung der Bild-Ton-<br />
Aufzeichnung (§ 255a Abs. 2 S. 1 StPO)<br />
VIII. Nebenklage (§§ 397a, 397b StPO)<br />
1. Neuregelung<br />
2. Erweiterung der Privilegierungstatbestände<br />
3. Gemeinschaftliche Nebenklage<br />
(§ 397b StPO)<br />
IX. Exkurs: Gerichtsdolmetschergesetz<br />
1. Neuregelung<br />
2. Regelungsüberblick<br />
I. Vorbemerkung<br />
1. Gesetzgebungsverfahren<br />
Das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens v. 10.12.2019“ ist am 13.12.2019 in Kraft getreten<br />
(BGBl I, S. 2121). Das Gesetz hat eine ganze Reihe – zum Teil wesentlicher – Änderungen in der StPO<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 199
Fach 22, Seite 1010<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
gebracht. Zu den das Ermittlungsverfahren betreffenden Änderungen s. Teil 1: Ermittlungsverfahren<br />
(<strong>ZAP</strong> F. 22, S. 997 ff.); der vorliegende zweite Teil schließt hieran an und stellt die wichtigsten<br />
Änderungen für die Hauptverhandlung vor.<br />
Hinweis:<br />
Da es sich um Verfahrensrecht handelt, sind die neuen Regelungen auch in den bereits laufenden<br />
Strafverfahren anzuwenden.<br />
2. Wesentlicher Inhalt der Neuregelung<br />
Das Gesetz trägt zwar den Begriff „Modernisierung“ im Namen, sein Ziel ist aber nicht ein moderneres<br />
Strafverfahren, was man z.B. mit einer technisch ohne Weiteres möglichen Dokumentation der<br />
Hauptverhandlung erreicht hätte, sondern im Wesentlichen, das Strafverfahren zu beschleunigen und<br />
zu verbessern (BT-Drucks 19/14747, S. 1 ff.; vgl. zum Gesetzgebungsverfahren BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 997 f.).<br />
Dazu ist für die Hauptverhandlung auf folgende Punkte hinzuweisen:<br />
• Verfahrensvereinfachung und Verfahrensbeschleunigung.<br />
• Für Besetzungsrügen ist ein Vorabentscheidungsverfahren eingeführt worden (wegen der Einzelh.<br />
s.u. III).<br />
• Das geänderte Befangenheitsrecht sieht vor, den abgelehnten Richter ohne Beschränkung während<br />
der Hauptverhandlung mitwirken zu lassen. Über den Befangenheitsantrag soll im Grundsatz spätestens<br />
bis vor Ablauf von zwei Wochen entschieden werden (wegen der Einzelh. s.u. II).<br />
• Im Beweisantragsrecht sollen Beweisersuchen, die mit dem Ziel der Prozessverschleppung gestellt<br />
werden, nicht mehr als Beweisantrag abgelehnt werden müssen. Auch soll es für die Prozessverschleppungsabsicht<br />
ohne Bedeutung sein, ob die Hauptverhandlung zu einer wesentlichen oder<br />
erheblichen Verzögerung führen würde (vgl. wegen der Einzelh. u. V).<br />
• Künftig sollen auch Mutterschutz und Elternzeit Gründe dafür sein, den Lauf der Unterbrechungsfrist<br />
bis zu einer Dauer von zwei Monaten zu hemmen (vgl. wegen der Einzelh. u. IV).<br />
• Verhüllungsverbot:<br />
Es soll den Verfahrensbeteiligten in Gerichtsverhandlungen generell verboten werden, ihr Gesicht<br />
ganz oder teilweise zu verdecken.<br />
• Stärkung des Opferschutzes:<br />
Zur Stärkung der Opferschutzes im Strafverfahren ist die Möglichkeit der audiovisuellen Vernehmung<br />
der (vermeintlichen) Opfer bestimmter schwerer Straftaten auf Vernehmungen von zur Tatzeit<br />
erwachsenen Opfern von Sexualstraftaten ausgedehnt worden (vgl. dazu schon <strong>ZAP</strong> F. 22,<br />
S. 1003 ff.). Diese Änderung hat eine Änderung bei der Vorführung von Bild-Ton-Aufzeichnungen zur<br />
Folge (vgl. u. VII).<br />
II.<br />
Änderungen im Ablehnungsrecht (§§ 25, 26, 29 StPO)<br />
Änderungen im Überblick:<br />
• Normen: §§ 25, 26, 29 StPO<br />
• Regelungsgehalt:<br />
• Zeitpunkt der Antragstellung (§ 25 StPO)<br />
• Teilnahme des abgelehnten Richters an der Hauptverhandlung (§ 29 StPO)<br />
• weiterer Gang der Hauptverhandlung (§ 29 StPO)<br />
• Verteidigerstrategie: Beanstandung; Verfahrensrüge?<br />
200 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1011<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
1. Neuregelung<br />
Das Ablehnungsverfahren ist zuletzt durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren<br />
Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 17.8.2017 (BGBl I, S. 320) geändert worden (vgl. dazu BURHOFF<br />
<strong>ZAP</strong> F. 22, S. 908 ff.). Hier hat das „Modernisierungs-Gesetz“ weitere – tiefgreifende – Einschnitte/<br />
Änderungen gebracht, die mit – angeblich zu viel – missbräuchlich gestellten Befangenheitsanträgen<br />
und einer weiteren Beschleunigung des Strafverfahrens begründet worden sind (vgl. dazu BT-Drucks<br />
19/14747, S. 21 f.). Zur Beseitigung dieses „Störpotenzials“ hat das Gesetz Änderungen/Einschnitte<br />
vorgenommen beim Ablehnungszeitpunkt (§ 25 StPO; vgl. dazu II 2) und beim Ablehnungsverfahren<br />
(§ 29 StPO; vgl. dazu II 3).<br />
2. Ablehnungszeitpunkt (§§ 25, 26 StPO)<br />
a) Allgemeines<br />
§ 25 Abs. 1 S. 1 StPO a.F. sah bislang vor, dass Befangenheitsanträge, deren Gründe vor oder bis zu Beginn<br />
der Hauptverhandlung entstanden und bekannt geworden waren, erst bis zum Beginn der Vernehmung<br />
des ersten Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse gestellt werden mussten. Eine Pflicht,<br />
bereits bekannte Ablehnungsgesuche unverzüglich schon vor Beginn der Hauptverhandlung anzubringen,<br />
bestand nicht. Das ist für einige Verfahren geändert worden.<br />
b) Sachlicher Anwendungsbereich<br />
Die neue Regelung in § 25 Abs. 1 S. 2 StPO sieht vor, dass in Verfahren, in denen die Besetzung nach<br />
§ 222a Abs. 1 S. 2 StPO vor Beginn der Hauptverhandlung mitgeteilt worden ist, Befangenheitsgründe,<br />
die dem Ablehnungsberechtigten vor Beginn der Hauptverhandlung bekannt geworden sind, nunmehr<br />
unverzüglich anzubringen sind.<br />
Hinweise:<br />
Da die sog. Besetzungsmitteilung nach § 222a StPO nur in erstinstanzlichen Verfahren vor dem LG und<br />
dem OLG erforderlich ist, gilt dieser frühzeitige Ablehnungszeitpunkt also grds. nur für dieses Verfahren.<br />
In allen anderen Verfahren, z.B. beim AG, bleibt es also bei der Regelung des § 25 Abs. 1 S. 1 StPO (dazu<br />
BURHOFF, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl. 2019, Rn 160 ff. [im Folgenden kurz:<br />
Burhoff, HV]).<br />
Für die Unverzüglichkeit i.e.S. (§ 121 BGB) haben sich keine Änderungen ergeben. Es gilt das bei BURHOFF,<br />
HV, Rn 168 ff. m.w.N. Ausgeführte weiterhin.<br />
c) „Unverzüglichkeitsfrist“<br />
Nach der Gesetzesbegründung (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 22) beginnt die Frist für die unverzügliche<br />
Anbringung mit Zustellung der Besetzungsmitteilung des § 222a StPO an den jeweiligen<br />
Ablehnungsberechtigten.<br />
Hinweis:<br />
Das bedeutet, dass der Verteidiger ab Erhalt der Besetzungsmitteilung nach § 222a StPO nun nicht mehr<br />
nur die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts prüfen muss, sondern auch (frühzeitig), ob bei Gerichtsmitgliedern<br />
ggf. Befangenheitsgründe vorliegen. Ein „Vorhaben“, das für auswärtige Verteidiger, wenn<br />
überhaupt, nur schwer zu erfüllen/erledigen sein wird.<br />
Auf dieser Grundlage ergibt sich folgende Stufenfolge für einen Ablehnungsantrag (so auch BT-Drucks<br />
19/14747, S. 22):<br />
• Stufe 1: War der Befangenheitsgrund gegen den Richter vor Mitteilung der Besetzung bekannt, ist<br />
das Befangenheitsgesuch unverzüglich nach Zustellung der Besetzungsmitteilung anzubringen. Denn<br />
dann steht fest, dass der potenziell befangene Richter mit dem Verfahren befasst ist. Zuwarten mit<br />
der Ablehnung ist nicht möglich (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 22).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 201
Fach 22, Seite 1012<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
• Stufe 2: Ist der potenzielle Befangenheitsgrund erst aus Anlass der Überprüfung der Besetzung<br />
innerhalb der Wochenfrist für die Besetzungsrüge bekannt geworden, muss das Befangenheitsgesuch<br />
unverzüglich gestellt werden, und zwar (auch) „entweder innerhalb der Wochenfrist oder jedenfalls<br />
sehr kurzfristig nach deren Ablauf“ (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 22).<br />
• Stufe 3: Entsteht der Befangenheitsgrund gegen einen Richter erst nach dem Ablauf der<br />
Wochenfrist des § 222b Abs. 1 S. 1 StPO oder wird er erst danach bekannt, muss das Befangenheitsgesuch<br />
ebenfalls unverzüglich angebracht werden. § 25 Abs. 2 S. 1 StPO formuliert ausdrücklich<br />
mit „Im Übrigen …“. Das bedeutet, dass regelmäßig nicht bis zum Beginn der Hauptverhandlung<br />
gewartet werden darf (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 22).<br />
Hinweis:<br />
Durch eine Ergänzung in § 26 Abs. 2 S. 1 StPO ist klargestellt, dass – ebenso wie bei den unverzüglich<br />
anzubringenden Gesuchen nach § 25 Abs. 2 StPO – bei den unverzüglich anzubringenden Befangenheitsgesuchen<br />
im Fall der Mitteilung der Besetzung nach § 222a Abs. 1 S. 2 StPO, die § 25 Abs. 1 S. 2 StPO<br />
jetzt vorsieht, die Voraussetzungen des rechtzeitigen Vorbringens, also die „Unverzüglichkeit“, glaubhaft<br />
zu machen sind.<br />
3. Ablehnungsverfahren (§ 29 StPO)<br />
a) Allgemeines<br />
Das Regelungsgefüge des Ablehnungsverfahrens in § 29 StPO ist grundlegend geändert worden. § 29<br />
enthält jetzt folgende Regelungen (wegen der Einzelh. s. II 3 b ff.):<br />
b) Grundsatz: Keine aufschiebbaren Handlungen (§ 29 Abs. 1 StPO)<br />
In § 29 Abs. 1 StPO ist ausdrücklich normiert, dass – wie früher schon in § 29 Abs. 1 S. 1 StPO – dem<br />
abgelehnten Richter die Vornahme aufschiebbarer Handlungen verboten ist. Das ist in Übereinstimmung<br />
mit dem früheren Recht auch weiterhin verboten. An der Begrifflichkeit „unaufschiebbare Handlung“ hat<br />
sich durch die Änderungen nichts geändert. Gemeint sind solche Handlungen, die wegen ihrer<br />
Dringlichkeit nicht warten können (BGHSt 48, 264; BGH NStZ 2002, 429; BURHOFF, HV, Rn 142 m.w.N.).<br />
Hinweis:<br />
Zum alten Recht bestand Streit, ob die Teilnahme des Richters an und/oder der Beginn der Hauptverhandlung<br />
„unaufschiebbar“ war (BURHOFF, HV, Rn 142 f. m.w.N.). Diese Streitfrage hat sich durch<br />
die Neuregelung erledigt. Denn in § 29 Abs. 2 S. 1 StPO ist jetzt ausdrücklich bestimmt, dass die<br />
Durchführung der Hauptverhandlung keinen Aufschub gestattet und sie bis zur Entscheidung über<br />
das Ablehnungsgesuch unter Mitwirkung des abgelehnten Richters stattfindet (vgl. sogleich II 3 c).<br />
Diese Regelung gilt für alle Ablehnungsanträge. Es wird nicht mehr zwischen solchen in der<br />
Hauptverhandlung und solchen, die kurz vor der Hauptverhandlung gestellt worden sind (vgl. § 29<br />
Abs. 1 S. 2 StPO a.F. [dazu BURHOFF, HV, Rn 147 f. m.w.N.]), unterschieden (BT-Drucks 19/14747, S. 23).<br />
c) Teilnahme des abgelehnten Richters an der Hauptverhandlung (§ 29 Abs. 2 StPO)<br />
In § 29 Abs. 2 S. 1 StPO ist jetzt die ausdrückliche Regelung enthalten, dass die richterliche Teilnahme an<br />
der Hauptverhandlung als unaufschiebbar gilt und der abgelehnte Richter an ihr zunächst – bis zur<br />
Entscheidung über das Ablehnungsgesuch – ohne Einschränkungen mitwirken darf. Die Geltung dieser<br />
(Neu-)Regelung ist unbeschränkt. Sie gilt also für die Mitwirkung des abgelehnten Richters an der<br />
Hauptverhandlung unabhängig davon, ob diese im Zeitpunkt der Anbringung des Ablehnungsgesuchs<br />
bereits begonnen hatte (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 23). Damit erfasst sie insb. auch den im<br />
früheren Recht in § 29 Abs. 1 S. 2 StPO geregelten Fall, dass der Vorsitzende oder das Gericht bereits vor<br />
Beginn der Hauptverhandlung abgelehnt worden ist (BURHOFF, HV, Rn 147 ff. m.w.N.).<br />
202 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1013<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
Der Gesetzgeber geht mit der Neuregelung davon aus, dass die Durchführung der Hauptverhandlung<br />
grds. keinen Aufschub gestattet (BT-Drucks 19/14747, S. 23). Das dürfte dazu führen, dass auch<br />
Handlungen außerhalb der Hauptverhandlung, die unmittelbar der Förderung der Durchführung der<br />
Hauptverhandlung dienen, wie z.B. Ladung von Zeugen und/oder Sachverständigen, unaufschiebbar<br />
sind. Aus § 29 Abs. 2 S. 1 StPO folgt aber nicht, dass eine noch nicht anberaumte Hauptverhandlung zu<br />
terminieren oder eine bereits anberaumte, aber noch nicht begonnene Hauptverhandlung unter<br />
Mitwirkung des abgelehnten Richters tatsächlich durchzuführen ist.<br />
Hinweis:<br />
Die Entscheidung, auch in diesen Fällen eine/die Hauptverhandlung unter Mitwirkung des abgelehnten<br />
Richters durchzuführen, ist eine Maßnahme der Verhandlungsleitung des Vorsitzenden. Im Hinblick auf<br />
§ 338 Abs. 8 StPO muss der Verteidiger diese Anordnung nach § 238 Abs. 2 StPO beanstanden.<br />
§ 29 Abs. 2 S. 2 StPO regelt die Mitwirkung des abgelehnten Richters bei Entscheidungen außerhalb der<br />
Hauptverhandlung. Hier ist die bisherige Regelung aus § 29 Abs. 3 S. 3 StPO übernommen worden:<br />
Entscheidungen, die auch außerhalb der Hauptverhandlung ergehen können, dürfen weiterhin nur dann<br />
unter Mitwirkung des abgelehnten Richters getroffen werden, wenn sie keinen Aufschub gestatten.<br />
Hinweis:<br />
Für Handlungen eines abgelehnten Richters während einer Unterbrechung der Hauptverhandlung gilt<br />
§ 29 Abs. 1 StPO unmittelbar (BT-Drucks 19/14747, S. 23). Er darf daran also nur mitwirken, wenn sie keinen<br />
Aufschub gestatten.<br />
d) Entscheidungszeitpunkt (§ 29 Abs. 3 StPO)<br />
Um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den prozessökonomischen Belangen der Öffentlichkeit<br />
einerseits und den schutzwürdigen Interessen des Ablehnungsberechtigten, insb. des Angeklagten,<br />
andererseits herzustellen, geht die StPO davon aus, dass das Gericht auch künftig so zügig wie möglich<br />
über das Ablehnungsgesuch entscheiden muss/soll (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 24). Zuwarten mit<br />
der Entscheidung über einen Ablehnungsantrag ist also nicht erlaubt.<br />
Im Übrigen gilt: In § 29 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 StPO a.F. war vorgesehen, dass das Gericht bis zum Beginn des<br />
übernächsten Verhandlungstags über den Befangenheitsantrag entschieden haben musste (BURHOFF,<br />
HV, Rn 125 ff.). Hier sieht § 29 Abs. 3 S. 1 StPO nun aber eine „mildere“ Frist vor. Die Entscheidung über<br />
das Ablehnungsgesuch muss grds. spätestens vor Ablauf von zwei Wochen erfolgen. Eine Ausnahme<br />
von der Zweiwochenfrist ist in § 29 Abs. 3 S. 3 StPO enthalten. Danach kann – insoweit in<br />
Übereinstimmung mit dem früheren Recht – über das Ablehnungsgesuch auch noch am übernächsten<br />
Hauptverhandlungstag nach Fristbeginn entschieden werden (zur Begründung s. BT-Drucks<br />
19/14747, S. 24).<br />
Der Fristbeginn für die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch ist in § 29 Abs. 3 S. 2 StPO geregelt,<br />
und zwar wie folgt:<br />
• Wird das Ablehnungsgesuch vor oder während laufender Hauptverhandlung gestellt, beginnt die<br />
Frist nach § 29 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 StPO grds. mit dem Tag, an dem das Gesuch gestellt wird.<br />
• Wird dem Angeklagten nach § 26 Abs. 1 S. 2 StPO aufgegeben, ein nur mündlich gestelltes<br />
Ablehnungsgesuch innerhalb einer bestimmten Frist schriftlich zu begründen, beginnt die Frist<br />
gem. § 29 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO erst mit Eingang der schriftlichen Begründung (zur schriftlichen<br />
Antragsbegründung BURHOFF, HV, Rn 58 ff.).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 203
Fach 22, Seite 1014<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
Hinweis:<br />
Über die Ablehnung muss – jetzt –„spätestens vor Urteilsverkündung“ entschieden werden<br />
(§ 29 Abs. 3 S. 1 StPO).<br />
4. Erfolgreiches Ablehnungsgesuch (§ 29 Abs. 4 StPO)<br />
Die Folgen eines erfolgreichen Ablehnungsgesuchs waren bislang in § 29 Abs. 2 S. 2 StPO geregelt.<br />
Diese Regelung ist jetzt in § 29 Abs. 4 StPO enthalten. In § 29 Abs. 4 StPO ist die Regelung des § 29<br />
Abs. 2 S. 2 StPO a.F. zur Wiederholung von Teilen der Hauptverhandlung bei einem erfolgreichen<br />
Ablehnungsgesuch weitgehend übernommen worden (s. auch BURHOFF, HV, Rn 145 f.). Ausgenommen<br />
von der Wiederholungsverpflichtung sind nach § 29 Abs. 4 S. 2 StPO jetzt aber „solche Teile der<br />
Hauptverhandlung, deren Wiederholung nicht oder nur mit unzumutbarem Aufwand möglich ist“. Die<br />
Gesetzesbegründung (BT-Drucks 19/14747, S. 25) nennt als Beispiel die Vernehmung eines todkranken<br />
oder i.S.d. § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO weit entfernt wohnenden Zeugen. Letztlich wird man m.E. diese<br />
Frage an der Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) messen müssen (zu § 251 BURHOFF, HV,<br />
Rn 3272 ff. m.w.N.). An die Unzumutbarkeit der Wiederholung ist – wie bislang – ein strenger<br />
Maßstab anzulegen; durch die Neuregelung sind/waren „keine erheblichen Abweichungen zum geltenden<br />
Recht bezweckt“ (BT-Drucks 19/14747, S. 25).<br />
III.<br />
Besetzungsfragen/-mitteilung (§§ 222a, 222b, 338 StPO)<br />
Änderungen im Überblick:<br />
• Normen: §§ 222a, 222b, 338 StPO<br />
• Regelungsgehalt:<br />
• Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens über einen Besetzungseinwand in erstinstanzlichen<br />
Verfahren beim LG/OLG<br />
• Grundsätzlich Fortführung der Hauptverhandlung zulässig<br />
• Änderung der entsprechenden Revisionsvorschriften<br />
• Verteidigerstrategie: Besetzungseinwand; Verfahrensrüge?<br />
1. Neuregelung<br />
Der Einwand vorschriftswidriger Besetzung, im Folgenden kurz: Besetzungseinwand, war in erstinstanzlichen<br />
Verfahren vor dem LG/OLG nach § 222b StPO a.F. bis zu Beginn der Vernehmung des<br />
ersten Angeklagten zur Sache geltend zu machen (BURHOFF, HV, Rn 911 ff. m.w.N.). Um die hierin liegende<br />
„Verfahrensunsicherheit zu entschärfen“, die der Hauptverhandlung im Unterschied zu anderen Revisionsgründen<br />
damit ggf. schon zu Beginn anhafte, ist nun der sog. Besetzungseinwand in einem neu<br />
eingeführten Vorabentscheidungsverfahren vor oder zu Beginn der Hauptverhandlung zu überprüfen.<br />
Dies soll, da es nur in den erstinstanzlichen Verfahren vor dem LG/OLG Bedeutung hat, hier nur in einem<br />
Überblick vorgestellt werden (wegen der Einzelh. BURHOFF, eBook 2019, Rn 71 ff. m.w.N.).<br />
2. Änderungen im Überblick<br />
Die Änderungen führen jetzt zu folgendem Verfahren(-sablauf) (zur Kritik u.a. die Stellungnahme der<br />
BRAK Nr. 30/2019 v. November 2019, S. 6 f. unter https://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/<br />
stellungnahmen-deutschland/2019/november/stellungnahme-der-brak-2019-30.pdf und auch das Papier der<br />
Strafverteidigervereinigungen: „Aus dem Gleichgewicht“, abrufbar unter: https://www.strafverteidigertag.<br />
de/Material/aus%20dem%20gleichgewicht.pdf):<br />
2<strong>04</strong> <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1015<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
• In dem neuen Vorabentscheidungsverfahren wird i.d.R. der Besetzungseinwand schon vor oder zu<br />
Beginn der Hauptverhandlung abschließend durch ein höheres Gericht beschieden werden.<br />
• Die Hauptverhandlung kann bis zur Entscheidung über den Besetzungseinwand fortgesetzt werden,<br />
sodass es einer Unterbrechung der Hauptverhandlung in aller Regel nicht mehr bedarf.<br />
• Das Vorabentscheidungsverfahren ist wie folgt ausgebildet:<br />
• Nach Zustellung oder Bekanntgabe der Besetzungsmitteilung hat der Angeklagte (nur) eine<br />
Woche Zeit, um die Besetzung des Gerichts zu prüfen. Der Besetzungseinwand muss nämlich<br />
innerhalb einer Frist von einer Woche nach Zustellung der Besetzungsmitteilung oder nach<br />
Bekanntmachung in der Hauptverhandlung erhoben werden.<br />
• Dem Besetzungseinwand kommt keine aufschiebende Wirkung zu. Die Hauptverhandlung muss<br />
also nicht bis zur Entscheidung über den Besetzungseinwand durch das Rechtsmittelgericht<br />
unterbrochen werden.<br />
• Das Vorabentscheidungsverfahren ist im Wesentlichen an das Revisionsverfahren angelehnt<br />
worden.<br />
Hinweis:<br />
Die nach bisherigem Recht vorgeschriebenen Formvoraussetzungen des Besetzungseinwands sowie die<br />
Begründungsanforderungen gem. § 222b Abs. 2 S. 2 und 3 StPO sind nicht geändert worden. Es gelten<br />
dazu also die Ausführungen bei BURHOFF, HV, Rn 911 ff.<br />
• Vorgelegt werden muss dem Rechtsmittelgericht. Das ist bei erstinstanzlicher Zuständigkeit des LG<br />
gem. der Neuregelung in § 121 Abs. 1 Nr. 4 GVG das OLG und bei erstinstanzlicher Zuständigkeit des<br />
OLG gem. dem neuen § 135 Abs. 2 Nr. 3 GVG der BGH (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 42 f.).<br />
Hinweis:<br />
Um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung im Recht der Besetzungsrügen zu gewährleisten, muss das<br />
OLG die Strafsache im Fall der Divergenz dem BGH vorlegen (neuer § 121 Abs. 2 Nr. 4 GVG).<br />
• Das Tatgericht muss mit der Verkündung des Urteils nicht warten, bis das Rechtsmittelgericht<br />
eine Entscheidung getroffen hat. In diesen Fällen kann der Angeklagte dann aber eine potenziell<br />
vorschriftswidrige Besetzung im Rahmen der Revision rügen. Für ein bereits eingeleitetes Vorabentscheidungsverfahren<br />
tritt mit der Urteilsverkündung Erledigung ein.<br />
3. Rechtsmittelverfahren/Revision (§ 338 StPO)<br />
a) Allgemeines<br />
Durch die Änderung des Rechts der Besetzungsrüge in den §§ 222a, 222b StPO war eine Änderung des<br />
Revisionsrechts, das in § 338 Nr. 1 StPO dazu einen absoluten Revisionsgrund enthält, erforderlich.<br />
Allgemein gilt für das Zusammenspiel der §§ 222a, 222b, 338 Nr. StPO insoweit Folgendes:<br />
• In dem Vorabentscheidungsverfahren über die Besetzungsrüge müssen die Verfahrensbeteiligten alle<br />
objektiv erkennbaren Besetzungsmängel, die bis zum Eintritt der Präklusionswirkung gem. § 222b Abs. 1<br />
S. 1 StPO entstanden sind, rügen. Nach diesem Zeitpunkt, also nach einer Woche, präkludiert die Rüge.<br />
• Hilft das Tatgericht dem form- und fristgerecht erhobenen Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung<br />
nicht ab, entscheidet das Rechtsmittelgericht über die Besetzungsrüge abschließend.<br />
• Die Entscheidung ist bindend. Sie steht der Überprüfung des Besetzungseinwands in der Revisionsinstanz<br />
entgegen.<br />
• Im Übrigen ist die Möglichkeit der Rüge eines Besetzungsmangels mit der Revision erhalten geblieben.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 205
Fach 22, Seite 1016<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
Hinweis:<br />
An dem früheren Regelungsgefüge von Präklusionswirkung gem. § 222b StPO einerseits und den in § 338<br />
Nr. 1 StPO a.F. geregelten Ausnahmetatbeständen andererseits hat sich also nichts geändert.<br />
b) Ausnahmetatbestände (§ 338 Nr. 1 StPO)<br />
Bislang waren die das Verfahren des Besetzungseinwands betreffenden revisionsrechtlichen Ausnahmeregelungen<br />
in § 338 Nr. 1 Buchst. a bis d StPO a.F. geregelt. Diese Ausnahmen von der<br />
Präklusionswirkung sind infolge der Einführung des Vorabentscheidungsverfahrens wie folgt umgestaltet<br />
worden (wegen der Einzelh. BURHOFF, eBook 2019, Rn 207 ff.):<br />
• § 338 Nr. 1 Buchst. a StPO regelt die Fälle, in denen das Tatgericht trotz festgestellter<br />
Vorschriftswidrigkeit der Besetzung verhandelt.<br />
• § 338 Nr. 1 Buchst. b aa StPO betrifft zum einen Fälle, in denen die vorgeschriebene Mitteilung<br />
vollständig unterblieben ist, zum anderen aber ggf. auch Fälle, in denen das Tatgericht eine<br />
fehlerhafte Besetzungsmitteilung zugestellt oder dem Angeklagten fehlerhafte Unterlagen zur<br />
Überprüfung der Besetzung zur Verfügung gestellt hat.<br />
• § 338 Nr. 1 Buchst. b bb StPO regelt den Fall der Übergehung oder Zurückweisung der form- und<br />
fristgerecht erhobenen Besetzungsrüge als Ausnahmetatbestand von der Rügepräklusion, aber auch<br />
die (weiteren) Fälle, in denen das Tatgericht ein Urteil fällt, bevor das Rechtsmittelgericht über die<br />
erhobene und ihm vorgelegte Besetzungsrüge entschieden hat, oder in denen das Tatgericht der<br />
Besetzungsrüge nicht abgeholfen und sie dem Rechtsmittelgericht entweder aufgrund einer<br />
vorherigen Urteilsverkündung oder aus sonstigen Gründen nicht binnen der dreitägigen Frist des<br />
§ 222b Abs. 3 S. 1 StPO vorgelegt hat.<br />
• § 338 Nr. 1 Buchst. b cc StPO regelt schließlich die Fälle, in denen das Tatgericht zwar eine<br />
Besetzungsmitteilung zugestellt, aber sein Urteil bereits vor dem Ablauf der einwöchigen Prüfungsfrist<br />
erlassen hat, obwohl ein Antrag nach § 222a Abs. 2 StPO gestellt wurde, oder wenn das<br />
Tatgericht die Besetzung oder eine Besetzungsänderung erst zu Beginn der Hauptverhandlung<br />
mitgeteilt, eine Unterbrechung auf Antrag nach § 222a Abs. 2 StPO jedoch abgelehnt hat und dem<br />
Angeklagten aufgrund einer Urteilsverkündung vor Ablauf der Prüffrist diese (Wochen-)Frist nicht<br />
zur Verfügung stand.<br />
IV.<br />
Unterbrechung der Hauptverhandlung (§ 229 StPO)<br />
Änderungen im Überblick:<br />
• Norm: §§ 229 Abs. 3 StPO<br />
• Regelungsgehalt:<br />
• Einführung der Hemmung der Unterbrechungsfristen für die Hauptverhandlung wegen gesetzlichen<br />
Mutterschutzes/Elternzeit<br />
• Bestimmung der Höchstdauer der Unterbrechung<br />
• Verteidigerstrategie: Prüfung der Ordnungsgemäßheit der Unterbrechung?<br />
1. Neuregelung<br />
§ 229 Abs. 3 StPO a.F. sah keine Hemmung der Unterbrechungsfristen für die Hauptverhandlung für<br />
Zeiten des gesetzlichen Mutterschutzes von Richterinnen vor (vgl. dazu BGH NJW 2017, 745 ff.). Das ist in<br />
§ 229 Abs. 3 StPO geändert worden.<br />
206 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1017<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
Hinweis:<br />
Hinsichtlich des im Zusammenhang mit einer Unterbrechung einzuhaltenden Verfahrens sind keine<br />
Änderungen vorgenommen worden (vgl. zum Verfahren BURHOFF, HV, Rn 2907 f.).<br />
2. Erweiterung des Katalogs der Hemmungsgründe<br />
In § 229 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StPO ist jetzt vorgesehen, dass nicht mehr nur eine Hemmung der<br />
Unterbrechungsfrist im Krankheitsfall eintritt, sondern auch dann, wenn eine erkennende Richterin<br />
aufgrund des gesetzlichen Mutterschutzes nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen kann. Zudem ist<br />
in § 229 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StPO vorgesehen, dass die Hemmung auch während der Inanspruchnahme von<br />
Elternzeit im gleichen Umfang eintritt.<br />
Hinweise:<br />
Der schon bisher in § 229 Abs. 3 StPO a.F. geregelte Fall der „Krankheit“ ist in § 229 Abs. 3 S. 1 Nr. 1<br />
StPO inhaltlich unverändert geregelt geblieben (BURHOFF, HV, Rn 2905).<br />
Die Neuregelungen in § 229 Abs. Nr. 2 StPO gelten uneingeschränkt nicht nur für hauptberufliche<br />
Richterinnen und Richter, sondern – wie bisher bereits die Regelungen zur Hemmung im Krankheitsfall<br />
(§ 229 Abs. 3 StPO a.F., jetzt § 229 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 StPO) – auch für Schöffinnen und Schöffen.<br />
3. Höchstdauer der Hemmung<br />
Der Gesetzgeber war sich darüber im Klaren, dass die Hemmung wegen Mutterschutzes und/oder<br />
Elternzeit im Hinblick auf die Beschleunigung und die Einheitlichkeit einer Hauptverhandlung nicht zum<br />
Ablauf der längstmöglichen Dauer des gesetzlichen Mutterschutzes oder der Elternzeit gelten kann. Daher<br />
hat er zur Wahrung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit und der Einheitlichkeit der Hauptverhandlung<br />
eine Höchstdauer für die jeweilige Hemmung eingeführt.<br />
Die Höchstdauer der Hemmung, die bislang sechs Wochen betragen hat, ist nach § 229 Abs. 3 S. 1 Hs. 2<br />
StPO nun einheitlich auf zwei Monate bemessen. Die Höchstdauer gilt also sowohl für die Fälle der<br />
Krankheit, des Mutterschutzes und der Elternzeit. Der Grund der Hemmung ist für die entscheidende Frage,<br />
wie lange ein Strafprozess insgesamt unterbrochen sein kann, ohne dass eine Urteilsfindung auf Grundlage<br />
der unmittelbaren Wahrnehmung der Richterinnen und Richter nicht mehr möglich ist, ohne Bedeutung.<br />
Hinweis:<br />
Dies führt in Verfahren, in denen bereits an mindestens zehn Tagen verhandelt worden ist, zu einer<br />
möglichen Gesamtunterbrechung von drei Monaten und zehn Tagen, und zwar (vgl. dazu BT-Drucks<br />
19/14747, S. 32 f.):<br />
§ 229 Abs. 2 StPO: ein Monat<br />
§ 229 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 oder 2 StPO: zwei Monate<br />
§ 229 Abs. 3 S. 2 StPO: zehn Tage<br />
V. Neuregelungen im Beweisantragsrecht (§§ 219, 244, 245 StPO)<br />
Änderungen im Überblick:<br />
• Normen: §§ 219, 244, 245 StPO<br />
• Regelungsgehalt:<br />
• Legaldefinition des Begriffs des Beweisantrags<br />
• Systematisierung der Ablehnungsgründe<br />
• Neuregelung des Ablehnungsgrundes „Prozessverschleppung“<br />
• Verteidigerstrategie: Antragstellung, Verfahrensrüge?<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 207
Fach 22, Seite 1018<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
1. Neuregelung<br />
Einige der wesentlichen Änderungen sind durch das Gesetz im Beweisantragsrecht in den §§ 219, 244, 245<br />
StPO vorgenommen worden. Mit diesen Änderungen hat der Gesetzgeber nicht nur das Beweisantragsrecht<br />
insgesamt systematisiert, sondern es soll Gerichten der Umgang mit missbräuchlich gestellten<br />
Beweisanträgen erleichtert werden; gerade diese Änderungen sollen der Verfahrensvereinfachung und<br />
Verfahrensbeschleunigung dienen (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 16 ff.).<br />
Hinweis:<br />
Diese Änderungen gelten über § 71 OWiG auch im Bußgeldverfahren.<br />
Das Gesetz hat folgende Änderungen vorgenommen:<br />
• Der Begriff des Beweisantrags ist in § 244 Abs. 3 S. 1 StPO jetzt erstmals gesetzlich bestimmt worden.<br />
• Die Ablehnungsgründe sind in § 244 Abs. 3 StPO neu strukturiert worden.<br />
• Es sind Änderungen hinsichtlich (angeblich) aus Gründen der Prozessverschleppungsabsicht gestellter<br />
Beweisersuchen vorgenommen worden:<br />
• Diese werden nach § 244 Abs. 6 S. 2 StPO nicht mehr als Beweisantrag behandelt.<br />
• Die Anforderungen an die Prozessverschleppungsabsicht sind in objektiver Hinsicht abgesenkt<br />
worden (§ 244 Abs. 6 S. 2 StPO).<br />
• Die §§ 219, 245 StPO sind redaktionell angepasst worden.<br />
Hinweis:<br />
Weitere Änderungen sind nicht erfolgt. Insbesondere sind § 244 Abs. 4 und 5 StPO und die bisherige<br />
Regelung der Fristsetzung in § 244 Abs. 6 StPO unberührt geblieben (vgl. dazu BURHOFF, HV, Rn 1081 ff.,<br />
2656 ff., jeweils m.w.N).<br />
2. Legaldefinition des Begriffs des Beweisantrags (§ 244 Abs. 3 S. 1 StPO)<br />
a) Übernahme der Rechtsprechung des BGH<br />
In § 244 Abs. 3 S. 1 StPO ist nun der bislang gesetzlich nicht geregelte Begriff des Beweisantrags legal<br />
bestimmt worden. Dabei ist weitgehend die in der Rechtsprechung des BGH entwickelte Begriffsbestimmung<br />
übernommen worden (vgl. BURHOFF, HV, Rn 958 m.w.N.).<br />
Hinweis:<br />
§ 244 Abs. 3 S. 1 StPO definiert den Beweisantrag jetzt wie folgt:<br />
„Ein Beweisantrag liegt vor, wenn der Antragsteller ernsthaft verlangt, Beweis über eine bestimmt behauptete konkrete<br />
Tatsache, die die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betrifft, durch ein bestimmt bezeichnetes Beweismittel zu erheben und<br />
dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll.“<br />
Wegen der Einzelheiten zu diesen Voraussetzungen kann – wegen der Übernahme der Rechtsprechung<br />
des BGH – verwiesen werden auf BURHOFF, HV, 958 ff., und zum Inhalt eines Beweisantrags auf BURHOFF,<br />
HV, Rn 1113 ff.<br />
b) Sog. Konnexität<br />
Die Rechtsprechung des BGH hatte bislang nicht geklärt, ob für die Annahme eines Beweisantrags das<br />
Vorliegen einer bestimmten Beweisbehauptung/Beweistatsache und das Beweismittel ausreichen oder<br />
ob ggf. noch eine dritte Voraussetzung erfüllt sein muss, nämlich die sog. Konnexität (dazu eingehend<br />
BURHOFF, HV, Rn 1086 m.w.N. aus Rechtsprechung und Literatur): Gemeint ist damit, dass in den Fällen,<br />
in denen es sich nicht von selbst ergibt, der erforderliche Zusammenhang zwischen Beweismittel und<br />
Beweistatsache dargelegt werden muss (zur Kritik an dieser Rechtsprechung s. die Nachweise bei<br />
208 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1019<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
BURHOFF, HV, Rn 1086 f.). Das Gesetz hat den insoweit bestehenden Streit beendet, indem es für die<br />
Annahme eines Beweisantrags verlangt, dass „dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete<br />
Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll“. Damit ist die Rechtsprechung des BGH zur sog.<br />
Konnexität an dieser Stelle übernommen worden.<br />
Hinweis:<br />
Das bedeutet bzw. hat für den Verteidiger in Zukunft zur Folge:<br />
• Ein Beweisantrag muss den erforderlichen Zusammenhang („Konnexität“) zwischen Beweismittel und<br />
Beweistatsache erkennen lassen. In der Begründung des Beweisantrags muss also ein „nachvollziehbarer<br />
Grund“ dafür angegeben werden, weshalb mit dem bezeichneten Beweismittel die Beweisbehauptung<br />
nachgewiesen werden kann.<br />
• Der Verteidiger sollte die Konnexität aus „Gründen der Sicherheit“ jetzt immer darlegen, um von<br />
vornherein kein „Einfallstor“ für eine Ablehnung des Beweisantrags mit der (formellen) Begründung:<br />
Konnexität ist nicht dargelegt, zu bieten. Dem Beweisantrag muss also z.B. zu entnehmen sein, weshalb<br />
ein Zeuge die Beweisbehauptung aus eigener Wahrnehmung bestätigen können soll.<br />
c) „Aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ gestellte Beweisanträge<br />
Die Gesetzesbegründung (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 34) führt im Zusammenhang mit der<br />
Einführung der Legaldefinition des Beweisantrags aus: „Ferner sollen Beweisbehauptungen ‚aufs Geratewohl‘<br />
oder ‚ins Blaue hinein‘, denen es an der gebotenen Ernsthaftigkeit des Verlangens mangelt, von den Gerichten nach<br />
§ 244 Abs. 3 S. 1 StPO-E nicht als Beweisanträge behandelt werden müssen.“ Was damit gemeint ist, ist unklar.<br />
Zutreffend ist, dass ein Beweisantrag nach der Rechtsprechung des BGH (u.a. NStZ 2011, 169 f. m.w.N.)<br />
die sichere Behauptung einer bestimmten Tatsache voraussetzt. Nach h.M. in der Rechtsprechung kann<br />
der Verteidiger aber auch dann einen Beweisantrag stellen, wenn er die von ihm behauptete Tatsache<br />
nur für möglich hält (BURHOFF, HV, Rn 964 m.w.N.). Es scheint, als ob davon abgewichen werden soll<br />
(krit. die Stellungnahme der BRAK Nr. 30/2019 v. November 2019, S. 7 f. unter https://www.brak.de/zur-<br />
rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2019/november/stellungnahme-der-brak-2019-<br />
30.pdf). Aus der Formulierung in § 244 Abs. 3 S. 1 StPO folgt das aber nicht.<br />
Hinweise:<br />
Der Verteidiger sollte in entsprechenden Fällen – wie schon bisher – auf jeden Fall eingehend darlegen,<br />
warum und wieso eine „sichere Behauptung“ der Beweistatsache ggf. nicht möglich ist. Das zwingt das<br />
Gericht dazu, sich mit der Frage auseinanderzusetzen und sie damit durch die Revision überprüfbar zu<br />
machen.<br />
Einfach übergangen werden darf im Übrigen auch ein solcher Antrag nicht.<br />
3. Systematisierung der Ablehnungsgründe (§ 244 Abs. 3 S. 2 und 3 StPO)<br />
Bislang waren die Gründe für die Ablehnung eines Beweisantrags u.a. in § 244 Abs. 3 S. 1 und 2 StPO<br />
enthalten. Diese Ablehnungsgründe sind nun, um die Übersichtlichkeit zu erhöhen und die Zitierfähigkeit<br />
in der Praxis zu erleichtern, in § 244 Abs. 3 S. 2 und 3 neu systematisiert worden. Eine inhaltliche<br />
Änderung ist im Übrigen durch diese Systematisierung nicht erfolgt. Die bisher vorliegende<br />
Rechtsprechung zu den Ablehnungsgründen (BURHOFF, HV, Rn 981 ff.) kann also weiter verwendet und<br />
muss vom Verteidiger weiter beachtet werden.<br />
Es sind im Übrigen auch keine Änderungen hinsichtlich eines Beweisantrags auf Vernehmung eines<br />
Sachverständigen (§ 244 Abs. 4 StPO), der Einnahme eines Augenscheins (§ 244 Abs. 5 S. 1 StPO) und<br />
der Vernehmung eines Auslandszeugen (§ 244 Abs. 5 S. 2 StPO) erfolgt. Die insoweit vorliegende<br />
Rechtsprechung zu den Anforderungen an einen entsprechenden Beweisantrag und an dessen<br />
Ablehnung bleibt also gültig, ist anzuwenden und vom Verteidiger zu beachten (dazu für den<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 209
Fach 22, Seite 1020<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
Sachverständigenbeweis BURHOFF, HV, Rn 1056 ff. und 2656 ff., für die Augenscheinseinnahme BURHOFF,<br />
HV, Rn 422 ff. und 1051 ff. und für den Auslandszeugen BURHOFF, HV, Rn 468 ff., jeweils m.w.N.).<br />
Hinweis:<br />
Entfallen ist allerdings wegen der Erweiterung des § 244 Abs. 6 StPO (vgl. sogleich V 4) der Ablehnungsgrund<br />
der Prozessverschleppungsabsicht. Dieser Ablehnungsgrund ist gestrichen worden, weil – so jetzt die<br />
StPO – Beweisersuchen, die in der Absicht der Prozessverschleppung gestellt werden, keine Beweisanträge<br />
i.S.d. § 244 Abs. 3 S. 1 StPO (mehr) sind und deshalb gem. § 244 Abs. 6 S. 2 StPO keiner förmlichen Ablehnung<br />
mehr bedürfen.<br />
4. „Beweisersuchen“ mit dem Ziel der Prozessverschleppungsabsicht<br />
a) Allgemeines<br />
Nach § 244 Abs. 6 S. 1 StPO erfolgt die Ablehnung eines Beweisantrags durch Gerichtsbeschluss<br />
(BURHOFF, HV, Rn 970 ff.). Das Gericht ist verpflichtet, den Beschluss unter Bezug auf die einschlägigen<br />
Ablehnungsgründe des Abs. 3 (vgl. V 3) zu begründen. Davon rückt die StPO jetzt in § 244 Abs. 6 S. 2<br />
StPO für einen Fall ab.<br />
Hinweis:<br />
Sogenannte Beweisersuchen mit dem Ziel der „Prozessverschleppung (zum Begriff V 4 b) müssen jetzt<br />
nicht mehr durch förmlichen Gerichtsbeschluss nach § 244 Abs. 6 S. 1 StPO beschieden werden. Denn die<br />
StPO geht in § 244 Abs. 6 S. 2 StPO nun davon aus, dass es sich bei solchen „Beweisersuchen“ nicht um<br />
einen Beweisantrag i.S.d. § 244 Abs. 3 S. 1 StPO handelt, der förmlich beschieden werden müsste.<br />
b) Eingeschränkter Begriff der Prozessverschleppung<br />
Die Begriffsmerkmale der Prozessverschleppungsabsicht waren bisher in der StPO nicht bestimmt,<br />
sondern sind durch die Rechtsprechung (des BGH) ausgebildet worden (vgl. dazu BURHOFF, HV, Rn 1014 ff.<br />
m.w.N.). Die Rechtsprechung des BGH ging/geht davon aus, dass Prozessverschleppungsabsicht anzunehmen<br />
war/ist, wenn die beantragte Beweiserhebung nach Überzeugung des Gerichts nichts<br />
Sachdienliches zugunsten des Antragstellers erbringen konnte und der Antragsteller den Beweisantrag<br />
ausschließlich zum Zwecke der Verzögerung des Verfahrens gestellt hat (BURHOFF, HV, Rn 1015 ff.<br />
m.w.N.). Erforderlich war eine wesentliche Verzögerung, wobei in der Rechtsprechung bis zuletzt nicht<br />
klar entschieden war, was unter dem Begriff der „wesentlichen Verzögerung“ zu verstehen war<br />
(BURHOFF, HV, Rn 1017 m.w.N.).<br />
§ 224 Abs. 6 S. 2 StPO enthält nun als Bestimmung für den Begriff der Verfahrensverzögerung, dass „die<br />
beantragte Beweiserhebung nichts Sachdienliches zugunsten des Antragstellers erbringen kann, der Antragsteller<br />
sich dessen bewusst ist und er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt“. Entfallen bzw. nicht übernommen<br />
worden ist aus der Rechtsprechung des BGH das objektive Merkmal, dass die verlangte Beweiserhebung<br />
geeignet ist, den Abschluss des Verfahrens „wesentlich“ oder „erheblich“ zu verzögern. Begründet<br />
wird dies damit, dass „dieses im Einzelnen unklare Erfordernis einer objektiv erheblichen Verfahrensverzögerung<br />
… in der Praxis dazu [führt], dass der Ablehnungsgrund der Prozessverschleppungsabsicht trotz<br />
Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen häufig nicht von den Gerichten angenommen werden kann“ und dem<br />
Ablehnungsgrund deshalb in der Gerichtspraxis nur eine geringe Bedeutung zukomme (zur Begründung<br />
vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 35). In § 244 Abs. 6 S. 2 Hs. 2 StPO ist ausdrücklich klargestellt, dass ein<br />
Beweisersuchen in Prozessverschleppungsabsicht auch angenommen werden kann, wenn der<br />
Antragsteller in einem Motivbündel neben dem Ziel der Verfahrensverzögerung auch ein oder mehrere<br />
weitere verfahrensfremde(s) Ziel(e) verfolgt. Die Prozessverschleppungsabsicht muss also nicht das<br />
einzige Motiv für das Beweisersuchen sein.<br />
210 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1021<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
Hinweise:<br />
Für die Antragstellung gilt im Hinblick auf die Voraussetzungen der Prozessverschleppungsabsicht in<br />
§ 244 Abs. 6 S. 2 StPO:<br />
• Bei „spät“ im Verfahren gestellten Anträgen sollte der Verteidiger nach Möglichkeit immer darlegen,<br />
warum sie „so spät“ gestellt werden bzw. warum sie nicht eher gestellt werden konnten.<br />
• Im Hinblick auf das Merkmal „ … nichts Sachdienliches zugunsten des Antragstellers erbringen kann“ sollte<br />
dargelegt werden, welches (sinnvolle) (Beweis-)Ziel mit dem Antrag verfolgt wird.<br />
• Das gilt zugleich auch im Hinblick auf das Merkmal „… Nutzlosigkeit der Beweiserhebung bewusst ist und<br />
er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt“. Denn aus einem „sinnvollen Beweisziel“ kann sich nie<br />
die Nutzlosigkeit der beantragten Beweiserhebung ergeben. Das hat nichts damit zu tun, dass das<br />
Beweisziel ggf. nicht erreicht worden ist.<br />
Durch entsprechende Antragsbegründung wird der Vorsitzende/das Gericht gezwungen, die ihnen obliegende<br />
Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) bei der Bescheidung des Antrags stärker in den Blick<br />
zu nehmen.<br />
c) Verfahren der Ablehnung<br />
Die Neuregelung hat nicht zur Folge, dass entsprechende „Beweisersuchen“ vom Gericht einfach<br />
übergangen werden können/dürfen. Vielmehr gilt (dazu BT-Drucks 19/14747, S. 35):<br />
• Die Ersuchen müssen (zunächst) vom Vorsitzenden nach Maßgabe der Amtsaufklärungspflicht<br />
gem. § 244 Abs. 2 StPO beschieden werden. Ein formeller Gerichtsbeschluss ist nicht erforderlich.<br />
• Ob die Voraussetzungen des § 244 Abs. 6 S. 2 StPO gegeben sind, prüft der Vorsitzende zunächst im<br />
Rahmen seiner Sachleitungsbefugnis (dazu BURHOFF, HV, Rn 3152 ff.).<br />
• Lehnt der Vorsitzende das Ersuchen ab, ist gegen die Entscheidung des Vorsitzenden eine Beanstandung<br />
nach § 238 Abs. 2 StPO möglich.<br />
Hinweis:<br />
Die Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO wird der Verteidiger auf jeden Fall erheben.<br />
• Über die Beanstandung entscheidet das Gericht „in freier Würdigung“ (vgl. dazu BT-Drucks<br />
19/14747, S. 35).<br />
• Der Verteidiger wird, wenn auch das Gericht das Ersuchen ablehnt, ggf. Gegenvorstellung erheben<br />
müssen und darlegen, warum keine Verschleppungsabsicht vorliegt. Allerdings kann der insoweit<br />
erforderliche Vortrag möglicherweise die Schweigepflicht tangieren, wenn nämlich dargelegt werden<br />
muss, warum das Ersuchen so spät gestellt ist.<br />
• In der Revision sind die Einwände gegen die Ablehnung des Antrags mit der Verfahrensrüge (§ 344<br />
Abs. 2 S. 2 StPO!) geltend zu machen. Der Verteidiger sollte zudem immer auch die Aufklärungsrüge<br />
erheben.<br />
Hinweis:<br />
Das vorstehend geschilderte „Verfahrensszenario“ zeigt anschaulich, dass das Beschleunigungs- und<br />
Vereinfachungspotential – wenn es denn überhaupt gegeben ist – äußerst gering ist und es sicherlich<br />
nicht diesen Eingriff in das Beweisantragsrecht rechtfertigt. Es hätte sicherlich ausgereicht, es bei den<br />
Änderungen durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens<br />
vom 17.8.2017“ (BGBl I, S. 3202) – Stichwort: Fristsetzung – zu belassen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 211
Fach 22, Seite 1022<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
5. Beweisanträge im Ermittlungsverfahren (§ 219 StPO)<br />
§ 219 StPO ist durch das Gesetz ebenfalls geändert worden. Es handelt sich aber „nur“ um eine<br />
redaktionelle Folgeänderung zur Änderung des Beweisantragsrechts in § 244 Abs. 3 StPO. Früher war in<br />
§ 219 Abs. 1 S. 1 StPO eine bruchstückhafte Definition des Beweisantrags enthalten. Diese konnte,<br />
nachdem nun der Begriff des Beweisantrags in § 244 Abs. 3 S. 1 StPO legaldefiniert ist, entfallen.<br />
6. Präsente Beweismittel (§ 245 Abs. 2 StPO)<br />
Geändert worden ist durch das Gesetz auch § 245 StPO. Es handelt sich aber „nur“ um eine redaktionelle<br />
Folgeänderung zur Änderung des Beweisantragsrechts in § 244 Abs. 3 StPO. Die früher in § 245 Abs. 2<br />
S. 3 StPO enthaltene Ablehnungsmöglichkeit des „zum Zwecke der Prozeßverschleppung“ gestellten Antrags<br />
konnte entfallen, nachdem ein zum Zweck der Prozessverschleppung gestelltes Beweisersuchen nicht<br />
mehr als „Beweisantrag“ angesehen wird (§ 244 Abs. 6 S. 2 StPO) und damit nicht (mehr) unter die<br />
Anwendung des § 245 Abs. 2 StPO fällt.<br />
VI.<br />
Verhandlungsleitung/Gesichtsverhüllung (§ 68 StPO, § 176 GVG)<br />
1. Neuregelung<br />
Änderungen im Überblick:<br />
• Normen: §§ 176 GVG; 68 StPO<br />
• Regelungsgehalt:<br />
• Verbot der Gesichtsverhüllung in § 176 GVG<br />
• Gegebenenfalls Erweiterung des Zeugenschutzes in § 68 StPO<br />
• Verteidigerstrategie: Prüfung der Einhaltung des Verbots; ggf. Beanstandung einer „verhüllt“ geführten<br />
Vernehmung<br />
In § 176 GVG ist ein Verbot der Gesichtsverhüllung aufgenommen worden; dieses gilt im Übrigen für alle<br />
gerichtlichen Verfahren. Das hatte eine Folgeänderung in § 68 StPO betreffend die Vernehmung von<br />
Personen/Zeugenschutz zur Folge.<br />
2. Verbot der Gesichtsverhüllung (§ 176 GVG)<br />
a) Allgemeines<br />
Verhüllten an der Verhandlung beteiligte Personen ihr Gesicht während der Hauptverhandlung entweder<br />
ganz oder teilweise, konnte dies der Vorsitzende im Rahmen der ihm eingeräumten sitzungspolizeilichen<br />
Befugnisse bislang über § 176 GVG im Wege einer richterlichen Anordnung, die Gesichtsverhüllung zu<br />
entfernen, verbieten (zur Sitzungspolizei s. BURHOFF, HV, Rn 2713 ff.). Die damit zusammenhängenden<br />
Fragen sind jetzt in § 176 Abs. 2 GVG ausdrücklich geregelt worden. Der frühere § 176 GVG ist zu § 176<br />
Abs. 1 GVG geworden. § 176 Abs. 2 S. 1 GVG regelt den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich<br />
der Vorschrift, § 176 Abs. 2 S. 2 GVG regelt Ausnahmen.<br />
Hinweis:<br />
Die Regelung gilt nicht nur im Straf- und Bußgeldverfahren, sondern über § 55 VwGO bzw. § 52 Abs. 1 FGO<br />
bzw. § 61 Abs. 1 SGB auch in Verfahren vor den Gerichten der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten<br />
sowie gem. § 9 Abs. 2 ArbGG vor den Arbeitsgerichten entsprechend.<br />
b) Verbotsinhalt<br />
Die Verbotsregelung erstreckt sich auf sämtliche Formen der Gesichtsverhüllung. Es kommt nicht<br />
darauf an, ob diese religiös motiviert sind oder nicht. Gesichtsverhüllung meint die Verwendung von<br />
Textilien und anderen Gegenständen, die dazu dienen, das Gesicht oder Teile desselben zu verdecken<br />
(vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 43). Im Einzelnen:<br />
212 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1023<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
• Erfasst sind etwa Verhüllungen des Gesichts durch eine Maske, eine Burka, eine Sonnenbrille, eine<br />
Sturmhaube, einen Motorradhelm oder auch einen Verband, den eine Person zur Behandlung einer<br />
physischen Verletzung im Gesicht trägt.<br />
• Nicht erfasst sind dagegen die natürliche Gesichtsbehaarung, kleinere Pflaster, Brillen mit durchsichtigem<br />
Glas oder Bedeckungen nur des Haares oder nur des Halsbereichs, die den Bereich des<br />
Gesichts, also die Fläche zwischen Stirn und Kinn, freilassen.<br />
Nach § 176 Abs. 2 S. 2 GVG ist der Vorsitzende berechtigt, Ausnahmen von dem Verhüllungsverbot zu<br />
gestatten, wenn dessen Schutzzweck nicht berührt wird. Eine gesetzlich geregelte Ausnahme ist die<br />
(Neu-)Regelung in § 68 Abs. 3 S. 3 StPO.<br />
Mit der ausdrücklichen Einführung des Gesichtsverhüllungsverbots ist es dem Gesetzgeber insb. um die<br />
Aufrechterhaltung der Ordnung der gerichtlichen Verhandlung und damit auch um die Sicherung ihrer<br />
Funktionsfähigkeit sowie ihrer Kontrolle gegangen. Näher präzisiert ist die Wahrung der Funktionsfähigkeit<br />
der Rechtspflege in § 176 Abs. 2 S. 2 GVG durch die ausdrücklich genannten Zwecke der<br />
Identitätsfeststellung und der Beweiswürdigung. Diese beiden Zwecke sind verbotsbegründend, weil<br />
die Identität der bei der Verhandlung beteiligten Personen in einem (Straf-/Bußgeld-)Verfahren verlässlich<br />
überprüft werden können muss. Das Verbot greift jedoch in Grundrechte der Verfahrensbeteiligten ein,<br />
und zwar in das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG und – sofern das<br />
Gesicht aus religiösen Gründen verhüllt wird – in das Grundrecht auf Freiheit der Religionsausübung nach<br />
Art. 4 GG. Zudem kann das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG betroffen sein,<br />
wenn die Gesichtsverhüllung in Form eines Verbands erfolgt, der aus medizinischen Gründen angelegt<br />
werden musste (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 44).<br />
Insoweit ist folgende Abwägung zu treffen (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 44):<br />
• Der Eingriff/das Verbot ist grds. vor dem Hintergrund, dass das Verbot der Wahrung der Funktionsfähigkeit<br />
der Rechtspflege dient, gerechtfertigt.<br />
• Personen, die ihr Gesicht verhüllen wollen und sich dabei insb. auf religiöse oder medizinische Gründe<br />
berufen, muss dies aber gestattet werden, wenn und soweit der Blick in das unverhüllte Gesicht<br />
weder zur Identitätsfeststellung noch zur Beweiswürdigung erforderlich ist. Sofern und soweit die<br />
grundrechtlich geschützten Interessen an einer Verhüllung überwiegen, muss der Vorsitzende eine<br />
Ausnahme vom generellen Verbot gestatten. Das dürfte u.a. gelten, wenn Verfahrensbeteiligte an<br />
einer Gerichtsverhandlung nur noch zuhörend teilnehmen wollen, wie etwa Nebenkläger, die an der<br />
Verhandlung nur (noch) als Zuhörer teilnehmen (§ 397 Abs. 1 S. 1 StPO), oder dann, wenn eine<br />
Verhüllung des Gesichts weder zur Identitätsfeststellung noch zur Beweiswürdigung notwendig ist<br />
oder nicht mehr notwendig ist, sei es, dass es auf die Identität der Person/des Zeugen nicht ankommt<br />
oder dass z.B. ein anderer Zeuge oder ein Sachverständiger vernommen wird.<br />
c) Geltungsbereich (§ 176 Abs. 2 S. 1 GVG)<br />
§ 176 Abs. 2 S. 1 GVG regelt den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der neuen Vorschrift. Der<br />
persönliche Anwendungsbereich gilt für alle an der Verhandlung beteiligten Personen. Das sind (im Straf-/<br />
Bußgeldverfahren) Richter, Schöffen, Protokollführer, Angeklagter/Betroffener, Nebenkläger, Privatkläger/-<br />
beklagte, Zeugen, Sachverständige, Verteidiger, Zeugenbeistände, Vertreter/Beistände von Nebenklägern,<br />
Privatklägern und -beklagten (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 43). Nicht erfasst werden Zuschauer oder zu<br />
Sicherheitszwecken eingesetzte Polizeibeamte oder Justizpersonal (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 43).<br />
Die Regelung gilt zeitlich und räumlich für die „Sitzung“. Zeitlich umfasst der Begriff „Sitzung“ die gesamte<br />
Dauer der gerichtlichen Verhandlung i.S.d. § 169 GVG vom Aufruf der Sache bis zur vollständigen<br />
Verkündung des Urteils. Davon umfasst ist darüber hinaus auch die Öffnung des Gerichtssaals sowie nach<br />
der Verkündung des Urteils die Zeit, die das Gericht braucht, um die mit der endgültigen Abwicklung der<br />
Sache zusammenhängenden Verrichtungen vorzunehmen und den Sitzungssaal zu verlassen (vgl. wegen<br />
der Einzelheiten BURHOFF, HV, Rn 2717 m.w.N. und auch BT-Drucks 19/14747, S. 43). Räumlich erstreckt sich<br />
das aus den sitzungspolizeilichen Befugnissen des Vorsitzenden ergebende Verhüllungsverbot nach<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 213
Fach 22, Seite 1024<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
seinem Sinn und Zweck wohl im Wesentlichen nur auf den Sitzungssaal, ist also m.E. enger zu fassen als<br />
die Sitzungspolizei i.e.S., die sich nach allgemeiner Meinung auch auf weitere Räume erstrecken kann (vgl.<br />
dazu BURHOFF, HV, Rn 2718). Entscheidend ist, inwieweit das Verbot der Gesichtsverhüllung aus Gründen<br />
der „Identitätsfeststellung“ oder zur „Beweiswürdigung“ notwendig ist (s. § 176 Abs. 2 S. 2 GVG).<br />
d) „Inhaber des Verbots“/Verfahren<br />
„Inhaber“ des Verbots“ ist der Vorsitzende als Träger der (allgemeinen) Sitzungspolizei (§ 176 Abs. 1 GVG).<br />
Es ist seine Aufgabe, in der „Sitzung“ auf die Einhaltung des Verbots hinzuwirken (BT-Drucks 19/14747,<br />
S. 43). Nach § 180 GVG stehen die in den §§ 176 bis 179 GVG bezeichneten Befugnisse daneben auch<br />
einem einzelnen Richter bei der Vornahme von Amtshandlungen außerhalb der Sitzung zu. Das<br />
bedeutet, dass die Vorschrift des § 176 Abs. 2 GVG im Strafverfahren auch für ermittlungsrichterliche<br />
Tätigkeiten nach den §§ 162 und 169 StPO, bei richterlicher Tätigkeit in Haftsachen (z.B. §§ 114a, 115, 155a<br />
StPO), in Vollstreckungssachen oder beim ersuchten Richter (§ 157 StPO) anzuwenden ist (vgl. dazu<br />
BT-Drucks 19/14747, S. 43).<br />
Die Durchsetzung des Verbots der Gesichtsverhüllung obliegt dem Vorsitzenden als Inhaber der<br />
Sitzungspolizei. Für das einzuhaltende Verfahren gelten die allgemeinen Regeln (dazu BURHOFF, HV,<br />
Rn 2729 ff.): Der Person, gegenüber der das Verbot durchgesetzt werden soll, ist rechtliches Gehör zu<br />
gewähren. Der Vorsitzende fordert sodann zur Einhaltung des Verbots und ggf. zur Enthüllung des<br />
Gesichts auf. Der Vorsitzende kann ggf. für den Fall der Nichtbefolgung Ordnungsmittel (§§ 177 und 178<br />
GVG) androhen. Bei der Aufforderung bzw. Androhung muss der Vorsitzende die Voraussetzungen einer<br />
Ausnahme nach § 176 Abs. 2 S. 2 GVG prüfen, und zwar auch ohne ausdrücklichen Antrag der betroffenen<br />
Person, wenn sich diese Prüfung – wie bei einem offenkundig medizinischen Verband – aufdrängt (dazu<br />
BT-Drucks 19/14747, S. 44). Auch für Rechtsmittel gegen die Anordnung des Vorsitzenden gelten die<br />
allgemeinen Regeln. Es dürfte, da Grundrechte der betroffenen Person tangiert werden, das Rechtsmittel<br />
der Beschwerde gegeben sein (vgl. dazu und wegen weiterer Einzelheiten BURHOFF, HV, Rn 2732).<br />
Hinweis:<br />
Der Verteidiger muss im Hinblick darauf prüfen, ob er ggf. einen Antrag stellt, dass der Vorsitzende zur<br />
Enthüllung auffordert, wenn dies z.B. für die Fragen der Identitätsfeststellung eines Zeugen und/oder der<br />
Beweiswürdigung von Bedeutung ist. Kommt der Vorsitzende diesem Antrag nicht nach, wird der Verteidiger<br />
m.E. das nach § 238 Abs. 2 StPO als Maßnahme der Verhandlungsleitung beanstanden können<br />
und im Hinblick auf die Revision auch müssen (vgl. BURHOFF, HV, Rn 3160).<br />
3. Vernehmung von Personen/Zeugenschutz (§ 68 Abs. 3 S. 3 StPO)<br />
Eingefügt worden ist in § 68 Abs. 3 StPO ein neuer S. 3. Diese (Neu-)Regelung steht im Zusammenhang<br />
mit der Einführung des grundsätzlichen Verbots der Gesichtsverhüllung in Gerichtsverfahren in § 176 Abs. 2<br />
GVG (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 26 und hier VI 1 und 2). Danach darf der Zeuge, wenn ihm unter den<br />
Voraussetzungen des § 68 Abs. 3 S. 1 StPO gestattet worden ist, Angaben zur Person nicht oder nur über<br />
eine frühere Identität zu machen, sein Gesicht entgegen § 176 Abs. 2 S. 1 GVG ganz oder teilweise verhüllen.<br />
Durch diese Regelung soll der umfassende Zeugenschutz des § 68 Abs. 3 S. 1 StPO für die besonders<br />
gefährdeten Personen erhalten bleiben. Diese Zeugen dürfen ihr Gesicht ganz oder teilweise verhüllen.<br />
VII. Vorführung einer Bild-Ton-Aufnahme nach § 255a StPO<br />
Änderungen im Überblick:<br />
• Norm: § 255a StPO<br />
• Regelungsgehalt:<br />
• Folgeänderung der Änderung des § 58a StPO (s. dazu <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 1003 ff.)<br />
• Gegebenenfalls Einschränkung der Zulässigkeit der Vorführung einer Bild-Ton-Aufzeichnung<br />
• Verteidigerstrategie: Gegebenenfalls Beanstandung der Vorführung<br />
214 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1025<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
1. Neuregelung<br />
Die Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 58a StPO – Stichwort: Videovernehmung im Ermittlungsverfahren<br />
– auf die Vernehmung von erwachsenen (potenziellen) Opfern eines Sexualdelikts hat zu<br />
Folgeänderungen bei § 255a Abs. 2 StPO, der die Vorführung einer Bild-Ton-Aufnahme (BTA) in der<br />
Hauptverhandlung regelt (vgl. dazu eingehend BURHOFF, HV, Rn 3700 ff. m.w.N.), geführt. Die Zulässigkeit<br />
einer vernehmungsersetzenden Vorführung einer BTA gem. § 255a Abs. 2 StPO ist auf die Vernehmungen<br />
von erwachsenen Opfern eines Sexualdelikts erweitert worden.<br />
2. Zulässigkeit der Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung (§ 255a Abs. 2 S. 1 StPO)<br />
a) Erweiterung des Anwendungsbereichs<br />
Nach § 255 Abs. 2 S. 2 StPO gilt die Regelung des § 255a StPO jetzt auch für erwachsene „Verletzte einer<br />
Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 bis 184j des Strafgesetzbuches)“.<br />
Hinweise:<br />
Die Verletzten unter 18 Jahren werden nach wie vor von § 255a Abs. 2 S. 1 StPO erfasst.<br />
An den sonstigen Voraussetzungen hat sich durch die Neuregelung nichts geändert.<br />
Ebenso haben sich hinsichtlich der Anordnung der Vorführung der BTA keine Änderungen ergeben.<br />
Die Anordnung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden (BURHOFF, HV, Rn 3715). Dessen<br />
Anordnung kann der Verteidiger nach § 238 Abs. 2 StPO beanstanden (BURHOFF, a.a.O.).<br />
b) Widerspruch des Zeugen im Ermittlungsverfahren<br />
Neu ist (auch), dass die BTA in der Hauptverhandlung dann nicht vorgeführt werden darf, wenn der<br />
Zeuge im Ermittlungsverfahren nach seiner Vernehmung mit der Vorführung der BTA in der<br />
Hauptverhandlung nicht einverstanden ist (zur Kritik u.a. die Stellungnahme der BRAK Nr. 30/2019 v.<br />
November 2019, S. 12 f. unter https://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmendeutschland/2019/november/stellungnahme-der-brak-2019-30.pdf).<br />
Dann kann er unmittelbar nach der<br />
Vernehmung der Vorführung widersprechen.<br />
Der Vorführung der Aufzeichnung in der Hauptverhandlung steht aber nur ein zeitnah vom Zeugen im<br />
Ermittlungsverfahren erklärter Widerspruch entgegen. Das Gesetz formuliert mit „unmittelbar“. Es<br />
steht also nur in einem engen zeitlichen Zusammenhang nach der Vernehmung („unmittelbar“) im<br />
Belieben des Zeugen, ob seine Aussage bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen ggf. vernehmungsersetzend<br />
gem. § 255a StPO vorgeführt werden kann.<br />
Hinweise:<br />
Der rechtzeitig erklärte Widerspruch schließt die vernehmungsersetzende Vorführung der BTA aus. Ausgeschlossen<br />
ist aber nur die vernehmungsersetzende Vorführung der BTA. Auch nach der Neufassung des<br />
§ 255a Abs. 2 StPO ist es zulässig, ergänzend zur Vernehmung des Zeugen oder der Vernehmungsperson die<br />
Videoaufzeichnung ganz oder teilweise vorzuspielen. Dies ist durch die Aufklärungspflicht häufig geboten.<br />
Erklärt der Zeuge seinen Widerspruch ggf. erst in der Hauptverhandlung, ist das verspätet und<br />
unbeachtlich und steht somit einer vernehmungsersetzenden Vorführung der BTA nicht entgegen. Etwas<br />
anderes wird gelten, wenn der Zeuge vom vernehmenden Richter im Ermittlungsverfahren nicht oder<br />
nicht ausreichend über die Möglichkeit des Widerspruchs belehrt worden ist.<br />
VIII. Nebenklage (§§ 397a, 397b StPO)<br />
Änderungen im Überblick:<br />
• Normen: §§ 397a, 397b StPO<br />
• Regelungsgehalt:<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 215
Fach 22, Seite 1026<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
• Erweiterung der Privilegierungstatbestände in § 397a StPO<br />
• Einführung einer sog. gemeinschaftlichen Nebenklage in § 397b StPO<br />
• Verteidigerstrategie: Antragstellung<br />
1. Neuregelung<br />
Das Gesetz hat in § 397a Nr. 1 und Nr. 1 Buchst. a StPO die sog. Privilegierungstatbestände erweitert<br />
(vgl. dazu VIII 2). Außerdem ist, was schon länger gefordert und auch geplant war, in § 397b StPO das<br />
Institut der sog. gemeinschaftlichen Nebenklage eingeführt worden (vgl. sogleich VIII 3).<br />
2. Erweiterung der Privilegierungstatbestände<br />
Beim Erlass des „50. Strafrechtsänderungsgesetzes – Verbesserung des Schutzes der sexuellen<br />
Selbstbestimmung“ vom 4.11.2016 (BGBl I, S. 2460) hatte man übersehen, dass infolge der Änderungen<br />
in § 177 StGB die besonders schweren Fälle des § 177 StGB, die sich nur auf die neuen Grundtatbestände der<br />
§§ 177 Abs. 1 und 2 StGB beziehen, nicht unter die in § 397a Abs. 1 Nr. 1 StPO a.F. genannten Verbrechen<br />
fallen. Nach der Rechtslage hatten in diesen Fällen daher die Opfer keinen Anspruch auf privilegierte<br />
Bestellung eines Rechtsbeistands. In § 397a Abs. 1 Nr. 1 StPO ist nun durch das Gesetz der Katalog der<br />
Straftaten zur privilegierten Bestellung eines Beistands auf die besonders schweren Fälle eines Vergehens<br />
nach § 177 Abs. 6 StGB erweitert worden. Dies betrifft insb. Opfer von Vergewaltigungen, welche nur<br />
einen der Grundtatbestände der § 177 Abs. 1 und 2 StGB erfüllen.<br />
Der Kreis der nach § 397a Nr. 1 Buchst. a StPO privilegierten Nebenkläger ist ebenfalls um die Opfer einer<br />
Straftat nach § 177 Abs. 6 StGB erweitert worden. Insoweit handelt es sich um eine Folgeänderung zur<br />
Erweiterung des Bestellungsanspruchs bestimmter Nebenkläger gem. § 397a Abs. 1 Nr. 1 StPO. Und: Infolge<br />
der Anpassung des Katalogs für die Nebenklage in § 397a Nr. 1 und 1 Buchst. a StPO ist zur Vermeidung von<br />
Wertungswidersprüchen auch der Katalog des § 80 Abs. 3 S. 1 JGG für die Nebenklage gegen Jugendliche<br />
um Vergehen nach § 177 Abs. 6 StGB mit dem § 80 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 JGG erweitert worden.<br />
3. Gemeinschaftliche Nebenklage (§ 397b StPO)<br />
a) Allgemeines<br />
In § 397b StPO ist jetzt ausdrücklich die Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Nebenklagevertretung<br />
vorgesehen. Das soll u.a. der Verfahrensvereinfachung dienen (s. auch BT-Drucks 19/14747, S. 38). Die<br />
Neuregelung knüpft an die bisherige Rechtsprechung an, die das Verbot der Mehrfachverteidigung<br />
gem. § 146 StPO nicht auch als ein Verbot der Mehrfachvertretung angesehen hat (wegen der Einzelh.<br />
BURHOFF, EV, Rn 4576 ff., 4583 m.w.N.).<br />
b) „Bündelungsvoraussetzungen“ (§ 397b Abs. 1 StPO)<br />
Die gemeinschaftliche Nebenklagevertretung setzt nach § 397b Abs. 1 S. 1 StPO voraus, dass die<br />
Nebenkläger gleichgelagerte Interessen verfolgen. Gleichgelagerte Interessen werden nach § 397b<br />
Abs. 1 S. 2 StPO i.d.R. bei Nebenklägern anzunehmen sein, die nahe Angehörige desselben Getöteten<br />
(§ 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO) sind. Dies wird insb. in den Fällen in Betracht kommen, in denen sich mehrere<br />
minderjährige Kinder eines Getöteten als Nebenkläger anschließen. Gleichgelagerte Interessen i.S.d.<br />
Neuregelung setzen keine Interessensgleichheit oder vollständige Einigkeit der Nebenkläger voraus.<br />
Hinweis:<br />
Es handelt sich insoweit aber nur um ein nicht abschließendes Regelbeispiel. Gleichgelagerte Interessen<br />
sind auch außerhalb von Tötungsdelikten und unabhängig von Verwandtschaftsbeziehungen denkbar,<br />
etwa bei Großschadensereignissen oder Umweltdelikten. Die Kriterien für das Vorliegen gleichgelagerter<br />
Interessen sind anhand der jeweiligen Umstände zu ermitteln.<br />
§ 397b Abs. 1 S. 1 StPO ist als Kann-/Ermessens-Vorschrift ausgestaltet. Das Gericht hat auf der<br />
Rechtsfolgenseite sowohl ein Entschließungs- als auch ein Auswahlermessen. Insoweit gilt:<br />
216 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1027<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
Hinsichtlich des Entschließungsermessens, also der Frage, ob die Mehrfachvertretung überhaupt in<br />
Betracht zu ziehen ist, kann/muss das Gericht neben der Interessenlage der Nebenkläger weitere<br />
Gesichtspunkte berücksichtigen, wie die Wahrung der Rechte des Angeklagten, den Resozialisierungsgedanken<br />
oder die voraussichtliche Dauer und Komplexität des Verfahrens. Das Entschließungsermessen<br />
umfasst auch die Frage, ob die Nebenkläger ggf. in Gruppen einzuteilen sind, und die<br />
Einteilung der Gruppen von Nebenklägern (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 39 f.). Es wird sich insoweit<br />
an den gleichgelagerten Interessen der Nebenkläger orientieren.<br />
Auch das sog. Auswahlermessen hinsichtlich des Nebenklagevertreters liegt beim Gericht. Es hat die<br />
Auswahl des anwaltlichen Vertreters nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Sachliche Auswahlkriterien<br />
können z.B. sein: der Wille der (Mehrheit der) Nebenkläger, der Zeitpunkt des Bestellungs- und<br />
Beiordnungsantrags (Prioritätsprinzip), die Ortsnähe des Kanzleisitzes des potenziellen Nebenklagevertreters<br />
zum Gerichtsort oder etwaige Verhinderungen infolge von Terminkollision des vorgeschlagenen<br />
Nebenklagevertreters.<br />
c) Verfahren der Bestellung/Beiordnung (§ 397b Abs. 1 und 2 StPO)<br />
Über die Bestellung/Beiordnung eines gemeinschaftlichen Nebenklagevertreters entscheidet gem. § 396<br />
Abs. 1 S. 1 StPO das Gericht, nicht etwa der Vorsitzende allein.<br />
Bevor das Gericht über die Bestellung oder Beiordnung eines gemeinschaftlichen Nebenklagevertreters<br />
entscheidet, soll es den betroffenen Nebenklägern nach § 397b Abs. 2 S. 1 StPO Gelegenheit zur<br />
Stellungnahme einräumen, um den Nebenklägern so rechtliches Gehör zu verschaffen. Die Staatsanwaltschaft<br />
ist nach allgemeinen Grundsätzen gem. § 33 Abs. 2 StPO zu hören.<br />
Die Entscheidung ergeht durch Beschluss. Wird ein gemeinschaftlicher Nebenklagevertreter bestellt/<br />
beigeordnet, muss das Gericht diesen benennen. Der Beschluss muss im Hinblick darauf, dass das<br />
Rechtsmittel der Beschwerde gegeben ist, begründet werden. Dabei muss zu erkennen sein, dass das<br />
Gericht sein Entschließungs- und Auswahlermessen ausgeübt hat.<br />
Im Fall der Bestellung oder Beiordnung eines gemeinschaftlichen Rechtsanwalts müssen ggf. bereits<br />
erfolgte Einzelbestellungen oder -beiordnungen aufgehoben werden (§ 397b Abs. 2 S. 2 StPO). Dadurch<br />
soll verhindert werden, dass derselbe Nebenklagevertreter zugleich als Mehrfach- und Einzelvertreter<br />
bestellt oder beigeordnet ist bzw. neben dem bestellten oder beigeordneten gemeinschaftlichen Nebenklagevertreter<br />
doppelte Einzelbestellungen oder -beiordnungen zulasten der Staatskasse bestehen<br />
bleiben. Das Gericht muss zudem gem. § 397b Abs. 3 StPO feststellen, ob für einen nicht als Beistand<br />
bestellten oder beigeordneten Rechtsanwalt die Voraussetzungen der Bestellung oder Beiordnung<br />
vorgelegen haben. Diese Feststellung hat für diesen Rechtsanwalt vergütungsrechtliche Folgen.<br />
d) Umfang/Wirkung der Bestellung/Beiordnung<br />
Die gemeinschaftliche Nebenklagevertretung erstreckt sich bei der Bestellung eines Beistands (§ 397a<br />
Abs. 1 StPO) auf das gesamte Verfahren, während sie im Fall der bewilligten PKH (§ 397 Abs. 2 StPO) auf<br />
den jeweiligen Rechtszug beschränkt ist.<br />
Durch die Bestellung/Beiordnung eines gemeinschaftlichen Nebenklagevertreters werden die den einzelnen<br />
Nebenklägern eingeräumten Verfahrensrechte gem. § 397 StPO nicht berührt. Den einzelnen<br />
Nebenklägern verbleiben also auch bei der gemeinschaftlichen Nebenklagevertretung insb. ihre Anwesenheits-<br />
und Fragerechte.<br />
e) Aufhebung der Bestellung/Beiordnung und Rechtsmittel<br />
Liegen die Voraussetzungen der gemeinschaftlichen Nebenklagevertretung im Verlauf der Hauptverhandlung<br />
nicht mehr vor, kann die gemeinschaftliche Nebenklagevertretung ganz oder teilweise<br />
aufgehoben werden. Für diesen Fall richtet sich die (Einzel-)Bestellung eines Rechtsbeistands weiterhin<br />
nach § 397a Abs. 3 S. 2 StPO i.V.m. § 142 StPO.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 217
Fach 22, Seite 1028<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Modernisierung des Strafverfahrens<br />
Die Entscheidung über die Bestellung eines gemeinschaftlichen Nebenklagevertreters kann nach den<br />
allgemeinen Grundsätzen mit der (einfachen) Beschwerde angefochten werden (vgl. dazu BT-Drucks<br />
19/14747, S. 40).<br />
IX.<br />
Exkurs: Gerichtsdolmetschergesetz<br />
1. Neuregelung<br />
Änderungen im Überblick:<br />
• Normen: Gesetz über die allgemeine Beeidigung von gerichtlichen Dolmetschern – (Gerichtsdolmetschergesetz<br />
– GDolmG)<br />
• Regelungsgehalt:<br />
• Die bislang in den Bundesländern unterschiedlich ausgestalteten Standards für die Beeidigung von<br />
Gerichtsdolmetschern werden vereinheitlicht.<br />
• Sowohl die persönlichen als auch die fachlichen Voraussetzungen eines Gerichtsdolmetschers werden<br />
festgelegt.<br />
• Einführung einer sog. gemeinschaftlichen Nebenklage in § 397b StPO<br />
• Verteidigerstrategie: Prüfung, ob vereidigt; ggf. Verfahrensrüge<br />
Eingeführt worden ist durch das Gesetz in dessen Art. 5 ein „Gesetz über die allgemeine Beeidigung von<br />
gerichtlichen Dolmetschern“ –(Gerichtsdolmetschergesetz – GDolmG). Die Regelungen gelten auch<br />
im Bußgeldverfahren und in allen anderen Verfahrensordnungen.<br />
2. Regelungsüberblick<br />
Nach § 1 GDolmG sind zur Sprachenübertragung für gerichtliche Zwecke zugezogene Dolmetscher i.S.d.<br />
§ 185 GVG nach dem GDolmG allgemein zu beeidigen. Das entspricht § 189 GVG, der ebenfalls vorsieht,<br />
die zur mündlichen Übertragung einer Sprache bestellten Dolmetscher allgemein zu beeidigen.<br />
Hinweis:<br />
Allgemein beeidigte Dolmetscher müssen nicht mehr in der (Haupt-)Verhandlung selbst beeidigt werden,<br />
sondern können sich auf ihren allgemein geleisteten Eid berufen.<br />
Für die Tätigkeit als Dolmetscher vor Gericht ist aber die allgemeine Beeidigung nach wie vor nicht<br />
obligatorisch. Dem Gericht ist es unbenommen, den Dolmetscher auch im Rahmen der Hauptverhandlung<br />
nach § 189 Abs. 1 GVG zu vereidigen. Die allgemeine Beeidigung gewährleistet jedoch im Gegensatz<br />
zu der Eidesleistung im Gerichtssaal, dass der Dolmetscher zuvor seine Kompetenzen in einem verwaltungsrechtlichen<br />
Verfahren gegenüber der nach § 2 GDolmG zuständigen Stelle nachgewiesen hat.<br />
Das Verfahren der Beeidigung ist in den §§ 2 ff. GDolmG geregelt. Die Zuständigkeit (§§ 2 GDolmG) für<br />
die Beeidigung ist zentral bei den OLG bzw. dem KG konzentriert. Den Landesgesetzgebern ist aber über<br />
eine Verordnungsermächtigung die Möglichkeit gegeben, ggf. bereits bestehende andere Zuständigkeiten<br />
im Verordnungswege fortzuführen. Nach § 3 Abs. 1 GDolmG muss der seine Beeidigung beantragende<br />
Dolmetscher bestimmte persönliche und fachliche Voraussetzungen erfüllen, um zu garantieren,<br />
dass er den Anforderungen der Tätigkeit als Dolmetscher gewachsen ist.<br />
Hinweis:<br />
Nach § 5 Abs. 3 GDolmG ist der Dolmetscher zur Verschwiegenheit verpflichtet.<br />
Die ggf. fehlende (allgemeine) Vereidigung eines Dolmetschers kann im Verfahren von Bedeutung sein<br />
und zum Erfolg einer darauf gestützten Revision führen (dazu BGH StraFo 2019, 425 = StRR 12/2019, 11).<br />
Der Verteidiger muss sich also, wenn ein Dolmetscher zugezogen worden ist, mit den sich daraus<br />
ergebenden Fragen befassen.<br />
218 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Gebührenrecht Fach 24, Seite 1737<br />
Gebührentipps<br />
Anwaltsgebühren<br />
Gebührentipps für Rechtsanwälte (I/<strong>2020</strong>)<br />
Von VorsRiLG a.D. HEINZ HANSENS, Berlin<br />
Inhalt<br />
I. Rechtsbehelfe im Verfahren auf Festsetzung<br />
der PKH-/VKH-Anwaltsvergütung<br />
1. Rechtsbehelfe<br />
2. Verwirkung des Erinnerungsrechts<br />
3. Folgen einer unterbliebenen oder fehlerhaften<br />
Rechtsbehelfsbelehrung<br />
II. Anwaltsvergütung und Erstattung bei der<br />
außergerichtlichen Verkehrsunfallschadensregulierung<br />
1. Anwaltsvergütung<br />
2. Gegenstandswert<br />
3. Materiell-rechtlicher Kostenerstattungsanspruch<br />
4. Maßgeblicher Zeitpunkt<br />
5. Gegenstandswert<br />
III. Auslagen der Partei für einen gestellten<br />
Zeugen<br />
1. Gerichtlich geladener Zeuge<br />
2. Gestellter Zeuge<br />
3. Besonderheiten bei einer Verzichtserklärung<br />
IV. Keine Beschränkung bei den Reisekosten<br />
auf Sparangebote<br />
1. Fall des BVerwG<br />
2. Der Stand der Rechtsprechung<br />
3. Praktische Auswirkungen für den Rechtsanwalt<br />
V. Prozesskostenhilfe bei Vertretung eines<br />
bedürftigen und eines nicht bedürftigen<br />
Streitgenossen<br />
1. Fall des BGH<br />
2. Argumente des BGH<br />
3. Entscheidung im Prozesskostenhilfe-<br />
Bewilligungsverfahren<br />
4. Entscheidung im Festsetzungsverfahren<br />
5. Rechtsbehelfe<br />
I. Rechtsbehelfe im Verfahren auf Festsetzung der PKH-/VKH-Anwaltsvergütung<br />
Gemäß § 45 Abs. 1 S. 1 RVG erhält der im Wege der Prozesskostenhilfe (PKH) bzw. Verfahrenskostenhilfe<br />
(VKH) beigeordnete Rechtsanwalt die gesetzliche Vergütung in Verfahren vor Gerichten des Bundes aus<br />
der Bundeskasse, in Verfahren vor Gerichten eines Landes aus der Landeskasse. Dabei bestimmt sich<br />
der Vergütungsanspruch des Rechtsanwalts gegen die Staatskasse gem. § 48 Abs. 1 RVG nach den<br />
Beschlüssen, durch die die PKH/VKH bewilligt und der Rechtsanwalt beigeordnet worden ist. Die danach<br />
aus der Staatskasse zu gewährende Vergütung des beigeordneten Rechtsanwalts wird auf dessen<br />
Antrag gem. § 55 Abs. 1 S. 1 RVG von dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Gerichts des ersten<br />
Rechtszugs festgesetzt.<br />
1. Rechtsbehelfe<br />
Welche Rechtsbehelfe im Verfahren auf Festsetzung der PKH-/VKH-Anwaltsvergütung gegeben sind,<br />
regelt das RVG abschließend und vorrangig vor den Vorschriften der jeweiligen Verfahrensordnungen<br />
(s. § 1 Abs. 3 RVG). Gegen die Festsetzung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle und auch – was das<br />
Gesetz nicht ausdrücklich regelt – gegen die Zurückweisung des Festsetzungsantrags ist gem. § 56<br />
Abs. 1 S. 1 RVG die Erinnerung gegeben. Erinnerungsbefugt können sowohl der Rechtsanwalt sein, um<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 219
Fach 24, Seite 1738<br />
Gebührentipps<br />
Gebührenrecht<br />
dessen Vergütung es geht, als auch die Staatskasse. Für das Verfahren über die Erinnerung verweist § 56<br />
Abs. 2 S. 1 Hs. 1 RVG auf die das Verfahren auf Festsetzung des Gegenstandswerts betreffenden<br />
Regelungen des § 33 Abs. 4 S. 1 und Abs. 7 und 8 RVG.<br />
Gegen die auf die Erinnerung ergangene Entscheidung des Gerichts ist die Beschwerde gegeben. Für das<br />
Verfahren über die Beschwerde verweist § 56 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 RVG auf die Regelungen in § 33 Abs. 3 bis 8<br />
RVG. Hieraus ergeben sich folgende praktische Auswirkungen.<br />
a) Erinnerung<br />
Die Erinnerung gegen die Festsetzung der PKH- oder VKH-Anwaltsvergütung nach § 55 RVG ist nach<br />
der allgemeinen Auffassung in der Rechtsprechung und Literatur unbefristet, weil § 56 Abs. 2 S. 1 Hs. 1<br />
RVG nicht auch auf die die Befristung regelnde Vorschrift des § 33 Abs. 3 S. 3 RVG verweist (s. OLG<br />
Brandenburg RVGreport 2010, 218 [HANSENS] = AGS 2011, 280; OLG Frankfurt RVGreport 2007, 100 [DERS.];<br />
OLG Düsseldorf RVGreport 2016, 218 [DERS.]; LSG Sachsen-Anhalt RVGreport 2018, 15 [DERS.]; MAYER/<br />
KROIß/PUKALL, RVG, 6. Aufl., § 56 Rn 10; Gerold/Schmidt/MÜLLER-RABE, RVG, 24. Aufl., § 56 RVG Rn 8).<br />
Anderer Auffassung ist lediglich das OLG Koblenz (RVGreport 2006, 60 [HANSENS]).<br />
b) Beschwerde<br />
Demgegenüber verweist § 56 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 RVG für das Verfahren über die Beschwerde gegen die<br />
Entscheidung über die Erinnerung auf die entsprechende Anwendung von § 33 Abs. 3 bis 8 RVG. Dies<br />
schließt die in § 33 Abs. 3 S. 3 RVG geregelte Befristung der Beschwerde ein.<br />
c) Weitere Beschwerde<br />
Ebenfalls befristet ist die – zulassungsbedürftige – weitere Beschwerde gegen die Entscheidung des LG<br />
als Beschwerdegericht. Hier gilt ebenfalls die Verweisung in § 56 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 RVG, sodass für die<br />
weitere Beschwerde § 33 Abs. 6 S. 4 i.V.m. Abs. 3 S. 3 RVG anwendbar ist.<br />
d) Zusammenfassung<br />
Somit gilt für die Rechtsbehelfe in Verfahren auf Festsetzung der PKH- oder VKH-Anwaltsvergütung<br />
Folgendes:<br />
1. Die Erinnerung ist unbefristet.<br />
2. Für die Beschwerde gilt eine Beschwerdefrist von zwei Wochen.<br />
3. Die weitere Beschwerde ist ebenfalls binnen der Beschwerdefrist von zwei Wochen einzulegen.<br />
2. Verwirkung des Erinnerungsrechts<br />
Ob das Erinnerungsrecht verwirken kann, ist in der Rechtsprechung umstritten.<br />
a) Erinnerung der Staatskasse<br />
Teilweise wird die Auffassung vertreten, das Erinnerungsrecht der Staatskasse verwirke entsprechend<br />
§ 20 GKG, § 19 Abs. 1 FamGKG (s. etwa OLG Brandenburg RVGreport 2010, 218 [HANSENS] = AGS 2011, 280;<br />
KG RVGreport 20<strong>04</strong>, 314 [DERS.]; OLG Zweibrücken RVGreport 2006, 423 [DERS.]; OLG Jena Rpfleger<br />
2006, 434; LSG Sachsen-Anhalt RVGreport 2018, 15 [DERS.]; SG Berlin RVGreport 2011, 381 [DERS.]; offen:<br />
OLG Celle RVGreport 2015, 248 [DERS.] für die Rückforderung des Vorschusses vom PKH-Anwalt); a.A.<br />
OLG Düsseldorf RVGreport 2016, 218 [DERS.]).<br />
Eine Verwirkung des Erinnerungsrechts der Staatskasse soll aber dann nicht eintreten, wenn der<br />
Rechtsanwalt vorsätzlich oder grob fahrlässig einen unberechtigten Festsetzungsantrag gestellt hat<br />
und die Festsetzung auf diesen falschen Angaben des Anwalts beruht (Bay. LSG AGS 2012, 584; OLG<br />
Rostock JurBüro 2012, 197). Schließlich kommt eine Verwirkung des Erinnerungsrechts der Staatskasse<br />
dann nicht in Betracht, wenn der Rechtsanwalt seinerseits Erinnerung gegen die Festsetzung der<br />
Vergütung eingelegt hat und sich die Staatskasse der Erinnerung angeschlossen hat.<br />
220 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Gebührenrecht Fach 24, Seite 1739<br />
Gebührentipps<br />
Einigkeit besteht bei den Gerichten, die grds. von einer Verwirkung des Erinnerungsrechts ausgehen,<br />
darüber, dass neben dem sog. Zeitmoment auch das Umstandsmoment vorliegen muss. Das Zeitmoment<br />
ist jedenfalls dann nicht gegeben, wenn zwischen dem Erlass der angefochtenen Entscheidung<br />
und der Einlegung ein Zeitraum von nur 13 Monaten (so das Thür. LSG RVGreport <strong>2020</strong>, Heft 3) oder 15<br />
Monaten (so das LSG Sachsen-Anhalt RVGreport 2018, 15 [HANSENS]) liegt.<br />
b) Erinnerung des Rechtsanwalts<br />
Demgegenüber besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass das Erinnerungsrecht des Rechtsanwalts<br />
nicht verwirkt (OLG Zweibrücken RVGreport 2006, 423 [HANSENS]; KG RVGreport 20<strong>04</strong>, 314 [DERS.]; a.A.<br />
OLG Koblenz FamRZ 1999, 1362 zu § 128 BRAGO: Verwirkung nach Ablauf von drei Monaten nach<br />
Zustellung des Beschlusses über die Festsetzung der Vergütung).<br />
3. Folgen einer unterbliebenen oder fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung<br />
Mit Einfügung des § 12c RVG muss jede anfechtbare Entscheidung eine Belehrung über den statthaften<br />
Rechtsbehelf sowie über das Gericht, bei dem dieser Rechtsbehelf einzulegen ist, über dessen Sitz und<br />
über die einzuhaltende Form und Frist enthalten. Dies betrifft auch die Rechtsbehelfe im Verfahren auf<br />
Festsetzung der PKH-Anwaltsvergütung. Welche Folgen eine unterbliebene oder auch nur fehlerhafte<br />
Rechtsbehelfsbelehrung hat, regelt § 56 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 i.V.m. § 33 Abs. 5 S. 2 RVG. Danach wird bei<br />
einem befristeten Rechtsbehelf ein Fehlen des Verschuldens vermutet, wenn die gebotene Rechtsbehelfsbelehrung<br />
unterblieben oder fehlerhaft ist. In diesen Fällen hat der Rechtsanwalt dann gem. § 56<br />
Abs. 2 S. 1 Hs. 2 i.V.m. § 33 Abs. 5 S. 1 RVG einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu<br />
stellen und die die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen, hier also die unterbliebene oder<br />
fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung, vorzutragen und glaubhaft zu machen. Letzteres ist in der Praxis<br />
meist entbehrlich, da das Fehlen oder die Unrichtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung sich aus den<br />
Gerichtsakten ergeben müsste.<br />
Der Eindruck, dass bei einer völlig fehlenden oder unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung gewissermaßen<br />
automatisch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden muss, täuscht jedoch: Die<br />
Rechtsprechung versagt nämlich im Regelfall einem anwaltlich vertretenen Beteiligten und erst recht<br />
einem in eigener Sache selbst auftretenden Rechtsanwalt die Rechtswohltat des § 33 Abs. 5 S. 2 RVG<br />
bzw. der entsprechenden Regelungen in anderen Verfahrensvorschriften. Der BGH (s. AnwBl 2012, 927 =<br />
NJW-RR 2012, 1025; NJW 2013, 1308; NJW 2017, 113 mit Anm. HEINEMANN) begründet dies damit, von einem<br />
Anwalt müsse erwartet werden, dass er die Grundzüge des Verfahrensrechts und das Rechtsmittelsystem<br />
in der jeweiligen Verfahrensart kenne. Deshalb könne er das Vertrauen in die Richtigkeit einer<br />
Rechtsbehelfsbelehrung nicht uneingeschränkt in Anspruch nehmen. Eine Wiedereinsetzung in den<br />
vorigen Stand kommt nach der Rechtsprechung des BGH bei einem anwaltlich vertretenen Beteiligten<br />
deshalb nur dann in Betracht, wenn die unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung bei einem Rechtsanwalt<br />
einen entschuldbaren Rechtsirrtum über das statthafte Rechtsmittel hervorgerufen hat.<br />
Für das Verfahren auf Festsetzung der PKH-/VKH-Anwaltsvergütung liegen die Obergerichte auf<br />
derselben Linie. So hat beispielsweise das LSG NRW (RVGreport 2017, 454 [HANSENS]) die Auffassung<br />
vertreten, die Vermutung des § 33 Abs. 5 S. 2 RVG sei jedenfalls dann widerlegt, wenn es sich bei dem die<br />
Frist versäumenden Beschwerdeführer um einen Rechtsanwalt handele, der in Kostenangelegenheiten<br />
äußerst versiert sei und als Beschwerdeführer eine Vielzahl von Beschwerden im Verfahren auf<br />
Festsetzung der PKH-Anwaltsvergütung betrieben habe. Da im Verfahren auf Festsetzung der PKH-/<br />
VKH-Anwaltsvergütung fast regelmäßig derart sachkundige Beschwerdeführer – sei es der Rechtsanwalt<br />
oder der Vertreter der Staatskasse – tätig sind, kommt die Regelung in § 33 Abs. 3 S. 2 RVG<br />
praktisch nie zur Anwendung. Allenfalls ein Neuling, der sein erstes Verfahren auf Festsetzung der PKH-/<br />
VKH-Anwaltsvergütung nebst Rechtsbehelfsverfahren betreibt, könnte sich dann einmalig auf eine<br />
unrichtige oder fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung berufen, wenn er die Beschwerdefrist versäumt.<br />
Einen entsprechenden Wiedereinsetzungsantrag muss er jedoch gem. § 56 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 i.V.m. § 33<br />
Abs. 5 S. 1 RVG gleichwohl stellen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 221
Fach 24, Seite 1740<br />
Gebührentipps<br />
Gebührenrecht<br />
Diese einschränkende Auffassung halte ich nicht für zutreffend. Dem Gesetzgeber war bewusst, dass<br />
im Verfahren auf Festsetzung der PKH-/VKH-Anwaltsvergütung die Beteiligten, nämlich der den<br />
Festsetzungsantrag stellende Rechtsanwalt einerseits und der Vertreter der Staatskasse andererseits,<br />
die Grundzüge des Verfahrensrechts und das Rechtsmittelsystem des § 56 Abs. 2 i.V.m. § 33 Abs. 3 bis 8<br />
RVG kennen müssen. Gleichwohl hat er durch die Verweisung auf § 33 Abs. 5 S. 2 RVG die Regelung<br />
getroffen, dass bei einer fehlenden oder unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung ein Fehlen des Verschuldens<br />
an der Fristversäumung vermutet wird. Folgt man der Rechtsprechung, so könnte sich nur ein<br />
Anfänger in seinem Wiedereinsetzungsantrag auf ein Fehlen des Verschuldens aufgrund einer<br />
unrichtigen oder völlig fehlenden Rechtsbehelfsbelehrung berufen. Für eine derartige Einschränkung<br />
ergeben sich im Gesetz jedoch keine Anhaltspunkte.<br />
Gebührentipp:<br />
Gleichwohl muss sich der Rechtsanwalt bei seiner Verfahrensweise darauf einstellen, dass allein eine<br />
unterbliebene oder fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung kein Grund für eine Wiedereinsetzung in den<br />
vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Beschwerde oder der weiteren<br />
Beschwerde darstellt. Deshalb sollte der Anwalt sein Büropersonal anweisen, inVerfahren auf<br />
Festsetzung der PKH-/VKH-Anwaltsvergütung die gerichtlichen Rechtsbehelfsbelehrungen, wenn sie<br />
der gerichtlichen Entscheidung überhaupt beigefügt worden sind, unberücksichtigt zu lassen und den<br />
richtigen Rechtsbehelf und ggf. seine Frist und weitere gesetzliche Anforderungen dem Gesetz zu<br />
entnehmen.<br />
II. Anwaltsvergütung und Erstattung bei der außergerichtlichen<br />
Verkehrsunfallschadensregulierung<br />
Die außergerichtliche Regulierung eines Verkehrsunfallschadens nimmt in der anwaltlichen Praxis – je<br />
nach Zuschnitt der Anwaltskanzlei – einen großen Raum ein. Deshalb sollen nachfolgend die Grundsätze<br />
für den Anfall der hierdurch ausgelösten Anwaltsvergütung und für deren Erstattungsfähigkeit nach<br />
materiellem Recht wiedergegeben werden.<br />
1. Anwaltsvergütung<br />
Welche Vergütung der mit der außergerichtlichen Schadensregulierung beauftragte Anwalt gegenüber<br />
seinem Mandanten abrechnen kann, richtet sich nach dem ihm erteilten Auftrag.<br />
a) Vertretungsauftrag<br />
Im Regelfall wird dies ein auf außergerichtliche Anwaltstätigkeit gerichteter Vertretungsauftrag sein,<br />
sodass die Vergütung nach Teil 2 Abschnitt 3 VV RVG abzurechnen ist und dem Anwalt dann eine<br />
Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG anfällt.<br />
Bei einem durchschnittlichen Verkehrsunfall ist die Berechnung einer 1,3 Geschäftsgebühr nach<br />
Nr. 2300 VV RVG nicht unbillig. Diese Schwellengebühr ist nämlich die Regelgebühr für durchschnittliche<br />
Fälle (BGH RVGreport 2013, 185 [HANSENS] = zfs 2013, 288 mit Anm. HANSENS = AGS 2013, 111). Im<br />
Durchschnittsfall kann der Rechtsanwalt diese Schwellengebühr nicht mit der Begründung auf eine 1,5<br />
Geschäftsgebühr anheben, eine Überprüfung seiner Gebührenbestimmung sei nicht zulässig, weil er sich<br />
mit der Überschreitung der Regelgebühr noch innerhalb der üblicherweise einzuräumenden Toleranzgrenze<br />
von 20 % befinde (BGH a.a.O.; BGH RVGreport 2012, 375 [DERS.] = zfs 2012, 584 mit Anm. HANSENS<br />
= AGS 2012, 373; a.A. noch BGH RVGreport 2011, 136 [DERS.] = zfs 2011, 465 mit Anm. HANSENS = AGS 2011,<br />
120 mit Anm. SCHONS; s. auch HANSENS AnwBl 2011, 567).<br />
b) Unbedingter Prozessauftrag<br />
Der Mandant kann seinem Rechtsanwalt aber auch einen unbedingten Prozessauftrag mit der Maßgabe<br />
erteilen, zunächst eine außergerichtliche Verkehrsunfallschadensregulierung zu versuchen. In diesem<br />
Fall berechnen sich die Anwaltsgebühren ausweislich der Vorbem. 3 Abs. 1 S. 1 VV RVG nach Teil 3 VV<br />
222 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Gebührenrecht Fach 24, Seite 1741<br />
Gebührentipps<br />
RVG. Der Rechtsanwalt erhält also auch dann, wenn er auf einen solchen Auftrag hin kein gerichtliches<br />
Verfahren betreibt, eine 0,8 Verfahrensgebühr nach Nr. 3101 Nr. 1 VV RVG. Führt der Anwalt daneben<br />
Besprechungen zur Vermeidung des gerichtlichen Verfahrens, kann ihm nach Vorbem. 3 Abs. 3 S. 3 Nr. 2<br />
VV RVG daneben noch die 1,2 Terminsgebühr nach Nr. 31<strong>04</strong> VV RVG anfallen.<br />
2. Gegenstandswert<br />
Der für die Abrechnung mit dem Mandanten maßgebliche Gegenstandswert bestimmt sich danach,<br />
welche Ansprüche der Anwalt für seinen Mandanten geltend machen bzw. abwehren soll. Dieser<br />
Gegenstandswert ist meist geringer als der für die Kostenerstattung maßgebliche Gegenstandswert<br />
(s. unter II 5).<br />
3. Materiell-rechtlicher Kostenerstattungsanspruch<br />
Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH umfasst der dem Geschädigten gem. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB<br />
zustehende Schadensersatzanspruch aus einem Verkehrsunfall grds. auch den Ersatz der durch das<br />
Schadensereignis erforderlich gewordenen Rechtsverfolgungskosten (BGH RVGreport 2017, 424<br />
[HANSENS] = zfs 2017, 646 mit Anm. HANSENS = AGS 2017, 365; BGH RVGreport 2006, 236 [DERS.] = zfs<br />
2006, 448 = AGS 2006, 256; BGH NJW 2005, 1112; BGH RVGreport 2015, 384 [DERS.] = zfs 2015, 585 mit<br />
Anm. HANSENS = AGS 2015, 514; BGH RVGreport <strong>2020</strong>, 65 [DERS.]). Dabei hat der Schädiger allerdings nicht<br />
schlechthin alle durch das Schadensereignis adäquat verursachten Rechtsanwaltskosten zu ersetzen,<br />
sondern nur diejenigen, die aus Sicht des Geschädigten zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich<br />
und zweckmäßig waren. Dabei ist nach der Rechtsprechung des BGH nach dem Grundsatz der<br />
subjektbezogenen Schadensbetrachtung auch Rücksicht auf die spezielle Situation des Geschädigten<br />
zu nehmen (BGH RVGreport 2012, 305 [HANSENS] = AGS 2012, 595; BGH RVGreport <strong>2020</strong>, 65 [DERS.]).<br />
An die Voraussetzungen des materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruchs sind keine überzogenen<br />
Anforderungen zu stellen. Vielmehr kommt es darauf an, wie sich die voraussichtliche Abwicklung des<br />
Schadensfalls aus der Sicht des Geschädigten darstellt. Die sich hieraus ergebenden Auswirkungen hat<br />
der BGH in seinem Urt. v. 29.10.2019 (RVGreport <strong>2020</strong>, 65 [DERS.]) zusammengefasst.<br />
a) Einfach gelagerte Fälle<br />
In einfach gelagerten Fällen kann der Geschädigte nach Auffassung des BGH den Schaden grds. selbst<br />
geltend machen. In einem solchen Fall sei die sofortige Einschaltung eines Rechtsanwalts nur<br />
unter besonderen Voraussetzungen als erforderlich anzusehen. Dies kann gegeben sein, wenn der<br />
Geschädigte aus Mangel an geschäftlicher Gewandtheit oder aus sonstigen Gründen wie Krankheit<br />
oder Abwesenheit nicht in der Lage ist, den Schaden selbst anzumelden (BGH RVGreport 2007, 470<br />
[HANSENS] = AnwBl 2007, 547; BGH RVGreport 2015, 384 [DERS.] = zfs 2015, 585 mit Anm. HANSENS = AGS<br />
2015, 541). Ein einfacher Fall kann nach Auffassung des BGH dann vorliegen, wenn die Verantwortlichkeit<br />
für den Schaden und damit die Haftung von vornherein nach Grund und Höhe derartig klar<br />
ist, dass aus Sicht des Geschädigten kein vernünftiger Zweifel daran bestehen kann, dass der Schädiger<br />
oder dessen Haftpflichtversicherer ohne Weiteres seiner Ersatzpflicht nachkommen kann. In diesen<br />
Fällen sei die Hinzuziehung eines Anwalts schon für die erstmalige Geltendmachung des Schadens<br />
gegenüber dem Schädiger oder dessen Versicherer nicht notwendig (BGH RVGreport 2007, 470<br />
[HANSENS] = AnwBl 2007, 547).<br />
b) Geschäftsgewandtheit des Geschädigten<br />
In Anwendung dieser Grundsätze kann sich nach Auffassung des BGH (a.a.O.) eine etwaige Geschäftsgewandtheit<br />
des Geschädigten, insb. dessen Sach- und Fachkenntnisse im Zusammenhang mit der<br />
Abwicklung vergleichbarer Schadensfälle, nur in zweifacher Hinsicht auswirken:<br />
• Erstens bei der Beurteilung, ob aus Sicht des entsprechend qualifizierten Geschädigten kein vernünftiger<br />
Zweifel daran bestehen kann, dass der Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherer ohne Weiteres<br />
seiner Ersatzpflicht nachkommen werde.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 223
Fach 24, Seite 1742<br />
Gebührentipps<br />
Gebührenrecht<br />
• Zweitens habe der Geschädigte – so der BGH (a.a.O.) – sein Wissen bei der erstmaligen Geltendmachung<br />
des Schadens einzusetzen, wenn es sich nach den vorgenannten Kriterien um einen derart<br />
einfachen, aus seiner Sicht zweifelsfreien Fall handele. In diesem Fall dürfe also der Geschädigte die<br />
Hinzuziehung eines Rechtsanwalts zunächst nicht für erforderlich halten.<br />
c) Kein einfach gelagerter Fall<br />
Handelt es sich hingegen nicht um einen einfach gelagerten Fall, ist der Geschädigte, gleich ob<br />
Privatperson, Behörde oder Unternehmen, ungeachtet etwaiger Erfahrungen und Fachkenntnisse nicht<br />
verpflichtet, von der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts bei der Schadensabwicklung Abstand zu<br />
nehmen (BGH BGHZ 127, 348, 352 = zfs 1995, 48 und 61 = AGS 1995, 30). Dies hat zur Folge, dass auch<br />
einem mit Schadensabwicklungen vertrauten Unternehmen nicht verwehrt werden kann, einen<br />
Rechtsanwalt zu beauftragen, sofern nicht zweifelsfrei ist, dass und inwieweit der Haftpflichtversicherer<br />
des Unfallgegners den Schaden regulieren werde. In dem vom BGH (a.a.O.) in seinem Urt. v. 29.10.2019<br />
entschiedenen Fall hat es sich um ein international tätiges Autovermietungsunternehmen gehandelt.<br />
d) Verkehrsunfall mit Beteiligung zweier Fahrzeuge<br />
Die schadensrechtliche Abwicklung eines Verkehrsunfalls, an dem zwei Fahrzeuge beteiligt waren, stellt<br />
jedenfalls im Hinblick auf die Schadenshöhe regelmäßig keinen einfach gelagerten Fall dar. Dies hat der<br />
BGH (a.a.O.) damit begründet, bei einem Fahrzeugschaden werde die rechtliche Beurteilung nahezu<br />
jeder Schadensposition in Rechtsprechung und Literatur seit Jahren intensiv und kontrovers diskutiert.<br />
Hierzu gebe es umfangreiche, vielschichtige und teilweise uneinheitliche Rechtsprechung, die laufend<br />
fortentwickelt werde. Dementsprechend werde zwischen den Geschädigten und den in der Regel<br />
hochspezialisierten Rechtsabteilungen der Haftpflichtversicherer nicht selten um einzelne Beträge bis in<br />
die letzte Gerichtsinstanz gestritten.<br />
Deshalb darf nach der Rechtsprechung des BGH bei Unklarheiten im Hinblick jedenfalls auf die Höhe der<br />
Ersatzpflicht, wie sie typischerweise bei Fahrzeugschäden nach einem Verkehrsunfall besteht, auch und<br />
gerade der mit der Schadensabwicklung von Verkehrsunfällen vertraute Geschädigte vernünftige<br />
Zweifel daran haben, dass der Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherer ohne Weiteres seiner<br />
Ersatzpflicht nachkommen werde. Der Umstand, dass der erfahrende Geschädigte durchaus in der Lage<br />
ist, den Unfallhergang zu schildern und ggf. unter Beifügung eines Sachverständigengutachtens die aus<br />
seiner Sicht zu ersetzenden Schadenspositionen zu beziffern, macht nach Auffassung des BGH (a.a.O.)<br />
den Fall selbst bei Eindeutigkeit des Haftungsgrundes nicht zu einem einfach gelagerten Fall. Die<br />
Erforderlichkeit der Beauftragung eines Rechtsanwalts wird deshalb nicht ausgeschlossen.<br />
4. Maßgeblicher Zeitpunkt<br />
Für die Erstattungsfähigkeit der Rechtsanwaltskosten für die außergerichtliche Schadensregulierung ist<br />
maßgeblich auf den Zeitpunkt der Beauftragung des Rechtsanwalts abzustellen, sodass die Sicht ex<br />
ante maßgeblich ist (BGH BGHZ 30, 154, 157; BGH RVGreport <strong>2020</strong>, 65 [HANSENS]).<br />
5. Gegenstandswert<br />
Anders als bei der Abrechnung mit dem Mandanten ist dessen Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher<br />
Anwaltskosten im Verhältnis zum Schädiger grds. der Gegenstandswert zugrunde zu legen, der der<br />
berechtigten Schadenersatzforderung entspricht. Dabei ist auf die letztlich festgestellte oder unstreitig<br />
gewordene Schadenshöhe abzustellen (so BGH RVGreport 2018, 184 [HANSENS] = zfs 2018, 164 mit Anm.<br />
HANSENS = AGS 2018, 95; BGH RVGreport 2010, 65 [DERS.]).<br />
So hat der VI. Zivilsenat des BGH Senat in seinen beiden Urteilen (RVGreport 2017, 424 [HANSENS] = zfs<br />
2017, 646 mit Anm. HANSENS und RVGreport 2018, 99 [DERS.]) klargestellt, dass sich der für den Anspruch<br />
auf Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten maßgebliche Gegenstandswert nach dem Wiederbeschaffungsaufwand<br />
berechnet und nicht nach dem den Restwert einschließenden Wiederbeschaffungswert,<br />
wenn der Geschädigte vom Schädiger im Rahmen der ihm eingeräumten Ersetzungsbefugnis lediglich<br />
den Wiederbeschaffungsaufwand für das beschädigte Fahrzeug verlangt. Dies führt dazu, dass der<br />
224 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Gebührenrecht Fach 24, Seite 1743<br />
Gebührentipps<br />
Restwert bei der Bemessung des Gegenstandswerts unabhängig davon unberücksichtigt bleibt, ob der<br />
Rechtsanwalt auch insoweit vom Geschädigten beauftragt worden war. Folge hiervon ist die Kürzung<br />
der nach materiellem Recht vom Schädiger zu erstattenden Anwaltskosten.<br />
Auch dem weiteren Urteil des VI. Zivilsenat des BGH vom 5.12.2017 (RVGreport 2018, 184 [HANSENS] = zfs<br />
2018, 164 mit Anm. HANSENS = AGS 2018, 95) ist zu entnehmen, dass der Geschädigte seine Anwaltskosten<br />
nach dem geltend gemachten Schadenersatzbetrag, den er unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen<br />
Rechtsprechung zunächst zutreffend ermittelt hat, nicht zwangsläufig erstattet erhält. Vielmehr<br />
können nachträgliche, häufig von der gegnerischen Kfz-Haftpflichtversicherung auf § 254 Abs. 2 BGB<br />
gestützte Einwendungen zur Kürzung des Schadenersatzanspruchs führen. Dies kommt in der Praxis<br />
häufig dann vor, wenn der Geschädigte den Ersatz fiktiver Reparaturkosten auf der Basis der üblichen<br />
Stundenverrechnungssätze einer markengebundenen Fachwerkstatt verlangt und die gegnerische Haftpflichtversicherung<br />
mit Erfolg einwendet, eine Reparatur in einer „freien“ Fachwerkstatt zu niedrigeren<br />
Stundenverrechnungssätzen hätte zu niedrigeren fiktiven Reparaturkosten geführt. Nimmt der Geschädigte<br />
dann die Kürzung hin, so kann er die ihm vorgerichtlich angefallenen Anwaltskosten auch<br />
nur nach dem letztlich durchgesetzten Schadensbetrag verlangen. Dies gilt unabhängig davon, ob<br />
der Geschädigte im Zeitpunkt der Beauftragung seines Anwalts davon ausgehen konnte, dass die<br />
Berechnung seines (höheren) Schadens auf der Grundlage der höchstrichterlichen Rechtsprechung<br />
begründet ist. Für die Bestimmung des Gegenstandswerts ist auch in einem solchen Fall nur<br />
entscheidend, in Höhe welchen Betrags der Schaden letztlich festgestellt oder unstreitig geworden<br />
ist. In seinem Urt. v. 29.10.2019 (RVGreport <strong>2020</strong>, 65 [HANSENS]) hat der VI. Zivilsenat des BGH die<br />
vorgenannte Rechtsprechung bestätigt.<br />
Gebührentipp:<br />
Schon bei Erteilung des Mandats sollte der Rechtsanwalt deshalb seinen Auftraggeber darüber belehren,<br />
dass er auch bei vollständiger Einstandspflicht der gegnerischen Kfz-Haftpflichtversicherung damit<br />
rechnen muss, dass er nicht seine gesamten für die außergerichtliche Verkehrsunfallschadensregulierung<br />
angefallenen Anwaltskosten erstattet erhält.<br />
III.<br />
Auslagen der Partei für einen gestellten Zeugen<br />
1. Gerichtlich geladener Zeuge<br />
Im Zivilprozess erfolgt die Beweisaufnahme und damit auch die Vernehmung eines Zeugen aufgrund<br />
eines entsprechenden Beweisantritts der beweisbelasteten Partei in einem vorbereitenden Schriftsatz<br />
(s. § 130 Nr. 5 ZPO). Das Prozessgericht erlässt dann, wenn die zu beweisende Tatsache streitig und<br />
deshalb beweisbedürftig ist, gem. § 358 ZPO einen Beweisbeschluss, der gem. § 358a ZPO auch schon<br />
vor der mündlichen Verhandlung vorbereitend erlassen werden kann. Die Ladung des in dem Beweisbeschluss<br />
benannten Zeugen erfolgt durch das Gericht. Im Regelfall wird der von der beweisbelasteten<br />
Partei benannte Zeuge erst dann geladen, wenn die Partei einen zur Deckung der Auslagen<br />
genügenden Vorschuss eingezahlt hat. Erscheint der gerichtlich geladene Zeuge zu dem Termin, hat er<br />
gegenüber der Staatskasse einen Anspruch auf Zahlung seiner Auslagen und einer Entschädigung<br />
nach Maßgabe der Vorschriften des JVEG. Die an den Zeugen ausgezahlten Beträge werden dann nach<br />
Beendigung des Rechtsstreits von dem Kostenbeamten nach Nr. 9005 GKG KV in den Gerichtskostenansatz<br />
eingestellt und dem Kostenschuldner, sei es der Antragsteller (§ 22 Abs. 1 S. 1 GKG) oder<br />
der Entscheidungs- oder Übernahmeschuldner (§ 29 Nr. 1 und 2 GKG), angesetzt. Der von der<br />
beweisbelasteten Partei gezahlte Vorschuss wird dann abgezogen.<br />
2. Gestellter Zeuge<br />
Besonderheiten sind jedoch dann zu berücksichtigen, wenn eine Partei einen Zeugen zu dem Gerichtstermin<br />
stellt oder wenn der Zeuge eine Verzichtserklärung abgegeben hat.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 225
Fach 24, Seite 1744<br />
Gebührentipps<br />
Gebührenrecht<br />
Der Fall eines gestellten Zeugen, also eines Zeugen, der auf Veranlassung der Partei und nicht aufgrund<br />
einer gerichtlichen Ladung zu dem Verhandlungstermin erscheint, tritt insb. im Eilverfahren, etwa im<br />
Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ein. In diesen Verfahren hat nämlich das Mittel der<br />
Glaubhaftmachung (§ 294 Abs. 1 ZPO) eine herausragende Bedeutung und die Beweisaufnahme muss<br />
gem. § 294 Abs. 2 ZPO sofort erfolgen.<br />
Deshalb hängt der Erfolg eines Eilverfahrens häufig davon ab, ob die Partei ihr Vorbringen durch einen<br />
zum Termin mitgebrachten Zeugen glaubhaft machen kann. Dies hat zur Folge, dass die Auslagen für<br />
einen gestellten Zeugen in einem Eilverfahren dann erstattungsfähig sind, wenn dessen Vernehmung<br />
ernsthaft in Betracht gekommen ist (so OLG Schleswig JurBüro 1981, 760) oder wenn der Gegner dem<br />
Tatsachenvorbringen entgegengetreten ist (OLG Koblenz Rpfleger 1997, 498). Es ist also für die<br />
Erstattungsfähigkeit der Auslagen für einen gestellten Zeugen nicht zwingend erforderlich, dass dieser<br />
auch vom Gericht vernommen worden ist. Auch die Auslagen für einen gestellten Sachverständigen<br />
können unter diesen Voraussetzungen erstattungsfähig sein (s. OLG Frankfurt JurBüro 1983, 1253;<br />
KG NJW 1975, 1423 und JurBüro 1982, 1247).<br />
a) Begrenzung auf die Sätze des JVEG<br />
Da der gestellte Zeuge nicht vom Gericht geladen worden ist, hat das Gericht von der beweisbelasteten<br />
Partei auch keinen entsprechenden Auslagenvorschuss angefordert. Eine Entschädigung des gestellten<br />
Zeugen erfolgt nicht durch das Gericht. Im Regelfall erhält der gestellte Zeuge seine Auslagen und seine<br />
Entschädigung von der Partei, die den Zeugen zum Termin „mitgebracht“ hat.<br />
b) Kostenerstattung<br />
Wird die Hinzuziehung des gestellten Zeugen/Sachverständigen als notwendig angesehen, so sind die<br />
von der Partei dem Zeugen/Sachverständigen gezahlten Beträge nur i.H.d. Sätze des JVEG erstattungsfähig<br />
(OLG Nürnberg RVGreport 2011, 434 [HANSENS] = AGS 2011, 515). Die Partei, die dem von ihr<br />
gestellten Zeugen die Auslagen und Entschädigung selbst gezahlt hat, kann dann im Wege der<br />
Kostenerstattung die gezahlten und durch die Sätze des JVEG begrenzten Beträge von der unterlegenen<br />
Gegenpartei erstattet verlangen. Dies setzt voraus, dass der Gegenpartei die Kosten des Rechtsstreits<br />
ganz oder zumindest teilweise auferlegt worden sind oder sie die Kosten – etwa im Rahmen eines<br />
Vergleichs – übernommen hat. Die Auslagen der obsiegenden Partei für den gestellten Zeugen gehören<br />
dann zu den gem. und unter den Voraussetzungen des § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO zu erstattenden Kosten des<br />
Rechtsstreits. Bei Vorliegen einer entsprechenden Kostengrundentscheidung oder Kostenregelung kann<br />
die Partei die für den von ihr gestellten Zeugen gezahlten Beträge deshalb unter folgenden Voraussetzungen<br />
von der Gegenpartei erstattet verlangen:<br />
• Es war notwendig, dass die Partei den Zeugen zu dem Termin gestellt hat. Davon ist im Regelfall<br />
auszugehen, wenn der gestellte Zeuge vom Gericht vernommen worden ist. Ist es zu einer<br />
Vernehmung des gestellten Zeugen nicht gekommen, sind die Auslagen der Partei dann erstattungsfähig,<br />
wenn die Vernehmung des gestellten Zeugen ernsthaft in Betracht gekommen ist (s. OLG<br />
Schleswig JurBüro 1981, 760). Dies beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalls. In einem<br />
Eilverfahren wird eine eher großzügigere Betrachtung anzustellen sein als in einem „normalen“<br />
Zivilprozess.<br />
• Die Partei, die den Zeugen gestellt hat, hat sich bei der Zahlung der Auslagen und Entschädigung für<br />
den Zeugen an die Sätze des JVEG gehalten.<br />
Liegen diese Voraussetzungen vor, kann die erstattungsberechtigte Partei die Auslagen für den<br />
gestellten Zeugen im Kostenfestsetzungsverfahren geltend machen. Aufgrund des dann ergehenden<br />
Kostenfestsetzungsbeschlusses kann die Partei diese Auslagen dann unmittelbar gegen die erstattungspflichtige<br />
Gegenpartei durchsetzen. Anders als bei einem gerichtlich geladenen Zeugen, dessen<br />
Auslagen zunächst die Staatskasse trägt und welche dann nach Nr. 9005 GKG KV in den Gerichtskostenansatz<br />
aufgenommen werden, werden die Auslagen für einen gestellten Zeugen nicht in den<br />
226 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Gebührenrecht Fach 24, Seite 1745<br />
Gebührentipps<br />
Gerichtskostenansatz aufgenommen. Es handelt sich vielmehr um Parteiauslagen, die die betreffende<br />
Partei – bei Vorliegen einer entsprechenden Kostengrundentscheidung oder Übernahmeerklärung –<br />
von der Gegenpartei erstattet verlangen kann.<br />
3. Besonderheiten bei einer Verzichtserklärung<br />
Probleme können bei der Erstattungsfähigkeit der Auslagen der Partei für einen gestellten Zeugen/<br />
Sachverständigen auftreten, wenn der Zeuge/Sachverständige dem Gericht eine sog. Zeugenverzichtserklärung<br />
eingereicht hat, in der er dem Gericht mitteilt, er lege auf eine Vergütung durch die<br />
Staatskasse keinen Wert. In einem solchen Fall kann es vorkommen, dass das mit dem Kostenfestsetzungsverfahren<br />
befasste Gericht diese Verzichtserklärung auch auf die Zahlung der Partei anwendet<br />
(s. OLG Frankfurt RVGreport 2017, 21 [HANSENS] = zfs 2017, 108 mit Anm. HANSENS = AGS 2017, 359: der<br />
Zeuge war Verwandter der Partei). Die Verzichtserklärung kann ggf. dahin ausgelegt werden, dass der<br />
gestellte Zeuge schlechthin auf eine Entschädigung verzichtet hat, sodass die von der Partei gleichwohl<br />
an den gestellten Zeugen geleistete Zahlung als nicht notwendig i.S.d. § 91 Abs. 1 ZPO angesehen wird.<br />
Praxishinweis:<br />
Deshalb empfiehlt es sich dringend, dass der Zeuge/Sachverständige seine Verzichtserklärung ausdrücklich<br />
auf die Entschädigung/Vergütung seitens des Gerichts beschränkt, und nicht auf die betreffende Partei<br />
erstreckt. Anderenfalls kann es je nach den Umständen des Einzelfalls dazu kommen, dass die Partei, die<br />
dem Zeugen/Sachverständigen seine Auslagen unter Berücksichtigung der Sätze des JVEG direkt gezahlt<br />
hat, diese Auslagen von der Gegenpartei nicht erstattet erhält.<br />
IV. Keine Beschränkung bei den Reisekosten auf Sparangebote<br />
Führt der Prozessbevollmächtigte seine Geschäftsreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch, stellt<br />
sich die Frage, ob er die Fahrt bzw. den Flug zum sog. Normaltarif unternimmt oder ob er ein<br />
entsprechendes „Sparangebot“ des Verkehrsunternehmens in Anspruch nimmt. Bei der Deutschen Bahn<br />
hat der Rechtsanwalt beispielsweise eine Wahl zwischen dem „Flexpreis“-Tarif und dem „Super-<br />
Sparpreis“. Erwirbt der Anwalt ein Ticket zum „Flexpreis“-Tarif, ist dieses im Regelfall jederzeit<br />
umtauschbar. So kann der Anwalt etwa im Fall einer Terminsverlegung zu dem neuen Termin mit dem<br />
zum „Flexpreis“-Tarif erworbenen Ticket anreisen. Demgegenüber kommt ein Umtausch der zum<br />
„Super-Sparpreis“ erworbenen Fahrkarte allenfalls unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen unter<br />
Aufwand weiterer Kosten in Betracht. Außerdem ist der Anwalt bei Erwerb einer Fahrkarte zum „Super-<br />
Sparpreis“ an den gebuchten Zug gebunden. Dauert der Termin länger als eingeplant, kann er somit<br />
nicht mit der zum „Super-Sparpreis“ erworbenen Fahrkarte wieder zurückfahren. Diese verfällt dann.<br />
Für die Rückfahrt muss der Anwalt dann kurzfristig ein neues Ticket erwerben, das wesentlich teurer ist.<br />
Ein zum „Super-Sparpreis“ erworbenes Ticket ist somit wegen der damit verbundenen Zugbindung<br />
praktisch nicht stornier- und umtauschbar, während dies bei einer Fahrkarte nach dem „Flexpreis“<br />
problemlos möglich ist.<br />
1. Fall des BVerwG<br />
Wie sich diese Problematik auf die Kostenerstattung auswirkt, hatte vor einiger Zeit das BVerwG<br />
(RVGreport 2019, 388 [HANSENS] = zfs 2019, 585 mit Anm. HANSENS = JurBüro 2019, 534) zu entscheiden. In<br />
jenem Fall hatte sich die beklagte Behörde in der mündlichen Verhandlung vor dem BVerwG durch einen<br />
Bediensteten vertreten lassen, der die Terminsreise mit der Deutschen Bahn unternommen hatte.<br />
Aufgrund der zu ihren Gunsten ergangenen Kostenentscheidung hat die Beklagte auch die Festsetzung<br />
dieser Terminsreisekosten ihres Bediensteten im Kostenfestsetzungsverfahren geltend gemacht. Hierzu<br />
hat die Beklagte eine zu dem „Flexpreis“-Tarif erworbene Bahnfahrkarte vorgelegt. Der Urkundsbeamte<br />
der Geschäftsstelle (UdG) des BVerwG hat die Terminsreisekosten als nicht notwendig angesehen, weil<br />
die Beklagte vorhandene Sparangebote der Deutschen Bahn weder geprüft noch genutzt habe. Auf die<br />
Erinnerung der Beklagten hat das BVerwG die Terminsreisekosten antragsgemäß auf der Grundlage des<br />
„Flexpreis“-Tarifs als erstattungsfähig angesehen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 227
Fach 24, Seite 1746<br />
Gebührentipps<br />
Gebührenrecht<br />
a) Keine Verweisung auf Spartarife<br />
Das BVerwG hat mit aller Klarheit festgestellt, dass die anreisende Partei nicht auf Spartarife des<br />
jeweiligen Verkehrsunternehmens zu verweisen ist, die regelmäßig nur unter eingeschränkten Voraussetzungen,<br />
insb. mit einer Zug- und damit Terminsbindung, gewährt werden. Nach Auffassung des<br />
BVerwG sind die die Beteiligten zwar gehalten, die Wahrnehmung von Gerichtsterminen rechtzeitig<br />
unter der Berücksichtigung konkreter Einsparmöglichkeiten zu planen und durchzuführen. Dem genügt<br />
es indes, bei der Buchung von Bahntickets auf die von der Deutschen Bahn AG angebotenen „Flexpreis“-<br />
Tickets zuzugreifen. Deshalb müsse sich ein Beteiligter nicht auf die oft wechselnden „Super-Sparpreis-<br />
Fahrkarten“ der Deutschen Bahn AG verweisen lassen. Denn berechtigte Interessen eines Beteiligten<br />
müssten nicht hinter Kostenerwägungen zurücktreten. Zu den berechtigten Interessen jedes Verfahrensbeteiligten<br />
gehört es, orientiert an einem abstrakt-generalisierenden Maßstab unabhängig vom<br />
konkreten Einzelfall (vgl. BGH BGHZ 196, 52 Rn 26 = RVGreport 2013, 155 [HANSENS]), ohne zeitliche<br />
Zugbindungen zu einem Gerichtstermin an- und danach wieder abzureisen.<br />
b) Zeitpunkt der An- und Abreise ungewiss<br />
Für die Abreise ergibt sich dies nach Auffassung des BVerwG schon aus dem Umstand, dass die zeitliche<br />
Dauer eines Gerichtstermins nicht vorab sicher voraussehbar ist, sodass die Wahl eines Sparangebots<br />
mit fester Zugbindung zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeschlossen ist. Aber auch für die Anreise zu<br />
einem Gerichtstermin mit einem regelmäßig verkehrenden Beförderungsmittel – hier der Bahn – dürfe<br />
jeder Beteiligte sein berechtigtes Interesse verfolgen und die zur vollen Wahrnehmung seiner Belange<br />
erforderlichen Schritte tun. Ihn trifft nach Auffassung des BVerwG lediglich die Obliegenheit, unter<br />
mehreren gleichgearteten Maßnahmen die kostengünstigere auszuwählen (BGH RVGreport 2012, 351<br />
[HANSENS] = zfs 2012, 524 Anm. HANSENS = AGS 2012, 493, Rn 9). „Flexpreis“-Tickets und „Super-Spar-<br />
Angebote“ der Deutschen Bahn sind aber nach Auffassung des BVerwG nicht gleichartig und auch<br />
nur bedingt gleichwertig, weil die Sparangebote den Reisenden von vornherein in der Wahl des<br />
Beförderungsmittels einschränken.<br />
c) Unvorhersehbare Terminsaufhebungen<br />
Außerdem hat das BVerwG darauf hingewiesen, dass bei unvorhergesehenen kurzfristigen Terminsaufhebungen<br />
durch das Gericht bei der Inanspruchnahme von Sparangeboten der Deutschen Bahn<br />
mit Zugbindung diese – anders als „Flexpreis“-Tickets – nicht stornier- und umtauschbar sind. Sie<br />
könnten sich im Ergebnis mithin als teurere Variante darstellen, weil sowohl das nicht umtauschbare<br />
Ticket für den aufgehobenen Gerichtstermin als auch die weitere Fahrkarte für den neuen Gerichtstermin<br />
als notwendige Reisekosten nach § 5 Abs. 1 JVEG erstattungsfähig wären.<br />
2. Der Stand der Rechtsprechung<br />
Vergleichbar haben auch andere Gerichte entschieden: Das BVerwG (NZWehr 2018, 253) hat zur Prüfung<br />
der Erstattungsfähigkeit der tatsächlich angefallenen Flugkosten die Kosten der Bahnfahrt – allerdings<br />
der zweiten Klasse – ohne Sparpreis und Bahncard-Bonus gegenübergestellt und die geringeren<br />
Flugkosten als erstattungsfähig angesehen. Das KG (AGS 1996, 29 mit Anm. VON EICKEN) hat zur Schätzung<br />
fiktiver Reisekosten Fahrpreisermäßigungen, die nur unter bestimmten Voraussetzungen gewährt<br />
werden, unberücksichtigt gelassen.<br />
Dieser Beschluss des BVerwG hat auch praktische Auswirkungen auf die Terminsreisekosten der<br />
Rechtsanwälte.<br />
3. Praktische Auswirkungen für den Rechtsanwalt<br />
a) Anfall der anwaltlichen Terminsreisekosten<br />
Für den Anfall von Terminsreisekosten gelten zunächst die Vorschriften des RVG. Für die Benutzung<br />
eines eigenen Kraftfahrzeugs werden nach Nr. 7003 VV RVG für jeden gefahrenen Kilometer derzeit<br />
noch 0,30 € angesetzt. Eine Anhebung auf 0,42 € ist durch das Gesetz zur Änderung des<br />
Justizvergütungs- und -Entschädigungsgesetzes (JVEG-Änderungsgesetz <strong>2020</strong>) zu einem bisher noch<br />
228 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Gebührenrecht Fach 24, Seite 1747<br />
Gebührentipps<br />
nicht feststehenden Zeitpunkt geplant. Bei Benutzung eines anderen Verkehrsmittels erhält der Anwalt<br />
nach Nr. 70<strong>04</strong> VV RVG die tatsächlich angefallenen Fahrtkosten in voller Höhe, soweit sie angemessen<br />
sind. Dabei ist der Rechtsanwalt auch im Verhältnis zu seinem eigenen Mandanten nicht auf Sparpreise<br />
verwiesen (s. HANSENS RVGreport 2015, 247, 249; DERS. in Anm. zu BGH zfs 2015, 4<strong>04</strong> = RVGreport 2015,<br />
267 [HANSENS]; DERS. in Anm. zu OLG Nürnberg zfs 2008, 528 = RVGreport 2008, 352 [DERS.]). Bei der Reise<br />
mit dem Flugzeug ist allgemein anerkannt, dass für einen Inlandsflug der Tarif in der Economy-Class<br />
angemessen ist, der die Möglichkeit zu einer kurzfristigen Umbuchung des Flugs gewährleistet (BGH<br />
RVGreport 2015, 267 [HANSENS]; OLG Hamburg AGS 2011, 463; OLG Brandenburg AGS 2014, 100; HANSENS<br />
RVGreport 2015, 247, 248).<br />
Bei Benutzung der Bahn sind die Aufwendungen des Rechtsanwalts ebenfalls in Höhe des Normalpreises<br />
oder des „Flexpreis“-Tarifs angemessen. Dabei ist der Rechtsanwalt im Übrigen auch nicht<br />
gehalten, sich eine Bahncard anzuschaffen oder im Einzelfall eine erworbene Bahncard einzusetzen.<br />
Sind dem Anwalt hingegen in dem konkreten Fall unter Einsatz seiner Bahncard nur Fahrtkosten in<br />
ermäßigter Höhe angefallen, so sind auch nur die geringeren, tatsächlich entstandenen Fahrtkosten<br />
angemessen und erstattungsfähig (s. N. SCHNEIDER in Anm. zu LAG Schleswig-Holstein AGS 20<strong>04</strong>, 366;<br />
ähnlich LAG Bremen NZA-RR 20<strong>04</strong>, 6<strong>04</strong>; OLG Celle RVGreport 2005, 151 [HANSENS]; s. ferner N. SCHNEIDER<br />
NJW-Spezial 2017, 603; DERS. AnwBl. 2010, 512). Zu dem besonderen Problem, ob die Kosten für die<br />
Anschaffung einer Bahncard anteilig erstattungsfähig sind, siehe bejahend OLG Frankfurt AGS 2007, 136<br />
und 155 = JurBüro 2006, 429; verneinend OLG Karlsruhe JurBüro 2000, 145.<br />
b) Erstattungsfähigkeit der anwaltlichen Terminsreisekosten<br />
Vom Anfall der Geschäftsreisekosten des Rechtsanwalts zu unterscheiden ist deren Erstattungsfähigkeit.<br />
Diese beurteilt sich nach den Verfahrensgesetzen, insb. nach § 91 Abs. 2 S. 1 ZPO, wonach die<br />
gesetzlichen Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts grds. erstattungsfähig sind. Dies betrifft<br />
auch die Terminsreisekosten des Anwalts, sofern die Reise als solche notwendig war. Eine Ausnahme<br />
von diesem Grundsatz gilt im Hinblick auf das auch im Rahmen der Kostenerstattung geltende<br />
allgemeine Gebot sparsamer Prozessführung nur dann, wenn für die Aufwendung der Reiseauslagen<br />
ausnahmsweise kein Anlass bestanden hat oder diese gegen das Gebot verstoßend überhöht sind. Ein<br />
solcher Fall wird in der Praxis vielfach dann angenommen, wenn der Rechtsanwalt seine Geschäftsreise<br />
mit dem Flugzeug unternommen hat, obwohl die Mehrkosten außer Verhältnis zu den Kosten der<br />
Bahnreise und zum Hauptsachewert stehen (s. BGH RVGreport 2008, 113 [HANSENS]; BGH RVGreport<br />
2015, 267 [DERS.]). Dabei ist einmal auf die Höhe der Mehrkosten und die Bedeutung des Rechtsstreits,<br />
zum anderen aber auch auf die bei Benutzung des Flugzeugs gewonnene Zeitersparnis abzustellen<br />
(BGH RVGreport 2008, 113 [DERS.]).<br />
Unternimmt der Anwalt die Geschäftsreise hingegen mit der Bahn, so sind die Kosten der Bahnfahrt in<br />
der ersten Wagenklasse zum Normalpreis oder zum „Flexpreis“ regelmäßig erstattungsfähig.<br />
Gebührentipp:<br />
Für die Durchführung von Geschäftsreisen sollte der Rechtsanwalt bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel<br />
Fahrkarten bzw. Tickets nach dem sog. Normalpreis erwerben, die jederzeit umbuchbar sind. In dem<br />
Kostenfestsetzungsantrag sollte dann ausdrücklich auf die vorstehend erörterte Entscheidung des BVerwG<br />
hingewiesen werden.<br />
V. Prozesskostenhilfe bei Vertretung eines bedürftigen und eines nicht bedürftigen<br />
Streitgenossen<br />
In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass der Rechtsanwalt in einem gerichtlichen Verfahren<br />
neben einem nicht bedürftigen Streitgenossen einen i.S.d. PKH-Rechts bedürftigen Streitgenossen<br />
vertritt. In einem solchen Fall stellt sich einmal die Frage, in welcher Weise dem bedürftigen<br />
Streitgenossen – bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen für die Bewilligung der PKH gem. §§ 114<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 229
Fach 24, Seite 1748<br />
Gebührentipps<br />
Gebührenrecht<br />
ff. ZPO und die Beiordnung eines Rechtsanwalts nach § 121 ZPO – PKH zu bewilligen ist. Zum zweiten<br />
stellt sich die Frage, welche Vergütung dem beigeordneten Rechtsanwalt im Falle der Bewilligung der<br />
PKH gegen die Landeskasse zusteht. Mit der ersten Fallgestaltung hat sich vor einiger Zeit der BGH<br />
(RVGreport <strong>2020</strong>, 35 [HANSENS]) befasst.<br />
1. Fall des BGH<br />
Der Kläger hatte die Beklagte zu 1 und den Beklagten zu 2 vor dem LG Nürnberg-Fürth gesamtschuldnerisch<br />
auf Schadenersatz aufgrund einer Kapitalanlage in Anspruch genommen. Das LG hat<br />
der Beklagten zu 1 PKH für die Rechtsverteidigung im ersten Rechtszug unter Beiordnung ihres<br />
Prozessbevollmächtigten bewilligt. Die Bewilligung hat das LG jedoch mit Rücksicht darauf, dass ihr<br />
nicht bedürftiger Streitgenosse von demselben Prozessbevollmächtigten vertreten wird, hinsichtlich der<br />
Anwaltsgebühren auf die Mehrvertretungsgebühr nach Nr. 1008 VV RVG beschränkt. Die hiergegen<br />
gerichtete Beschwerde der Beklagten zu 1 hat das OLG Nürnberg zurückgewiesen. Dagegen richtet sich<br />
die vom OLG zugelassene Rechtsbeschwerde, für die die Beklagte zu 1 die Bewilligung von PKH begehrt<br />
hat. Der BGH hat diesen Antrag für das Rechtsbeschwerdeverfahren zurückgewiesen.<br />
2. Argumente des BGH<br />
Der BGH hat auf seinen viele Jahre zurückliegenden Beschl. v. 1.3.1993 (NJW 1993, 1715 = AGS 2005, 25)<br />
verwiesen, der in der Rechtsprechung und Literatur auf Zustimmung, aber auch auf Ablehnung<br />
gestoßen ist (zustimmend: OLG Koblenz JurBüro 2001, 652; OLG Naumburg Rpfleger 20<strong>04</strong>, 186; STEIN/<br />
JONAS/BORK, ZPO, 23. Aufl. § 114 Rn 8; Zöller/GEIMER, ZPO, 32. Aufl., § 114 Rn 7; Saenger/KIEßLING, ZPO,<br />
7. Aufl., § 114 Rn 11; Thomas/Putzo/SEILER, ZPO, 39. Aufl., § 114 Rn 11; MüKoZPO/WACHE, 5.Aufl., § 114 Rn 39;<br />
ablehnend: OLG Bamberg OLGR 2001, 28; Musielak/Voit/FISCHER, ZPO, 15. Aufl., § 114 Rn 3; FISCHER<br />
JurBüro 1998, 4; NOTTHOFF AnwBl. 1996, 611; RÖNNEBECK NJW 1994, 2273).<br />
Die Entscheidung des BGH vom 1.3.1993 betrifft den auch hier vorliegenden Fall, dass zwei Streitgenossen<br />
von demselben Prozessbevollmächtigten mit der Vertretung in einem Rechtsstreit<br />
beauftragt worden sind, aber nur bei einem von ihnen die persönlichen Voraussetzungen für die<br />
Bewilligung von PKH vorlagen. In einem solchen Fall ist nach Auffassung des BGH in seinem Beschl. v.<br />
1.3.1993 die Bewilligung bezüglich der Anwaltsgebühren auf die für diesen Fall im Gesetz vorgesehenen<br />
Erhöhungsbeträge – früher § 6 Abs. 1 S. 2 BRAGO, jetzt Nr. 1008 VV RVG – zu beschränken. Dies hatte<br />
der BGH damit begründet, nach dem Sinn der §§ 114 ff. ZPO könne die mittellose Partei für ihre<br />
Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung staatliche Hilfe nur insoweit in Anspruch nehmen, als sie<br />
aus finanziellen Gründen zur Prozessführung außerstande sei. Der finanziell leistungsfähige<br />
Streitgenosse werde hierdurch nicht benachteiligt. Er sei durch die Beschränkung der PKH-Bewilligung<br />
für den bedürftigen Streitgenossen nicht durch höhere Kosten belastet, als wenn er den gemeinsamen<br />
Prozessbevollmächtigten allein beauftragt hätte. Dies folgt jetzt aus § 7 Abs. 2 S. 1 RVG.<br />
Diese Argumentation hat der BGH in seinem neueren Beschl. v. 5.2.2019 aufgegriffen. Mit der<br />
Beschränkung der Bewilligung von PKH auf die Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV RVG werde die<br />
anwaltliche Vertretung des bedürftigen Streitgenossen sichergestellt. Demgegenüber bezwecke die<br />
PKH keinen Gleichlauf von PKH-Bewilligung einerseits und Vergütungsanspruch des Rechtsanwalts<br />
andererseits. Die Beschränkung der PKH-Bewilligung auf die Gebührenerhöhung setze nämlich nicht<br />
voraus, dass lediglich diese Beträge auch vergütungsrechtlich geschuldet würden. Der bedürftige<br />
Streitgenosse würde gegenüber seinem Prozessbevollmächtigten gem. § 122 Abs. 1 Nr. 3 ZPO geschützt.<br />
Ferner hat der BGH die Auffassung vertreten, auch ein etwaiger nachträglicher Gesamtschuldnerausgleich<br />
zwischen den beiden Streitgenossen damit auch ein Ausgleich zugunsten des finanziell<br />
leistungsfähigen Streitgenossen stehe dem nicht entgegen. Die anwaltliche Vertretung des bedürftigen<br />
Streitgenossen und damit die Prozessführung durch Zubilligung der Gebührenerhöhung nach Nr. 1008<br />
VV RVG werde nämlich gewährleistet. Dagegen könne der bedürftigen Partei das allgemeine Risiko,<br />
nachträglich mit Kosten einer erfolglosen Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung belastet zu<br />
werden, durch die Bewilligung von PKH nicht abgenommen werden.<br />
230 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>
Gebührenrecht Fach 24, Seite 1749<br />
Gebührentipps<br />
Welche Auswirkungen es hat, wenn eine bedürftige, um PKH nachsuchende, Partei durch denselben<br />
Rechtsanwalt vertreten wird wie ihr finanziell leistungsfähiger Streitgenosse, ist in Rechtsprechung und<br />
Literatur seit Jahrzehnten umstritten. Dieser Streit tritt in zwei verschiedenen Fallgestaltungen auf, die<br />
nachfolgend näher betrachtet werden.<br />
3. Entscheidung im Prozesskostenhilfe-Bewilligungsverfahren<br />
Im PKH-Bewilligungsverfahren nimmt die wohl überwiegende Auffassung – wie der BGH in seinem<br />
vorstehend erwähnten Beschluss v. 5.2.2019 und übrigens auch in sechs weiteren Parallelverfahren –<br />
eine Beschränkung der PKH-Bewilligung auf die Erhöhungsbeträge/Gebührenerhöhung nach Nr. 1008<br />
VV RVG vor. Allerdings werden derartige Beschränkungen von verschiedenen Gerichten als unzulässig<br />
angesehen (OLG Köln JurBüro 2005, 429; OLG Oldenburg FamRZ 20<strong>04</strong>, 106; LG Berlin JurBüro 1996,<br />
434). Gleichwohl ist die Beschränkung der PKH-Bewilligung auf die Erhöhungsbeträge/Gebührenerhöhung<br />
für den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (UdG) im Festsetzungsverfahren nach § 55 RVG<br />
bindend (Bay. LSG RVGreport 2013, 467 [HANSENS] = AGS 2013, 478). Allerdings stellt sich bei der<br />
Beschränkung der PKH auf die Erhöhungsbeträge/Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV RVG die<br />
vom BGH, a.a.O., nicht erörterte Frage, ob dem so beigeordneten Rechtsanwalt auch die auf die<br />
Gebührenerhöhung entfallende Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG und die anteilige Postentgeltpauschale<br />
nach Nr. 7002 VV RVG aus der Staatskasse zustehen.<br />
Probleme können ferner dann entstehen, wenn der nicht bedürftige Streitgenosse frühzeitig aus dem<br />
Rechtsstreit ausscheidet. Verstirbt beispielsweise im Fall des BGH der Beklagte zu 2 nach Einreichen der<br />
Klageschrift, so wird der Rechtsstreit nur hinsichtlich seiner Person gem. § 239 Abs. 1 ZPO unterbrochen,<br />
gegen die bedürftige Beklagte zu 1 als einfache Streitgenossin hingegen weitergeführt. Der Prozessbevollmächtigte<br />
würde aufgrund der nur eingeschränkten PKH-Bewilligung auch dann lediglich die<br />
Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV RVG aus der Landeskasse erhalten, wenn er allein für die Beklagte<br />
zu 1 einen Verhandlungstermin wahrnimmt, zu dem er angereist ist und in dem er einen Vergleich<br />
schließt. Für die Verfahrensgebühr, die Terminsgebühr, die Einigungsgebühr und die Geschäftsreiseauslagen<br />
könnte der Anwalt dann die bedürftige Beklagte in Anspruch nehmen, weil die PKH-<br />
Bewilligung die vorgenannten Gebühren und Auslagen nicht erfasst.<br />
4. Entscheidung im Festsetzungsverfahren<br />
a) Eingeschränkte Bewilligung<br />
Der für die Festsetzung der dem beigeordneten Rechtsanwalt aus der Staatskasse zu gewährenden<br />
Vergütung gem. § 55 Abs. 1 RVG zuständige UdG ist an die auf die Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV<br />
RVG beschränkte Bewilligung seitens des Prozessgerichts gebunden.<br />
b) Uneingeschränkte PKH-Bewilligung für einen Streitgenossen<br />
Welche Vergütung dem beigeordneten Rechtsanwalt zusteht, wenn er zwei oder mehrere Streitgenossen<br />
vertritt, von denen nur einem Streitgenossen PKH ohne Einschränkung bewilligt worden ist, ist seit<br />
Jahrzehnten umstritten.<br />
aa) Anspruch nur auf die Gebührenerhöhung<br />
Der 13. Zivilsenat des OLG Karlsruhe (Beschl. v. 3.7.2008 – 13 W 55/06) verteidigt die vorstehend unter 3<br />
aufgeführte Auffassung zur eingeschränkten PKH-Bewilligung und will sie überdies in den Fällen<br />
anwenden, in denen einem der beiden Streitgenossen PKH unbeschränkt bewilligt wurde und in denen<br />
beide Streitgenossen bedürftig waren.<br />
bb) Anspruch auf eine Quote<br />
Eine andere Meinung will dem beigeordneten Anwalt gegen die Staatskasse einen Anspruch auf eine<br />
Quote zubilligen, die sämtliche angefallenen Gebühren einschließlich der Gebührenerhöhung nach<br />
Nr. 1008 VV RVG ins Verhältnis zur Gesamtzahl aller Streitgenossen setzt (LSG Niedersachsen-Bremen,<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 231
Fach 24, Seite 1750<br />
Gebührentipps<br />
Gebührenrecht<br />
Beschl. v. 22.6.2016 – L 7 AS 152/15 B; AGS 2007, 91; OLG Köln NJW-RR 1999, 725 und AGS 2010, 496 mit<br />
Anm. N. SCHNEIDER; OLG Jena OLGR 2007, 163 = Rpfleger 2006, 663; OLG Zweibrücken OLGR<br />
Zweibrücken 20<strong>04</strong>, 139; KG, Beschl. v. 27.3.2012 – 5 W 265/11; RÖNNEBECK NJW 1994, 2273, 2274).<br />
cc) Voller Vergütungsanspruch ohne Gebührenerhöhung<br />
Die herrschende Ansicht gesteht dem beigeordneten Anwalt gegen die Staatskasse einen Vergütungsanspruch<br />
i.H.d. vollen Gebühren, jedoch ohne die Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV RVG (früher § 6<br />
Abs. 1 S. 2 BRAGO) zu (OLG München JurBüro 1997, 89 = AnwBl 1998, 52 und AGS 2011, 76 = JurBüro 2011,<br />
146; OLG Celle AGS 2007, 250; OLG Karlsruhe – 15. ZS – AGS 2013, 20 = JurBüro 2012, 593; OLG Stuttgart<br />
JurBüro 1997, 200; OLG Zweibrücken AGS 2009, 126; Bay. LSG RVGreport 2013, 467 [HANSENS] = AGS 2013,<br />
478; Thür. LSG, Beschl. v. 25.3.2015 – L 6 SF 163/15 B; LSG Berlin-Brandenburg RVGreport 2018, 297 [DERS.]<br />
= AGS 2018, 421; Sächs. LSG RVGreport 2015, 17 [DERS.] = AGS 2014, 577; Gerold/Schmidt/MÜLLER-RABE,<br />
RVG, 24. Aufl. 2019, § 49 Rn 11; AnwKomm-RVG/FÖLSCH/SCHAFHAUSEN/SCHNEIDER/THIEL, 8.Aufl. 2017, § 48<br />
Rn 108; HARTUNG in Hartung/Schons/Enders, RVG, 3. Aufl. 2017, § 48 Rn 11 und § 49 Rn 25; MAYER/KROIß,<br />
RVG, 6. Aufl. 2013, § 49 Rn 6).<br />
5. Rechtsbehelfe<br />
Der Prozessbevollmächtigte der bedürftigen Partei muss diese beiden unterschiedlichen Verfahrenslagen<br />
bei der Frage, welche Rechtsbehelfe ergriffen werden, berücksichtigen.<br />
• Wird dem bedürftigen Mandanten Prozesskostenhilfe hinsichtlich der Anwaltsvergütung nur auf die<br />
Gebührenerhöhung beschränkt bewilligt, so ist hierdurch allein der Mandant beschwert. Der<br />
Rechtsanwalt muss deshalb ausdrücklich für seinen Mandanten den gegebenen Rechtsbehelf – etwa<br />
die sofortige Beschwerde gem. § 127 ZPO – einlegen.<br />
• Wird hingegen dem Festsetzungsantrag nach § 55 Abs. 1 RVG nur teilweise mit der Begründung<br />
entsprochen, der beigeordnete Anwalt habe neben dem bedürftigen Mandanten auch einen<br />
finanziell leistungsfähigen Streitgenossen vertreten, so ist durch die Absetzung seitens des UdG allein<br />
der Rechtsanwalt beschwert. Folglich kann nur der Anwalt selbst gegen die Absetzung Erinnerung<br />
nach § 56 Abs. 1 S. 1 RVG einlegen.<br />
Gebührentipps:<br />
Die Beschränkung der PKH-Bewilligung auf die Gebührenerhöhung kann auf verschiedenen Wegen<br />
vermieden werden:<br />
• Einmal kann sich der bedürftige Streitgenosse von einem anderen Rechtsanwalt vertreten lassen<br />
als der nicht bedürftige Streitgenosse. Dies gilt insb. dann, wenn zwischen den Streitgenossen<br />
Interessengegensätze bestehen, die eine gemeinsame Vertretung durch einen Rechtsanwalt<br />
ausschließen. Dies hat allerdings zur Folge, dass insgesamt höhere Kosten anfallen.<br />
• Zum zweiten könnte sich der Rechtsanwalt zunächst nur für den bedürftigen Mandanten bestellen<br />
und die Bewilligung von PKH unter seiner Beiordnung beantragen. Bei Erfüllung der hierfür erforderlichen<br />
Voraussetzungen ist dem bedürftigen Mandanten dann uneingeschränkt PKH zu bewilligen und sein<br />
Rechtsanwalt beizuordnen. Danach kann sich der Anwalt nunmehr für den nicht bedürftigen Streitgenossen<br />
mit dem – natürlich zutreffenden- Vortrag bestellen, er sei erst jetzt von dem nicht bedürftigen<br />
Streitgenossen beauftragt worden. Die der bedürftigen Partei uneingeschränkt bewilligte PKH könnte in<br />
einem solchen Fall nicht gem. § 124 ZPO aufgehoben werden, weil sie nicht das Streitverhältnis unrichtig<br />
dargestellt und sie auch keine unrichtigen Angaben über die Voraussetzungen der Bewilligung der PKH<br />
gemacht hat. Selbst wenn die Angabe, der Prozessbevollmächtigte vertrete auch einen nicht bedürftigen<br />
Streitgenossen, hierunter fallen sollte, kann dies der bedürftigen Partei nicht vorgehalten werden, weil der<br />
nicht bedürftige Streitgenosse den Anwalt erst nach der PKH-Bewilligung beauftragt hat. Diese Möglichkeit<br />
ist allerdings nur dann eröffnet, wenn das Gericht über den PKH-Antrag zeitnah entscheidet oder<br />
wenn der nicht bedürftige Mandant keine Nachteile dadurch erleidet, dass er seinem Anwalt den Prozessauftrag<br />
erst später erteilt, was insb. auf Beklagtenseite der Fall sein kann.<br />
232 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>