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ZAP-2020-04

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<strong>ZAP</strong><br />

Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />

4 <strong>2020</strong><br />

19. Februar<br />

32. Jahrgang<br />

ISSN 0936-7292<br />

Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />

BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />

Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />

Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />

Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />

Inklusive<br />

<strong>ZAP</strong> App!<br />

Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />

AUS DEM INHALT<br />

Kolumne<br />

Gestörtes Fax und beA (S. 177)<br />

Anwaltsmagazin<br />

Empfehlungen des 58. Verkehrsgerichtstags (S. 181) • Zahl der Telekommunikationsüberwachungen<br />

gestiegen (S. 182) • Handlungsbedarf für Windows 7‐Nutzer (S. 184)<br />

Aufsätze<br />

Viefhues, Basiswissen 2: Was der anwaltliche Berufsanfänger vom Unterhaltsrecht wissen muss (S. 189)<br />

Burhoff, Modernisierung des Strafverfahrens – Hauptverhandlung (S. 199)<br />

Hansens, Gebührentipps für Rechtsanwälte (S. 219)<br />

Rechtsprechung<br />

OLG Celle: Verstoß gegen Formvorschriften des § 7 Abs. 1 HOAI (S. 185)<br />

OVG Rheinland‐Pfalz: Arbeitszeitverlängerung bei erhöhtem Arbeitsaufkommen (S. 187)<br />

OLG Dresden: Fehlgeschlagene Telefaxübertragung (S. 188)<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer


Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />

Kolumne – – 177–178<br />

Anwaltsmagazin – – 178–184<br />

Rechtsprechung 1 21–24 185–188<br />

Viefhues, Basiswissen 2: Was der anwaltliche Berufsanfänger<br />

vom Unterhaltsrecht wissen muss –<br />

formelles Recht 11 1561–1570 189–198<br />

Burhoff, Modernisierung des Strafverfahrens –<br />

Teil 2: Hauptverhandlung 22 1009–1028 199–218<br />

Hansens, Gebührentipps für Rechtsanwälte (I/<strong>2020</strong>) 24 1737–1750 219–232<br />

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Redaktionsbeirat<br />

Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />

Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />

Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />

Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />

Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />

Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />

Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />

beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />

Gelsenkirchen • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Leer/Augsburg • Dr. Christian Deckenbrock, Köln • RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum •<br />

Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar • RA<br />

Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • Prof. Dr. Martin<br />

Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst, Hannover/Solingen • RA Günter Lange, Haltern • Dr. David<br />

Markworth, Köln • RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RA beim BGH Prof. Dr.<br />

Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. • PräsLG a.D. Kurt Schellhammer,<br />

Konstanz • RA Dr. Harald Schneider, Siegburg • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />

RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen • RA<br />

Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid.<br />

Impressum<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />

schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />

Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />

Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />

(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />

dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />

Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />

Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />

Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 249,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />

ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />

Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />

service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />

Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />

Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292


<strong>ZAP</strong><br />

Kolumne<br />

Kolumne<br />

Gestörtes Fax und beA<br />

Bisher war der Fall, dass das gerichtliche Faxgerät<br />

nicht empfangsbereit ist, relativ klar. Solange<br />

wegen des Risikos der anderweitigen Belegung<br />

des Faxgeräts nicht so spät mit der Übermittlung<br />

begonnen worden war, dass keine Zeitreserve<br />

eingeplant war, war Wiedereinsetzung in den<br />

vorigen Stand zu gewähren.<br />

Mit dieser Rechtsprechung bricht das LG Krefeld<br />

in seinem Beschluss vom 10.9.2019 – 2 S 14/19,<br />

wenn es meint, es sei dann auch ohne qualifizierte<br />

elektronische Signatur eine Übermittlung<br />

über das besondere elektronische Anwaltspostfach<br />

(beA) vorzunehmen. Das LG macht es sich zu<br />

einfach, wenn es feststellt, dass § 130a Abs. 4 Nr. 2<br />

ZPO explizit die Einreichung über das beA als<br />

sicheren Übermittlungsweg definiert. Eine (ausreichende)<br />

einfache Signatur bestehe in der<br />

Namenswiedergabe der verantwortenden Person<br />

am Ende des Textes des elektronischen Dokuments;<br />

die verantwortende Person müsse lediglich<br />

Inhaber des beA sein.<br />

Das LG beantwortet damit lediglich die Frage, ob<br />

es neben der Faxeinreichung noch eine alternative<br />

Übermittlung gegeben hätte. Die sich stellende<br />

Frage wäre aber gewesen, ob es ein<br />

Verschulden i.S.v. § 233 ZPO darstellt, im Falle<br />

des bei Gericht gestörten Faxanschlusses keine<br />

weitere Übermittlung per beA zu versuchen.<br />

Richtigerweise hätte diese Frage verneint werden<br />

müssen, denn das BVerfG hat mehrfach entschieden,<br />

dass die Anforderungen an die Erlangung der<br />

Wiedereinsetzung nicht überspannt werden dürfen.<br />

Besonders bei Fehlern des Gerichts sind die Anforderungen<br />

an eine Wiedereinsetzung mit besonderer<br />

Fairness zu handhaben (BVerfG NJW 20<strong>04</strong>,<br />

2887). Fehler aus der Sphäre des Gerichts dürfen bei<br />

rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung nicht über<br />

die Begründung besonderer Prüfungspflichten auf<br />

den rechtsschutzsuchenden Bürger abgewälzt werden<br />

(BVerfG NJW 1995, 711). Weiter entspricht es<br />

einer langen Rechtsprechungslinie, dass Fristversäumungen,<br />

die auf Verzögerungen der Entgegennahme<br />

der Sendung durch das Gericht beruhen, der<br />

Partei nicht angelastet werden dürfen (BVerfG NJW<br />

1980, 580 m.w.N.). Ebenso liegt eine verfassungswidrige<br />

Erschwerung des Zugangs zum Gericht vor,<br />

wenn von einem Rechtsuchenden oder seinem<br />

Prozessbevollmächtigten, der sich und seine organisatorischen<br />

Vorkehrungen darauf eingerichtet<br />

hat, einen Schriftsatz weder selbst noch durch<br />

Boten oder per Post, sondern durch Fax zu übermitteln,<br />

beim Scheitern der gewählten Übermittlung<br />

infolge eines Defekts des Empfangsgeräts oder<br />

wegen Leitungsstörungen verlangt wird, dass er<br />

innerhalb kürzester Zeit eine andere als die gewählte,<br />

vom Gericht offiziell eröffnete Zugangsart<br />

sicherstellt (BVerfG NJW 2001, 3473).<br />

Es mag noch einsichtig sein, dass von einem<br />

Prozessbevollmächtigten verlangt werden kann,<br />

dass er eine Beschwerde per Fax beim Beschwerdegericht<br />

einlegt, wenn es ihm nicht gelingt, eine<br />

entsprechende Faxverbindung zum Prozessgericht<br />

herzustellen (BGH NJW 2012, 3516 f.), weil dieser<br />

Fall nicht anders behandelt werden kann, als wenn<br />

ein Gericht mehrere Faxnummern angibt, eine<br />

davon aber gestört ist – aber die angenommene<br />

Verpflichtung zur Nutzung eines anderen Übertragungsmediums,<br />

das zudem erst zum 1.1.2019<br />

verbindlich (zur passiven Benutzung) eingeführt<br />

wurde, überspannt die Sorgfaltsanforderungen,<br />

denn sie verlagert die Verantwortlichkeit für den<br />

Fehler einseitig in die Sphäre des Bürgers.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 177


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Über die Schwierigkeiten mit dem beA in der<br />

praktischen Anwendung soll hier nicht berichtet<br />

werden, da sie jeder Anwalt selbst kennt. Nur<br />

soviel:<br />

Wenn Schriftstücke von Seiten des Gerichts über<br />

das beA mit einem Informationsblatt, „Wie fülle ich<br />

ein Empfangsbekenntnis aus“, übermittelt werden<br />

müssen, da Empfangsbekenntnisse sonst massenweise<br />

gar nicht ausgefüllt werden, zeigt dies<br />

die flächendeckende mangelnde Vertrautheit mit<br />

dem beA, ggf. sogar die Benutzerunfreundlichkeit<br />

des Mediums insgesamt.<br />

Das LG Krefeld setzt sich mit dieser verfassungsgerichtlichen<br />

Rechtsprechungslinie nicht auseinander,<br />

ebensowenig wie das OLG Dresden in<br />

seinem Beschluss vom 29.7.2019 (<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 574/<br />

2019 = NJW 2019, 3312). Dieser Fall zeigt, wie<br />

schon der Fall der blassblauen Unterschrift (GEIPEL,<br />

Kolumne <strong>ZAP</strong> 2019, S. 651), dass bei der Abwägung<br />

der entscheidenden Kriterien für eine Wiedereinsetzung,<br />

nämlich einerseits die Rechtssicherheit<br />

und andererseits die materielle Gerechtigkeit<br />

i.V.m. der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs,<br />

letzteres zu oft nicht beachtet wird.<br />

Rechtsanwalt Dr. ANDREAS GEIPEL, München<br />

Anwaltsmagazin<br />

Bundesrat will Mietwucher besser<br />

bekämpfen<br />

Schon seit Längerem versucht die Bundesregierung,<br />

den Anstieg der Wohnungsmieten – insb. in<br />

den Ballungsgebieten – zu dämpfen. Nachdem die<br />

im Jahr 2015 eingeführte „Mietpreisbremse“ und<br />

eine gesetzliche Nachbesserung im vergangenen<br />

Jahr für den Fall des „Herausmodernisierens“ nur<br />

sehr begrenzte Effekte gezeigt hatten, ist vor<br />

wenigen Wochen mit einem weiteren Schritt des<br />

sog. Wohn- und Mietenpakets der Versuch unternommen<br />

worden, eine gewisse Entspannung für<br />

Wohnungsmieter herbeizuführen. So ist zum<br />

1. Januar eine Regelung in Kraft getreten, mit der<br />

der maßgebliche Betrachtungszeitraum für ortsübliche<br />

Vergleichsmieten von bislang vier auf sechs<br />

Jahre verlängert wurde (vgl. dazu Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong> <strong>2020</strong>, 69). Da die ortsübliche Vergleichsmiete<br />

die Grundlage für die zulässige Miethöhe bildet,<br />

erhofft sich die Bundesregierung von der Verlängerung<br />

des Betrachtungszeitraums, dass kurzfristige<br />

Schwankungen bei den Mietpreisen künftig<br />

weniger schnell auf die Vergleichsmieten durchschlagen.<br />

Eine weitere Verschärfung der Mietpreisbremse<br />

ist bereits in Vorbereitung, auch soll das<br />

gesamte Mietspiegelrecht reformiert werden (vgl.<br />

Anwaltsmagazin <strong>ZAP</strong> 2019, 942).<br />

Nun hat auch der Bundesrat die Initiative ergriffen,<br />

mit dem Ziel, die ärgsten Auswüchse auf dem<br />

Mietwohnungsmarkt strenger als bisher zu bekämpfen.<br />

Er hat im Januar den Entwurf eines<br />

Gesetzes zur besseren Bekämpfung von Mietwucher<br />

vorgelegt (BT-Drucks 19/16397) und begründet<br />

dies damit, dass aufgrund der anhaltend<br />

hohen Nachfrage nach Mietwohnungen insb. in<br />

Ballungszentren von einem kleinen Teil der Vermieter<br />

unangemessen hohe Mieten verlangt<br />

werden. Die Vorschriften im Bürgerlichen Gesetzbuch<br />

über die Miethöhe bei Mietbeginn und über<br />

Mieterhöhungen seien in der Praxis teilweise<br />

nicht ausreichend, um Mieter effektiv vor wucherischen<br />

Mieten zu schützen, und das Wirtschaftsstrafgesetz<br />

(WiStrG) sei in der Praxis<br />

weitgehend wirkungslos geworden. Darüber hi-<br />

178 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

naus sei der Bußgeldrahmen von max. 50.000 €<br />

nicht mehr zeitgemäß und vermöge heutzutage<br />

keine hinreichende generalpräventive Wirkung<br />

mehr zu entfalten.<br />

Nach dem Vorschlag der Länder soll das als Ordnungswidrigkeitstatbestand<br />

ausgestaltete Verbot<br />

der Mietpreisüberhöhung des § 5 WiStrG angepasst<br />

und verschärft werden, um einen erweiterten<br />

Anwendungsbereich für die Norm zu schaffen. Auf<br />

das Erfordernis der Ausnutzung eines geringen<br />

Angebots an vergleichbaren Räumen solle verzichtet<br />

werden, weil sich dieses Tatbestandsmerkmal<br />

bisher kaum je hätte nachweisen lassen.<br />

Stattdessen solle künftig bei der Frage der Unangemessenheit<br />

auf ein objektives Kriterium,<br />

nämlich das Vorliegen eines geringen Angebots,<br />

abgestellt werden. Hierdurch würden die bestehenden<br />

Beweisprobleme erheblich entschärft.<br />

Darüber hinaus solle der Bußgeldrahmen auf<br />

100.000 € erhöht werden. Die Neuregelung soll<br />

für alle Mietverhältnisse gelten, die ab Inkrafttreten<br />

des Gesetzes neu begründet werden.<br />

Der Bundesrat erwartet sich von der Novelle,<br />

dass Vermieter, die unangemessen hohe Mieten<br />

verlangen, künftig vermehrt mit der Verhängung<br />

eines Bußgeldes rechnen müssen. Zudem entstünden<br />

bestimmten Vermietern u.U. geringere<br />

Mieteinnahmen, weil sie sich durch die erleichterte<br />

Verfolgbarkeit von Mietwucher aufgrund<br />

der Neufassung des § 5 WiStrG künftig vom<br />

Verlangen überhöhter Mieten abhalten lassen.<br />

Da gegen § 5 WiStrG verstoßende Mietzinsvereinbarungen<br />

teilnichtig gem. § 134 BGB seien<br />

und sich entsprechende Verstöße auch im zivilrechtlichen<br />

Verfahren künftig leichter nachweisen<br />

lassen würden, drohten Vermietern, die wucherische<br />

Mieten verlangen, darüber hinaus in<br />

erhöhtem Maße Rückforderungsansprüche nach<br />

den §§ 812 ff. BGB.<br />

[Quelle: Bundesrat]<br />

DAV warnt vor Videoüberwachung<br />

mit Gesichtserkennung<br />

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat im Januar<br />

mit einer auch von der Tagespresse beachteten<br />

Erklärung vor einem breiten Einsatz von Gesichtserkennungssystemen<br />

an Flughäfen und Bahnhöfen<br />

gewarnt. Anlass des Vorstoßes waren Pläne<br />

aus dem Bundesinnenministerium (BMI), die<br />

Kompetenzen der Bundespolizei entsprechend<br />

zu erweitern. „Es ist zweifelhaft, ob eine Rechtsgrundlage<br />

geschaffen werden kann, die den Vorgaben<br />

des Bundesverfassungsgerichts entspricht“, begründete<br />

Rechtsanwalt Dr. DAVID ALBRECHT, Mitglied<br />

des DAV-Ausschusses Gefahrenabwehrrecht, die<br />

Bedenken des Vereins. Bereits zum Start des<br />

umstrittenen Pilotprojekts zur Gesichtserkennung<br />

am Bahnhof Südkreuz in Berlin hatte der<br />

DAV massive Kritik geäußert (s. dazu Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong> 2017, 895). Ein Scannen dieses<br />

Ausmaßes führe zu einem nicht hinnehmbaren<br />

Gefühl des Überwachtwerdens und der Einschüchterung.<br />

Es stünden, wie schon beim Testlauf<br />

am Südkreuz, hier folgende Fragen im Raum:<br />

Wie fehleranfällig ist das System? Können Missbrauch<br />

und Manipulation der Technik verhindert<br />

werden? Für wie lange, durch wen und wo<br />

werden diese Daten gespeichert?<br />

Der DAV kritisiert am Testlauf in Berlin u.a. eine<br />

mangelnde Diversität der Testpersonen (Alter,<br />

Geschlecht, Ethnie), die eingesetzten Vergleichsbilder<br />

und den parallelen Einsatz gleich dreier<br />

Systeme. Aus diesen Gründen seien die nach<br />

dem Testlauf am Berliner Südkreuz „als Erfolg<br />

verkauften Zahlen“ (rund 80 % Trefferquote) nicht<br />

nur nach empirischen Grundsätzen zweifelhaft,<br />

sie hielten auch einem Real-Einsatz nicht stand<br />

und böten daher eine trügerische Sicherheit.<br />

Hinzu komme eine Falsch-Positiv-Rate von<br />

0,67 % – bei rund 200.000 Fluggästen würden<br />

allein am Frankfurter Flughafen jeden Tag 1.340<br />

unbescholtene Menschen einen falschen Alarm<br />

auslösen und unrechtmäßig ins Visier der Ermittler<br />

geraten. Dies könne, so der DAV, nicht im<br />

Sinne des Rechtsstaats sein. [Quelle: DAV]<br />

Inzwischen hat der Bundesinnenminister SEEHOFER<br />

den entsprechenden Passus wieder aus der<br />

Reform des Bundespolizeigesetzes zurückgezogen.<br />

Es seien noch „einige Fragen rund um die<br />

gesellschaftliche Akzeptanz dieser Fahndungstechnik<br />

offen geblieben“, so der Minister.<br />

Experten sehen Handlungsbedarf<br />

beim Katastrophenschutz<br />

Insbesondere der Klimawandel, aber auch mögliche<br />

Cyber-Attacken und die weltweiten Migrationsbewegungen<br />

stellen den Zivil- und Katastro-<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 179


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

phenschutz in Deutschland vor neue Herausforderungen.<br />

Dies war der Tenor einer Expertenanhörung<br />

Mitte Januar im Innenausschuss des<br />

Bundestags. Insgesamt sei hierzulande die Infrastruktur<br />

zur Abwehr von Gefahren für die Bevölkerung<br />

gut aufgestellt und gelte als weltweit<br />

vorbildlich, hieß es. Dennoch gebe es Handlungsund<br />

Nachholbedarf in wesentlichen Bereichen.<br />

So nannte etwa der ehemalige Präsident des<br />

Technischen Hilfswerks (THW) und heutige Vorsitzende<br />

des vereinsrechtlich organisierten Zukunftsforums<br />

Öffentliche Sicherheit, ALBRECHT<br />

BROEMME, in diesem Zusammenhang die Abwehr<br />

einer möglichen Pandemie, einer „eskalierenden<br />

Erkrankungswelle“, als Schwachstelle des Zivilschutzes.<br />

Der amtierende THW-Präsident GERD FRIEDSAM<br />

mahnte eine Ertüchtigung seiner Organisation<br />

insb. in den Bereichen der Notstrom- und der<br />

Trinkwasserversorgung an. Das THW müsse in<br />

der Lage sein, im Katastrophenfall „systemrelevante<br />

Einrichtungen“ zuverlässig mit Strom zu<br />

beliefern. Angesichts der mit dem Klimawandel<br />

zunehmenden Gefahr langanhaltender Dürreperioden<br />

seien auch die Kapazitäten auf dem<br />

Feld der Trinkwasserbeschaffung und -aufbereitung<br />

zu erweitern.<br />

Der Berliner Landesbranddirektor KARSTEN HOMRIG-<br />

HAUSEN, nach eigenen Worten Leiter der ältesten<br />

und größten Berufsfeuerwehr in Deutschland,<br />

beklagte eine „Vollkasko-Mentalität“ in Teilen der<br />

Gesellschaft. Schon bei der „erstbesten Störung“<br />

ertöne der Ruf nach dem Staat. Dagegen seien die<br />

Eigenverantwortung und die Selbsthilfefähigkeit<br />

der Menschen stärker zu betonen und einzufordern.<br />

Der Staat allein könne nicht alle erforderlichen<br />

Maßnahmen treffen.<br />

Der Katastrophenschutz-Beauftragte des Deutschen<br />

Roten Kreuzes (DRK), FRANK JÖRRES, erinnerte<br />

an die Flüchtlingskrise 2015/16 und an die verheerenden<br />

Waldbrände der jüngsten Zeit in Brandenburg<br />

und Mecklenburg-Vorpommern zur Begründung<br />

seiner Forderung, den Bevölkerungsschutz<br />

„neu zu denken“. JÖRRES mahnte, Vorsorgestrukturen<br />

auszubauen und das Ehrenamt zu stärken. Der<br />

Betreuungsbereich, also die Notunterbringung<br />

und Versorgung von Betroffenen einer Katastrophe,<br />

sei das Stiefkind des Bevölkerungsschutzes. Er<br />

zitierte die Faustformel, dass der Staat Notunterkünfte<br />

für 2 % der Bevölkerung, in Deutschland<br />

also 1,6 Mio. Menschen, vorhalten sollte.<br />

Der ehemalige Präsident des Deutschen Feuerwehrverbands,<br />

HELMUT ZIEBS, machte auf erhebliche<br />

Defizite in der Bevorratung mit Lebensmitteln und<br />

Ausrüstungsgegenständen aufmerksam. Wie schon<br />

andere Experten befürwortete er eine Rahmenkompetenz<br />

des Bundes im Katastrophenschutz.<br />

[Quelle: Bundestag]<br />

Clankriminalität in Deutschland<br />

Zu den Verbindungen zwischen sog. Clans und<br />

der organisierten Kriminalität (OK) hat sich<br />

kürzlich die Bundesregierung in ihrer Antwort<br />

auf eine Kleine Anfrage im Bundestag geäußert.<br />

Danach geht aus dem vom Bundeskriminalamt<br />

erstellten „Bundeslagebild Organisierte Kriminalität<br />

2018“ hervor, dass in Bund und Ländern 45<br />

OK-Verfahren erfasst wurden, die der sog. Clankriminalität<br />

insgesamt zugeordnet werden konnten.<br />

Dies entspreche einem Anteil von 8,4 % aller<br />

im Berichtsjahr erfassten OK-Verfahren.<br />

Was die Herkunft der Clan-Gruppen angeht,<br />

führt die Bundesregierung aus, dass die OK-<br />

Verfahren sich gegen 24 OK-Gruppierungen<br />

arabischstämmiger Herkunft, acht OK-Gruppierungen<br />

mit Herkunft aus Westbalkan-Staaten,<br />

drei OK-Gruppierungen türkisch-stämmiger<br />

Herkunft, eine OK-Gruppierung mit Herkunft<br />

aus den Maghreb-Staaten und neun OK-Gruppierungen<br />

anderer Herkunft richteten. Gemäß<br />

dem Bundeslagebild dominierten in den insgesamt<br />

45 der Clankriminalität zugeordneten<br />

OK-Verfahren den Angaben zufolge „Personen<br />

mit libanesischer Staatsangehörigkeit in elf OK-<br />

Verfahren, gefolgt von deutschen (acht OK-Verfahren)<br />

und türkischen Staatsangehörigen (vier OK-<br />

Verfahren)“. Des Weiteren seien drei OK-Verfahren<br />

von Personen albanischer und serbischer<br />

sowie zwei OK-Verfahren von Tatverdächtigen<br />

mazedonischer Staatsangehörigkeit dominiert<br />

worden, die überwiegend der sog. Clankriminalität<br />

im Zusammenhang mit den Westbalkan-<br />

Staaten zugeordnet werden können.<br />

Wie aus den Ausführungen der Bundesregierung<br />

weiter hervorgeht, wurden in den 45 OK-Ver-<br />

180 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

fahren 654 Tatverdächtige erfasst, davon u.a. 152<br />

libanesische, 148 deutsche, 54 syrische und 52<br />

türkische Staatsangehörige.<br />

[Quelle: Bundestag]<br />

Empfehlungen des<br />

58. Verkehrsgerichtstags<br />

Ende Januar tagte in Goslar der 58. Deutsche<br />

Verkehrsgerichtstag. Rund 2.000 Verkehrsfachleute<br />

aus Justiz, Ministerien, Verbänden und<br />

Wissenschaft beschäftigten sich mit aktuellen<br />

Fragestellungen, etwa der Elektromobilität, Aggressivität<br />

im Straßenverkehr und terroristischen<br />

Bedrohungen. Die auf dem Verkehrsgerichtstag<br />

ausgesprochenen Empfehlungen sind in erster<br />

Linie an den Gesetzgeber gerichtet, der ihnen in<br />

der Vergangenheit auch oft gefolgt ist.<br />

Auch in diesem Jahr sprachen die Experten wieder<br />

eine Reihe von Empfehlungen aus, so etwa die<br />

Schaffung eines neuen Bußgeldtatbestands und<br />

einer neuen Fachanwaltschaft. Die wichtigsten<br />

Beschlüsse der einzelnen Arbeitskreise sind nachstehend<br />

kurz zusammengefasst:<br />

• Grenzüberschreitende Unfallregulierung<br />

Trotz der in den vergangenen Jahren geschaffenen<br />

EU-Regulierungssysteme für internationale<br />

Verkehrsunfälle sehen die Experten Verbesserungsbedarf.<br />

So solle die Verjährung des Direktanspruchs<br />

des Geschädigten auf drei oder vier<br />

Jahre verlängert und europaweit harmonisiert<br />

werden. Auch fordern sie eine Garantiehaftung<br />

der Entschädigungsstelle für den Fall, dass der<br />

ausländische Versicherer die Zahlung verweigert.<br />

• Abrechnung eines fiktiven Schadenersatzes<br />

Die Experten sprachen sich fast einstimmig<br />

dagegen aus, die neue Rechtsprechung des BGH<br />

zur fiktiven Abrechnung von Mängelbeseitigungskosten<br />

auf den Straßenverkehr zu übertragen.<br />

Es solle weiterhin dabei bleiben, dass der<br />

Geschädigte seinen Unfallschaden fiktiv, d.h. auf<br />

Basis eines Gutachtens oder Kostenvoranschlags,<br />

abrechnen darf.<br />

• Agressivität im Straßenverkehr<br />

Der zuständige Arbeitskreis empfiehlt dem Gesetzgeber<br />

die Einführung eines neuen, punktebewehrten<br />

Bußgeldtatbestands für „aggressives Posing“.<br />

Auch sollen die Fahrerlaubnisbehörden ein<br />

Recht zur Einsicht in das Bundeszentral-/Erziehungsregister<br />

bekommen.<br />

• Elektrokleinstfahrzeuge<br />

Einspurige Elektrokleinstfahrzeuge (sog. E-Scooter)<br />

sollen künftig nur noch mit Prüfbescheinigung<br />

geführt werden dürfen und zudem mit<br />

Fahrtrichtungsanzeigern (Blinkern) ausgerüstet<br />

werden. Mit Blick darauf, dass deren winzige<br />

Kennzeichen von Geschädigten und Zeugen<br />

praktisch kaum zu erkennen sind, sollen speziell<br />

die Verleihfirmen die Nutzerdaten jedes Mal<br />

erfassen und den Verfolgungsbehörden ggf. zur<br />

Verfügung stellen.<br />

• Fahranfänger<br />

Der zuständige Arbeitskreis empfiehlt eine generelle<br />

Verlängerung der Probezeit von zwei auf drei<br />

Jahre mit der Möglichkeit einer Verkürzung bei<br />

freiwilliger Teilnahme an Schulungen oder am<br />

sog. Begleiteten Fahren.<br />

• Terroranschläge<br />

Unter Bezug auf die mit Lkw begangenen Terroranschläge<br />

aus jüngerer Vergangenheit (etwa auf<br />

dem Berliner Breitscheidplatz und in Nizza) empfehlen<br />

die Experten die Harmonisierung zivilund<br />

öffentlich-rechtlicher Opferansprüche. Auch<br />

befürworten sie die Einführung eines neuen<br />

Fachanwalts für Personenschadensrecht. Dieser<br />

könne den besonderen Herausforderungen der<br />

Interessenswahrnehmung von Terroropfern besser<br />

Rechnung tragen.<br />

• Kreuzfahrten<br />

Nicht zuletzt sorgten sich die Verkehrsfachleute<br />

auch um die Sicherheit von Kreuzfahrttouristen.<br />

Die boomende Branche zeige neue Risiken auf,<br />

wie etwa nicht ausreichende Rettungskapazitäten<br />

und drohende Terroranschläge. Den Reedereien<br />

müsse deshalb ein geeignetes Notfallund<br />

Krisenmanagement vorgeschrieben werden.<br />

Dazu zähle auch ein Fachkonzept zur Rettung<br />

von eingeschlossenen Personen auf gesunkenen<br />

Schiffen. Die Reiseveranstalter sollten verpflichtet<br />

werden, über die jeweiligen Sicherheits- und<br />

Umweltstandards der Schiffe bereits bei der Reisebuchung<br />

zu informieren.<br />

[Quelle: Verkehrsgerichtstag]<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 181


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

BMJV legt Gesetz zu fairen<br />

Verbraucherverträgen vor<br />

Die Bundesjustizministerin CHRISTINE LAMBRECHT will<br />

den Verbraucherschutz in Deutschland weiter<br />

ausbauen. Zu diesem Zweck hat ihr Ministerium<br />

einen Gesetzentwurf für faire Verbraucherverträge<br />

erarbeitet, der am 24. Januar vorgestellt<br />

wurde. Die in dem Vorhaben vorgesehenen<br />

Regelungen sollen die Position der Verbraucherinnen<br />

und Verbraucher gegenüber den Unternehmen<br />

weiter verbessern und erreichen, dass<br />

nicht nur der Vertragsschluss unter faireren Bedingungen<br />

erfolgt, sondern auch die Vertragsbedingungen<br />

ausgewogeneren Regelungen unterliegen.<br />

So sollen u.a. lange Vertragslaufzeiten und in AGB<br />

enthaltene automatische Vertragsverlängerungen<br />

um oft ein Jahr deutlich verkürzt werden,<br />

um den Kunden einen schnelleren Wechsel zu<br />

günstigeren und attraktiveren Angeboten zu<br />

ermöglichen. Auch sollen telefonische Kontakte<br />

und Absprachen künftig besser dokumentiert und<br />

teilweise von den Verbrauchern gesondert bestätigt<br />

werden müssen; damit sollen diese besser<br />

vor aufgedrängten und untergeschobenen Verträgen<br />

geschützt werden.<br />

Der Referentenentwurf aus dem BMJV sieht im<br />

Wesentlichen folgende Maßnahmen vor:<br />

• In AGB geregelte Abtretungsverbote für Geldforderungen<br />

sollen künftig unwirksam sein.<br />

• Durch AGB können nur noch kürzere Erstlaufzeiten<br />

und automatische Vertragsverlängerungen<br />

geregelt werden.<br />

• Für telefonisch abgeschlossene Fernabsatzverträge<br />

über Energielieferungen wird eine<br />

Bestätigungslösung eingeführt, d.h. Verbraucherinnen<br />

und Verbraucher müssen Gas- und<br />

Stromlieferverträge schriftlich oder per E-Mail<br />

bestätigen, nachdem die Verträge auf einen<br />

Datenträger zur Verfügung gestellt wurden.<br />

• Unternehmer werden verpflichtet, Einwilligungen<br />

der Verbraucherinnen und Verbraucher<br />

in Telefonwerbung zu dokumentieren<br />

und aufzubewahren.<br />

Bundesjustizministerin CHRISTINE LAMBRECHT erklärte<br />

zu dem Vorhaben: „Verbraucherinnen und Verbraucher<br />

werden viel zu häufig abgezockt und übervorteilt.<br />

Undurchsichtige Vertragsstrukturen und kalkulierte<br />

Kostenfallen sind leider immer noch an der Tagesordnung.<br />

Dem wollen wir mit dem Gesetz für fairere<br />

Verbraucherverträge einen Riegel vorschieben.“<br />

Der Gesetzentwurf ist bereits an Fachkreise und<br />

Verbände versandt worden. Diese haben noch bis<br />

zum 24. Februar Gelegenheit, zu dem Vorhaben<br />

Stellung zu nehmen, bevor es in das Gesetzgebungsverfahren<br />

übergeleitet wird.<br />

[Quelle: BMJV]<br />

Zahl der Telekommunikationsüberwachungen<br />

gestiegen<br />

Die Zahl der von Gerichten bundesweit angeordneten<br />

Telekommunikationsüberwachungsanordnungen<br />

nach § 100a StPO ist im Jahr 2018 um<br />

4,4 % auf insgesamt 19.474 gestiegen. Im Jahr<br />

davor waren es noch 18.651 Anordnungen. Gleichzeitig<br />

ist die Anzahl der Verfahren, in denen diese<br />

Anordnungen ergingen, gegenüber dem Vorjahr<br />

gesunken – von 5.629 Verfahren in 2017 auf 5.1<strong>04</strong><br />

Verfahren in 2018. Dies stellt einen Rückgang um<br />

9,3 % dar.<br />

Diese Zahlen teilte Mitte Januar das Bundesamt für<br />

Justiz (BfJ) mit. Wie das Amt weiter erläuterte,<br />

waren es wie in den vergangenen Jahren überwiegend<br />

Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz,<br />

die den Anlass für die Überwachungsmaßnahmen<br />

lieferten. Ebenfalls veröffentlicht hat das<br />

Bundesamt für Justiz die Statistik darüber, wie oft<br />

die Strafverfolgungsbehörden im Jahr 2018 gem.<br />

§ 100g StPO Verkehrsdaten erhoben haben, also<br />

etwa Daten über Beginn und Ende sowie über die<br />

Teilnehmenden an einer Telekommunikation. Als<br />

Folge gesetzlicher Änderungen haben die Bundesländer<br />

die entsprechenden Zahlen allerdings uneinheitlich<br />

erhoben. Daher enthält die aktuelle<br />

Statistik des Bundesamts Angaben nur für 11 der<br />

16 Bundesländer sowie für den Generalbundesanwalt.<br />

[Quelle: Bundesamt für Justiz]<br />

Juristinnen mahnen Folgenabschätzung<br />

bei Grundrente an<br />

Im Bundesministerium für Arbeit und Soziales<br />

wird derzeit daran gearbeitet, den Koalitions-<br />

182 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

kompromiss zu einer Grundrente umzusetzen.<br />

Vor einigen Wochen wurde ein Referentenentwurf<br />

vorgelegt, der derzeit auch zwischen den<br />

Ministerien abgestimmt wird. Mit dem Vorhaben<br />

soll die Rente von Personen mit langem Versicherungsverlauf<br />

aber trotzdem geringen Rentenanwartschaften<br />

durch einen Zuschlag an<br />

Entgeltpunkten aufgestockt werden. Dabei, so<br />

die Begründung des Gesetzentwurfs, soll insb.<br />

auch den Biographien von Frauen Rechnung<br />

getragen werden. Wie das Ministerium dies<br />

umsetzen will, stößt jedoch insb. beim Deutschen<br />

Juristinnenbund (djb) auf Kritik.<br />

Bereits ohne vertiefte Prüfung werde deutlich,<br />

dass den gleichstellungsrelevanten Belangen von<br />

Frauen mit dem Gesetzentwurf nicht ausreichend<br />

Rechnung getragen werde, bemängelte die Präsidentin<br />

des djb, Prof. Dr. MARIA WERSIG. Sie<br />

kritisiert insb., dass Zeiten geringfügiger Beschäftigung,<br />

sog. Minijobs, die in der Mehrzahl<br />

von (verheirateten) Frauen ausgeübt werden,<br />

nicht zu den anwartschaftsbegründenden Zeiten<br />

zählen sollen. Begründet wird diese Entscheidung<br />

vom Ministerium explizit damit, dass Minijobs<br />

lediglich die Bedeutung eines ergänzenden Einkommens<br />

hätten. „Deutschland weigert sich seit<br />

Jahren, den Empfehlungen der Europäischen Union<br />

nachzukommen und Fehlanreize im Steuer- und Sozialrecht<br />

abzubauen, die Frauen in geringfügiger Beschäftigung<br />

halten und die eigenständige Existenzsicherung<br />

behindern. Gleichzeitig sollen die Folgen der<br />

Fehlanreize Frauen bei der Grundrente zum Verhängnis<br />

werden“, soWERSIG.<br />

Dennoch sollen Frauen dem Referentenentwurf<br />

zufolge in besonderem Maße von der Grundrente<br />

und den parallel dazu eingeführten Freibetragsleistungen<br />

im Sozialhilferecht profitieren. Im<br />

Einführungsjahr sollen Frauen sogar 70 % der<br />

Menschen sein, die von der Grundrente profitieren.<br />

Wie diese Einschätzung zustande komme,<br />

bleibe allerdings, so der djb, trotz der Verpflichtung<br />

zu einer differenzierten gleichstellungsorientierten<br />

Gesetzesfolgenabschätzung offen. Der<br />

Juristinnenbund setzt sich deshalb für eine transparente<br />

Darstellung der Datenbasis für die genannten<br />

Zahlen und eine geschlechterdifferenzierte<br />

Einschätzung der Auswirkungen aller<br />

Anspruchsvoraussetzungen der Grundrente ein.<br />

[Quelle: djb]<br />

KG benötigt komplett neue<br />

IT-Infrastruktur<br />

Im Herbst vergangenen Jahres ist das Berliner<br />

Kammergericht (KG) Opfer eines Hackerangriffs<br />

geworden, der derart heftig ausfiel, dass das<br />

Gericht sofort entschieden hatte, offline zu<br />

gehen und alle IT-Systeme abzuschalten. Anschließend<br />

hatte das KG einen Dienstleister für<br />

Informations- und Kommunikationstechnologie<br />

– die T-Systems International GmbH – mit der<br />

forensischen Untersuchung des Trojaner-Angriffs<br />

auf sein Computernetzwerk beauftragt.<br />

Dessen Untersuchungsergebnisse wurden nun am<br />

24. Januar der Öffentlichkeit vorgestellt. Danach<br />

benötigt das Gericht offensichtlich den Aufbau<br />

einer komplett neuen IT-Infrastruktur. Der Präsident<br />

des KG Dr. BERND PICKEL fasste die Erkenntnisse<br />

von T-Systems wie folgt zusammen: „Die<br />

Untersuchung bestätigt die von mir immer wieder in den<br />

Vordergrund gestellte Einschätzung, dass es sich um<br />

einen äußerst gefährlichen und schwerwiegenden Sicherheitsvorfall<br />

handelte. Die Gefährlichkeit ergibt sich nach<br />

dem Gutachten daraus, dass der Angreifer in der Lage<br />

gewesen wäre, alle Daten des Kammergerichts entweder<br />

zu zerstören oder sich anzueignen. Die Entscheidung, das<br />

Kammergericht Ende September 2019 sofort vom Internet<br />

zu trennen und abzuschalten, war aus technischer<br />

Sicht alternativlos und hat das Schlimmste noch rechtzeitig<br />

verhindert. Zwar hat T-Systems jetzt festgestellt,<br />

dass aller Wahrscheinlichkeit nach Zugangsdaten – sog.<br />

credentials – abgeflossen sind. Diese nutzen den Angreifern<br />

aber nichts mehr, da das System des Kammergerichts<br />

sofort nach den ersten Hinweisen auf den<br />

Angriff vom Netz genommen wurde und in der alten<br />

Form auch keinesfalls wieder ans Netz gehen wird.<br />

Dagegen stimmt es auch nach der Untersuchung durch<br />

T-Systems nicht, dass festgestellt worden wäre, auch die<br />

auf den Kammergerichtssystemen gespeicherten Dokumente<br />

wie z.B. Urteile und Beschlüsse mit den darin<br />

enthaltenen Inhalten, Namen und Daten seien abgeflossen.“<br />

Für die Zukunft ergibt sich aus dem Gutachten,<br />

dass nicht eine Bereinigung des bisherigen Systems,<br />

sondern der vollständige Neuaufbau einer<br />

sicheren IT-Infrastruktur für das KG geboten ist.<br />

Mit diesem Neuaufbau werde – so der KG-<br />

Präsident – auf Basis anerkannter Standards<br />

eine sichere und zeitgemäße IT-Architektur für<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 183


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

das KG geschaffen und betrieben. Dieser Netzaufbau<br />

berücksichtige selbstverständlich auch im<br />

Gutachten genannte Erkenntnisse über bisherige<br />

Schwachstellen, wie etwa unzureichende Netzwerksegmentierungen.<br />

[Quelle: KG Berlin]<br />

Handlungsbedarf für Windows 7-<br />

Nutzer<br />

Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hat darauf<br />

hingewiesen, dass die Firma Microsoft seit<br />

Mitte Januar keine Sicherheitsupdates mehr für ihr<br />

Betriebssystem Windows 7 ausliefert. Das stelle, so<br />

die BRAK, auch für Rechtsanwaltskanzleien, die<br />

dieses Betriebssystem weiterhin nutzen, ein Sicherheitsrisiko<br />

dar.<br />

Die betroffenen Kollegen dürften damit nach<br />

Auffassung der Kammer auch die Anforderungen,<br />

die Art. 32 DSGVO an die Sicherheit der Datenverarbeitung<br />

stellt, nicht länger erfüllen können. Das<br />

Ende des Supports für Windows 7 bedeutet, dass<br />

ab sofort neue Sicherheitslücken in diesem Betriebssystem<br />

nicht mehr automatisch behoben<br />

werden. Dies stellt nach Ansicht von Experten ein<br />

hohes Sicherheitsrisiko dar, welches auch nicht<br />

durch den Einsatz einer Firewall oder eines Virenprogramms<br />

ausgeschlossen werde. Die BRAK<br />

spricht deshalb folgende Empfehlungen aus:<br />

Aus datenschutzrechtlicher Sicht sei ein Umstieg<br />

auf ein Betriebssystem anzuraten, für welches<br />

weiterhin regelmäßige Sicherheitsupdates zur Verfügung<br />

gestellt werden. Microsoft empfehle insoweit<br />

einen Umstieg auf Windows 10. Dem werde<br />

zwar bisweilen entgegengehalten, dass der Einsatz<br />

von Windows 10 seinerseits nicht datenschutzkonform<br />

möglich sei. Indes habe das gemeinsame<br />

Gremium der deutschen Aufsichtsbehörden – die<br />

Datenschutzkonferenz (DSK) – zwischenzeitlich<br />

eine Handreichung zu der Frage herausgegeben,<br />

wie ein datenschutzkonformer Einsatz von Windows<br />

10 möglich sei. Dieser Handreichung lasse<br />

sich zumindest entnehmen, dass die Aufsichtsbehörden<br />

den Einsatz von Windows 10 jedenfalls<br />

nicht per se für unzulässig erachten.<br />

Vorübergehende Abhilfe könne zudem ein Extended<br />

Security Update-Programm (ESU) – d.h. ein<br />

verlängerter Support für Windows 7 – bieten.<br />

Hierbei würden gegen Zahlung von Wartungsgebühren<br />

weiterhin Updates durch Microsoft geliefert.<br />

Für größere Unternehmen und die öffentliche<br />

Hand biete Microsoft schon länger ein ESU an.<br />

Kürzlich sei berichtet worden, dass Microsoft ESUs<br />

nun auch für kleinere und mittelgroße Unternehmen<br />

anbiete. Zu beachten sei hierbei aber, dass<br />

dieses Angebot nur für die Windows-Versionen<br />

„Professional“ und „Enterprise“ gelten solle, nicht<br />

aber für „Home“- oder „Ultimate“-Lizenzen. Bislang<br />

plane Microsoft, das Extended Security Programm<br />

noch bis 2023 laufen zu lassen. [Quelle: BRAK]<br />

Personalia<br />

Der bisherige Vorsitzende Richter am Bundessozialgericht<br />

Prof. Dr. ERNST HAUCK ist Ende Dezember<br />

vergangenen Jahres in den Ruhestand getreten;<br />

dies teilte das BSG im Januar mit. Prof. Dr. HAUCK<br />

war bereits seit 1987 in der nordrhein-westfälischen<br />

Sozialgerichtsbarkeit tätig, bevor er im Jahr 2005 an<br />

das BSG berufen wurde. Dort gehörte er dem u.a.<br />

für die gesetzliche Krankenversicherung zuständigen<br />

1. Senat an, dessen stellvertretender Vorsitzender<br />

er seit Januar 2011 war. Im August 2016 wurde<br />

ERNST HAUCK zum Vorsitzenden Richter ernannt und<br />

führte sodann den 1. Senat bis zu seinem Eintritt in<br />

den Ruhestand. Von August 2008 bis Ende September<br />

2016 war er auch Präsidialrichter des BSG.<br />

Seit rund acht Jahren ist Prof. Dr. HAUCK zudem<br />

Honorarprofessor an der Martin-Luther-Universität<br />

Halle-Wittenberg. Er ist Herausgeber und<br />

Mitherausgeber von Kommentaren zu Gerichtsverfahren<br />

und -verfassung, Krankenversicherung<br />

und Pflegeversicherung. Seit mehr als zwei Jahrzehnten<br />

ist er zudem im Nebenamt Prüfer im<br />

ersten und zweiten juristischen Staatsexamen.<br />

Wie der Deutsche Anwaltverein (DAV) kürzlich<br />

mitteilte, wird Rechtsanwältin Dr. SYLVIA RUGE zum<br />

April des Jahres neue Hauptgeschäftsführerin des<br />

Vereins. Sie tritt damit die Nachfolge von Rechtsanwalt<br />

PHILIPP WENDT an, der nach 18-jähriger Tätigkeit<br />

für den DAV und die Deutsche Anwaltakademie<br />

auf eigenen Wunsch ausscheidet. Die designierte<br />

neue Hauptgeschäftsführerin ist seit 16 Jahren als<br />

Rechtsanwältin tätig. Sie ist Wirtschaftsmediatorin<br />

und führt die Fachanwaltsbezeichnung für Medizinrecht.<br />

Derzeit ist sie als Geschäftsführerin der<br />

Schlichtungsstelle der Anwaltschaft tätig. Diese<br />

Aufgabe will sie bis zu ihrem Amtsantritt am<br />

1. April weiter ausüben. [Quellen: BSG/DAV]<br />

184 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 21<br />

Rechtsprechung<br />

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Allgemeines Zivilrecht<br />

Nutzungsausfallentschädigung: Abwarten mit Ersatzbeschaffung<br />

(LG Saarbrücken, Urt. v. 30.12.2019 – 13 S 168/19) • Ein Zeitraum von mehreren Monaten, die der<br />

Geschädigte mit der Wiederherstellung oder Ersatzbeschaffung zuwartet, steht der Gewährung einer<br />

Nutzungsausfallentschädigung nicht entgegen, wenn sich ein Nutzungswille des Geschädigten tatsächlich<br />

feststellen lässt. Hinweis: Es ging um eine Nutzungsausfallentschädigung i.H.v. 1.470 € (42 Tage à 35 €).<br />

Der Versicherer wollte keine Nutzungsausfallentschädigung im Hinblick darauf zahlen, dass der Kläger<br />

nahezu vier Monate mit der Ersatzbeschaffung abgewartet hatte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 73/<strong>2020</strong><br />

Kaufvertragsrecht<br />

Dieselskandal: Schlüssigkeit des Klagevortrags<br />

(OLG Stuttgart, Urt. v. 9.1.<strong>2020</strong> – 17 U 107/19) • Trägt der Kläger – ungeachtet eines Hinweises des<br />

Gerichts – ausschließlich zu den objektiven Umständen bezüglich eines sog. Thermofensters in der<br />

Motorsteuerung eines Kfz vor, äußert sich aber überhaupt nicht zu den subjektiven Tatbestandsmerkmalen<br />

des § 826 BGB, so ist die Schadenersatzklage nicht schlüssig. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 74/<strong>2020</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Geschäftsraummietverhältnis: Erleichterte Räumungsverfügung<br />

(OLG Celle, Urt. v. 9.1.<strong>2020</strong> – 2 U 116/19) • Die in § 940a ZPO zum Ausdruck kommende gesetzgeberische<br />

Wertung kann nicht i.R.d. Anwendung von § 940 ZPO auf Geschäftsraummietverhältnisse übertragen<br />

werden. Hinweis: § 940a ZPO findet ausschließlich für Wohnraum Anwendung und ist daher nicht, auch<br />

nicht analog anwendbar, wenn es um die Räumung von Gewerberaum geht. Denn für einen „wenn<br />

schon, dann erst recht“-Schluss ist bei Spezialvorschriften dieser Art kein Raum, weil er auf eine der<br />

Gewaltenteilung zuwiderlaufende Korrektur des Gesetzgebers hinausliefe. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 75/<strong>2020</strong><br />

Bauvertragsrecht<br />

Pauschalpreisabrede: Verstoß gegen Formvorschriften<br />

(OLG Celle, Urt. v. 8.1.<strong>2020</strong> – 14 U 96/19) • Die Formvorschriften des § 7 Abs. 1 HOAI dienen hauptsächlich<br />

dem nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 4.7.2019 – C-377/17 festgestellten – nicht mehr<br />

legitimen – Ziel, ein Abweichen von den Mindest- und Höchstsätzen zu erschweren. Der Zusammenhang<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 185


Fach 1, Seite 22 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

mit diesen ist daher so eng, dass die Norm nicht teilbar ist und sich der Anwendungsvorrang des<br />

Unionsrechts auf den gesamten § 7 Abs. 1 HOAI bezieht. Ein Verstoß gegen die Formvorschriften des § 7<br />

Abs. 1 HOAI führt nicht zur Unwirksamkeit einer Pauschalpreisabrede. Die HOAI-Mindestsätze treffen<br />

keine Aussage in Bezug auf die übliche Vergütung gem. § 632 Abs. 2 2. Alt BGB. Hinweis: In diesem Fall ging<br />

es um Architektenleistungen in Bezug auf ein Mehrfamilienhaus zur Sanierung von 13 Wohnungen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 76/<strong>2020</strong><br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Eintragung im Grundbuch: Kostenvorschuss<br />

(OLG München, Beschl. v. 2.1.<strong>2020</strong> – 34 Wx 516/19) • Nach den Umständen des Einzelfalls kann auch<br />

dann, wenn mit dem geltend gemachten Vorschuss nur ein geringer Betrag (hier: 16,50 €) gefordert<br />

wird, die beantragte Eintragung im Grundbuch von der Leistung eines Kostenvorschusses abhängig<br />

gemacht werden. Hinweis: Die Rechtspflegerin hatte den beantragten Vollzug einer Eintragung von der<br />

Zahlung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht, weil weitere Zwangssicherungshypotheken<br />

eintragen seien und daher Zahlungsprobleme zu befürchten seien. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 77/<strong>2020</strong><br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Fahrtenbuchauflage: Rechtsanwalt<br />

(VG Saarland, Beschl. v. 23.12.2019 – 5 L 1926/19) • Geeichte Geschwindigkeitsmessgeräte mit<br />

Bauartzulassung der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt erbringen bei Fehlen konkreter Anhaltspunkte<br />

für eine Fehlfunktion oder unsachgemäße Bedienung für die Anordnung zur Führung eines<br />

Fahrtenbuchs hinreichend verlässlich Beweis für eine Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Behauptung<br />

eines Rechtsanwalts, er stelle sein Motorrad mit 110 kw (150 PS), einem Eigengewicht von 235 kg und einer<br />

Höchstgeschwindigkeit von 250 km/h als Kanzleifahrzeug seinem Mandanten zur Verfügung, steht der<br />

Anordnung eines Fahrtenbuchs nicht entgegen. Hinweis: Letztgenannte Behauptung erscheint ein wenig<br />

weit hergeholt, sofern man nicht überwiegend Profirennfahrer vertritt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 78/<strong>2020</strong><br />

Versicherungsrecht<br />

Behaupteter Kfz-Diebstahl: Äußeres Bild einer bedingungsgemäßen Entwendung<br />

(OLG Dresden, Urt. v. 19.11.2019 – 4 U 479/19) • Mit einem aufgrund seines Aussageverhaltens<br />

unglaubwürdigen Zeugen lässt sich der Beweis des äußeren Bildes einer bedingungsgemäßen Entwendung<br />

in der Kfz-Versicherung nicht führen. Hinweis: Der Versicherungsnehmer hatte seinen Vortrag zur<br />

Aufbewahrung der Fahrzeugschlüssel mehrfach geändert. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 79/<strong>2020</strong><br />

Familienrecht<br />

Betreuungsverfahren: Erneute Anhörung des Betroffenen<br />

(BGH, Beschl. v. 4.12.2019 – XII ZB 392/19) • Hat das Beschwerdegericht in einem Betreuungsverfahren<br />

ein ergänzendes Sachverständigengutachten eingeholt, auf das es seine Entscheidung zu stützen<br />

beabsichtigt, ist der Betroffene vor der Entscheidung erneut persönlich anzuhören (im Anschluss an<br />

Senat, Beschl. v. 24.7.2019 – XII ZB 160/19, FamRZ 2019, 1735 und v. 2.12.2015 – XII ZB 227/12, FamRZ<br />

2016, 300). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 80/<strong>2020</strong><br />

Nachlass/Erbrecht<br />

Unrichtiges Grundbuch: Beschwerdeberechtigung<br />

(OLG München, Beschl. v. 20.12.2019 – 34 Wx 468/19) • Wird in einem Verfahren nach § 22 Abs. 1 GBO<br />

geltend gemacht, dass der Nacherbenvermerk infolge Veräußerung des betroffenen Grundstücks durch<br />

den befreiten Vorerben gegenstandslos und das Grundbuch damit erwiesenermaßen unrichtig ist, so steht<br />

186 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Rechtsprechung <strong>2020</strong> Fach 1, Seite 23<br />

die Beschwerde gegen die den Berichtigungsantrag ablehnende Entscheidung des Grundbuchamts nicht<br />

dem Veräußerer, sondern nur dem Erwerber zu. Da es die Aufgabe des Grundbuchamts ist, den Nacherben<br />

gem. Art. 103 Abs. 1 GG rechtliches Gehör zu gewähren, kann es vom Antragsteller nicht zu diesem Zweck<br />

durch Zwischenverfügung die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung über das Fehlen oder die<br />

Existenz weiterer als Nacherben in Betracht kommender Personen verlangen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 81/<strong>2020</strong><br />

Zivilprozessrecht<br />

Parteivernehmung von Amts wegen: Ausschöpfung aller Beweismittel<br />

(BGH, Urt. v. 12.12.2019 – III ZR 198/18) • Eine Parteivernehmung von Amts wegen kommt nur in Betracht,<br />

wenn zuvor alle angebotenen Beweismittel ausgeschöpft worden sind und keinen vollständigen<br />

Beweis erbracht haben. Weiterhin muss die beweisbelastete Partei alle ihr zumutbaren Zeugenbeweise<br />

angetreten haben. Dagegen ist es zur Wahrung der Subsidiarität der Parteivernehmung nach § 448 ZPO<br />

nicht erforderlich, dass die beweisbelastete Partei eine im Lager des Prozessgegners stehende Person als<br />

Zeugen benennt. Erst recht muss sie nicht die Parteivernehmung des Gegners beantragen (Fortführung<br />

von BGH, Urt. v. 26.3.1997 – IV ZR 91/96, NJW 1997, 1988). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 82/<strong>2020</strong><br />

Arbeitsrecht<br />

Saison- und Kampagnenbetrieb: Arbeitszeitverlängerung bei erhöhtem Arbeitsaufkommen<br />

(OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 10.12.2019 – 6 A 10942/19) • Eine Arbeitszeitverlängerung nach § 15 Abs. 1<br />

Nr. 2 ArbZG kommt dann in Betracht, wenn das erhöhte Arbeitsaufkommen aufgrund des Jahreslaufs<br />

eintritt und nicht lediglich das Ergebnis unternehmerischer Entscheidungen darstellt. Bei saisonalen<br />

Dienstleistungen muss die Kundennachfrage der jeweiligen Jahresperiode geschuldet sein. Sie darf<br />

hingegen nicht allein auf unternehmerischen Entscheidungen und Angeboten bzw. deren bewusster<br />

Konzeption beruhen. Ein Veranstaltungsunternehmen, dessen Betriebszweck in der Planung, Organisation<br />

und ganzjährigen Durchführung von Großveranstaltungen für elektronische Musik besteht, ist<br />

kein Saison- oder Kampagnebetrieb i.S.d. § 15 Abs. 1 Nr. 2 ArbZG. Hinweis: In diesem Fall ging es um ein<br />

Veranstaltungsunternehmen mit dem Geschäftszweck Planung, Organisation und Durchführung<br />

musikalischer Großveranstaltungen von 5.000 bis 65.000 Besuchern, wobei auch die Schankgastronomie<br />

bei den Veranstaltungen mit eigenem Personal durchgeführt wird. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 83/<strong>2020</strong><br />

Verfassungs-/Verwaltungsrecht<br />

Isolierter PKH-Antrag innerhalb der Rechtsmittelfrist: Darstellung des Streitverhältnisses<br />

(OVG NRW, Beschl. v. 17.12.2019 – 9 A 2203/18.A) • Ein mittelloser Rechtsmittelführer, der innerhalb einer<br />

Rechtsmittelfrist die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts<br />

beantragt hat, ist grds. bis zur Entscheidung über den Antrag ohne sein Verschulden an der Einlegung<br />

des Rechtsmittels verhindert, sodass regelmäßig eine Wiedereinsetzung in die versäumte Frist in<br />

Betracht kommt. Voraussetzung ist aber, dass innerhalb der Rechtsmittelfrist ein ordnungsgemäß<br />

begründetes und vollständiges Prozesskostenhilfegesuch eingereicht wird. Eine Wiedereinsetzung in die<br />

versäumte Rechtsmittelfrist scheidet aus, wenn ein anwaltlich vertretener Antragsteller nicht innerhalb<br />

der Rechtsmittelfrist wenigstens in groben Zügen dargelegt hat, inwiefern er einen Zulassungsgrund für<br />

gegeben hält (Abgrenzung zu BAG, Beschl. v. 5.7.2016 – 8 AZB 1/16). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 84/<strong>2020</strong><br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeitenrecht<br />

Diebstahl: Urteilsfeststellungen<br />

(OLG Hamm, Beschl. v. 7.1.<strong>2020</strong> – 1 RVs 79/19) • Tatsächliche Feststellungen zur Höhe des Diebesguts sind<br />

bei einer Verurteilung wegen Diebstahls schon deshalb erforderlich, weil sich das Maß der Schuld, das für<br />

den Rechtsfolgenausspruch maßgeblich ist, jedenfalls auch an der Höhe des verursachten Schadens<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 187


Fach 1, Seite 24 Rechtsprechung <strong>2020</strong><br />

orientiert. Soweit das Tatgericht i.R.d. konkreten Strafzumessung strafschärfend berücksichtigt, dass der<br />

Angeklagte bei der jeweiligen Begehung der Taten unter laufender Bewährung gestanden hat, sind<br />

konkrete Feststellungen zu den Bewährungs- oder Haftzeiten des Angeklagten zu treffen. Das Tatgericht<br />

hat sich i.R.d. Strafzumessung mit der Frage zu befassen, welchen Eindruck die nach Begehung der Taten<br />

verbüßte Strafhaft bei dem Angeklagten hinterlassen hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 85/<strong>2020</strong><br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Pflichtverteidiger: Strafvollstreckungsverfahren<br />

(OLG Celle, Beschl. v. 3.12.2019 – 2 Ws 352/19) • Der Umstand, dass der Verurteilte unter rechtlicher<br />

Betreuung steht, stellt für das Erfordernis der Beiordnung eines Verteidigers lediglich ein Indiz dar, das<br />

für sich allein genommen erhebliche Zweifel an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung nicht zu begründen<br />

vermag. Vielmehr ist erforderlich, dass kumulativ noch weitere Gesichtspunkte hinzukommen. Eine<br />

besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage ergibt sich nicht allein aus dem Umstand, dass die<br />

Justizvollzugsanstalt i.R.d. Verfahrens nach § 57 Abs. 1 StGB nacheinander mehrere divergierende<br />

Prognoseeinschätzungen abgegeben hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 86/<strong>2020</strong><br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Anwaltsverschulden<br />

(OLG Hamm, Beschl. v. 20.12.2019 – 2 UF 234/19) • Ein Rechtsanwalt genügt der von ihm geforderten<br />

üblichen Sorgfalt jedenfalls dann nicht mehr, wenn er dieselbe Kanzleikraft, die zuvor weisungswidrig<br />

den falsch adressierten und von ihm unterzeichneten fristgebundenen Schriftsatz gefertigt hat, anweist,<br />

einen korrigierten Schriftsatz zu erstellen, diesen ihm zur Unterschrift vorzulegen und anschließend an<br />

das dort aufgeführte Gericht zu übersenden, ohne die Durchführung dieser Weisung durch weitere<br />

Maßnahmen abzusichern (Anschluss an BGH, Beschl. v. 22.7.2015 – XII ZB 583/14). Dies gilt insb., wenn<br />

der Rechtsanwalt die Kanzleikraft anweist, den korrigierten Ausdruck des Schriftsatzes nicht ihm selbst,<br />

sondern einem Sozietätskollegen zur Unterschrift vorzulegen, weil er selbst für den Rest des Tages<br />

außer Haus ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 87/<strong>2020</strong><br />

Fehlgeschlagene Telefaxübertragung: Verpflichtung zur Übermittlung aus dem beA<br />

(OLG Dresden, Beschl. v. 18.11.2019 – 4 U 2188/19) • Scheitert die Übertragung eines fristgebundenen<br />

Schriftsatzes per Telefax, ist der Rechtsanwalt verpflichtet, den Schriftsatz über das beA zu versenden. Das<br />

Unterlassen ist der vertretenen Partei nur dann nicht als schuldhaftes Versäumnis zuzurechnen, wenn<br />

glaubhaft gemacht wird, dass die Übermittlung aus dem beA nicht möglich war. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 88/<strong>2020</strong><br />

Gebührenrecht<br />

Festsetzung von Bestattungskosten: Streitwert im Eilverfahren<br />

(OVG Lüneburg, Beschl. v. 13.12.2019 – 10 ME 259/19) • Bei Bescheiden über die Festsetzung von<br />

Bestattungskosten und Friedhofsgebühren, die auf bezifferte Geldleistungen gerichtet sind, ist in<br />

Anlehnung an Nr. 1.5 S. 1 Hs. 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Verfahren<br />

des vorläufigen Rechtsschutzes von einem Streitwert i.H.v. einem Viertel des für das Hauptsacheverfahren<br />

anzunehmenden Streitwerts auszugehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 89/<strong>2020</strong><br />

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188 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1561<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Unterhaltsrecht<br />

Basiswissen 2: Was der anwaltliche Berufsanfänger vom Unterhaltsrecht<br />

wissen muss – formelles Recht<br />

Von Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Weitere Aufsicht führender RiAG a.D., Gelsenkirchen<br />

Inhalt<br />

I. Das Unterhaltshauptsacheverfahren<br />

1. Die Darlegungslast im Leistungsverfahren<br />

2. Durchsetzung von Minderjährigenunterhalt<br />

3. Formulierung des Antrags auf Minderjährigenunterhalt<br />

II. Die Vollstreckung von Unterhaltsbeschlüssen<br />

III. Unterhalt im Scheidungsverbund<br />

IV. Abänderung von Unterhaltstiteln<br />

1. Die Abänderung von gerichtlichen Unterhaltstiteln<br />

2. Die Abänderung von Unterhaltsvergleichen<br />

und vollstreckbaren Urkunden<br />

3. Besonderheiten bei einseitigen notariellen<br />

Verpflichtungserklärungen und<br />

Jugendsamtsurkunden<br />

(§§ 59 Abs. 1 Nr. 3, 60 SGB VIII)<br />

4. Abänderungsantrag<br />

V. Die Kosten des Unterhaltsverfahrens<br />

(§ 243 FamFG)<br />

VI. Die einstweilige Unterhaltsanordnung<br />

(§ 246 FamFG)<br />

VII. Die Durchsetzung des Auskunftsanspruchs<br />

(§ 1605 BGB)<br />

VIII. Die Beschwerde in Unterhaltssachen<br />

(§§ 58 ff., 117 FamG)<br />

IX. Verfahrenskostenhilfe im Unterhaltsverfahren<br />

I. Das Unterhaltshauptsacheverfahren<br />

Das FamFG behandelt das Unterhaltsverfahren ausführlich in den §§ 231–260 FamFG. Der Begriff der<br />

Unterhaltssache wird in § 231 FamFG definiert.<br />

Das gerichtliche Unterhaltsverfahren wird eingeleitet durch einen bestimmten Unterhaltsantrag beim<br />

Familiengericht. § 232 FamFG regelt die örtliche Zuständigkeit in Unterhaltssachen.<br />

1. Die Darlegungslast im Leistungsverfahren<br />

Im Leistungsverfahren verlangt ein Unterhaltsberechtigter von einem Unterhaltspflichtigen einen zu<br />

zahlenden Unterhaltsbetrag. Der Unterhaltsberechtigte trägt dabei im Regelfall die Darlegungs- und<br />

Beweislast für seinen Bedarf und seine Bedürftigkeit.<br />

Hinweis:<br />

Lediglich minderjährige Kinder, die nur den Zahlbetrag der ersten Stufe der Düsseldorfer Tabelle (Mindestunterhalt<br />

abzüglich anteiligen Kindergeldes) geltend machen, sind von der Darlegungs- und Beweislast<br />

entbunden.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 189


Fach 11, Seite 1562<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Der Unterhaltspflichtige hat die Darlegungs- und Beweislast für die Umstände, aus denen sich seine<br />

eingeschränkte Leistungsfähigkeit ergeben soll (BGH, Urt. v. 7.11.1990 – XII ZR 123/89, FamRZ 1990, 283,<br />

287; OLG Karlsruhe FamRZ 1997, 1011).<br />

2. Durchsetzung von Minderjährigenunterhalt<br />

Das minderjährige Kind kann seinen Unterhalt nicht selbst geltend machen. Übt ein Elternteil die<br />

elterliche Sorge allein aus oder ist ihm die Entscheidung nach § 1628 BGB übertragen, vertritt dieser<br />

Elternteil das Kind allein (§ 1629 Abs. 1 S. 3 BGB). Ab Trennung der Eltern bis zur Rechtskraft der<br />

Scheidung besteht gem. § 1629 Abs. 3 S. 1 BGB Verfahrensstandschaft des betreuenden Elternteils,<br />

der im eigenen Namen den Unterhalt des Kindes geltend machen kann. Wird während eines in<br />

Verfahrensstandschaft zulässigerweise begonnenen isolierten Unterhaltsverfahrens die Ehe rechtskräftig<br />

geschieden, so dauert die Verfahrensstandschaft des Elternteils in Analogie zu § 265 Abs. 2 S. 1<br />

ZPO bis zum Verfahrensende fort, wenn diesem die elterliche Sorge für das Kind übertragen worden ist<br />

oder die vorherige gemeinsame elterliche Sorge nach der Rechtskraft der Scheidung fortbesteht und<br />

sich am Obhutsverhältnis nichts ändert (OLG Hamm FamRZ 1998, 379).<br />

Die Verfahrensstandschaft endet aber in jedem Fall mit der Volljährigkeit des Kindes. Das volljährige Kind<br />

kann nunmehr selbst als Beteiligter das Unterhaltsverfahren betreiben und ein laufendes gerichtliches<br />

Verfahren übernehmen (sog. gewillkürter Beteiligtenwechsel, BGH, Beschl. v. 19.6.2013 – XII ZB 39/11,<br />

FamRZ 2013, 1378). Andernfalls muss der bisher betreuende Elternteil, der jetzt keine Verfahrensbefugnis<br />

mehr besitzt, die Rücknahme erklären. In beiden Fällen ist kein Einverständnis des Verfahrensgegners<br />

erforderlich.<br />

3. Formulierung des Antrags auf Minderjährigenunterhalt<br />

Kindesunterhalt kann unterschiedlich tituliert werden.<br />

• Als statischer Titel:<br />

Der Antragsgegner wird verpflichtet, an den Antragsteller zu Händen seines gesetzlichen Vertreters ab … einen<br />

monatlichen Unterhalt i.H.v. …€zu zahlen.<br />

• Als dynamischer Titel:<br />

Der Antragsgegner wird verpflichtet, an den Antragsteller zu Händen seines gesetzlichen Vertreters ab … einen<br />

monatlichen Unterhalt i.H.v. … % des Mindestunterhalts der jeweiligen Altersstufe, abzüglich des hälftigen<br />

anteiligen Kindergelds zu zahlen.<br />

Der dynamische Titel hat den Vorteil, dass bei der Änderung der Düsseldorfer Tabelle und der<br />

Altersstufe kein Abänderungsverfahren eingeleitet werden muss.<br />

Das minderjährige Kind hat einen Anspruch auf einen dynamischen und unbefristeten Titel über seinen<br />

Unterhalt (OLG Celle, Beschl. v. 15.12.2016 – 19 UF 134/16, FuR 2017, 683; OLG Bamberg, Beschl. v.<br />

14.5.2018 – 2 UF 14/18, FamRZ 2019, 30). Es obliegt der Entscheidung des Unterhaltsberechtigten, ob der<br />

Unterhalt in statischer oder in dynamisierter Form tituliert werden soll (OLG Dresden, Beschl. v. 3.1.2011<br />

– 20 WF 1189/10, FamRZ 2011, 1407).<br />

II. Die Vollstreckung von Unterhaltsbeschlüssen<br />

Nach § 120 Abs. 2 S. 1 FamFG sind Beschlüsse mit Wirksamwerden kraft Gesetzes vollstreckbar, ohne<br />

dass es hierzu einer Vollstreckbarerklärung des Gerichts bedarf. Nach § 120 Abs. 2 S. 2 FamFG ist die<br />

Vollstreckung nur dann mit der Entscheidung in der Hauptsache einzustellen oder zu beschränken,<br />

wenn der Verpflichtete glaubhaft macht, dass die Vollstreckung für ihn einen nicht zu ersetzenden<br />

Nachteil bringen würde.<br />

190 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1563<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Definition:<br />

Die Vollstreckung bringt dem Schuldner dann einen nicht zu ersetzenden Nachteil, wenn der Gläubiger<br />

wegen Mittellosigkeit voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die beigetriebenen Geldbeträge zurückzuerstatten<br />

(BGH, Beschl. v. 30.1.2007 – X ZR 147/06, FamRZ 2007, 554).<br />

§ 120 Abs. 2 S. 2 FamFG ist nicht anwendbar im Falle der Vollstreckung einer einstweiligen Anordnung<br />

in Familienstreitsachen.<br />

III. Unterhalt im Scheidungsverbund<br />

Kindesunterhalt und Ehegattenunterhalt können gem. § 137 FamFG in einem anhängigen Scheidungsantrag<br />

anhängig gemacht werden, indem eine Entscheidung für den Fall der Scheidung begehrt wird.<br />

Dann sind alle im Verbund eingeleiteten Folgesachen gemeinsam mit der Scheidungssache und einheitlich<br />

durch Beschluss zu entscheiden.<br />

IV.<br />

Abänderung von Unterhaltstiteln<br />

1. Die Abänderung von gerichtlichen Unterhaltstiteln<br />

Gerichtliche Unterhaltstitel regeln ein Dauerschuldverhältnis für die Zukunft und erwachsen im<br />

Hauptsacheverfahren in Rechtskraft. § 238 FamFG ermöglicht die Abänderung gerichtlicher Unterhaltstitel<br />

aus dem Hauptsacheverfahren unter Durchbrechung der Rechtskraft vorangegangener<br />

Unterhaltsentscheidungen. Voraussetzung ist eine wesentliche und nachträgliche Änderung der<br />

Rechtslage (hierzu gehört auch eine Änderung der gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung<br />

des BGH) oder der Tatsachen, die der damaligen Entscheidung zugrunde lagen.<br />

Hinweis:<br />

Eine einstweilige Anordnung kann nicht nach § 238 FamFG abgeändert werden.<br />

Der Abänderungsantrag ist nur insoweit zulässig, als die Gründe, auf die er gestützt wird, erst nach dem<br />

Schluss der mündlichen Verhandlung, in der eine Antragserweiterung oder die Geltendmachung von<br />

Einwendungen spätestens hätte erfolgen müssen, entstanden sind.<br />

Nach § 242 FamFG i.V.m. § 769 ZPO kann das Gericht auf Antrag die einstweilige Einstellung der<br />

Zwangsvollstreckung anordnen.<br />

Rechtsfolge eines erfolgreichen Abänderungsverfahrens ist keine völlig freie Neufestsetzung, sondern eine<br />

„entsprechende“ Anpassung der Entscheidung unter Wahrung ihrer Grundlagen (§ 238 Abs. 4 FamFG).<br />

a) Änderung der tatsächlichen Verhältnisse<br />

Die in der Praxis wichtigsten Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse sind z.B.<br />

• unterhaltsrechtlich relevante Einkommensveränderungen, die sich auf Leistungsfähigkeit oder Bedarf<br />

auswirken,<br />

• Veränderung der Erwerbsobliegenheiten eines Beteiligten,<br />

• Erhöhung des Unterhaltsbedarfs durch Wechsel in eine andere Altersstufe der Düsseldorfer Tabelle<br />

sowie Änderung der Tabellenbeträge (i.d.R. jeweils zum Jahreswechsel),<br />

• Hinzutreten weiterer Unterhaltsberechtigter durch Wiederheirat des Unterhaltsschuldners oder<br />

nacheheliche Geburt eines Kindes,<br />

• Verlust des Arbeitsplatzes und Arbeitslosigkeit trotz Erwerbsbemühungen,<br />

• Erbringen von Versorgungsleistungen zugunsten eines neuen Lebenspartners,<br />

• eigene Einkünfte des Kindes z.B. in Form des Bezugs von BAföG-Leistungen,<br />

• Wegfall von eheprägenden Verbindlichkeiten oder Unterhaltsverpflichtungen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 191


Fach 11, Seite 1564<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Nach § 238 Abs. 1 S. 2 FamFG ist weitere Voraussetzung einer Abänderung die wesentliche<br />

Veränderung der der vorausgegangenen Entscheidung zugrunde liegenden tatsächlichen oder rechtlichen<br />

Verhältnisse. Nach verbreiteter Ansicht liegt eine Wesentlichkeit erst bei einer Änderung der<br />

Zahlbeträge um 10 % vor. Dies stellt jedoch lediglich einen Richtwert dar. Bei beengten wirtschaftlichen<br />

Verhältnissen kann eine Wesentlichkeit bereits deutlich unterhalb dieser Schwelle von 10 % angenommen<br />

werden (BGH, Urt. v. 29.1.1992 – XII ZR 239/90, NJW 1992, 1621). Eine Änderung der Bedarfssätze<br />

der Düsseldorfer Tabelle deutet in aller Regel darauf hin, dass die zugrunde liegenden wirtschaftlichen<br />

Veränderungen wesentlich sind (OLG Hamm, Beschl. v. 29.4.2011 – II-6 WF 128/11, FamRZ 2012, 53).<br />

b) Präklusion<br />

Ein Abänderungsantrag kann nur auf geänderte Tatsachen gestützt werden. Ausgeschlossen sind daher<br />

solche Umstände, die bereits der damaligen Entscheidung zugrunde gelegen haben oder die seinerzeit<br />

vorhanden waren, aber nicht in die Entscheidung eingeflossen sind (Tatsachenpräklusion). Dies ist<br />

einmal der Fall, wenn eine für die Unterhaltsbemessung relevante Tatsache vom damaligen Gericht<br />

übersehen worden ist (dann wäre ein Rechtsmittel erforderlich gewesen) oder vom Beteiligten gar nicht<br />

im Verfahren vorgetragen worden ist.<br />

Da gerichtliche Unterhaltsentscheidungen ein Dauerschuldverhältnis regeln und auf diese Weise in die<br />

Zukunft wirken, liegt ihnen auch immer eine Prognoseentscheidung zugrunde, nämlich die Überlegung,<br />

dass die Verhältnisse in der Zukunft gleich bleiben. Auf der Grundlage der in diesem Verfahren<br />

vorgetragenen Tatsachen versucht das Gericht, die Entwicklung des Unterhalts vorherzusehen.<br />

Der BGH hat in mehreren Entscheidungen deutlich gemacht, dass das Gericht bereits im Erstverfahren<br />

entscheiden muss, soweit eine Entscheidung aufgrund der gegebenen Sachlage und der zuverlässig<br />

voraussehbaren Umstände möglich ist (BGH, Beschl. v. 4.7.2018 – XII ZB 122/17, FamRZ 2018, 1421; BGH<br />

Beschl. v. 15.7.2015 – XII ZB 369/14, FamRZ 2015, 1694; BGH, Urt. v. 12.1.2011 – XII ZR 83/08, FamRZ 2011,<br />

454). Zumindest aus Gründen der anwaltlichen Vorsicht sollte daher in Unterhaltsverfahren davon<br />

ausgegangen werden, dass sicher bzw. zuverlässig vorhersehbare Änderungen bereits im Erstverfahren<br />

vorzutragen sind, um einem späteren Präklusionseinwand vorzubeugen.<br />

Zukünftige Umstände sind jedenfalls dann zuverlässig vorhersehbar, wenn zwei Faktoren eindeutig<br />

festgelegt werden können:<br />

1. der Zeitpunkt des Eintritts dieser Veränderung (Faktor „Zeit“) und<br />

2. die finanziellen Auswirkungen dieser Veränderung auf die Unterhaltsbemessung (Faktor „Geld“).<br />

c) Zeitgrenze<br />

Die Abänderung ist nach § 238 Abs. 3 S. 1 FamFG möglich ab Rechtshängigkeit – also förmlicher<br />

Zustellung – des Antrags. Jedoch sind unter besonderen Umständen auch rückwirkende Änderungen<br />

des Titels möglich.<br />

Ein Antrag auf Erhöhung des Unterhalts ist nach § 238 Abs. 3 S. 2 FamFG für die Zeit zulässig, für die<br />

nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts Unterhalt für die Vergangenheit verlangt werden kann.<br />

Dies kann einmal durch eine bezifferte Zahlungsaufforderung erfolgt sein, zum anderen aber auch gem.<br />

§ 1613 BGB durch ein korrektes Auskunftsverlangen. Entsprechend ist die Abänderung für die Vergangenheit<br />

von dem Zeitpunkt an möglich, zu welchem der Verpflichtete zum Zwecke der Geltendmachung<br />

des Unterhaltsanspruchs aufgefordert worden ist, über seine Einkünfte und sein Vermögen<br />

Auskunft zu erteilen. Den Zugang eines solchen Verlangens muss der Auffordernde nachweisen. Es<br />

ist ausreichend, aber auch erforderlich, dass die Aufforderung zur Auskunftserteilung Bezug zum<br />

bestehenden Unterhaltstitel aufweist und erkennbar darauf ausgerichtet ist, eine Erhöhung des<br />

titulierten Unterhalts zu erreichen (BGH, Urt. v. 22.11.2006 – XII ZR 24/<strong>04</strong>, NJW 2007, 511).<br />

192 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1565<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

§ 238 Abs. 3 S. 3 FamFG bestimmt für Anträge auf Herabsetzung des Unterhalts, dass diese auch für die Zeit<br />

ab dem Ersten des auf ein entsprechendes Auskunfts- oder Verzichtsverlangen des Antragstellers folgenden<br />

Monats zulässig sind. Auf diese Weise wird die Gleichbehandlung von Gläubiger und Schuldner erreicht.<br />

Das auf eine Herabsetzung gerichtete Verlangen unterliegt spiegelbildlich den Voraussetzungen, für die<br />

nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts Unterhalt für die Vergangenheit verlangt werden kann<br />

(vgl. § 1613 Abs. 1 BGB). Erforderlich ist daher entweder ein Auskunftsverlangen mit dem Ziel der<br />

Herabsetzung des Unterhalts gegenüber dem Unterhaltsgläubiger oder eine „negative Mahnung“, also<br />

die Aufforderung an den Unterhaltsgläubiger, teilweise oder vollständig auf den titulierten Unterhalt zu<br />

verzichten. Diesen Anforderungen genügt eine Mitteilung des Unterhaltsschuldners an den Unterhaltsgläubiger,<br />

in welcher der Unterhaltsschuldner schlüssig darlegt, dass nunmehr nur noch ein geringerer<br />

Unterhalt geschuldet sei, und den Unterhaltsgläubiger ernsthaft zu der Erklärung auffordert, die<br />

Herabsetzung des Unterhalts zu akzeptieren.<br />

d) Darlegungs- und Beweislast<br />

Grundsätzlich muss auch im Abänderungsverfahren nach § 238 FamFG der Antragsteller die Grundlagen<br />

des früheren Unterhaltstitels und die inzwischen eingetretenen Veränderungen darlegen und beweisen<br />

(BGH, Urt. v. 5.5.20<strong>04</strong> – XII ZR 15/03, FamRZ 20<strong>04</strong>, 1179).<br />

Betrifft der Abänderungsantrag den während der Minderjährigkeit titulierten Unterhaltsanspruch<br />

eines jetzt volljährigen Kindes, ist dieses für den Fortbestand des Unterhaltsanspruchs in der titulierten<br />

Höhe darlegungs- und beweispflichtig. Die Tatsache der Volljährigkeit führt zu einer Verlagerung der<br />

Darlegungs- und Beweislast auf das volljährige Kind, das das Fortbestehen der rechtlichen Grundlagen<br />

des Unterhaltsanspruchs und seine Bedürftigkeit darlegen muss, und zwar auch in einem Abänderungsverfahren<br />

des Unterhaltspflichtigen. Erforderlich ist also auch im Abänderungsverfahren eines<br />

Elternteils insb. der schlüssige Vortrag, welcher Haftungsanteil auf den antragstellenden Elternteil<br />

entfällt (BGH, Beschl. v. 7.12.2016 – XII ZB 422/15, FamRZ 2017, 370 mit Anm. KNITTEL; SCHWONBERG in<br />

Eschenbruch/Schürmann, Unterhaltsprozess, 2014, Kap. 2 Rn 1143 m.w.N.; OLG Bremen, Beschl.<br />

v. 29.6.2011 – 4 WF 51/11, NJW 2011, 2596).<br />

2. Die Abänderung von Unterhaltsvergleichen und vollstreckbaren Urkunden<br />

Die Änderung von gerichtlichen Vergleichen nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und vollstreckbaren Urkunden,<br />

sofern sie eine Verpflichtung zu künftig fällig werdenden wiederkehrenden Leistungen enthalten, richtet<br />

sich nach § 239 FamFG. Eine nach § 59 Abs. 1 S. 1 SGB VIII errichtete Jugendamtsurkunde steht nach § 60<br />

SGB VIII in ihrer vollstreckungsrechtlichen Wirkung einer durch das Gericht oder den Notar errichteten<br />

Urkunde gleich und unterliegt somit ebenfalls der Abänderung nach § 239 FamFG.<br />

Die Vertragspartner können die Kriterien der Abänderbarkeit selbst bestimmen. Andernfalls gelten die<br />

Regeln über die Störung bzw. den Wegfall der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB.<br />

Dabei unterliegt die Abänderung eines Vergleichs weder einer Wesentlichkeitsgrenze noch einer<br />

zeitlichen Beschränkung. Daher kann ein solcher Titel rückwirkend auch schon für die Zeit vor Erhebung<br />

des Abänderungsantrags ab dem Zeitpunkt abgeändert werden, in dem materiell-rechtlich ein Wegfall der<br />

Geschäftsgrundlage eingetreten ist. Allerdings müssen bei einer rückwirkenden Mehrforderung die<br />

Voraussetzungen des § 1613 Abs. 1 BGB vorliegen (OLG Naumburg, Urt. v. 8.12.2009 – 3 UF 9/09, FamRZ<br />

2010, 1458).<br />

Allerdings kann der Verzicht auf eine vorherige Aufforderung des Gegners zur freiwilligen Abänderung<br />

des Titels zur Ablehnung der Verfahrenskostenhilfe wegen Mutwilligkeit führen (OLG München, Beschl.<br />

v. 29.9.2010 – 33 WF 1567/10, FamRZ 2011, 386 [LS]; OLG Hamburg, Beschl. v. 5.12.012 – 7 WF 117/12,<br />

NJW 2013, 2<strong>04</strong>2) und dem Gegner die Möglichkeit eines sofortigen Anerkenntnisses mit der negativen<br />

Kostenfolge des § 243 Nr. 4 FamFG geben (OLG Oldenburg, Beschl. v. 15.2.2011 – 14 UF 213/10,<br />

FamRZ 2011, 1090; OLG Hamm, Beschl. v. 2.2.2011 – 8 WF 262/10, FamRZ 2011, 1245; OLG Stuttgart,<br />

Beschl. v. 31.8.2011 – 17 UF 194/11, FamRZ 2012, 809).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 193


Fach 11, Seite 1566<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Rechtsfolge ist eine richterliche Vertragsanpassung nach sorgfältiger Prüfung unter Berücksichtigung<br />

der Interessen beider Beteiligter. Es genügt nicht, dass ein weiteres Festhalten am Vereinbarten nur für<br />

einen Beteiligten unzumutbar erscheint; vielmehr muss das Abgehen vom Vereinbarten beiden<br />

Beteiligten zumutbar sein.<br />

Den die Abänderung begehrenden Antragsteller trifft die vollumfängliche Darlegungs- und Beweislast<br />

dafür, welche Umstände der damaligen Vereinbarung zugrunde gelegen haben und dass sich die<br />

maßgeblichen Verhältnisse seit dem Vergleichsschluss überhaupt geändert haben. Beruft sich ein<br />

Beteiligter darauf, dass in der Vereinbarung ausdrücklich auch eine Abänderbarkeit für den Fall einer<br />

späteren Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ausgeschlossen sei, trägt er hierfür die Darlegungsund<br />

Beweislast (BGH, Urt. v. 25.11.2009 – XII ZR 8/08; FamRZ 2010, 192, 194; NJW 2010, 444).<br />

3. Besonderheiten bei einseitigen notariellen Verpflichtungserklärungen und Jugendamtsurkunden<br />

(§§ 59 Abs. 1 Nr. 3, 60 SGB VIII)<br />

Bei einseitigen Unterhaltsverpflichtungen ergibt sich aus der Urkunde selbst nur eine Bindungswirkung<br />

für den Unterzeichner der Verpflichtungserklärung, der keine freie Abänderung der von ihm einseitig<br />

errichteten Jugendamtsurkunde ohne Berücksichtigung von deren Bindungswirkung beantragen kann<br />

(BGH, Urt. v. 4.5.2011 – XII ZR 70/09, NJW 2011, 1874, 1876).<br />

Erfolgreich ist sein Änderungsverlangen nur dann, wenn eine nachträgliche Änderung der tatsächlichen<br />

Umstände, des Gesetzes oder der höchstrichterlichen Rechtsprechung mit Auswirkungen auf die Höhe<br />

seiner Unterhaltspflicht eingetreten ist. Dazu muss er auch die seiner damaligen Verpflichtung nach<br />

Grund und Höhe zugrunde liegenden Umstände darlegen.<br />

Auch der Unterhaltsberechtigte muss, um eine Erhöhung der titulierten Zahlungen zu erreichen, einen<br />

Abänderungsantrag stellen. Er muss allerdings nur dann Abänderungsgründe vortragen, wenn der<br />

einseitigen Verpflichtungserklärung eine Vereinbarung der Beteiligten zugrunde liegt (BGH, Urt.<br />

v. 4.5.2011 – XII ZR 70/09, NJW 2011, 1874).<br />

4. Abänderungsantrag<br />

Der Antrag muss den abzuändernden Titel genau bezeichnen und den Betrag, auf den der Unterhalt<br />

abgeändert werden soll, nennen. Zumindest bei einer rückwirkend verlangten Abänderung sollte der<br />

Termin genannt werden, zu dem die Abänderung erfolgen soll; andernfalls besteht die Gefahr, dass das<br />

Gericht die Abänderung erst vom Zeitpunkt der Zustellung an ausspricht.<br />

V. Die Kosten des Unterhaltsverfahrens (§ 243 FamFG)<br />

Nach § 243 FamFG erfolgt die Kostenverteilung nach billigem Ermessen, wobei die wesentlichen<br />

Gesichtspunkte unter Nr. 1 bis Nr. 4 aufgezählt sind:<br />

• Kostenverteilung im Verhältnis von Obsiegen und Unterliegen, § 243 Nr. 1,<br />

• Auskunftsverweigerung, § 243 Nr. 2,<br />

• Ungenügende Auskunft gegenüber dem Gericht, § 243 Nr. 3,<br />

• Sofortiges Anerkenntnis, § 243 Nr. 4.<br />

VI. Die einstweilige Unterhaltsanordnung (§ 246 FamFG)<br />

Das Verfahren der einstweiligen Anordnung soll einen schnellen Unterhaltstitel ermöglichen, ist aber in<br />

der Praxis nicht ohne Risiken.<br />

In Unterhaltssachen ist wegen der Spezialregelung des § 246 FamFG kein dringendes Bedürfnis für ein<br />

sofortiges Tätigwerden erforderlich. Ein Anordnungsanspruch besteht, wenn sich nach dem Ergebnis<br />

194 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1567<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

des summarischen Erkenntnisverfahrens ein materiell-rechtlicher Unterhaltsanspruch des Anspruchsstellers<br />

für das Gericht ergibt. Allerdings kann im Verfahren der einstweiligen Unterhaltsanordnung nur<br />

zukünftiger Unterhalt, aber kein rückständiger Unterhalt tituliert werden.<br />

Die Begründung muss die wesentlichen verfahrensrechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen<br />

enthalten; zudem sind die Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 S. 2 FamFG glaubhaft zu machen.<br />

Die Glaubhaftmachung nach § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 294 ZPO erfolgt in der Praxis regelmäßig durch<br />

Vorlage von Belegen über die finanziellen Verhältnisse der Beteiligten, seltener durch eine Versicherung<br />

an Eides statt.<br />

Nach § 246 Abs. 2 FamFG ergeht die Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung, wenn dies zur<br />

Aufklärung des Sachverhalts oder für eine gütliche Streitbeilegung geboten erscheint. Damit ist die<br />

mündliche Verhandlung vom Gesetzgeber als Regelfall gewollt, bevor eine einstweilige Anordnung in<br />

Unterhaltssachen ergeht. Nur in einfach gelagerten oder besonders eilbedürftigen Fällen kann die<br />

Entscheidung ausnahmsweise ohne mündliche Verhandlung erfolgen.<br />

Im Antrag kann der volle Unterhalt geltend gemacht werden. Das Gericht kann auch einen in der Höhe<br />

begrenzten oder zeitlich befristeten Unterhalt zusprechen. Das auf einer nur summarischen Prüfung<br />

beruhende Verfahren der einstweiligen Anordnung ist auch nicht dazu vorgesehen, unklare Sachverhalte<br />

oder schwere Rechtsfragen zu klären. In diesen Fällen muss mit einer kostenpflichtigen<br />

Zurückweisung des Antrags gerechnet werden.<br />

Für das Verfahren der einstweiligen Unterhaltsanordnung – geregelt in den §§ 246 i.V.m. 49–57<br />

FamFG – besteht kein Anwaltszwang.<br />

Das Gericht entscheidet über den Unterhaltsanordnungsantrag durch zu begründenden Beschluss,<br />

der auch eine Kostenentscheidung enthält. Beim Verfahrenswert wird grds. die Hälfte des für die<br />

Hauptsache bestimmten Hauptsachewertes angesetzt, mithin der sechsfache Wert des Unterhaltsantrags,<br />

vgl. § 41 S. 2 FamGKG.<br />

Beachte:<br />

Die einstweilige Unterhaltsanordnung ist nach § 57 S. 1 FamFG nicht anfechtbar.<br />

Die einstweilige Anordnung schafft lediglich eine einstweilige Vollstreckungsmöglichkeit wegen<br />

eines vorläufig als bestehend angenommenen Anspruchs. Sie ist der Rechtskraft nicht fähig und kann<br />

mit Rückwirkung aufgehoben werden. Daher nimmt der Erlass einer einstweiligen Unterhaltsanordnung<br />

dem Unterhaltsgläubiger nicht das Rechtsschutzbedürfnis für ein Hauptsacheverfahren<br />

(OLG Thüringen, Beschl. v. 27.9.2010 – 1 WF 327/10, FamRZ 2011, 491; OLG München, Beschl.<br />

v. 30.8.2011 – 11 W 1535/11, FamRZ 2012, 391).<br />

Die einstweilige Unterhaltsanordnung ist eine Eilmaßnahme, d.h. es bedarf auch keiner Wirksamkeitsanordnung<br />

nach § 116 Abs. 3 FamFG – vielmehr ist die Unterhaltsanordnung mit Erlass der Verkündung<br />

sofort wirksam und vollziehbar. Der Unterhaltsanordnungsbeschluss ist vollstreckbar nach §§ 7<strong>04</strong> ff.<br />

ZPO (vgl. § 120 Abs. 1 FamFG); es bedarf nach § 53 Abs. 1 FamFG keiner Vollstreckungsklausel.<br />

Die einstweilige Anordnung tritt nach § 56 Abs. 1 FamFG bei Wirksamwerden einer anderweitigen<br />

Regelung außer Kraft, es sei denn, das Gericht hat einen früheren Zeitpunkt bestimmt. Erforderlich ist<br />

dafür die Rechtskraft einer anderweitigen Regelung in der betreffenden Unterhaltssache.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 195


Fach 11, Seite 1568<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Das Familiengericht kann nach § 54 Abs. 1 S. 1 FamFG auf Antrag die Entscheidungen in der einstweiligen<br />

Anordnungssache aufheben oder ändern. Die Änderung ist nur aufgrund neuer Tatsachen möglich, die<br />

der Antragsteller vortragen muss.<br />

Der im Verfahren unterlegene Beteiligte kann sich durch einen Antrag nach § 52 Abs. 2 FamFG zur Wehr<br />

setzen. Dann wird dem Beteiligten, der die einstweilige Anordnung erwirkt hat, aufgegeben, binnen<br />

einer zu bestimmenden Frist Antrag auf Einleitung des Hauptsacheverfahrens oder Antrag auf<br />

Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für das Hauptsacheverfahren zu stellen, § 52 Abs. 2 S. 1 FamFG.<br />

Dieses Fristsetzungsverfahren nach § 52 Abs. 2 FamFG ist aber i.d.R. ungeeignet, um eine schnelle<br />

Klärung der Berechtigung der einstweiligen Unterhaltsanordnung herbeizuführen, da der Berechtigte<br />

das Verfahren so verzögern kann, um weiter aus der einstweiligen Anordnung zu vollstrecken.<br />

Die h.M. gibt daher auch dem Unterhaltschuldner die Möglichkeit, mit einem negativen Feststellungsantrag<br />

(verbunden mit einem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 242<br />

FamFG) selbst die Initiative zu ergreifen.<br />

Ein Abänderungsverfahren nach § 238 Abs. 1 FamFG ist nicht zulässig, da diese Vorschrift eine<br />

Abänderung nur von „Endentscheidungen“ erlaubt. Die einstweilige Unterhaltsanordnung ist hingegen<br />

nur eine vorläufige Regelung (vgl. §§ 49 Abs. 1, 246 Abs. 1 FamFG).<br />

VII. Die Durchsetzung des Auskunftsanspruchs (§ 1605 BGB)<br />

Der materielle Auskunftsanspruch leitet sich aus § 1605 BGB ab. Darüber hinaus ist die Vorschrift auf<br />

den Unterhaltsanspruch zwischen den nicht verheirateten Eltern eines Kindes (§ 1615l Abs. 3 S. 1 BGB),<br />

zwischen getrennt lebenden (§ 1361 Abs. 4 S. 4 BGB) und geschiedenen Eheleuten (§ 1580 S. 2 BGB) sowie<br />

für den nachpartnerschaftlichen Anspruch nach § 16 LPartG anwendbar.<br />

Die Auskunft soll die die notwendigen Kenntnisse verschaffen, um den Unterhalt zutreffend berechnen<br />

zu können und so mittels Information einen Rechtsstreit zu vermeiden.<br />

Die Auskunft ist nach § 1605 Abs. 1 S. 1 BGB über Einkünfte und Vermögen zu erteilen. Sie wird<br />

umfassend geschuldet und hat alle Positionen zu enthalten, die insb. für die Beurteilung der<br />

Leistungsfähigkeit von Bedeutung sein können. Solche Positionen sind die Bezüge, Abzüge und<br />

Belastungen sowie u.U. auch das Vorhandensein von anderen vor- und gleichrangigen Unterhaltsberechtigten.<br />

Die Auskunft ist nach §§ 260, 261 BGB zu erteilen. Sie hat die systematische Zusammenstellung aller<br />

erforderlichen Angaben zu umfassen, die notwendig sind, um dem Auskunftsberechtigten ohne<br />

übermäßigen Arbeitsaufwand eine Berechnung seiner Unterhaltsansprüche zu ermöglichen. Die<br />

Auskunft ist eine Wissenserklärung, die der Schriftform bedarf und vom Auskunftspflichtigen persönlich<br />

in einem Schreiben zu erteilen ist (KG, Beschl. v. 30.1.2015 – 17 WF 1/15, FamRZ 2015, 1974). Der Anwalt ist<br />

nur Bote bei der Überbringung der persönlichen Erklärung des Mandanten.<br />

Der unselbstständige Arbeitnehmer hat das tatsächlich erzielte Einkommen (Bruttogehalt, gesetzliche<br />

Abzüge wie Steuern und Sozialabgaben, unterjährige Sonderzahlungen, Spesen, Auslösungen, Tantiemen,<br />

Einkünfte aus Nebentätigkeit, Krankengeld und sonstige Sozialleistungen, Kapitaleinkünfte,<br />

Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung) anzugeben. Dazu zählt auch, ob und mit welchem<br />

Ergebnis ein Steuererstattungsverfahren durchgeführt wurde. Vom selbstständig Erwerbstätigen kann<br />

regelmäßig Auskunft für einen Dreijahreszeitraum verlangt werden.<br />

Beachte:<br />

Der im gerichtlichen Verfahren gestellte Auskunftsantrag muss hinreichend bestimmt sein; andernfalls ist<br />

er nicht vollstreckbar.<br />

196 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1569<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Nach § 1605 Abs. 1 S. 2 BGB ist die Vorlage von Belegen geschuldet; dieser Anspruch bedarf der<br />

gesonderten Titulierung. Belege, die ein Auskunftspflichtiger vorlegen soll, müssen in dem Titel<br />

bezeichnet und daher jedenfalls in den Entscheidungsgründen konkretisiert werden. Hierzu ist es<br />

jedenfalls erforderlich, dass aus dem Titel der Zeitraum, auf den sich die vorzulegenden Belege beziehen<br />

müssen, hervorgeht (BGH, Beschl. v. 3.7.2019 – XII ZB 116/19, FamRZ 2019, 1442; BGH, Beschl. v. 11.5.2016 –<br />

XII ZB 12/16, FamRZ 2016, 1448).<br />

Der unselbstständig tätige Unterhaltspflichtige hat die Lohn- bzw. Gehaltsbescheinigungen i.d.R. für<br />

den Jahreszeitraum (letztes Kalenderjahr oder die vergangenen zwölf Monate) vorzulegen. Hinzu<br />

kommen ggf. Abrechnungen über Spesen und Auslösungen, Krankengeld-, Arbeitslosengeld-, Arbeitslosenhilfe-<br />

oder Rentenbescheide. Die Vorlagepflicht umfasst auch Steuerbescheide, die in dem von der<br />

Auskunft umfassten Zeitraum ergangen sind, sowie die Steuererklärung (BGH, Urt. v. 29.6.1983 – IVb ZR<br />

391/81, NJW 1983, 2243). Der Selbstständige hat auf Verlangen die Bilanzen nebst Gewinn- und<br />

Verlustrechnungen, die Einkommensteuererklärung und den Einkommensteuerbescheid vorzulegen.<br />

Die Vollstreckung aus dem Auskunftstitel kann sich nach § 887 ZPO oder nach § 888 ZPO richten, je<br />

nachdem ob die vorzunehmende Handlung nur von dem Schuldner selbst (Regelfall, § 888 ZPO mit der<br />

Möglichkeit der Zwangsgeldfestsetzung und Zwangshaft) oder selbstständig von Dritten (§ 887 ZPO mit<br />

der Möglichkeit der Ersatzvornahme) vorgenommen werden kann.<br />

Der Verfahrenswert des Auskunftsanspruchs beträgt i.d.R. einen Bruchteil des Leistungsanspruchs,<br />

meist 1/5 des Jahresbetrags des vom Antragsteller erstrebten Unterhalts.<br />

VIII. Die Beschwerde in Unterhaltssachen (§§ 58 ff., 117 FamFG)<br />

Gegen eine Hauptsacheentscheidung kann Beschwerde eingelegt werden, wenn der Beschwerdegegenstand<br />

600 € übersteigt.<br />

Die Beschwerde ist frist- und formgerecht gem. §§ 63, 64 FamFG zu erheben. Sie kann wirksam nur<br />

bei dem Gericht eingelegt werden, dessen Entscheidung angefochten wird, vgl. § 64 Abs. 1 FamFG. Es<br />

ist nicht möglich, bei dem Beschwerdegericht selbst Beschwerde einzulegen. Die Beschwerde darf<br />

auch keinesfalls „bedingt“ eingelegt werden, etwa durch Verfahrenskostenhilfe-Bewilligung. Dies ist<br />

unzulässig (vgl. BGH, Beschl. v. 8.12.2010 – XII ZB 140/10, FamRZ 2011, 366).<br />

Die Beschwerdeeinlegungsfrist beträgt nach § 63 Abs. 1 FamFG einen Monat und beginnt mit der – von<br />

Amts wegen erfolgenden – Zustellung des in vollständiger schriftlicher Form abgefassten Unterhaltsbeschlusses<br />

(§ 63 Abs. 3 FamFG).<br />

§ 117 Abs. 1 S. 1 FamFG statuiert abweichend von § 65 FamFG eine allgemeine Begründungspflicht für<br />

Beschwerden in Unterhaltssachen. Danach muss der Beschwerdeführer einen bestimmten Sachantrag<br />

stellen und diesen begründen.<br />

IX. Verfahrenskostenhilfe im Unterhaltsverfahren<br />

Die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe (Verfahrenskostenhilfe – VKH) setzt zunächst einen<br />

entsprechenden Antrag voraus.<br />

Die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung muss hinreichende Aussicht auf Erfolg<br />

bieten. Erforderlich ist die Zulässigkeit des beabsichtigten Verfahrens und die schlüssige Darlegung des<br />

Anspruchs mit Beweisantritt.<br />

Die Verfahrenskostenhilfebedürftigkeit hängt nach § 115 ZPO vom Einkommen und Vermögen des<br />

Antragstellers ab. Bei der Verfahrensstandschaft nach § 1629 Abs. 3 BGB ist nicht auf das Kind, sondern<br />

auf den klagenden Elternteil abzustellen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 197


Fach 11, Seite 1570<br />

Basiswissen Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Auch ein Anspruch auf einen Verfahrenskostenvorschuss (VKV) z.B. gegen die Ehefrau zählt zum<br />

Vermögen. Die Versagung von VKH wegen eines Vorschussanspruchs ist jedoch nur möglich, wenn der<br />

Anspruch realisierbar ist, d.h. unzweifelhaft besteht und kurzfristig durchsetzbar ist.<br />

Praxishinweis:<br />

Zu bedenken ist in der anwaltlichen Praxis, dass die Bewilligung der Verfahrenskostenhilfe immer nur<br />

eine Entlastung der eigenen Kosten des Mandanten bewirkt, nicht aber im Fall eines ganz oder teilweise<br />

verlorenen Verfahrens vor den Kosten der Gegenseite schützt. Ein zu optimistisch gestellter Antrag<br />

trägt daher erhebliche Risiken für den Mandanten in sich.<br />

Zudem ist die Bewilligung der Verfahrenskosten gegen Ratenzahlung letztlich nur ein zinsloser<br />

Staatskredit, bei dem im Ergebnis der Mandant alle Kosten selbst tragen muss.<br />

Die Prüfung erfolgt grds. aufgrund des Sach- und Streitstands zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife<br />

des VKH-Gesuchs.<br />

Mutwillig handelt eine Partei stets dann, wenn sie ihre Rechte in gleicher Weise, jedoch auf einem<br />

billigeren Wege verfolgen könnte. Maßstab für die Beurteilung der Mutwilligkeit ist letztlich das<br />

hypothetische Verhalten einer selbstzahlenden Partei, die sich in der Situation des Antragstellers<br />

befindet, ihre Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt.<br />

In der Praxis kommt es nicht selten vor, dass ein Antragsteller VKH für Unterhalt begehrt und dabei eine<br />

– für den Antragsgegner erkennbar – zu positive Berechnung vorlegt. So werden z.B. die Einkünfte<br />

deutlich besser dargestellt und Abzüge wie Schuldenbelastungen, weitere Unterhaltsforderungen von<br />

nichtehelichen Kindern usw. „vergessen“.<br />

Der Antragsgegner könnte diese – übersetzte – Forderung bereits im VKH-Prüfungsverfahren mit<br />

wenigen Sätzen entkräften, die Bewilligung der VKH für den Antragsteller verhindern und so die<br />

Rechtshängigkeit der Forderung verhindern. Stattdessen schweigt er im VKH-Prüfungsverfahren.<br />

Nachdem das Gericht dem Antragsteller daraufhin für die – überhöhte – Forderung VKH bewilligt hat,<br />

stellt der Antragsgegner Abweisungsantrag und beantragt seinerseits VKH.<br />

Umstritten ist, ob bei Schweigen des Antragsgegners im VKH-Verfahren dessen späteren VKH-Antrag<br />

der Einwand der Mutwilligkeit entgegengehalten werden kann (Mutwilligkeit bejahen z.B. OLG Celle,<br />

Beschl. v. 12.8.2011 – 10 WF 299/10, FamRZ 2012, 47; OLG Köln, Beschl. v. 11.8.2011 – 26 WF 143/11, FamRB<br />

2012, 11; OLG Oldenburg, Beschl. v. 17.2.2009 – 13 WF 24/09, FamRZ 2009, 895; Mutwilligkeit verneint<br />

z.B. OLG Oldenburg, Beschl. v. 25.4.2012 – 3 WF 98/12, FamRZ 2013, 59). Auf dieses Risiko sollte der<br />

Mandant hingewiesen werden.<br />

Praxishinweis:<br />

Zu bedenken ist in der anwaltlichen Beratungspraxis, dass auch ein letztlich gewonnenes gerichtliches<br />

Verfahren nicht immer dazu führt, die eigenen Kosten vom Gegner erstattet zu bekommen. Ist der<br />

Gegner mittellos – dies ist bei Antragstellern im Unterhaltsverfahren nicht selten –, bekommt auch<br />

der obsiegende Antragsgegner seine Anwaltskosten nicht erstattet und muss sie selbst zahlen.<br />

Wird der VKH-Antrag vom Familiengericht abgelehnt, ist dagegen die sofortige Beschwerde nach § 113<br />

Abs. 1 S. 2 FamFG i.V.m. §§ 127 Abs. 2, Abs. 3, 567 ff. ZPO zulässig (vgl. dazu ROßMANN, Unterhaltsprozess,<br />

Kap. 3 Rn 1074 ff.).<br />

198 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1009<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

Strafverfahren<br />

Hauptverhandlung – StPO-Änderungen 2019<br />

Modernisierung des Strafverfahrens – Teil 2: Hauptverhandlung<br />

Von Rechtsanwalt DETLEF BURHOFF, RiOLG a.D., Leer/Augsburg<br />

Inhalt<br />

I. Vorbemerkung<br />

1. Gesetzgebungsverfahren<br />

2. Wesentlicher Inhalt der Neuregelung<br />

II. Änderungen im Ablehnungsrecht<br />

(§§ 25, 26, 29 StPO)<br />

1. Neuregelung<br />

2. Ablehnungszeitpunkt (§§ 25, 26 StPO)<br />

3. Ablehnungsverfahren (§ 29 StPO)<br />

4. Erfolgreiches Ablehnungsgesuch<br />

(§ 29 Abs. 4 StPO)<br />

III. Besetzungsfragen/-mitteilung<br />

(§§ 222a, 222b, 338 StPO)<br />

1. Neuregelung<br />

2. Änderungen im Überblick<br />

3. Rechtsmittelverfahren/Revision<br />

(§ 338 StPO)<br />

IV. Unterbrechung der Hauptverhandlung<br />

(§ 229 StPO)<br />

1. Neuregelung<br />

2. Erweiterung des Katalogs der Hemmungsgründe<br />

3. Höchstdauer der Hemmung<br />

V. Neuregelungen im Beweisantragsrecht<br />

(§§ 219, 244, 245 StPO)<br />

1. Neuregelung<br />

2. Legaldefinition des Begriffs des Beweisantrags<br />

(§ 244 Abs. 3 S. 1 StPO)<br />

3. Systematisierung der Ablehnungsgründe<br />

(§ 244 Abs. 3 S. 2 und 3 StPO)<br />

4. „Beweisersuchen“ mit dem Ziel der<br />

Prozessverschleppungsabsicht<br />

5. Beweisanträge im Ermittlungsverfahren<br />

(§ 219 StPO)<br />

6. Präsente Beweismittel (§ 245 Abs. 2 StPO)<br />

VI. Verhandlungsleitung/Gesichtsverhüllung<br />

(§ 68 StPO, § 176 GVG)<br />

1. Neuregelung<br />

2. Verbot der Gesichtsverhüllung (§ 176 GVG)<br />

3. Vernehmung von Personen/Zeugenschutz<br />

(§ 68 Abs. 3 S. 3 StPO)<br />

VII. Vorführung einer Bild-Ton-Aufnahme nach<br />

§ 255a StPO<br />

1. Neuregelung<br />

2. Zulässigkeit der Vorführung der Bild-Ton-<br />

Aufzeichnung (§ 255a Abs. 2 S. 1 StPO)<br />

VIII. Nebenklage (§§ 397a, 397b StPO)<br />

1. Neuregelung<br />

2. Erweiterung der Privilegierungstatbestände<br />

3. Gemeinschaftliche Nebenklage<br />

(§ 397b StPO)<br />

IX. Exkurs: Gerichtsdolmetschergesetz<br />

1. Neuregelung<br />

2. Regelungsüberblick<br />

I. Vorbemerkung<br />

1. Gesetzgebungsverfahren<br />

Das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens v. 10.12.2019“ ist am 13.12.2019 in Kraft getreten<br />

(BGBl I, S. 2121). Das Gesetz hat eine ganze Reihe – zum Teil wesentlicher – Änderungen in der StPO<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 199


Fach 22, Seite 1010<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

gebracht. Zu den das Ermittlungsverfahren betreffenden Änderungen s. Teil 1: Ermittlungsverfahren<br />

(<strong>ZAP</strong> F. 22, S. 997 ff.); der vorliegende zweite Teil schließt hieran an und stellt die wichtigsten<br />

Änderungen für die Hauptverhandlung vor.<br />

Hinweis:<br />

Da es sich um Verfahrensrecht handelt, sind die neuen Regelungen auch in den bereits laufenden<br />

Strafverfahren anzuwenden.<br />

2. Wesentlicher Inhalt der Neuregelung<br />

Das Gesetz trägt zwar den Begriff „Modernisierung“ im Namen, sein Ziel ist aber nicht ein moderneres<br />

Strafverfahren, was man z.B. mit einer technisch ohne Weiteres möglichen Dokumentation der<br />

Hauptverhandlung erreicht hätte, sondern im Wesentlichen, das Strafverfahren zu beschleunigen und<br />

zu verbessern (BT-Drucks 19/14747, S. 1 ff.; vgl. zum Gesetzgebungsverfahren BURHOFF <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 997 f.).<br />

Dazu ist für die Hauptverhandlung auf folgende Punkte hinzuweisen:<br />

• Verfahrensvereinfachung und Verfahrensbeschleunigung.<br />

• Für Besetzungsrügen ist ein Vorabentscheidungsverfahren eingeführt worden (wegen der Einzelh.<br />

s.u. III).<br />

• Das geänderte Befangenheitsrecht sieht vor, den abgelehnten Richter ohne Beschränkung während<br />

der Hauptverhandlung mitwirken zu lassen. Über den Befangenheitsantrag soll im Grundsatz spätestens<br />

bis vor Ablauf von zwei Wochen entschieden werden (wegen der Einzelh. s.u. II).<br />

• Im Beweisantragsrecht sollen Beweisersuchen, die mit dem Ziel der Prozessverschleppung gestellt<br />

werden, nicht mehr als Beweisantrag abgelehnt werden müssen. Auch soll es für die Prozessverschleppungsabsicht<br />

ohne Bedeutung sein, ob die Hauptverhandlung zu einer wesentlichen oder<br />

erheblichen Verzögerung führen würde (vgl. wegen der Einzelh. u. V).<br />

• Künftig sollen auch Mutterschutz und Elternzeit Gründe dafür sein, den Lauf der Unterbrechungsfrist<br />

bis zu einer Dauer von zwei Monaten zu hemmen (vgl. wegen der Einzelh. u. IV).<br />

• Verhüllungsverbot:<br />

Es soll den Verfahrensbeteiligten in Gerichtsverhandlungen generell verboten werden, ihr Gesicht<br />

ganz oder teilweise zu verdecken.<br />

• Stärkung des Opferschutzes:<br />

Zur Stärkung der Opferschutzes im Strafverfahren ist die Möglichkeit der audiovisuellen Vernehmung<br />

der (vermeintlichen) Opfer bestimmter schwerer Straftaten auf Vernehmungen von zur Tatzeit<br />

erwachsenen Opfern von Sexualstraftaten ausgedehnt worden (vgl. dazu schon <strong>ZAP</strong> F. 22,<br />

S. 1003 ff.). Diese Änderung hat eine Änderung bei der Vorführung von Bild-Ton-Aufzeichnungen zur<br />

Folge (vgl. u. VII).<br />

II.<br />

Änderungen im Ablehnungsrecht (§§ 25, 26, 29 StPO)<br />

Änderungen im Überblick:<br />

• Normen: §§ 25, 26, 29 StPO<br />

• Regelungsgehalt:<br />

• Zeitpunkt der Antragstellung (§ 25 StPO)<br />

• Teilnahme des abgelehnten Richters an der Hauptverhandlung (§ 29 StPO)<br />

• weiterer Gang der Hauptverhandlung (§ 29 StPO)<br />

• Verteidigerstrategie: Beanstandung; Verfahrensrüge?<br />

200 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1011<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

1. Neuregelung<br />

Das Ablehnungsverfahren ist zuletzt durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren<br />

Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 17.8.2017 (BGBl I, S. 320) geändert worden (vgl. dazu BURHOFF<br />

<strong>ZAP</strong> F. 22, S. 908 ff.). Hier hat das „Modernisierungs-Gesetz“ weitere – tiefgreifende – Einschnitte/<br />

Änderungen gebracht, die mit – angeblich zu viel – missbräuchlich gestellten Befangenheitsanträgen<br />

und einer weiteren Beschleunigung des Strafverfahrens begründet worden sind (vgl. dazu BT-Drucks<br />

19/14747, S. 21 f.). Zur Beseitigung dieses „Störpotenzials“ hat das Gesetz Änderungen/Einschnitte<br />

vorgenommen beim Ablehnungszeitpunkt (§ 25 StPO; vgl. dazu II 2) und beim Ablehnungsverfahren<br />

(§ 29 StPO; vgl. dazu II 3).<br />

2. Ablehnungszeitpunkt (§§ 25, 26 StPO)<br />

a) Allgemeines<br />

§ 25 Abs. 1 S. 1 StPO a.F. sah bislang vor, dass Befangenheitsanträge, deren Gründe vor oder bis zu Beginn<br />

der Hauptverhandlung entstanden und bekannt geworden waren, erst bis zum Beginn der Vernehmung<br />

des ersten Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse gestellt werden mussten. Eine Pflicht,<br />

bereits bekannte Ablehnungsgesuche unverzüglich schon vor Beginn der Hauptverhandlung anzubringen,<br />

bestand nicht. Das ist für einige Verfahren geändert worden.<br />

b) Sachlicher Anwendungsbereich<br />

Die neue Regelung in § 25 Abs. 1 S. 2 StPO sieht vor, dass in Verfahren, in denen die Besetzung nach<br />

§ 222a Abs. 1 S. 2 StPO vor Beginn der Hauptverhandlung mitgeteilt worden ist, Befangenheitsgründe,<br />

die dem Ablehnungsberechtigten vor Beginn der Hauptverhandlung bekannt geworden sind, nunmehr<br />

unverzüglich anzubringen sind.<br />

Hinweise:<br />

Da die sog. Besetzungsmitteilung nach § 222a StPO nur in erstinstanzlichen Verfahren vor dem LG und<br />

dem OLG erforderlich ist, gilt dieser frühzeitige Ablehnungszeitpunkt also grds. nur für dieses Verfahren.<br />

In allen anderen Verfahren, z.B. beim AG, bleibt es also bei der Regelung des § 25 Abs. 1 S. 1 StPO (dazu<br />

BURHOFF, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl. 2019, Rn 160 ff. [im Folgenden kurz:<br />

Burhoff, HV]).<br />

Für die Unverzüglichkeit i.e.S. (§ 121 BGB) haben sich keine Änderungen ergeben. Es gilt das bei BURHOFF,<br />

HV, Rn 168 ff. m.w.N. Ausgeführte weiterhin.<br />

c) „Unverzüglichkeitsfrist“<br />

Nach der Gesetzesbegründung (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 22) beginnt die Frist für die unverzügliche<br />

Anbringung mit Zustellung der Besetzungsmitteilung des § 222a StPO an den jeweiligen<br />

Ablehnungsberechtigten.<br />

Hinweis:<br />

Das bedeutet, dass der Verteidiger ab Erhalt der Besetzungsmitteilung nach § 222a StPO nun nicht mehr<br />

nur die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts prüfen muss, sondern auch (frühzeitig), ob bei Gerichtsmitgliedern<br />

ggf. Befangenheitsgründe vorliegen. Ein „Vorhaben“, das für auswärtige Verteidiger, wenn<br />

überhaupt, nur schwer zu erfüllen/erledigen sein wird.<br />

Auf dieser Grundlage ergibt sich folgende Stufenfolge für einen Ablehnungsantrag (so auch BT-Drucks<br />

19/14747, S. 22):<br />

• Stufe 1: War der Befangenheitsgrund gegen den Richter vor Mitteilung der Besetzung bekannt, ist<br />

das Befangenheitsgesuch unverzüglich nach Zustellung der Besetzungsmitteilung anzubringen. Denn<br />

dann steht fest, dass der potenziell befangene Richter mit dem Verfahren befasst ist. Zuwarten mit<br />

der Ablehnung ist nicht möglich (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 22).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 201


Fach 22, Seite 1012<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

• Stufe 2: Ist der potenzielle Befangenheitsgrund erst aus Anlass der Überprüfung der Besetzung<br />

innerhalb der Wochenfrist für die Besetzungsrüge bekannt geworden, muss das Befangenheitsgesuch<br />

unverzüglich gestellt werden, und zwar (auch) „entweder innerhalb der Wochenfrist oder jedenfalls<br />

sehr kurzfristig nach deren Ablauf“ (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 22).<br />

• Stufe 3: Entsteht der Befangenheitsgrund gegen einen Richter erst nach dem Ablauf der<br />

Wochenfrist des § 222b Abs. 1 S. 1 StPO oder wird er erst danach bekannt, muss das Befangenheitsgesuch<br />

ebenfalls unverzüglich angebracht werden. § 25 Abs. 2 S. 1 StPO formuliert ausdrücklich<br />

mit „Im Übrigen …“. Das bedeutet, dass regelmäßig nicht bis zum Beginn der Hauptverhandlung<br />

gewartet werden darf (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 22).<br />

Hinweis:<br />

Durch eine Ergänzung in § 26 Abs. 2 S. 1 StPO ist klargestellt, dass – ebenso wie bei den unverzüglich<br />

anzubringenden Gesuchen nach § 25 Abs. 2 StPO – bei den unverzüglich anzubringenden Befangenheitsgesuchen<br />

im Fall der Mitteilung der Besetzung nach § 222a Abs. 1 S. 2 StPO, die § 25 Abs. 1 S. 2 StPO<br />

jetzt vorsieht, die Voraussetzungen des rechtzeitigen Vorbringens, also die „Unverzüglichkeit“, glaubhaft<br />

zu machen sind.<br />

3. Ablehnungsverfahren (§ 29 StPO)<br />

a) Allgemeines<br />

Das Regelungsgefüge des Ablehnungsverfahrens in § 29 StPO ist grundlegend geändert worden. § 29<br />

enthält jetzt folgende Regelungen (wegen der Einzelh. s. II 3 b ff.):<br />

b) Grundsatz: Keine aufschiebbaren Handlungen (§ 29 Abs. 1 StPO)<br />

In § 29 Abs. 1 StPO ist ausdrücklich normiert, dass – wie früher schon in § 29 Abs. 1 S. 1 StPO – dem<br />

abgelehnten Richter die Vornahme aufschiebbarer Handlungen verboten ist. Das ist in Übereinstimmung<br />

mit dem früheren Recht auch weiterhin verboten. An der Begrifflichkeit „unaufschiebbare Handlung“ hat<br />

sich durch die Änderungen nichts geändert. Gemeint sind solche Handlungen, die wegen ihrer<br />

Dringlichkeit nicht warten können (BGHSt 48, 264; BGH NStZ 2002, 429; BURHOFF, HV, Rn 142 m.w.N.).<br />

Hinweis:<br />

Zum alten Recht bestand Streit, ob die Teilnahme des Richters an und/oder der Beginn der Hauptverhandlung<br />

„unaufschiebbar“ war (BURHOFF, HV, Rn 142 f. m.w.N.). Diese Streitfrage hat sich durch<br />

die Neuregelung erledigt. Denn in § 29 Abs. 2 S. 1 StPO ist jetzt ausdrücklich bestimmt, dass die<br />

Durchführung der Hauptverhandlung keinen Aufschub gestattet und sie bis zur Entscheidung über<br />

das Ablehnungsgesuch unter Mitwirkung des abgelehnten Richters stattfindet (vgl. sogleich II 3 c).<br />

Diese Regelung gilt für alle Ablehnungsanträge. Es wird nicht mehr zwischen solchen in der<br />

Hauptverhandlung und solchen, die kurz vor der Hauptverhandlung gestellt worden sind (vgl. § 29<br />

Abs. 1 S. 2 StPO a.F. [dazu BURHOFF, HV, Rn 147 f. m.w.N.]), unterschieden (BT-Drucks 19/14747, S. 23).<br />

c) Teilnahme des abgelehnten Richters an der Hauptverhandlung (§ 29 Abs. 2 StPO)<br />

In § 29 Abs. 2 S. 1 StPO ist jetzt die ausdrückliche Regelung enthalten, dass die richterliche Teilnahme an<br />

der Hauptverhandlung als unaufschiebbar gilt und der abgelehnte Richter an ihr zunächst – bis zur<br />

Entscheidung über das Ablehnungsgesuch – ohne Einschränkungen mitwirken darf. Die Geltung dieser<br />

(Neu-)Regelung ist unbeschränkt. Sie gilt also für die Mitwirkung des abgelehnten Richters an der<br />

Hauptverhandlung unabhängig davon, ob diese im Zeitpunkt der Anbringung des Ablehnungsgesuchs<br />

bereits begonnen hatte (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 23). Damit erfasst sie insb. auch den im<br />

früheren Recht in § 29 Abs. 1 S. 2 StPO geregelten Fall, dass der Vorsitzende oder das Gericht bereits vor<br />

Beginn der Hauptverhandlung abgelehnt worden ist (BURHOFF, HV, Rn 147 ff. m.w.N.).<br />

202 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1013<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

Der Gesetzgeber geht mit der Neuregelung davon aus, dass die Durchführung der Hauptverhandlung<br />

grds. keinen Aufschub gestattet (BT-Drucks 19/14747, S. 23). Das dürfte dazu führen, dass auch<br />

Handlungen außerhalb der Hauptverhandlung, die unmittelbar der Förderung der Durchführung der<br />

Hauptverhandlung dienen, wie z.B. Ladung von Zeugen und/oder Sachverständigen, unaufschiebbar<br />

sind. Aus § 29 Abs. 2 S. 1 StPO folgt aber nicht, dass eine noch nicht anberaumte Hauptverhandlung zu<br />

terminieren oder eine bereits anberaumte, aber noch nicht begonnene Hauptverhandlung unter<br />

Mitwirkung des abgelehnten Richters tatsächlich durchzuführen ist.<br />

Hinweis:<br />

Die Entscheidung, auch in diesen Fällen eine/die Hauptverhandlung unter Mitwirkung des abgelehnten<br />

Richters durchzuführen, ist eine Maßnahme der Verhandlungsleitung des Vorsitzenden. Im Hinblick auf<br />

§ 338 Abs. 8 StPO muss der Verteidiger diese Anordnung nach § 238 Abs. 2 StPO beanstanden.<br />

§ 29 Abs. 2 S. 2 StPO regelt die Mitwirkung des abgelehnten Richters bei Entscheidungen außerhalb der<br />

Hauptverhandlung. Hier ist die bisherige Regelung aus § 29 Abs. 3 S. 3 StPO übernommen worden:<br />

Entscheidungen, die auch außerhalb der Hauptverhandlung ergehen können, dürfen weiterhin nur dann<br />

unter Mitwirkung des abgelehnten Richters getroffen werden, wenn sie keinen Aufschub gestatten.<br />

Hinweis:<br />

Für Handlungen eines abgelehnten Richters während einer Unterbrechung der Hauptverhandlung gilt<br />

§ 29 Abs. 1 StPO unmittelbar (BT-Drucks 19/14747, S. 23). Er darf daran also nur mitwirken, wenn sie keinen<br />

Aufschub gestatten.<br />

d) Entscheidungszeitpunkt (§ 29 Abs. 3 StPO)<br />

Um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den prozessökonomischen Belangen der Öffentlichkeit<br />

einerseits und den schutzwürdigen Interessen des Ablehnungsberechtigten, insb. des Angeklagten,<br />

andererseits herzustellen, geht die StPO davon aus, dass das Gericht auch künftig so zügig wie möglich<br />

über das Ablehnungsgesuch entscheiden muss/soll (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 24). Zuwarten mit<br />

der Entscheidung über einen Ablehnungsantrag ist also nicht erlaubt.<br />

Im Übrigen gilt: In § 29 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 StPO a.F. war vorgesehen, dass das Gericht bis zum Beginn des<br />

übernächsten Verhandlungstags über den Befangenheitsantrag entschieden haben musste (BURHOFF,<br />

HV, Rn 125 ff.). Hier sieht § 29 Abs. 3 S. 1 StPO nun aber eine „mildere“ Frist vor. Die Entscheidung über<br />

das Ablehnungsgesuch muss grds. spätestens vor Ablauf von zwei Wochen erfolgen. Eine Ausnahme<br />

von der Zweiwochenfrist ist in § 29 Abs. 3 S. 3 StPO enthalten. Danach kann – insoweit in<br />

Übereinstimmung mit dem früheren Recht – über das Ablehnungsgesuch auch noch am übernächsten<br />

Hauptverhandlungstag nach Fristbeginn entschieden werden (zur Begründung s. BT-Drucks<br />

19/14747, S. 24).<br />

Der Fristbeginn für die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch ist in § 29 Abs. 3 S. 2 StPO geregelt,<br />

und zwar wie folgt:<br />

• Wird das Ablehnungsgesuch vor oder während laufender Hauptverhandlung gestellt, beginnt die<br />

Frist nach § 29 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 StPO grds. mit dem Tag, an dem das Gesuch gestellt wird.<br />

• Wird dem Angeklagten nach § 26 Abs. 1 S. 2 StPO aufgegeben, ein nur mündlich gestelltes<br />

Ablehnungsgesuch innerhalb einer bestimmten Frist schriftlich zu begründen, beginnt die Frist<br />

gem. § 29 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO erst mit Eingang der schriftlichen Begründung (zur schriftlichen<br />

Antragsbegründung BURHOFF, HV, Rn 58 ff.).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 203


Fach 22, Seite 1014<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

Hinweis:<br />

Über die Ablehnung muss – jetzt –„spätestens vor Urteilsverkündung“ entschieden werden<br />

(§ 29 Abs. 3 S. 1 StPO).<br />

4. Erfolgreiches Ablehnungsgesuch (§ 29 Abs. 4 StPO)<br />

Die Folgen eines erfolgreichen Ablehnungsgesuchs waren bislang in § 29 Abs. 2 S. 2 StPO geregelt.<br />

Diese Regelung ist jetzt in § 29 Abs. 4 StPO enthalten. In § 29 Abs. 4 StPO ist die Regelung des § 29<br />

Abs. 2 S. 2 StPO a.F. zur Wiederholung von Teilen der Hauptverhandlung bei einem erfolgreichen<br />

Ablehnungsgesuch weitgehend übernommen worden (s. auch BURHOFF, HV, Rn 145 f.). Ausgenommen<br />

von der Wiederholungsverpflichtung sind nach § 29 Abs. 4 S. 2 StPO jetzt aber „solche Teile der<br />

Hauptverhandlung, deren Wiederholung nicht oder nur mit unzumutbarem Aufwand möglich ist“. Die<br />

Gesetzesbegründung (BT-Drucks 19/14747, S. 25) nennt als Beispiel die Vernehmung eines todkranken<br />

oder i.S.d. § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO weit entfernt wohnenden Zeugen. Letztlich wird man m.E. diese<br />

Frage an der Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) messen müssen (zu § 251 BURHOFF, HV,<br />

Rn 3272 ff. m.w.N.). An die Unzumutbarkeit der Wiederholung ist – wie bislang – ein strenger<br />

Maßstab anzulegen; durch die Neuregelung sind/waren „keine erheblichen Abweichungen zum geltenden<br />

Recht bezweckt“ (BT-Drucks 19/14747, S. 25).<br />

III.<br />

Besetzungsfragen/-mitteilung (§§ 222a, 222b, 338 StPO)<br />

Änderungen im Überblick:<br />

• Normen: §§ 222a, 222b, 338 StPO<br />

• Regelungsgehalt:<br />

• Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens über einen Besetzungseinwand in erstinstanzlichen<br />

Verfahren beim LG/OLG<br />

• Grundsätzlich Fortführung der Hauptverhandlung zulässig<br />

• Änderung der entsprechenden Revisionsvorschriften<br />

• Verteidigerstrategie: Besetzungseinwand; Verfahrensrüge?<br />

1. Neuregelung<br />

Der Einwand vorschriftswidriger Besetzung, im Folgenden kurz: Besetzungseinwand, war in erstinstanzlichen<br />

Verfahren vor dem LG/OLG nach § 222b StPO a.F. bis zu Beginn der Vernehmung des<br />

ersten Angeklagten zur Sache geltend zu machen (BURHOFF, HV, Rn 911 ff. m.w.N.). Um die hierin liegende<br />

„Verfahrensunsicherheit zu entschärfen“, die der Hauptverhandlung im Unterschied zu anderen Revisionsgründen<br />

damit ggf. schon zu Beginn anhafte, ist nun der sog. Besetzungseinwand in einem neu<br />

eingeführten Vorabentscheidungsverfahren vor oder zu Beginn der Hauptverhandlung zu überprüfen.<br />

Dies soll, da es nur in den erstinstanzlichen Verfahren vor dem LG/OLG Bedeutung hat, hier nur in einem<br />

Überblick vorgestellt werden (wegen der Einzelh. BURHOFF, eBook 2019, Rn 71 ff. m.w.N.).<br />

2. Änderungen im Überblick<br />

Die Änderungen führen jetzt zu folgendem Verfahren(-sablauf) (zur Kritik u.a. die Stellungnahme der<br />

BRAK Nr. 30/2019 v. November 2019, S. 6 f. unter https://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/<br />

stellungnahmen-deutschland/2019/november/stellungnahme-der-brak-2019-30.pdf und auch das Papier der<br />

Strafverteidigervereinigungen: „Aus dem Gleichgewicht“, abrufbar unter: https://www.strafverteidigertag.<br />

de/Material/aus%20dem%20gleichgewicht.pdf):<br />

2<strong>04</strong> <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1015<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

• In dem neuen Vorabentscheidungsverfahren wird i.d.R. der Besetzungseinwand schon vor oder zu<br />

Beginn der Hauptverhandlung abschließend durch ein höheres Gericht beschieden werden.<br />

• Die Hauptverhandlung kann bis zur Entscheidung über den Besetzungseinwand fortgesetzt werden,<br />

sodass es einer Unterbrechung der Hauptverhandlung in aller Regel nicht mehr bedarf.<br />

• Das Vorabentscheidungsverfahren ist wie folgt ausgebildet:<br />

• Nach Zustellung oder Bekanntgabe der Besetzungsmitteilung hat der Angeklagte (nur) eine<br />

Woche Zeit, um die Besetzung des Gerichts zu prüfen. Der Besetzungseinwand muss nämlich<br />

innerhalb einer Frist von einer Woche nach Zustellung der Besetzungsmitteilung oder nach<br />

Bekanntmachung in der Hauptverhandlung erhoben werden.<br />

• Dem Besetzungseinwand kommt keine aufschiebende Wirkung zu. Die Hauptverhandlung muss<br />

also nicht bis zur Entscheidung über den Besetzungseinwand durch das Rechtsmittelgericht<br />

unterbrochen werden.<br />

• Das Vorabentscheidungsverfahren ist im Wesentlichen an das Revisionsverfahren angelehnt<br />

worden.<br />

Hinweis:<br />

Die nach bisherigem Recht vorgeschriebenen Formvoraussetzungen des Besetzungseinwands sowie die<br />

Begründungsanforderungen gem. § 222b Abs. 2 S. 2 und 3 StPO sind nicht geändert worden. Es gelten<br />

dazu also die Ausführungen bei BURHOFF, HV, Rn 911 ff.<br />

• Vorgelegt werden muss dem Rechtsmittelgericht. Das ist bei erstinstanzlicher Zuständigkeit des LG<br />

gem. der Neuregelung in § 121 Abs. 1 Nr. 4 GVG das OLG und bei erstinstanzlicher Zuständigkeit des<br />

OLG gem. dem neuen § 135 Abs. 2 Nr. 3 GVG der BGH (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 42 f.).<br />

Hinweis:<br />

Um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung im Recht der Besetzungsrügen zu gewährleisten, muss das<br />

OLG die Strafsache im Fall der Divergenz dem BGH vorlegen (neuer § 121 Abs. 2 Nr. 4 GVG).<br />

• Das Tatgericht muss mit der Verkündung des Urteils nicht warten, bis das Rechtsmittelgericht<br />

eine Entscheidung getroffen hat. In diesen Fällen kann der Angeklagte dann aber eine potenziell<br />

vorschriftswidrige Besetzung im Rahmen der Revision rügen. Für ein bereits eingeleitetes Vorabentscheidungsverfahren<br />

tritt mit der Urteilsverkündung Erledigung ein.<br />

3. Rechtsmittelverfahren/Revision (§ 338 StPO)<br />

a) Allgemeines<br />

Durch die Änderung des Rechts der Besetzungsrüge in den §§ 222a, 222b StPO war eine Änderung des<br />

Revisionsrechts, das in § 338 Nr. 1 StPO dazu einen absoluten Revisionsgrund enthält, erforderlich.<br />

Allgemein gilt für das Zusammenspiel der §§ 222a, 222b, 338 Nr. StPO insoweit Folgendes:<br />

• In dem Vorabentscheidungsverfahren über die Besetzungsrüge müssen die Verfahrensbeteiligten alle<br />

objektiv erkennbaren Besetzungsmängel, die bis zum Eintritt der Präklusionswirkung gem. § 222b Abs. 1<br />

S. 1 StPO entstanden sind, rügen. Nach diesem Zeitpunkt, also nach einer Woche, präkludiert die Rüge.<br />

• Hilft das Tatgericht dem form- und fristgerecht erhobenen Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung<br />

nicht ab, entscheidet das Rechtsmittelgericht über die Besetzungsrüge abschließend.<br />

• Die Entscheidung ist bindend. Sie steht der Überprüfung des Besetzungseinwands in der Revisionsinstanz<br />

entgegen.<br />

• Im Übrigen ist die Möglichkeit der Rüge eines Besetzungsmangels mit der Revision erhalten geblieben.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 205


Fach 22, Seite 1016<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

Hinweis:<br />

An dem früheren Regelungsgefüge von Präklusionswirkung gem. § 222b StPO einerseits und den in § 338<br />

Nr. 1 StPO a.F. geregelten Ausnahmetatbeständen andererseits hat sich also nichts geändert.<br />

b) Ausnahmetatbestände (§ 338 Nr. 1 StPO)<br />

Bislang waren die das Verfahren des Besetzungseinwands betreffenden revisionsrechtlichen Ausnahmeregelungen<br />

in § 338 Nr. 1 Buchst. a bis d StPO a.F. geregelt. Diese Ausnahmen von der<br />

Präklusionswirkung sind infolge der Einführung des Vorabentscheidungsverfahrens wie folgt umgestaltet<br />

worden (wegen der Einzelh. BURHOFF, eBook 2019, Rn 207 ff.):<br />

• § 338 Nr. 1 Buchst. a StPO regelt die Fälle, in denen das Tatgericht trotz festgestellter<br />

Vorschriftswidrigkeit der Besetzung verhandelt.<br />

• § 338 Nr. 1 Buchst. b aa StPO betrifft zum einen Fälle, in denen die vorgeschriebene Mitteilung<br />

vollständig unterblieben ist, zum anderen aber ggf. auch Fälle, in denen das Tatgericht eine<br />

fehlerhafte Besetzungsmitteilung zugestellt oder dem Angeklagten fehlerhafte Unterlagen zur<br />

Überprüfung der Besetzung zur Verfügung gestellt hat.<br />

• § 338 Nr. 1 Buchst. b bb StPO regelt den Fall der Übergehung oder Zurückweisung der form- und<br />

fristgerecht erhobenen Besetzungsrüge als Ausnahmetatbestand von der Rügepräklusion, aber auch<br />

die (weiteren) Fälle, in denen das Tatgericht ein Urteil fällt, bevor das Rechtsmittelgericht über die<br />

erhobene und ihm vorgelegte Besetzungsrüge entschieden hat, oder in denen das Tatgericht der<br />

Besetzungsrüge nicht abgeholfen und sie dem Rechtsmittelgericht entweder aufgrund einer<br />

vorherigen Urteilsverkündung oder aus sonstigen Gründen nicht binnen der dreitägigen Frist des<br />

§ 222b Abs. 3 S. 1 StPO vorgelegt hat.<br />

• § 338 Nr. 1 Buchst. b cc StPO regelt schließlich die Fälle, in denen das Tatgericht zwar eine<br />

Besetzungsmitteilung zugestellt, aber sein Urteil bereits vor dem Ablauf der einwöchigen Prüfungsfrist<br />

erlassen hat, obwohl ein Antrag nach § 222a Abs. 2 StPO gestellt wurde, oder wenn das<br />

Tatgericht die Besetzung oder eine Besetzungsänderung erst zu Beginn der Hauptverhandlung<br />

mitgeteilt, eine Unterbrechung auf Antrag nach § 222a Abs. 2 StPO jedoch abgelehnt hat und dem<br />

Angeklagten aufgrund einer Urteilsverkündung vor Ablauf der Prüffrist diese (Wochen-)Frist nicht<br />

zur Verfügung stand.<br />

IV.<br />

Unterbrechung der Hauptverhandlung (§ 229 StPO)<br />

Änderungen im Überblick:<br />

• Norm: §§ 229 Abs. 3 StPO<br />

• Regelungsgehalt:<br />

• Einführung der Hemmung der Unterbrechungsfristen für die Hauptverhandlung wegen gesetzlichen<br />

Mutterschutzes/Elternzeit<br />

• Bestimmung der Höchstdauer der Unterbrechung<br />

• Verteidigerstrategie: Prüfung der Ordnungsgemäßheit der Unterbrechung?<br />

1. Neuregelung<br />

§ 229 Abs. 3 StPO a.F. sah keine Hemmung der Unterbrechungsfristen für die Hauptverhandlung für<br />

Zeiten des gesetzlichen Mutterschutzes von Richterinnen vor (vgl. dazu BGH NJW 2017, 745 ff.). Das ist in<br />

§ 229 Abs. 3 StPO geändert worden.<br />

206 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1017<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

Hinweis:<br />

Hinsichtlich des im Zusammenhang mit einer Unterbrechung einzuhaltenden Verfahrens sind keine<br />

Änderungen vorgenommen worden (vgl. zum Verfahren BURHOFF, HV, Rn 2907 f.).<br />

2. Erweiterung des Katalogs der Hemmungsgründe<br />

In § 229 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StPO ist jetzt vorgesehen, dass nicht mehr nur eine Hemmung der<br />

Unterbrechungsfrist im Krankheitsfall eintritt, sondern auch dann, wenn eine erkennende Richterin<br />

aufgrund des gesetzlichen Mutterschutzes nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen kann. Zudem ist<br />

in § 229 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StPO vorgesehen, dass die Hemmung auch während der Inanspruchnahme von<br />

Elternzeit im gleichen Umfang eintritt.<br />

Hinweise:<br />

Der schon bisher in § 229 Abs. 3 StPO a.F. geregelte Fall der „Krankheit“ ist in § 229 Abs. 3 S. 1 Nr. 1<br />

StPO inhaltlich unverändert geregelt geblieben (BURHOFF, HV, Rn 2905).<br />

Die Neuregelungen in § 229 Abs. Nr. 2 StPO gelten uneingeschränkt nicht nur für hauptberufliche<br />

Richterinnen und Richter, sondern – wie bisher bereits die Regelungen zur Hemmung im Krankheitsfall<br />

(§ 229 Abs. 3 StPO a.F., jetzt § 229 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 StPO) – auch für Schöffinnen und Schöffen.<br />

3. Höchstdauer der Hemmung<br />

Der Gesetzgeber war sich darüber im Klaren, dass die Hemmung wegen Mutterschutzes und/oder<br />

Elternzeit im Hinblick auf die Beschleunigung und die Einheitlichkeit einer Hauptverhandlung nicht zum<br />

Ablauf der längstmöglichen Dauer des gesetzlichen Mutterschutzes oder der Elternzeit gelten kann. Daher<br />

hat er zur Wahrung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit und der Einheitlichkeit der Hauptverhandlung<br />

eine Höchstdauer für die jeweilige Hemmung eingeführt.<br />

Die Höchstdauer der Hemmung, die bislang sechs Wochen betragen hat, ist nach § 229 Abs. 3 S. 1 Hs. 2<br />

StPO nun einheitlich auf zwei Monate bemessen. Die Höchstdauer gilt also sowohl für die Fälle der<br />

Krankheit, des Mutterschutzes und der Elternzeit. Der Grund der Hemmung ist für die entscheidende Frage,<br />

wie lange ein Strafprozess insgesamt unterbrochen sein kann, ohne dass eine Urteilsfindung auf Grundlage<br />

der unmittelbaren Wahrnehmung der Richterinnen und Richter nicht mehr möglich ist, ohne Bedeutung.<br />

Hinweis:<br />

Dies führt in Verfahren, in denen bereits an mindestens zehn Tagen verhandelt worden ist, zu einer<br />

möglichen Gesamtunterbrechung von drei Monaten und zehn Tagen, und zwar (vgl. dazu BT-Drucks<br />

19/14747, S. 32 f.):<br />

§ 229 Abs. 2 StPO: ein Monat<br />

§ 229 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 oder 2 StPO: zwei Monate<br />

§ 229 Abs. 3 S. 2 StPO: zehn Tage<br />

V. Neuregelungen im Beweisantragsrecht (§§ 219, 244, 245 StPO)<br />

Änderungen im Überblick:<br />

• Normen: §§ 219, 244, 245 StPO<br />

• Regelungsgehalt:<br />

• Legaldefinition des Begriffs des Beweisantrags<br />

• Systematisierung der Ablehnungsgründe<br />

• Neuregelung des Ablehnungsgrundes „Prozessverschleppung“<br />

• Verteidigerstrategie: Antragstellung, Verfahrensrüge?<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 207


Fach 22, Seite 1018<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

1. Neuregelung<br />

Einige der wesentlichen Änderungen sind durch das Gesetz im Beweisantragsrecht in den §§ 219, 244, 245<br />

StPO vorgenommen worden. Mit diesen Änderungen hat der Gesetzgeber nicht nur das Beweisantragsrecht<br />

insgesamt systematisiert, sondern es soll Gerichten der Umgang mit missbräuchlich gestellten<br />

Beweisanträgen erleichtert werden; gerade diese Änderungen sollen der Verfahrensvereinfachung und<br />

Verfahrensbeschleunigung dienen (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 16 ff.).<br />

Hinweis:<br />

Diese Änderungen gelten über § 71 OWiG auch im Bußgeldverfahren.<br />

Das Gesetz hat folgende Änderungen vorgenommen:<br />

• Der Begriff des Beweisantrags ist in § 244 Abs. 3 S. 1 StPO jetzt erstmals gesetzlich bestimmt worden.<br />

• Die Ablehnungsgründe sind in § 244 Abs. 3 StPO neu strukturiert worden.<br />

• Es sind Änderungen hinsichtlich (angeblich) aus Gründen der Prozessverschleppungsabsicht gestellter<br />

Beweisersuchen vorgenommen worden:<br />

• Diese werden nach § 244 Abs. 6 S. 2 StPO nicht mehr als Beweisantrag behandelt.<br />

• Die Anforderungen an die Prozessverschleppungsabsicht sind in objektiver Hinsicht abgesenkt<br />

worden (§ 244 Abs. 6 S. 2 StPO).<br />

• Die §§ 219, 245 StPO sind redaktionell angepasst worden.<br />

Hinweis:<br />

Weitere Änderungen sind nicht erfolgt. Insbesondere sind § 244 Abs. 4 und 5 StPO und die bisherige<br />

Regelung der Fristsetzung in § 244 Abs. 6 StPO unberührt geblieben (vgl. dazu BURHOFF, HV, Rn 1081 ff.,<br />

2656 ff., jeweils m.w.N).<br />

2. Legaldefinition des Begriffs des Beweisantrags (§ 244 Abs. 3 S. 1 StPO)<br />

a) Übernahme der Rechtsprechung des BGH<br />

In § 244 Abs. 3 S. 1 StPO ist nun der bislang gesetzlich nicht geregelte Begriff des Beweisantrags legal<br />

bestimmt worden. Dabei ist weitgehend die in der Rechtsprechung des BGH entwickelte Begriffsbestimmung<br />

übernommen worden (vgl. BURHOFF, HV, Rn 958 m.w.N.).<br />

Hinweis:<br />

§ 244 Abs. 3 S. 1 StPO definiert den Beweisantrag jetzt wie folgt:<br />

„Ein Beweisantrag liegt vor, wenn der Antragsteller ernsthaft verlangt, Beweis über eine bestimmt behauptete konkrete<br />

Tatsache, die die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betrifft, durch ein bestimmt bezeichnetes Beweismittel zu erheben und<br />

dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll.“<br />

Wegen der Einzelheiten zu diesen Voraussetzungen kann – wegen der Übernahme der Rechtsprechung<br />

des BGH – verwiesen werden auf BURHOFF, HV, 958 ff., und zum Inhalt eines Beweisantrags auf BURHOFF,<br />

HV, Rn 1113 ff.<br />

b) Sog. Konnexität<br />

Die Rechtsprechung des BGH hatte bislang nicht geklärt, ob für die Annahme eines Beweisantrags das<br />

Vorliegen einer bestimmten Beweisbehauptung/Beweistatsache und das Beweismittel ausreichen oder<br />

ob ggf. noch eine dritte Voraussetzung erfüllt sein muss, nämlich die sog. Konnexität (dazu eingehend<br />

BURHOFF, HV, Rn 1086 m.w.N. aus Rechtsprechung und Literatur): Gemeint ist damit, dass in den Fällen,<br />

in denen es sich nicht von selbst ergibt, der erforderliche Zusammenhang zwischen Beweismittel und<br />

Beweistatsache dargelegt werden muss (zur Kritik an dieser Rechtsprechung s. die Nachweise bei<br />

208 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1019<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

BURHOFF, HV, Rn 1086 f.). Das Gesetz hat den insoweit bestehenden Streit beendet, indem es für die<br />

Annahme eines Beweisantrags verlangt, dass „dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete<br />

Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll“. Damit ist die Rechtsprechung des BGH zur sog.<br />

Konnexität an dieser Stelle übernommen worden.<br />

Hinweis:<br />

Das bedeutet bzw. hat für den Verteidiger in Zukunft zur Folge:<br />

• Ein Beweisantrag muss den erforderlichen Zusammenhang („Konnexität“) zwischen Beweismittel und<br />

Beweistatsache erkennen lassen. In der Begründung des Beweisantrags muss also ein „nachvollziehbarer<br />

Grund“ dafür angegeben werden, weshalb mit dem bezeichneten Beweismittel die Beweisbehauptung<br />

nachgewiesen werden kann.<br />

• Der Verteidiger sollte die Konnexität aus „Gründen der Sicherheit“ jetzt immer darlegen, um von<br />

vornherein kein „Einfallstor“ für eine Ablehnung des Beweisantrags mit der (formellen) Begründung:<br />

Konnexität ist nicht dargelegt, zu bieten. Dem Beweisantrag muss also z.B. zu entnehmen sein, weshalb<br />

ein Zeuge die Beweisbehauptung aus eigener Wahrnehmung bestätigen können soll.<br />

c) „Aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ gestellte Beweisanträge<br />

Die Gesetzesbegründung (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 34) führt im Zusammenhang mit der<br />

Einführung der Legaldefinition des Beweisantrags aus: „Ferner sollen Beweisbehauptungen ‚aufs Geratewohl‘<br />

oder ‚ins Blaue hinein‘, denen es an der gebotenen Ernsthaftigkeit des Verlangens mangelt, von den Gerichten nach<br />

§ 244 Abs. 3 S. 1 StPO-E nicht als Beweisanträge behandelt werden müssen.“ Was damit gemeint ist, ist unklar.<br />

Zutreffend ist, dass ein Beweisantrag nach der Rechtsprechung des BGH (u.a. NStZ 2011, 169 f. m.w.N.)<br />

die sichere Behauptung einer bestimmten Tatsache voraussetzt. Nach h.M. in der Rechtsprechung kann<br />

der Verteidiger aber auch dann einen Beweisantrag stellen, wenn er die von ihm behauptete Tatsache<br />

nur für möglich hält (BURHOFF, HV, Rn 964 m.w.N.). Es scheint, als ob davon abgewichen werden soll<br />

(krit. die Stellungnahme der BRAK Nr. 30/2019 v. November 2019, S. 7 f. unter https://www.brak.de/zur-<br />

rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2019/november/stellungnahme-der-brak-2019-<br />

30.pdf). Aus der Formulierung in § 244 Abs. 3 S. 1 StPO folgt das aber nicht.<br />

Hinweise:<br />

Der Verteidiger sollte in entsprechenden Fällen – wie schon bisher – auf jeden Fall eingehend darlegen,<br />

warum und wieso eine „sichere Behauptung“ der Beweistatsache ggf. nicht möglich ist. Das zwingt das<br />

Gericht dazu, sich mit der Frage auseinanderzusetzen und sie damit durch die Revision überprüfbar zu<br />

machen.<br />

Einfach übergangen werden darf im Übrigen auch ein solcher Antrag nicht.<br />

3. Systematisierung der Ablehnungsgründe (§ 244 Abs. 3 S. 2 und 3 StPO)<br />

Bislang waren die Gründe für die Ablehnung eines Beweisantrags u.a. in § 244 Abs. 3 S. 1 und 2 StPO<br />

enthalten. Diese Ablehnungsgründe sind nun, um die Übersichtlichkeit zu erhöhen und die Zitierfähigkeit<br />

in der Praxis zu erleichtern, in § 244 Abs. 3 S. 2 und 3 neu systematisiert worden. Eine inhaltliche<br />

Änderung ist im Übrigen durch diese Systematisierung nicht erfolgt. Die bisher vorliegende<br />

Rechtsprechung zu den Ablehnungsgründen (BURHOFF, HV, Rn 981 ff.) kann also weiter verwendet und<br />

muss vom Verteidiger weiter beachtet werden.<br />

Es sind im Übrigen auch keine Änderungen hinsichtlich eines Beweisantrags auf Vernehmung eines<br />

Sachverständigen (§ 244 Abs. 4 StPO), der Einnahme eines Augenscheins (§ 244 Abs. 5 S. 1 StPO) und<br />

der Vernehmung eines Auslandszeugen (§ 244 Abs. 5 S. 2 StPO) erfolgt. Die insoweit vorliegende<br />

Rechtsprechung zu den Anforderungen an einen entsprechenden Beweisantrag und an dessen<br />

Ablehnung bleibt also gültig, ist anzuwenden und vom Verteidiger zu beachten (dazu für den<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 209


Fach 22, Seite 1020<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

Sachverständigenbeweis BURHOFF, HV, Rn 1056 ff. und 2656 ff., für die Augenscheinseinnahme BURHOFF,<br />

HV, Rn 422 ff. und 1051 ff. und für den Auslandszeugen BURHOFF, HV, Rn 468 ff., jeweils m.w.N.).<br />

Hinweis:<br />

Entfallen ist allerdings wegen der Erweiterung des § 244 Abs. 6 StPO (vgl. sogleich V 4) der Ablehnungsgrund<br />

der Prozessverschleppungsabsicht. Dieser Ablehnungsgrund ist gestrichen worden, weil – so jetzt die<br />

StPO – Beweisersuchen, die in der Absicht der Prozessverschleppung gestellt werden, keine Beweisanträge<br />

i.S.d. § 244 Abs. 3 S. 1 StPO (mehr) sind und deshalb gem. § 244 Abs. 6 S. 2 StPO keiner förmlichen Ablehnung<br />

mehr bedürfen.<br />

4. „Beweisersuchen“ mit dem Ziel der Prozessverschleppungsabsicht<br />

a) Allgemeines<br />

Nach § 244 Abs. 6 S. 1 StPO erfolgt die Ablehnung eines Beweisantrags durch Gerichtsbeschluss<br />

(BURHOFF, HV, Rn 970 ff.). Das Gericht ist verpflichtet, den Beschluss unter Bezug auf die einschlägigen<br />

Ablehnungsgründe des Abs. 3 (vgl. V 3) zu begründen. Davon rückt die StPO jetzt in § 244 Abs. 6 S. 2<br />

StPO für einen Fall ab.<br />

Hinweis:<br />

Sogenannte Beweisersuchen mit dem Ziel der „Prozessverschleppung (zum Begriff V 4 b) müssen jetzt<br />

nicht mehr durch förmlichen Gerichtsbeschluss nach § 244 Abs. 6 S. 1 StPO beschieden werden. Denn die<br />

StPO geht in § 244 Abs. 6 S. 2 StPO nun davon aus, dass es sich bei solchen „Beweisersuchen“ nicht um<br />

einen Beweisantrag i.S.d. § 244 Abs. 3 S. 1 StPO handelt, der förmlich beschieden werden müsste.<br />

b) Eingeschränkter Begriff der Prozessverschleppung<br />

Die Begriffsmerkmale der Prozessverschleppungsabsicht waren bisher in der StPO nicht bestimmt,<br />

sondern sind durch die Rechtsprechung (des BGH) ausgebildet worden (vgl. dazu BURHOFF, HV, Rn 1014 ff.<br />

m.w.N.). Die Rechtsprechung des BGH ging/geht davon aus, dass Prozessverschleppungsabsicht anzunehmen<br />

war/ist, wenn die beantragte Beweiserhebung nach Überzeugung des Gerichts nichts<br />

Sachdienliches zugunsten des Antragstellers erbringen konnte und der Antragsteller den Beweisantrag<br />

ausschließlich zum Zwecke der Verzögerung des Verfahrens gestellt hat (BURHOFF, HV, Rn 1015 ff.<br />

m.w.N.). Erforderlich war eine wesentliche Verzögerung, wobei in der Rechtsprechung bis zuletzt nicht<br />

klar entschieden war, was unter dem Begriff der „wesentlichen Verzögerung“ zu verstehen war<br />

(BURHOFF, HV, Rn 1017 m.w.N.).<br />

§ 224 Abs. 6 S. 2 StPO enthält nun als Bestimmung für den Begriff der Verfahrensverzögerung, dass „die<br />

beantragte Beweiserhebung nichts Sachdienliches zugunsten des Antragstellers erbringen kann, der Antragsteller<br />

sich dessen bewusst ist und er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt“. Entfallen bzw. nicht übernommen<br />

worden ist aus der Rechtsprechung des BGH das objektive Merkmal, dass die verlangte Beweiserhebung<br />

geeignet ist, den Abschluss des Verfahrens „wesentlich“ oder „erheblich“ zu verzögern. Begründet<br />

wird dies damit, dass „dieses im Einzelnen unklare Erfordernis einer objektiv erheblichen Verfahrensverzögerung<br />

… in der Praxis dazu [führt], dass der Ablehnungsgrund der Prozessverschleppungsabsicht trotz<br />

Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen häufig nicht von den Gerichten angenommen werden kann“ und dem<br />

Ablehnungsgrund deshalb in der Gerichtspraxis nur eine geringe Bedeutung zukomme (zur Begründung<br />

vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 35). In § 244 Abs. 6 S. 2 Hs. 2 StPO ist ausdrücklich klargestellt, dass ein<br />

Beweisersuchen in Prozessverschleppungsabsicht auch angenommen werden kann, wenn der<br />

Antragsteller in einem Motivbündel neben dem Ziel der Verfahrensverzögerung auch ein oder mehrere<br />

weitere verfahrensfremde(s) Ziel(e) verfolgt. Die Prozessverschleppungsabsicht muss also nicht das<br />

einzige Motiv für das Beweisersuchen sein.<br />

210 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1021<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

Hinweise:<br />

Für die Antragstellung gilt im Hinblick auf die Voraussetzungen der Prozessverschleppungsabsicht in<br />

§ 244 Abs. 6 S. 2 StPO:<br />

• Bei „spät“ im Verfahren gestellten Anträgen sollte der Verteidiger nach Möglichkeit immer darlegen,<br />

warum sie „so spät“ gestellt werden bzw. warum sie nicht eher gestellt werden konnten.<br />

• Im Hinblick auf das Merkmal „ … nichts Sachdienliches zugunsten des Antragstellers erbringen kann“ sollte<br />

dargelegt werden, welches (sinnvolle) (Beweis-)Ziel mit dem Antrag verfolgt wird.<br />

• Das gilt zugleich auch im Hinblick auf das Merkmal „… Nutzlosigkeit der Beweiserhebung bewusst ist und<br />

er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt“. Denn aus einem „sinnvollen Beweisziel“ kann sich nie<br />

die Nutzlosigkeit der beantragten Beweiserhebung ergeben. Das hat nichts damit zu tun, dass das<br />

Beweisziel ggf. nicht erreicht worden ist.<br />

Durch entsprechende Antragsbegründung wird der Vorsitzende/das Gericht gezwungen, die ihnen obliegende<br />

Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) bei der Bescheidung des Antrags stärker in den Blick<br />

zu nehmen.<br />

c) Verfahren der Ablehnung<br />

Die Neuregelung hat nicht zur Folge, dass entsprechende „Beweisersuchen“ vom Gericht einfach<br />

übergangen werden können/dürfen. Vielmehr gilt (dazu BT-Drucks 19/14747, S. 35):<br />

• Die Ersuchen müssen (zunächst) vom Vorsitzenden nach Maßgabe der Amtsaufklärungspflicht<br />

gem. § 244 Abs. 2 StPO beschieden werden. Ein formeller Gerichtsbeschluss ist nicht erforderlich.<br />

• Ob die Voraussetzungen des § 244 Abs. 6 S. 2 StPO gegeben sind, prüft der Vorsitzende zunächst im<br />

Rahmen seiner Sachleitungsbefugnis (dazu BURHOFF, HV, Rn 3152 ff.).<br />

• Lehnt der Vorsitzende das Ersuchen ab, ist gegen die Entscheidung des Vorsitzenden eine Beanstandung<br />

nach § 238 Abs. 2 StPO möglich.<br />

Hinweis:<br />

Die Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO wird der Verteidiger auf jeden Fall erheben.<br />

• Über die Beanstandung entscheidet das Gericht „in freier Würdigung“ (vgl. dazu BT-Drucks<br />

19/14747, S. 35).<br />

• Der Verteidiger wird, wenn auch das Gericht das Ersuchen ablehnt, ggf. Gegenvorstellung erheben<br />

müssen und darlegen, warum keine Verschleppungsabsicht vorliegt. Allerdings kann der insoweit<br />

erforderliche Vortrag möglicherweise die Schweigepflicht tangieren, wenn nämlich dargelegt werden<br />

muss, warum das Ersuchen so spät gestellt ist.<br />

• In der Revision sind die Einwände gegen die Ablehnung des Antrags mit der Verfahrensrüge (§ 344<br />

Abs. 2 S. 2 StPO!) geltend zu machen. Der Verteidiger sollte zudem immer auch die Aufklärungsrüge<br />

erheben.<br />

Hinweis:<br />

Das vorstehend geschilderte „Verfahrensszenario“ zeigt anschaulich, dass das Beschleunigungs- und<br />

Vereinfachungspotential – wenn es denn überhaupt gegeben ist – äußerst gering ist und es sicherlich<br />

nicht diesen Eingriff in das Beweisantragsrecht rechtfertigt. Es hätte sicherlich ausgereicht, es bei den<br />

Änderungen durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens<br />

vom 17.8.2017“ (BGBl I, S. 3202) – Stichwort: Fristsetzung – zu belassen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 211


Fach 22, Seite 1022<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

5. Beweisanträge im Ermittlungsverfahren (§ 219 StPO)<br />

§ 219 StPO ist durch das Gesetz ebenfalls geändert worden. Es handelt sich aber „nur“ um eine<br />

redaktionelle Folgeänderung zur Änderung des Beweisantragsrechts in § 244 Abs. 3 StPO. Früher war in<br />

§ 219 Abs. 1 S. 1 StPO eine bruchstückhafte Definition des Beweisantrags enthalten. Diese konnte,<br />

nachdem nun der Begriff des Beweisantrags in § 244 Abs. 3 S. 1 StPO legaldefiniert ist, entfallen.<br />

6. Präsente Beweismittel (§ 245 Abs. 2 StPO)<br />

Geändert worden ist durch das Gesetz auch § 245 StPO. Es handelt sich aber „nur“ um eine redaktionelle<br />

Folgeänderung zur Änderung des Beweisantragsrechts in § 244 Abs. 3 StPO. Die früher in § 245 Abs. 2<br />

S. 3 StPO enthaltene Ablehnungsmöglichkeit des „zum Zwecke der Prozeßverschleppung“ gestellten Antrags<br />

konnte entfallen, nachdem ein zum Zweck der Prozessverschleppung gestelltes Beweisersuchen nicht<br />

mehr als „Beweisantrag“ angesehen wird (§ 244 Abs. 6 S. 2 StPO) und damit nicht (mehr) unter die<br />

Anwendung des § 245 Abs. 2 StPO fällt.<br />

VI.<br />

Verhandlungsleitung/Gesichtsverhüllung (§ 68 StPO, § 176 GVG)<br />

1. Neuregelung<br />

Änderungen im Überblick:<br />

• Normen: §§ 176 GVG; 68 StPO<br />

• Regelungsgehalt:<br />

• Verbot der Gesichtsverhüllung in § 176 GVG<br />

• Gegebenenfalls Erweiterung des Zeugenschutzes in § 68 StPO<br />

• Verteidigerstrategie: Prüfung der Einhaltung des Verbots; ggf. Beanstandung einer „verhüllt“ geführten<br />

Vernehmung<br />

In § 176 GVG ist ein Verbot der Gesichtsverhüllung aufgenommen worden; dieses gilt im Übrigen für alle<br />

gerichtlichen Verfahren. Das hatte eine Folgeänderung in § 68 StPO betreffend die Vernehmung von<br />

Personen/Zeugenschutz zur Folge.<br />

2. Verbot der Gesichtsverhüllung (§ 176 GVG)<br />

a) Allgemeines<br />

Verhüllten an der Verhandlung beteiligte Personen ihr Gesicht während der Hauptverhandlung entweder<br />

ganz oder teilweise, konnte dies der Vorsitzende im Rahmen der ihm eingeräumten sitzungspolizeilichen<br />

Befugnisse bislang über § 176 GVG im Wege einer richterlichen Anordnung, die Gesichtsverhüllung zu<br />

entfernen, verbieten (zur Sitzungspolizei s. BURHOFF, HV, Rn 2713 ff.). Die damit zusammenhängenden<br />

Fragen sind jetzt in § 176 Abs. 2 GVG ausdrücklich geregelt worden. Der frühere § 176 GVG ist zu § 176<br />

Abs. 1 GVG geworden. § 176 Abs. 2 S. 1 GVG regelt den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich<br />

der Vorschrift, § 176 Abs. 2 S. 2 GVG regelt Ausnahmen.<br />

Hinweis:<br />

Die Regelung gilt nicht nur im Straf- und Bußgeldverfahren, sondern über § 55 VwGO bzw. § 52 Abs. 1 FGO<br />

bzw. § 61 Abs. 1 SGB auch in Verfahren vor den Gerichten der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten<br />

sowie gem. § 9 Abs. 2 ArbGG vor den Arbeitsgerichten entsprechend.<br />

b) Verbotsinhalt<br />

Die Verbotsregelung erstreckt sich auf sämtliche Formen der Gesichtsverhüllung. Es kommt nicht<br />

darauf an, ob diese religiös motiviert sind oder nicht. Gesichtsverhüllung meint die Verwendung von<br />

Textilien und anderen Gegenständen, die dazu dienen, das Gesicht oder Teile desselben zu verdecken<br />

(vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 43). Im Einzelnen:<br />

212 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1023<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

• Erfasst sind etwa Verhüllungen des Gesichts durch eine Maske, eine Burka, eine Sonnenbrille, eine<br />

Sturmhaube, einen Motorradhelm oder auch einen Verband, den eine Person zur Behandlung einer<br />

physischen Verletzung im Gesicht trägt.<br />

• Nicht erfasst sind dagegen die natürliche Gesichtsbehaarung, kleinere Pflaster, Brillen mit durchsichtigem<br />

Glas oder Bedeckungen nur des Haares oder nur des Halsbereichs, die den Bereich des<br />

Gesichts, also die Fläche zwischen Stirn und Kinn, freilassen.<br />

Nach § 176 Abs. 2 S. 2 GVG ist der Vorsitzende berechtigt, Ausnahmen von dem Verhüllungsverbot zu<br />

gestatten, wenn dessen Schutzzweck nicht berührt wird. Eine gesetzlich geregelte Ausnahme ist die<br />

(Neu-)Regelung in § 68 Abs. 3 S. 3 StPO.<br />

Mit der ausdrücklichen Einführung des Gesichtsverhüllungsverbots ist es dem Gesetzgeber insb. um die<br />

Aufrechterhaltung der Ordnung der gerichtlichen Verhandlung und damit auch um die Sicherung ihrer<br />

Funktionsfähigkeit sowie ihrer Kontrolle gegangen. Näher präzisiert ist die Wahrung der Funktionsfähigkeit<br />

der Rechtspflege in § 176 Abs. 2 S. 2 GVG durch die ausdrücklich genannten Zwecke der<br />

Identitätsfeststellung und der Beweiswürdigung. Diese beiden Zwecke sind verbotsbegründend, weil<br />

die Identität der bei der Verhandlung beteiligten Personen in einem (Straf-/Bußgeld-)Verfahren verlässlich<br />

überprüft werden können muss. Das Verbot greift jedoch in Grundrechte der Verfahrensbeteiligten ein,<br />

und zwar in das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG und – sofern das<br />

Gesicht aus religiösen Gründen verhüllt wird – in das Grundrecht auf Freiheit der Religionsausübung nach<br />

Art. 4 GG. Zudem kann das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG betroffen sein,<br />

wenn die Gesichtsverhüllung in Form eines Verbands erfolgt, der aus medizinischen Gründen angelegt<br />

werden musste (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 44).<br />

Insoweit ist folgende Abwägung zu treffen (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 44):<br />

• Der Eingriff/das Verbot ist grds. vor dem Hintergrund, dass das Verbot der Wahrung der Funktionsfähigkeit<br />

der Rechtspflege dient, gerechtfertigt.<br />

• Personen, die ihr Gesicht verhüllen wollen und sich dabei insb. auf religiöse oder medizinische Gründe<br />

berufen, muss dies aber gestattet werden, wenn und soweit der Blick in das unverhüllte Gesicht<br />

weder zur Identitätsfeststellung noch zur Beweiswürdigung erforderlich ist. Sofern und soweit die<br />

grundrechtlich geschützten Interessen an einer Verhüllung überwiegen, muss der Vorsitzende eine<br />

Ausnahme vom generellen Verbot gestatten. Das dürfte u.a. gelten, wenn Verfahrensbeteiligte an<br />

einer Gerichtsverhandlung nur noch zuhörend teilnehmen wollen, wie etwa Nebenkläger, die an der<br />

Verhandlung nur (noch) als Zuhörer teilnehmen (§ 397 Abs. 1 S. 1 StPO), oder dann, wenn eine<br />

Verhüllung des Gesichts weder zur Identitätsfeststellung noch zur Beweiswürdigung notwendig ist<br />

oder nicht mehr notwendig ist, sei es, dass es auf die Identität der Person/des Zeugen nicht ankommt<br />

oder dass z.B. ein anderer Zeuge oder ein Sachverständiger vernommen wird.<br />

c) Geltungsbereich (§ 176 Abs. 2 S. 1 GVG)<br />

§ 176 Abs. 2 S. 1 GVG regelt den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der neuen Vorschrift. Der<br />

persönliche Anwendungsbereich gilt für alle an der Verhandlung beteiligten Personen. Das sind (im Straf-/<br />

Bußgeldverfahren) Richter, Schöffen, Protokollführer, Angeklagter/Betroffener, Nebenkläger, Privatkläger/-<br />

beklagte, Zeugen, Sachverständige, Verteidiger, Zeugenbeistände, Vertreter/Beistände von Nebenklägern,<br />

Privatklägern und -beklagten (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 43). Nicht erfasst werden Zuschauer oder zu<br />

Sicherheitszwecken eingesetzte Polizeibeamte oder Justizpersonal (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 43).<br />

Die Regelung gilt zeitlich und räumlich für die „Sitzung“. Zeitlich umfasst der Begriff „Sitzung“ die gesamte<br />

Dauer der gerichtlichen Verhandlung i.S.d. § 169 GVG vom Aufruf der Sache bis zur vollständigen<br />

Verkündung des Urteils. Davon umfasst ist darüber hinaus auch die Öffnung des Gerichtssaals sowie nach<br />

der Verkündung des Urteils die Zeit, die das Gericht braucht, um die mit der endgültigen Abwicklung der<br />

Sache zusammenhängenden Verrichtungen vorzunehmen und den Sitzungssaal zu verlassen (vgl. wegen<br />

der Einzelheiten BURHOFF, HV, Rn 2717 m.w.N. und auch BT-Drucks 19/14747, S. 43). Räumlich erstreckt sich<br />

das aus den sitzungspolizeilichen Befugnissen des Vorsitzenden ergebende Verhüllungsverbot nach<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 213


Fach 22, Seite 1024<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

seinem Sinn und Zweck wohl im Wesentlichen nur auf den Sitzungssaal, ist also m.E. enger zu fassen als<br />

die Sitzungspolizei i.e.S., die sich nach allgemeiner Meinung auch auf weitere Räume erstrecken kann (vgl.<br />

dazu BURHOFF, HV, Rn 2718). Entscheidend ist, inwieweit das Verbot der Gesichtsverhüllung aus Gründen<br />

der „Identitätsfeststellung“ oder zur „Beweiswürdigung“ notwendig ist (s. § 176 Abs. 2 S. 2 GVG).<br />

d) „Inhaber des Verbots“/Verfahren<br />

„Inhaber“ des Verbots“ ist der Vorsitzende als Träger der (allgemeinen) Sitzungspolizei (§ 176 Abs. 1 GVG).<br />

Es ist seine Aufgabe, in der „Sitzung“ auf die Einhaltung des Verbots hinzuwirken (BT-Drucks 19/14747,<br />

S. 43). Nach § 180 GVG stehen die in den §§ 176 bis 179 GVG bezeichneten Befugnisse daneben auch<br />

einem einzelnen Richter bei der Vornahme von Amtshandlungen außerhalb der Sitzung zu. Das<br />

bedeutet, dass die Vorschrift des § 176 Abs. 2 GVG im Strafverfahren auch für ermittlungsrichterliche<br />

Tätigkeiten nach den §§ 162 und 169 StPO, bei richterlicher Tätigkeit in Haftsachen (z.B. §§ 114a, 115, 155a<br />

StPO), in Vollstreckungssachen oder beim ersuchten Richter (§ 157 StPO) anzuwenden ist (vgl. dazu<br />

BT-Drucks 19/14747, S. 43).<br />

Die Durchsetzung des Verbots der Gesichtsverhüllung obliegt dem Vorsitzenden als Inhaber der<br />

Sitzungspolizei. Für das einzuhaltende Verfahren gelten die allgemeinen Regeln (dazu BURHOFF, HV,<br />

Rn 2729 ff.): Der Person, gegenüber der das Verbot durchgesetzt werden soll, ist rechtliches Gehör zu<br />

gewähren. Der Vorsitzende fordert sodann zur Einhaltung des Verbots und ggf. zur Enthüllung des<br />

Gesichts auf. Der Vorsitzende kann ggf. für den Fall der Nichtbefolgung Ordnungsmittel (§§ 177 und 178<br />

GVG) androhen. Bei der Aufforderung bzw. Androhung muss der Vorsitzende die Voraussetzungen einer<br />

Ausnahme nach § 176 Abs. 2 S. 2 GVG prüfen, und zwar auch ohne ausdrücklichen Antrag der betroffenen<br />

Person, wenn sich diese Prüfung – wie bei einem offenkundig medizinischen Verband – aufdrängt (dazu<br />

BT-Drucks 19/14747, S. 44). Auch für Rechtsmittel gegen die Anordnung des Vorsitzenden gelten die<br />

allgemeinen Regeln. Es dürfte, da Grundrechte der betroffenen Person tangiert werden, das Rechtsmittel<br />

der Beschwerde gegeben sein (vgl. dazu und wegen weiterer Einzelheiten BURHOFF, HV, Rn 2732).<br />

Hinweis:<br />

Der Verteidiger muss im Hinblick darauf prüfen, ob er ggf. einen Antrag stellt, dass der Vorsitzende zur<br />

Enthüllung auffordert, wenn dies z.B. für die Fragen der Identitätsfeststellung eines Zeugen und/oder der<br />

Beweiswürdigung von Bedeutung ist. Kommt der Vorsitzende diesem Antrag nicht nach, wird der Verteidiger<br />

m.E. das nach § 238 Abs. 2 StPO als Maßnahme der Verhandlungsleitung beanstanden können<br />

und im Hinblick auf die Revision auch müssen (vgl. BURHOFF, HV, Rn 3160).<br />

3. Vernehmung von Personen/Zeugenschutz (§ 68 Abs. 3 S. 3 StPO)<br />

Eingefügt worden ist in § 68 Abs. 3 StPO ein neuer S. 3. Diese (Neu-)Regelung steht im Zusammenhang<br />

mit der Einführung des grundsätzlichen Verbots der Gesichtsverhüllung in Gerichtsverfahren in § 176 Abs. 2<br />

GVG (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 26 und hier VI 1 und 2). Danach darf der Zeuge, wenn ihm unter den<br />

Voraussetzungen des § 68 Abs. 3 S. 1 StPO gestattet worden ist, Angaben zur Person nicht oder nur über<br />

eine frühere Identität zu machen, sein Gesicht entgegen § 176 Abs. 2 S. 1 GVG ganz oder teilweise verhüllen.<br />

Durch diese Regelung soll der umfassende Zeugenschutz des § 68 Abs. 3 S. 1 StPO für die besonders<br />

gefährdeten Personen erhalten bleiben. Diese Zeugen dürfen ihr Gesicht ganz oder teilweise verhüllen.<br />

VII. Vorführung einer Bild-Ton-Aufnahme nach § 255a StPO<br />

Änderungen im Überblick:<br />

• Norm: § 255a StPO<br />

• Regelungsgehalt:<br />

• Folgeänderung der Änderung des § 58a StPO (s. dazu <strong>ZAP</strong> F. 22, S. 1003 ff.)<br />

• Gegebenenfalls Einschränkung der Zulässigkeit der Vorführung einer Bild-Ton-Aufzeichnung<br />

• Verteidigerstrategie: Gegebenenfalls Beanstandung der Vorführung<br />

214 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1025<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

1. Neuregelung<br />

Die Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 58a StPO – Stichwort: Videovernehmung im Ermittlungsverfahren<br />

– auf die Vernehmung von erwachsenen (potenziellen) Opfern eines Sexualdelikts hat zu<br />

Folgeänderungen bei § 255a Abs. 2 StPO, der die Vorführung einer Bild-Ton-Aufnahme (BTA) in der<br />

Hauptverhandlung regelt (vgl. dazu eingehend BURHOFF, HV, Rn 3700 ff. m.w.N.), geführt. Die Zulässigkeit<br />

einer vernehmungsersetzenden Vorführung einer BTA gem. § 255a Abs. 2 StPO ist auf die Vernehmungen<br />

von erwachsenen Opfern eines Sexualdelikts erweitert worden.<br />

2. Zulässigkeit der Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung (§ 255a Abs. 2 S. 1 StPO)<br />

a) Erweiterung des Anwendungsbereichs<br />

Nach § 255 Abs. 2 S. 2 StPO gilt die Regelung des § 255a StPO jetzt auch für erwachsene „Verletzte einer<br />

Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 bis 184j des Strafgesetzbuches)“.<br />

Hinweise:<br />

Die Verletzten unter 18 Jahren werden nach wie vor von § 255a Abs. 2 S. 1 StPO erfasst.<br />

An den sonstigen Voraussetzungen hat sich durch die Neuregelung nichts geändert.<br />

Ebenso haben sich hinsichtlich der Anordnung der Vorführung der BTA keine Änderungen ergeben.<br />

Die Anordnung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden (BURHOFF, HV, Rn 3715). Dessen<br />

Anordnung kann der Verteidiger nach § 238 Abs. 2 StPO beanstanden (BURHOFF, a.a.O.).<br />

b) Widerspruch des Zeugen im Ermittlungsverfahren<br />

Neu ist (auch), dass die BTA in der Hauptverhandlung dann nicht vorgeführt werden darf, wenn der<br />

Zeuge im Ermittlungsverfahren nach seiner Vernehmung mit der Vorführung der BTA in der<br />

Hauptverhandlung nicht einverstanden ist (zur Kritik u.a. die Stellungnahme der BRAK Nr. 30/2019 v.<br />

November 2019, S. 12 f. unter https://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmendeutschland/2019/november/stellungnahme-der-brak-2019-30.pdf).<br />

Dann kann er unmittelbar nach der<br />

Vernehmung der Vorführung widersprechen.<br />

Der Vorführung der Aufzeichnung in der Hauptverhandlung steht aber nur ein zeitnah vom Zeugen im<br />

Ermittlungsverfahren erklärter Widerspruch entgegen. Das Gesetz formuliert mit „unmittelbar“. Es<br />

steht also nur in einem engen zeitlichen Zusammenhang nach der Vernehmung („unmittelbar“) im<br />

Belieben des Zeugen, ob seine Aussage bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen ggf. vernehmungsersetzend<br />

gem. § 255a StPO vorgeführt werden kann.<br />

Hinweise:<br />

Der rechtzeitig erklärte Widerspruch schließt die vernehmungsersetzende Vorführung der BTA aus. Ausgeschlossen<br />

ist aber nur die vernehmungsersetzende Vorführung der BTA. Auch nach der Neufassung des<br />

§ 255a Abs. 2 StPO ist es zulässig, ergänzend zur Vernehmung des Zeugen oder der Vernehmungsperson die<br />

Videoaufzeichnung ganz oder teilweise vorzuspielen. Dies ist durch die Aufklärungspflicht häufig geboten.<br />

Erklärt der Zeuge seinen Widerspruch ggf. erst in der Hauptverhandlung, ist das verspätet und<br />

unbeachtlich und steht somit einer vernehmungsersetzenden Vorführung der BTA nicht entgegen. Etwas<br />

anderes wird gelten, wenn der Zeuge vom vernehmenden Richter im Ermittlungsverfahren nicht oder<br />

nicht ausreichend über die Möglichkeit des Widerspruchs belehrt worden ist.<br />

VIII. Nebenklage (§§ 397a, 397b StPO)<br />

Änderungen im Überblick:<br />

• Normen: §§ 397a, 397b StPO<br />

• Regelungsgehalt:<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 215


Fach 22, Seite 1026<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

• Erweiterung der Privilegierungstatbestände in § 397a StPO<br />

• Einführung einer sog. gemeinschaftlichen Nebenklage in § 397b StPO<br />

• Verteidigerstrategie: Antragstellung<br />

1. Neuregelung<br />

Das Gesetz hat in § 397a Nr. 1 und Nr. 1 Buchst. a StPO die sog. Privilegierungstatbestände erweitert<br />

(vgl. dazu VIII 2). Außerdem ist, was schon länger gefordert und auch geplant war, in § 397b StPO das<br />

Institut der sog. gemeinschaftlichen Nebenklage eingeführt worden (vgl. sogleich VIII 3).<br />

2. Erweiterung der Privilegierungstatbestände<br />

Beim Erlass des „50. Strafrechtsänderungsgesetzes – Verbesserung des Schutzes der sexuellen<br />

Selbstbestimmung“ vom 4.11.2016 (BGBl I, S. 2460) hatte man übersehen, dass infolge der Änderungen<br />

in § 177 StGB die besonders schweren Fälle des § 177 StGB, die sich nur auf die neuen Grundtatbestände der<br />

§§ 177 Abs. 1 und 2 StGB beziehen, nicht unter die in § 397a Abs. 1 Nr. 1 StPO a.F. genannten Verbrechen<br />

fallen. Nach der Rechtslage hatten in diesen Fällen daher die Opfer keinen Anspruch auf privilegierte<br />

Bestellung eines Rechtsbeistands. In § 397a Abs. 1 Nr. 1 StPO ist nun durch das Gesetz der Katalog der<br />

Straftaten zur privilegierten Bestellung eines Beistands auf die besonders schweren Fälle eines Vergehens<br />

nach § 177 Abs. 6 StGB erweitert worden. Dies betrifft insb. Opfer von Vergewaltigungen, welche nur<br />

einen der Grundtatbestände der § 177 Abs. 1 und 2 StGB erfüllen.<br />

Der Kreis der nach § 397a Nr. 1 Buchst. a StPO privilegierten Nebenkläger ist ebenfalls um die Opfer einer<br />

Straftat nach § 177 Abs. 6 StGB erweitert worden. Insoweit handelt es sich um eine Folgeänderung zur<br />

Erweiterung des Bestellungsanspruchs bestimmter Nebenkläger gem. § 397a Abs. 1 Nr. 1 StPO. Und: Infolge<br />

der Anpassung des Katalogs für die Nebenklage in § 397a Nr. 1 und 1 Buchst. a StPO ist zur Vermeidung von<br />

Wertungswidersprüchen auch der Katalog des § 80 Abs. 3 S. 1 JGG für die Nebenklage gegen Jugendliche<br />

um Vergehen nach § 177 Abs. 6 StGB mit dem § 80 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 JGG erweitert worden.<br />

3. Gemeinschaftliche Nebenklage (§ 397b StPO)<br />

a) Allgemeines<br />

In § 397b StPO ist jetzt ausdrücklich die Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Nebenklagevertretung<br />

vorgesehen. Das soll u.a. der Verfahrensvereinfachung dienen (s. auch BT-Drucks 19/14747, S. 38). Die<br />

Neuregelung knüpft an die bisherige Rechtsprechung an, die das Verbot der Mehrfachverteidigung<br />

gem. § 146 StPO nicht auch als ein Verbot der Mehrfachvertretung angesehen hat (wegen der Einzelh.<br />

BURHOFF, EV, Rn 4576 ff., 4583 m.w.N.).<br />

b) „Bündelungsvoraussetzungen“ (§ 397b Abs. 1 StPO)<br />

Die gemeinschaftliche Nebenklagevertretung setzt nach § 397b Abs. 1 S. 1 StPO voraus, dass die<br />

Nebenkläger gleichgelagerte Interessen verfolgen. Gleichgelagerte Interessen werden nach § 397b<br />

Abs. 1 S. 2 StPO i.d.R. bei Nebenklägern anzunehmen sein, die nahe Angehörige desselben Getöteten<br />

(§ 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO) sind. Dies wird insb. in den Fällen in Betracht kommen, in denen sich mehrere<br />

minderjährige Kinder eines Getöteten als Nebenkläger anschließen. Gleichgelagerte Interessen i.S.d.<br />

Neuregelung setzen keine Interessensgleichheit oder vollständige Einigkeit der Nebenkläger voraus.<br />

Hinweis:<br />

Es handelt sich insoweit aber nur um ein nicht abschließendes Regelbeispiel. Gleichgelagerte Interessen<br />

sind auch außerhalb von Tötungsdelikten und unabhängig von Verwandtschaftsbeziehungen denkbar,<br />

etwa bei Großschadensereignissen oder Umweltdelikten. Die Kriterien für das Vorliegen gleichgelagerter<br />

Interessen sind anhand der jeweiligen Umstände zu ermitteln.<br />

§ 397b Abs. 1 S. 1 StPO ist als Kann-/Ermessens-Vorschrift ausgestaltet. Das Gericht hat auf der<br />

Rechtsfolgenseite sowohl ein Entschließungs- als auch ein Auswahlermessen. Insoweit gilt:<br />

216 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug Fach 22, Seite 1027<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

Hinsichtlich des Entschließungsermessens, also der Frage, ob die Mehrfachvertretung überhaupt in<br />

Betracht zu ziehen ist, kann/muss das Gericht neben der Interessenlage der Nebenkläger weitere<br />

Gesichtspunkte berücksichtigen, wie die Wahrung der Rechte des Angeklagten, den Resozialisierungsgedanken<br />

oder die voraussichtliche Dauer und Komplexität des Verfahrens. Das Entschließungsermessen<br />

umfasst auch die Frage, ob die Nebenkläger ggf. in Gruppen einzuteilen sind, und die<br />

Einteilung der Gruppen von Nebenklägern (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 39 f.). Es wird sich insoweit<br />

an den gleichgelagerten Interessen der Nebenkläger orientieren.<br />

Auch das sog. Auswahlermessen hinsichtlich des Nebenklagevertreters liegt beim Gericht. Es hat die<br />

Auswahl des anwaltlichen Vertreters nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Sachliche Auswahlkriterien<br />

können z.B. sein: der Wille der (Mehrheit der) Nebenkläger, der Zeitpunkt des Bestellungs- und<br />

Beiordnungsantrags (Prioritätsprinzip), die Ortsnähe des Kanzleisitzes des potenziellen Nebenklagevertreters<br />

zum Gerichtsort oder etwaige Verhinderungen infolge von Terminkollision des vorgeschlagenen<br />

Nebenklagevertreters.<br />

c) Verfahren der Bestellung/Beiordnung (§ 397b Abs. 1 und 2 StPO)<br />

Über die Bestellung/Beiordnung eines gemeinschaftlichen Nebenklagevertreters entscheidet gem. § 396<br />

Abs. 1 S. 1 StPO das Gericht, nicht etwa der Vorsitzende allein.<br />

Bevor das Gericht über die Bestellung oder Beiordnung eines gemeinschaftlichen Nebenklagevertreters<br />

entscheidet, soll es den betroffenen Nebenklägern nach § 397b Abs. 2 S. 1 StPO Gelegenheit zur<br />

Stellungnahme einräumen, um den Nebenklägern so rechtliches Gehör zu verschaffen. Die Staatsanwaltschaft<br />

ist nach allgemeinen Grundsätzen gem. § 33 Abs. 2 StPO zu hören.<br />

Die Entscheidung ergeht durch Beschluss. Wird ein gemeinschaftlicher Nebenklagevertreter bestellt/<br />

beigeordnet, muss das Gericht diesen benennen. Der Beschluss muss im Hinblick darauf, dass das<br />

Rechtsmittel der Beschwerde gegeben ist, begründet werden. Dabei muss zu erkennen sein, dass das<br />

Gericht sein Entschließungs- und Auswahlermessen ausgeübt hat.<br />

Im Fall der Bestellung oder Beiordnung eines gemeinschaftlichen Rechtsanwalts müssen ggf. bereits<br />

erfolgte Einzelbestellungen oder -beiordnungen aufgehoben werden (§ 397b Abs. 2 S. 2 StPO). Dadurch<br />

soll verhindert werden, dass derselbe Nebenklagevertreter zugleich als Mehrfach- und Einzelvertreter<br />

bestellt oder beigeordnet ist bzw. neben dem bestellten oder beigeordneten gemeinschaftlichen Nebenklagevertreter<br />

doppelte Einzelbestellungen oder -beiordnungen zulasten der Staatskasse bestehen<br />

bleiben. Das Gericht muss zudem gem. § 397b Abs. 3 StPO feststellen, ob für einen nicht als Beistand<br />

bestellten oder beigeordneten Rechtsanwalt die Voraussetzungen der Bestellung oder Beiordnung<br />

vorgelegen haben. Diese Feststellung hat für diesen Rechtsanwalt vergütungsrechtliche Folgen.<br />

d) Umfang/Wirkung der Bestellung/Beiordnung<br />

Die gemeinschaftliche Nebenklagevertretung erstreckt sich bei der Bestellung eines Beistands (§ 397a<br />

Abs. 1 StPO) auf das gesamte Verfahren, während sie im Fall der bewilligten PKH (§ 397 Abs. 2 StPO) auf<br />

den jeweiligen Rechtszug beschränkt ist.<br />

Durch die Bestellung/Beiordnung eines gemeinschaftlichen Nebenklagevertreters werden die den einzelnen<br />

Nebenklägern eingeräumten Verfahrensrechte gem. § 397 StPO nicht berührt. Den einzelnen<br />

Nebenklägern verbleiben also auch bei der gemeinschaftlichen Nebenklagevertretung insb. ihre Anwesenheits-<br />

und Fragerechte.<br />

e) Aufhebung der Bestellung/Beiordnung und Rechtsmittel<br />

Liegen die Voraussetzungen der gemeinschaftlichen Nebenklagevertretung im Verlauf der Hauptverhandlung<br />

nicht mehr vor, kann die gemeinschaftliche Nebenklagevertretung ganz oder teilweise<br />

aufgehoben werden. Für diesen Fall richtet sich die (Einzel-)Bestellung eines Rechtsbeistands weiterhin<br />

nach § 397a Abs. 3 S. 2 StPO i.V.m. § 142 StPO.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 217


Fach 22, Seite 1028<br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Modernisierung des Strafverfahrens<br />

Die Entscheidung über die Bestellung eines gemeinschaftlichen Nebenklagevertreters kann nach den<br />

allgemeinen Grundsätzen mit der (einfachen) Beschwerde angefochten werden (vgl. dazu BT-Drucks<br />

19/14747, S. 40).<br />

IX.<br />

Exkurs: Gerichtsdolmetschergesetz<br />

1. Neuregelung<br />

Änderungen im Überblick:<br />

• Normen: Gesetz über die allgemeine Beeidigung von gerichtlichen Dolmetschern – (Gerichtsdolmetschergesetz<br />

– GDolmG)<br />

• Regelungsgehalt:<br />

• Die bislang in den Bundesländern unterschiedlich ausgestalteten Standards für die Beeidigung von<br />

Gerichtsdolmetschern werden vereinheitlicht.<br />

• Sowohl die persönlichen als auch die fachlichen Voraussetzungen eines Gerichtsdolmetschers werden<br />

festgelegt.<br />

• Einführung einer sog. gemeinschaftlichen Nebenklage in § 397b StPO<br />

• Verteidigerstrategie: Prüfung, ob vereidigt; ggf. Verfahrensrüge<br />

Eingeführt worden ist durch das Gesetz in dessen Art. 5 ein „Gesetz über die allgemeine Beeidigung von<br />

gerichtlichen Dolmetschern“ –(Gerichtsdolmetschergesetz – GDolmG). Die Regelungen gelten auch<br />

im Bußgeldverfahren und in allen anderen Verfahrensordnungen.<br />

2. Regelungsüberblick<br />

Nach § 1 GDolmG sind zur Sprachenübertragung für gerichtliche Zwecke zugezogene Dolmetscher i.S.d.<br />

§ 185 GVG nach dem GDolmG allgemein zu beeidigen. Das entspricht § 189 GVG, der ebenfalls vorsieht,<br />

die zur mündlichen Übertragung einer Sprache bestellten Dolmetscher allgemein zu beeidigen.<br />

Hinweis:<br />

Allgemein beeidigte Dolmetscher müssen nicht mehr in der (Haupt-)Verhandlung selbst beeidigt werden,<br />

sondern können sich auf ihren allgemein geleisteten Eid berufen.<br />

Für die Tätigkeit als Dolmetscher vor Gericht ist aber die allgemeine Beeidigung nach wie vor nicht<br />

obligatorisch. Dem Gericht ist es unbenommen, den Dolmetscher auch im Rahmen der Hauptverhandlung<br />

nach § 189 Abs. 1 GVG zu vereidigen. Die allgemeine Beeidigung gewährleistet jedoch im Gegensatz<br />

zu der Eidesleistung im Gerichtssaal, dass der Dolmetscher zuvor seine Kompetenzen in einem verwaltungsrechtlichen<br />

Verfahren gegenüber der nach § 2 GDolmG zuständigen Stelle nachgewiesen hat.<br />

Das Verfahren der Beeidigung ist in den §§ 2 ff. GDolmG geregelt. Die Zuständigkeit (§§ 2 GDolmG) für<br />

die Beeidigung ist zentral bei den OLG bzw. dem KG konzentriert. Den Landesgesetzgebern ist aber über<br />

eine Verordnungsermächtigung die Möglichkeit gegeben, ggf. bereits bestehende andere Zuständigkeiten<br />

im Verordnungswege fortzuführen. Nach § 3 Abs. 1 GDolmG muss der seine Beeidigung beantragende<br />

Dolmetscher bestimmte persönliche und fachliche Voraussetzungen erfüllen, um zu garantieren,<br />

dass er den Anforderungen der Tätigkeit als Dolmetscher gewachsen ist.<br />

Hinweis:<br />

Nach § 5 Abs. 3 GDolmG ist der Dolmetscher zur Verschwiegenheit verpflichtet.<br />

Die ggf. fehlende (allgemeine) Vereidigung eines Dolmetschers kann im Verfahren von Bedeutung sein<br />

und zum Erfolg einer darauf gestützten Revision führen (dazu BGH StraFo 2019, 425 = StRR 12/2019, 11).<br />

Der Verteidiger muss sich also, wenn ein Dolmetscher zugezogen worden ist, mit den sich daraus<br />

ergebenden Fragen befassen.<br />

218 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Gebührenrecht Fach 24, Seite 1737<br />

Gebührentipps<br />

Anwaltsgebühren<br />

Gebührentipps für Rechtsanwälte (I/<strong>2020</strong>)<br />

Von VorsRiLG a.D. HEINZ HANSENS, Berlin<br />

Inhalt<br />

I. Rechtsbehelfe im Verfahren auf Festsetzung<br />

der PKH-/VKH-Anwaltsvergütung<br />

1. Rechtsbehelfe<br />

2. Verwirkung des Erinnerungsrechts<br />

3. Folgen einer unterbliebenen oder fehlerhaften<br />

Rechtsbehelfsbelehrung<br />

II. Anwaltsvergütung und Erstattung bei der<br />

außergerichtlichen Verkehrsunfallschadensregulierung<br />

1. Anwaltsvergütung<br />

2. Gegenstandswert<br />

3. Materiell-rechtlicher Kostenerstattungsanspruch<br />

4. Maßgeblicher Zeitpunkt<br />

5. Gegenstandswert<br />

III. Auslagen der Partei für einen gestellten<br />

Zeugen<br />

1. Gerichtlich geladener Zeuge<br />

2. Gestellter Zeuge<br />

3. Besonderheiten bei einer Verzichtserklärung<br />

IV. Keine Beschränkung bei den Reisekosten<br />

auf Sparangebote<br />

1. Fall des BVerwG<br />

2. Der Stand der Rechtsprechung<br />

3. Praktische Auswirkungen für den Rechtsanwalt<br />

V. Prozesskostenhilfe bei Vertretung eines<br />

bedürftigen und eines nicht bedürftigen<br />

Streitgenossen<br />

1. Fall des BGH<br />

2. Argumente des BGH<br />

3. Entscheidung im Prozesskostenhilfe-<br />

Bewilligungsverfahren<br />

4. Entscheidung im Festsetzungsverfahren<br />

5. Rechtsbehelfe<br />

I. Rechtsbehelfe im Verfahren auf Festsetzung der PKH-/VKH-Anwaltsvergütung<br />

Gemäß § 45 Abs. 1 S. 1 RVG erhält der im Wege der Prozesskostenhilfe (PKH) bzw. Verfahrenskostenhilfe<br />

(VKH) beigeordnete Rechtsanwalt die gesetzliche Vergütung in Verfahren vor Gerichten des Bundes aus<br />

der Bundeskasse, in Verfahren vor Gerichten eines Landes aus der Landeskasse. Dabei bestimmt sich<br />

der Vergütungsanspruch des Rechtsanwalts gegen die Staatskasse gem. § 48 Abs. 1 RVG nach den<br />

Beschlüssen, durch die die PKH/VKH bewilligt und der Rechtsanwalt beigeordnet worden ist. Die danach<br />

aus der Staatskasse zu gewährende Vergütung des beigeordneten Rechtsanwalts wird auf dessen<br />

Antrag gem. § 55 Abs. 1 S. 1 RVG von dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Gerichts des ersten<br />

Rechtszugs festgesetzt.<br />

1. Rechtsbehelfe<br />

Welche Rechtsbehelfe im Verfahren auf Festsetzung der PKH-/VKH-Anwaltsvergütung gegeben sind,<br />

regelt das RVG abschließend und vorrangig vor den Vorschriften der jeweiligen Verfahrensordnungen<br />

(s. § 1 Abs. 3 RVG). Gegen die Festsetzung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle und auch – was das<br />

Gesetz nicht ausdrücklich regelt – gegen die Zurückweisung des Festsetzungsantrags ist gem. § 56<br />

Abs. 1 S. 1 RVG die Erinnerung gegeben. Erinnerungsbefugt können sowohl der Rechtsanwalt sein, um<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 219


Fach 24, Seite 1738<br />

Gebührentipps<br />

Gebührenrecht<br />

dessen Vergütung es geht, als auch die Staatskasse. Für das Verfahren über die Erinnerung verweist § 56<br />

Abs. 2 S. 1 Hs. 1 RVG auf die das Verfahren auf Festsetzung des Gegenstandswerts betreffenden<br />

Regelungen des § 33 Abs. 4 S. 1 und Abs. 7 und 8 RVG.<br />

Gegen die auf die Erinnerung ergangene Entscheidung des Gerichts ist die Beschwerde gegeben. Für das<br />

Verfahren über die Beschwerde verweist § 56 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 RVG auf die Regelungen in § 33 Abs. 3 bis 8<br />

RVG. Hieraus ergeben sich folgende praktische Auswirkungen.<br />

a) Erinnerung<br />

Die Erinnerung gegen die Festsetzung der PKH- oder VKH-Anwaltsvergütung nach § 55 RVG ist nach<br />

der allgemeinen Auffassung in der Rechtsprechung und Literatur unbefristet, weil § 56 Abs. 2 S. 1 Hs. 1<br />

RVG nicht auch auf die die Befristung regelnde Vorschrift des § 33 Abs. 3 S. 3 RVG verweist (s. OLG<br />

Brandenburg RVGreport 2010, 218 [HANSENS] = AGS 2011, 280; OLG Frankfurt RVGreport 2007, 100 [DERS.];<br />

OLG Düsseldorf RVGreport 2016, 218 [DERS.]; LSG Sachsen-Anhalt RVGreport 2018, 15 [DERS.]; MAYER/<br />

KROIß/PUKALL, RVG, 6. Aufl., § 56 Rn 10; Gerold/Schmidt/MÜLLER-RABE, RVG, 24. Aufl., § 56 RVG Rn 8).<br />

Anderer Auffassung ist lediglich das OLG Koblenz (RVGreport 2006, 60 [HANSENS]).<br />

b) Beschwerde<br />

Demgegenüber verweist § 56 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 RVG für das Verfahren über die Beschwerde gegen die<br />

Entscheidung über die Erinnerung auf die entsprechende Anwendung von § 33 Abs. 3 bis 8 RVG. Dies<br />

schließt die in § 33 Abs. 3 S. 3 RVG geregelte Befristung der Beschwerde ein.<br />

c) Weitere Beschwerde<br />

Ebenfalls befristet ist die – zulassungsbedürftige – weitere Beschwerde gegen die Entscheidung des LG<br />

als Beschwerdegericht. Hier gilt ebenfalls die Verweisung in § 56 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 RVG, sodass für die<br />

weitere Beschwerde § 33 Abs. 6 S. 4 i.V.m. Abs. 3 S. 3 RVG anwendbar ist.<br />

d) Zusammenfassung<br />

Somit gilt für die Rechtsbehelfe in Verfahren auf Festsetzung der PKH- oder VKH-Anwaltsvergütung<br />

Folgendes:<br />

1. Die Erinnerung ist unbefristet.<br />

2. Für die Beschwerde gilt eine Beschwerdefrist von zwei Wochen.<br />

3. Die weitere Beschwerde ist ebenfalls binnen der Beschwerdefrist von zwei Wochen einzulegen.<br />

2. Verwirkung des Erinnerungsrechts<br />

Ob das Erinnerungsrecht verwirken kann, ist in der Rechtsprechung umstritten.<br />

a) Erinnerung der Staatskasse<br />

Teilweise wird die Auffassung vertreten, das Erinnerungsrecht der Staatskasse verwirke entsprechend<br />

§ 20 GKG, § 19 Abs. 1 FamGKG (s. etwa OLG Brandenburg RVGreport 2010, 218 [HANSENS] = AGS 2011, 280;<br />

KG RVGreport 20<strong>04</strong>, 314 [DERS.]; OLG Zweibrücken RVGreport 2006, 423 [DERS.]; OLG Jena Rpfleger<br />

2006, 434; LSG Sachsen-Anhalt RVGreport 2018, 15 [DERS.]; SG Berlin RVGreport 2011, 381 [DERS.]; offen:<br />

OLG Celle RVGreport 2015, 248 [DERS.] für die Rückforderung des Vorschusses vom PKH-Anwalt); a.A.<br />

OLG Düsseldorf RVGreport 2016, 218 [DERS.]).<br />

Eine Verwirkung des Erinnerungsrechts der Staatskasse soll aber dann nicht eintreten, wenn der<br />

Rechtsanwalt vorsätzlich oder grob fahrlässig einen unberechtigten Festsetzungsantrag gestellt hat<br />

und die Festsetzung auf diesen falschen Angaben des Anwalts beruht (Bay. LSG AGS 2012, 584; OLG<br />

Rostock JurBüro 2012, 197). Schließlich kommt eine Verwirkung des Erinnerungsrechts der Staatskasse<br />

dann nicht in Betracht, wenn der Rechtsanwalt seinerseits Erinnerung gegen die Festsetzung der<br />

Vergütung eingelegt hat und sich die Staatskasse der Erinnerung angeschlossen hat.<br />

220 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Gebührenrecht Fach 24, Seite 1739<br />

Gebührentipps<br />

Einigkeit besteht bei den Gerichten, die grds. von einer Verwirkung des Erinnerungsrechts ausgehen,<br />

darüber, dass neben dem sog. Zeitmoment auch das Umstandsmoment vorliegen muss. Das Zeitmoment<br />

ist jedenfalls dann nicht gegeben, wenn zwischen dem Erlass der angefochtenen Entscheidung<br />

und der Einlegung ein Zeitraum von nur 13 Monaten (so das Thür. LSG RVGreport <strong>2020</strong>, Heft 3) oder 15<br />

Monaten (so das LSG Sachsen-Anhalt RVGreport 2018, 15 [HANSENS]) liegt.<br />

b) Erinnerung des Rechtsanwalts<br />

Demgegenüber besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass das Erinnerungsrecht des Rechtsanwalts<br />

nicht verwirkt (OLG Zweibrücken RVGreport 2006, 423 [HANSENS]; KG RVGreport 20<strong>04</strong>, 314 [DERS.]; a.A.<br />

OLG Koblenz FamRZ 1999, 1362 zu § 128 BRAGO: Verwirkung nach Ablauf von drei Monaten nach<br />

Zustellung des Beschlusses über die Festsetzung der Vergütung).<br />

3. Folgen einer unterbliebenen oder fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung<br />

Mit Einfügung des § 12c RVG muss jede anfechtbare Entscheidung eine Belehrung über den statthaften<br />

Rechtsbehelf sowie über das Gericht, bei dem dieser Rechtsbehelf einzulegen ist, über dessen Sitz und<br />

über die einzuhaltende Form und Frist enthalten. Dies betrifft auch die Rechtsbehelfe im Verfahren auf<br />

Festsetzung der PKH-Anwaltsvergütung. Welche Folgen eine unterbliebene oder auch nur fehlerhafte<br />

Rechtsbehelfsbelehrung hat, regelt § 56 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 i.V.m. § 33 Abs. 5 S. 2 RVG. Danach wird bei<br />

einem befristeten Rechtsbehelf ein Fehlen des Verschuldens vermutet, wenn die gebotene Rechtsbehelfsbelehrung<br />

unterblieben oder fehlerhaft ist. In diesen Fällen hat der Rechtsanwalt dann gem. § 56<br />

Abs. 2 S. 1 Hs. 2 i.V.m. § 33 Abs. 5 S. 1 RVG einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu<br />

stellen und die die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen, hier also die unterbliebene oder<br />

fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung, vorzutragen und glaubhaft zu machen. Letzteres ist in der Praxis<br />

meist entbehrlich, da das Fehlen oder die Unrichtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung sich aus den<br />

Gerichtsakten ergeben müsste.<br />

Der Eindruck, dass bei einer völlig fehlenden oder unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung gewissermaßen<br />

automatisch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden muss, täuscht jedoch: Die<br />

Rechtsprechung versagt nämlich im Regelfall einem anwaltlich vertretenen Beteiligten und erst recht<br />

einem in eigener Sache selbst auftretenden Rechtsanwalt die Rechtswohltat des § 33 Abs. 5 S. 2 RVG<br />

bzw. der entsprechenden Regelungen in anderen Verfahrensvorschriften. Der BGH (s. AnwBl 2012, 927 =<br />

NJW-RR 2012, 1025; NJW 2013, 1308; NJW 2017, 113 mit Anm. HEINEMANN) begründet dies damit, von einem<br />

Anwalt müsse erwartet werden, dass er die Grundzüge des Verfahrensrechts und das Rechtsmittelsystem<br />

in der jeweiligen Verfahrensart kenne. Deshalb könne er das Vertrauen in die Richtigkeit einer<br />

Rechtsbehelfsbelehrung nicht uneingeschränkt in Anspruch nehmen. Eine Wiedereinsetzung in den<br />

vorigen Stand kommt nach der Rechtsprechung des BGH bei einem anwaltlich vertretenen Beteiligten<br />

deshalb nur dann in Betracht, wenn die unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung bei einem Rechtsanwalt<br />

einen entschuldbaren Rechtsirrtum über das statthafte Rechtsmittel hervorgerufen hat.<br />

Für das Verfahren auf Festsetzung der PKH-/VKH-Anwaltsvergütung liegen die Obergerichte auf<br />

derselben Linie. So hat beispielsweise das LSG NRW (RVGreport 2017, 454 [HANSENS]) die Auffassung<br />

vertreten, die Vermutung des § 33 Abs. 5 S. 2 RVG sei jedenfalls dann widerlegt, wenn es sich bei dem die<br />

Frist versäumenden Beschwerdeführer um einen Rechtsanwalt handele, der in Kostenangelegenheiten<br />

äußerst versiert sei und als Beschwerdeführer eine Vielzahl von Beschwerden im Verfahren auf<br />

Festsetzung der PKH-Anwaltsvergütung betrieben habe. Da im Verfahren auf Festsetzung der PKH-/<br />

VKH-Anwaltsvergütung fast regelmäßig derart sachkundige Beschwerdeführer – sei es der Rechtsanwalt<br />

oder der Vertreter der Staatskasse – tätig sind, kommt die Regelung in § 33 Abs. 3 S. 2 RVG<br />

praktisch nie zur Anwendung. Allenfalls ein Neuling, der sein erstes Verfahren auf Festsetzung der PKH-/<br />

VKH-Anwaltsvergütung nebst Rechtsbehelfsverfahren betreibt, könnte sich dann einmalig auf eine<br />

unrichtige oder fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung berufen, wenn er die Beschwerdefrist versäumt.<br />

Einen entsprechenden Wiedereinsetzungsantrag muss er jedoch gem. § 56 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 i.V.m. § 33<br />

Abs. 5 S. 1 RVG gleichwohl stellen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 221


Fach 24, Seite 1740<br />

Gebührentipps<br />

Gebührenrecht<br />

Diese einschränkende Auffassung halte ich nicht für zutreffend. Dem Gesetzgeber war bewusst, dass<br />

im Verfahren auf Festsetzung der PKH-/VKH-Anwaltsvergütung die Beteiligten, nämlich der den<br />

Festsetzungsantrag stellende Rechtsanwalt einerseits und der Vertreter der Staatskasse andererseits,<br />

die Grundzüge des Verfahrensrechts und das Rechtsmittelsystem des § 56 Abs. 2 i.V.m. § 33 Abs. 3 bis 8<br />

RVG kennen müssen. Gleichwohl hat er durch die Verweisung auf § 33 Abs. 5 S. 2 RVG die Regelung<br />

getroffen, dass bei einer fehlenden oder unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung ein Fehlen des Verschuldens<br />

an der Fristversäumung vermutet wird. Folgt man der Rechtsprechung, so könnte sich nur ein<br />

Anfänger in seinem Wiedereinsetzungsantrag auf ein Fehlen des Verschuldens aufgrund einer<br />

unrichtigen oder völlig fehlenden Rechtsbehelfsbelehrung berufen. Für eine derartige Einschränkung<br />

ergeben sich im Gesetz jedoch keine Anhaltspunkte.<br />

Gebührentipp:<br />

Gleichwohl muss sich der Rechtsanwalt bei seiner Verfahrensweise darauf einstellen, dass allein eine<br />

unterbliebene oder fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung kein Grund für eine Wiedereinsetzung in den<br />

vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Beschwerde oder der weiteren<br />

Beschwerde darstellt. Deshalb sollte der Anwalt sein Büropersonal anweisen, inVerfahren auf<br />

Festsetzung der PKH-/VKH-Anwaltsvergütung die gerichtlichen Rechtsbehelfsbelehrungen, wenn sie<br />

der gerichtlichen Entscheidung überhaupt beigefügt worden sind, unberücksichtigt zu lassen und den<br />

richtigen Rechtsbehelf und ggf. seine Frist und weitere gesetzliche Anforderungen dem Gesetz zu<br />

entnehmen.<br />

II. Anwaltsvergütung und Erstattung bei der außergerichtlichen<br />

Verkehrsunfallschadensregulierung<br />

Die außergerichtliche Regulierung eines Verkehrsunfallschadens nimmt in der anwaltlichen Praxis – je<br />

nach Zuschnitt der Anwaltskanzlei – einen großen Raum ein. Deshalb sollen nachfolgend die Grundsätze<br />

für den Anfall der hierdurch ausgelösten Anwaltsvergütung und für deren Erstattungsfähigkeit nach<br />

materiellem Recht wiedergegeben werden.<br />

1. Anwaltsvergütung<br />

Welche Vergütung der mit der außergerichtlichen Schadensregulierung beauftragte Anwalt gegenüber<br />

seinem Mandanten abrechnen kann, richtet sich nach dem ihm erteilten Auftrag.<br />

a) Vertretungsauftrag<br />

Im Regelfall wird dies ein auf außergerichtliche Anwaltstätigkeit gerichteter Vertretungsauftrag sein,<br />

sodass die Vergütung nach Teil 2 Abschnitt 3 VV RVG abzurechnen ist und dem Anwalt dann eine<br />

Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG anfällt.<br />

Bei einem durchschnittlichen Verkehrsunfall ist die Berechnung einer 1,3 Geschäftsgebühr nach<br />

Nr. 2300 VV RVG nicht unbillig. Diese Schwellengebühr ist nämlich die Regelgebühr für durchschnittliche<br />

Fälle (BGH RVGreport 2013, 185 [HANSENS] = zfs 2013, 288 mit Anm. HANSENS = AGS 2013, 111). Im<br />

Durchschnittsfall kann der Rechtsanwalt diese Schwellengebühr nicht mit der Begründung auf eine 1,5<br />

Geschäftsgebühr anheben, eine Überprüfung seiner Gebührenbestimmung sei nicht zulässig, weil er sich<br />

mit der Überschreitung der Regelgebühr noch innerhalb der üblicherweise einzuräumenden Toleranzgrenze<br />

von 20 % befinde (BGH a.a.O.; BGH RVGreport 2012, 375 [DERS.] = zfs 2012, 584 mit Anm. HANSENS<br />

= AGS 2012, 373; a.A. noch BGH RVGreport 2011, 136 [DERS.] = zfs 2011, 465 mit Anm. HANSENS = AGS 2011,<br />

120 mit Anm. SCHONS; s. auch HANSENS AnwBl 2011, 567).<br />

b) Unbedingter Prozessauftrag<br />

Der Mandant kann seinem Rechtsanwalt aber auch einen unbedingten Prozessauftrag mit der Maßgabe<br />

erteilen, zunächst eine außergerichtliche Verkehrsunfallschadensregulierung zu versuchen. In diesem<br />

Fall berechnen sich die Anwaltsgebühren ausweislich der Vorbem. 3 Abs. 1 S. 1 VV RVG nach Teil 3 VV<br />

222 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Gebührenrecht Fach 24, Seite 1741<br />

Gebührentipps<br />

RVG. Der Rechtsanwalt erhält also auch dann, wenn er auf einen solchen Auftrag hin kein gerichtliches<br />

Verfahren betreibt, eine 0,8 Verfahrensgebühr nach Nr. 3101 Nr. 1 VV RVG. Führt der Anwalt daneben<br />

Besprechungen zur Vermeidung des gerichtlichen Verfahrens, kann ihm nach Vorbem. 3 Abs. 3 S. 3 Nr. 2<br />

VV RVG daneben noch die 1,2 Terminsgebühr nach Nr. 31<strong>04</strong> VV RVG anfallen.<br />

2. Gegenstandswert<br />

Der für die Abrechnung mit dem Mandanten maßgebliche Gegenstandswert bestimmt sich danach,<br />

welche Ansprüche der Anwalt für seinen Mandanten geltend machen bzw. abwehren soll. Dieser<br />

Gegenstandswert ist meist geringer als der für die Kostenerstattung maßgebliche Gegenstandswert<br />

(s. unter II 5).<br />

3. Materiell-rechtlicher Kostenerstattungsanspruch<br />

Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH umfasst der dem Geschädigten gem. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB<br />

zustehende Schadensersatzanspruch aus einem Verkehrsunfall grds. auch den Ersatz der durch das<br />

Schadensereignis erforderlich gewordenen Rechtsverfolgungskosten (BGH RVGreport 2017, 424<br />

[HANSENS] = zfs 2017, 646 mit Anm. HANSENS = AGS 2017, 365; BGH RVGreport 2006, 236 [DERS.] = zfs<br />

2006, 448 = AGS 2006, 256; BGH NJW 2005, 1112; BGH RVGreport 2015, 384 [DERS.] = zfs 2015, 585 mit<br />

Anm. HANSENS = AGS 2015, 514; BGH RVGreport <strong>2020</strong>, 65 [DERS.]). Dabei hat der Schädiger allerdings nicht<br />

schlechthin alle durch das Schadensereignis adäquat verursachten Rechtsanwaltskosten zu ersetzen,<br />

sondern nur diejenigen, die aus Sicht des Geschädigten zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich<br />

und zweckmäßig waren. Dabei ist nach der Rechtsprechung des BGH nach dem Grundsatz der<br />

subjektbezogenen Schadensbetrachtung auch Rücksicht auf die spezielle Situation des Geschädigten<br />

zu nehmen (BGH RVGreport 2012, 305 [HANSENS] = AGS 2012, 595; BGH RVGreport <strong>2020</strong>, 65 [DERS.]).<br />

An die Voraussetzungen des materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruchs sind keine überzogenen<br />

Anforderungen zu stellen. Vielmehr kommt es darauf an, wie sich die voraussichtliche Abwicklung des<br />

Schadensfalls aus der Sicht des Geschädigten darstellt. Die sich hieraus ergebenden Auswirkungen hat<br />

der BGH in seinem Urt. v. 29.10.2019 (RVGreport <strong>2020</strong>, 65 [DERS.]) zusammengefasst.<br />

a) Einfach gelagerte Fälle<br />

In einfach gelagerten Fällen kann der Geschädigte nach Auffassung des BGH den Schaden grds. selbst<br />

geltend machen. In einem solchen Fall sei die sofortige Einschaltung eines Rechtsanwalts nur<br />

unter besonderen Voraussetzungen als erforderlich anzusehen. Dies kann gegeben sein, wenn der<br />

Geschädigte aus Mangel an geschäftlicher Gewandtheit oder aus sonstigen Gründen wie Krankheit<br />

oder Abwesenheit nicht in der Lage ist, den Schaden selbst anzumelden (BGH RVGreport 2007, 470<br />

[HANSENS] = AnwBl 2007, 547; BGH RVGreport 2015, 384 [DERS.] = zfs 2015, 585 mit Anm. HANSENS = AGS<br />

2015, 541). Ein einfacher Fall kann nach Auffassung des BGH dann vorliegen, wenn die Verantwortlichkeit<br />

für den Schaden und damit die Haftung von vornherein nach Grund und Höhe derartig klar<br />

ist, dass aus Sicht des Geschädigten kein vernünftiger Zweifel daran bestehen kann, dass der Schädiger<br />

oder dessen Haftpflichtversicherer ohne Weiteres seiner Ersatzpflicht nachkommen kann. In diesen<br />

Fällen sei die Hinzuziehung eines Anwalts schon für die erstmalige Geltendmachung des Schadens<br />

gegenüber dem Schädiger oder dessen Versicherer nicht notwendig (BGH RVGreport 2007, 470<br />

[HANSENS] = AnwBl 2007, 547).<br />

b) Geschäftsgewandtheit des Geschädigten<br />

In Anwendung dieser Grundsätze kann sich nach Auffassung des BGH (a.a.O.) eine etwaige Geschäftsgewandtheit<br />

des Geschädigten, insb. dessen Sach- und Fachkenntnisse im Zusammenhang mit der<br />

Abwicklung vergleichbarer Schadensfälle, nur in zweifacher Hinsicht auswirken:<br />

• Erstens bei der Beurteilung, ob aus Sicht des entsprechend qualifizierten Geschädigten kein vernünftiger<br />

Zweifel daran bestehen kann, dass der Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherer ohne Weiteres<br />

seiner Ersatzpflicht nachkommen werde.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 223


Fach 24, Seite 1742<br />

Gebührentipps<br />

Gebührenrecht<br />

• Zweitens habe der Geschädigte – so der BGH (a.a.O.) – sein Wissen bei der erstmaligen Geltendmachung<br />

des Schadens einzusetzen, wenn es sich nach den vorgenannten Kriterien um einen derart<br />

einfachen, aus seiner Sicht zweifelsfreien Fall handele. In diesem Fall dürfe also der Geschädigte die<br />

Hinzuziehung eines Rechtsanwalts zunächst nicht für erforderlich halten.<br />

c) Kein einfach gelagerter Fall<br />

Handelt es sich hingegen nicht um einen einfach gelagerten Fall, ist der Geschädigte, gleich ob<br />

Privatperson, Behörde oder Unternehmen, ungeachtet etwaiger Erfahrungen und Fachkenntnisse nicht<br />

verpflichtet, von der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts bei der Schadensabwicklung Abstand zu<br />

nehmen (BGH BGHZ 127, 348, 352 = zfs 1995, 48 und 61 = AGS 1995, 30). Dies hat zur Folge, dass auch<br />

einem mit Schadensabwicklungen vertrauten Unternehmen nicht verwehrt werden kann, einen<br />

Rechtsanwalt zu beauftragen, sofern nicht zweifelsfrei ist, dass und inwieweit der Haftpflichtversicherer<br />

des Unfallgegners den Schaden regulieren werde. In dem vom BGH (a.a.O.) in seinem Urt. v. 29.10.2019<br />

entschiedenen Fall hat es sich um ein international tätiges Autovermietungsunternehmen gehandelt.<br />

d) Verkehrsunfall mit Beteiligung zweier Fahrzeuge<br />

Die schadensrechtliche Abwicklung eines Verkehrsunfalls, an dem zwei Fahrzeuge beteiligt waren, stellt<br />

jedenfalls im Hinblick auf die Schadenshöhe regelmäßig keinen einfach gelagerten Fall dar. Dies hat der<br />

BGH (a.a.O.) damit begründet, bei einem Fahrzeugschaden werde die rechtliche Beurteilung nahezu<br />

jeder Schadensposition in Rechtsprechung und Literatur seit Jahren intensiv und kontrovers diskutiert.<br />

Hierzu gebe es umfangreiche, vielschichtige und teilweise uneinheitliche Rechtsprechung, die laufend<br />

fortentwickelt werde. Dementsprechend werde zwischen den Geschädigten und den in der Regel<br />

hochspezialisierten Rechtsabteilungen der Haftpflichtversicherer nicht selten um einzelne Beträge bis in<br />

die letzte Gerichtsinstanz gestritten.<br />

Deshalb darf nach der Rechtsprechung des BGH bei Unklarheiten im Hinblick jedenfalls auf die Höhe der<br />

Ersatzpflicht, wie sie typischerweise bei Fahrzeugschäden nach einem Verkehrsunfall besteht, auch und<br />

gerade der mit der Schadensabwicklung von Verkehrsunfällen vertraute Geschädigte vernünftige<br />

Zweifel daran haben, dass der Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherer ohne Weiteres seiner<br />

Ersatzpflicht nachkommen werde. Der Umstand, dass der erfahrende Geschädigte durchaus in der Lage<br />

ist, den Unfallhergang zu schildern und ggf. unter Beifügung eines Sachverständigengutachtens die aus<br />

seiner Sicht zu ersetzenden Schadenspositionen zu beziffern, macht nach Auffassung des BGH (a.a.O.)<br />

den Fall selbst bei Eindeutigkeit des Haftungsgrundes nicht zu einem einfach gelagerten Fall. Die<br />

Erforderlichkeit der Beauftragung eines Rechtsanwalts wird deshalb nicht ausgeschlossen.<br />

4. Maßgeblicher Zeitpunkt<br />

Für die Erstattungsfähigkeit der Rechtsanwaltskosten für die außergerichtliche Schadensregulierung ist<br />

maßgeblich auf den Zeitpunkt der Beauftragung des Rechtsanwalts abzustellen, sodass die Sicht ex<br />

ante maßgeblich ist (BGH BGHZ 30, 154, 157; BGH RVGreport <strong>2020</strong>, 65 [HANSENS]).<br />

5. Gegenstandswert<br />

Anders als bei der Abrechnung mit dem Mandanten ist dessen Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher<br />

Anwaltskosten im Verhältnis zum Schädiger grds. der Gegenstandswert zugrunde zu legen, der der<br />

berechtigten Schadenersatzforderung entspricht. Dabei ist auf die letztlich festgestellte oder unstreitig<br />

gewordene Schadenshöhe abzustellen (so BGH RVGreport 2018, 184 [HANSENS] = zfs 2018, 164 mit Anm.<br />

HANSENS = AGS 2018, 95; BGH RVGreport 2010, 65 [DERS.]).<br />

So hat der VI. Zivilsenat des BGH Senat in seinen beiden Urteilen (RVGreport 2017, 424 [HANSENS] = zfs<br />

2017, 646 mit Anm. HANSENS und RVGreport 2018, 99 [DERS.]) klargestellt, dass sich der für den Anspruch<br />

auf Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten maßgebliche Gegenstandswert nach dem Wiederbeschaffungsaufwand<br />

berechnet und nicht nach dem den Restwert einschließenden Wiederbeschaffungswert,<br />

wenn der Geschädigte vom Schädiger im Rahmen der ihm eingeräumten Ersetzungsbefugnis lediglich<br />

den Wiederbeschaffungsaufwand für das beschädigte Fahrzeug verlangt. Dies führt dazu, dass der<br />

224 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Gebührenrecht Fach 24, Seite 1743<br />

Gebührentipps<br />

Restwert bei der Bemessung des Gegenstandswerts unabhängig davon unberücksichtigt bleibt, ob der<br />

Rechtsanwalt auch insoweit vom Geschädigten beauftragt worden war. Folge hiervon ist die Kürzung<br />

der nach materiellem Recht vom Schädiger zu erstattenden Anwaltskosten.<br />

Auch dem weiteren Urteil des VI. Zivilsenat des BGH vom 5.12.2017 (RVGreport 2018, 184 [HANSENS] = zfs<br />

2018, 164 mit Anm. HANSENS = AGS 2018, 95) ist zu entnehmen, dass der Geschädigte seine Anwaltskosten<br />

nach dem geltend gemachten Schadenersatzbetrag, den er unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen<br />

Rechtsprechung zunächst zutreffend ermittelt hat, nicht zwangsläufig erstattet erhält. Vielmehr<br />

können nachträgliche, häufig von der gegnerischen Kfz-Haftpflichtversicherung auf § 254 Abs. 2 BGB<br />

gestützte Einwendungen zur Kürzung des Schadenersatzanspruchs führen. Dies kommt in der Praxis<br />

häufig dann vor, wenn der Geschädigte den Ersatz fiktiver Reparaturkosten auf der Basis der üblichen<br />

Stundenverrechnungssätze einer markengebundenen Fachwerkstatt verlangt und die gegnerische Haftpflichtversicherung<br />

mit Erfolg einwendet, eine Reparatur in einer „freien“ Fachwerkstatt zu niedrigeren<br />

Stundenverrechnungssätzen hätte zu niedrigeren fiktiven Reparaturkosten geführt. Nimmt der Geschädigte<br />

dann die Kürzung hin, so kann er die ihm vorgerichtlich angefallenen Anwaltskosten auch<br />

nur nach dem letztlich durchgesetzten Schadensbetrag verlangen. Dies gilt unabhängig davon, ob<br />

der Geschädigte im Zeitpunkt der Beauftragung seines Anwalts davon ausgehen konnte, dass die<br />

Berechnung seines (höheren) Schadens auf der Grundlage der höchstrichterlichen Rechtsprechung<br />

begründet ist. Für die Bestimmung des Gegenstandswerts ist auch in einem solchen Fall nur<br />

entscheidend, in Höhe welchen Betrags der Schaden letztlich festgestellt oder unstreitig geworden<br />

ist. In seinem Urt. v. 29.10.2019 (RVGreport <strong>2020</strong>, 65 [HANSENS]) hat der VI. Zivilsenat des BGH die<br />

vorgenannte Rechtsprechung bestätigt.<br />

Gebührentipp:<br />

Schon bei Erteilung des Mandats sollte der Rechtsanwalt deshalb seinen Auftraggeber darüber belehren,<br />

dass er auch bei vollständiger Einstandspflicht der gegnerischen Kfz-Haftpflichtversicherung damit<br />

rechnen muss, dass er nicht seine gesamten für die außergerichtliche Verkehrsunfallschadensregulierung<br />

angefallenen Anwaltskosten erstattet erhält.<br />

III.<br />

Auslagen der Partei für einen gestellten Zeugen<br />

1. Gerichtlich geladener Zeuge<br />

Im Zivilprozess erfolgt die Beweisaufnahme und damit auch die Vernehmung eines Zeugen aufgrund<br />

eines entsprechenden Beweisantritts der beweisbelasteten Partei in einem vorbereitenden Schriftsatz<br />

(s. § 130 Nr. 5 ZPO). Das Prozessgericht erlässt dann, wenn die zu beweisende Tatsache streitig und<br />

deshalb beweisbedürftig ist, gem. § 358 ZPO einen Beweisbeschluss, der gem. § 358a ZPO auch schon<br />

vor der mündlichen Verhandlung vorbereitend erlassen werden kann. Die Ladung des in dem Beweisbeschluss<br />

benannten Zeugen erfolgt durch das Gericht. Im Regelfall wird der von der beweisbelasteten<br />

Partei benannte Zeuge erst dann geladen, wenn die Partei einen zur Deckung der Auslagen<br />

genügenden Vorschuss eingezahlt hat. Erscheint der gerichtlich geladene Zeuge zu dem Termin, hat er<br />

gegenüber der Staatskasse einen Anspruch auf Zahlung seiner Auslagen und einer Entschädigung<br />

nach Maßgabe der Vorschriften des JVEG. Die an den Zeugen ausgezahlten Beträge werden dann nach<br />

Beendigung des Rechtsstreits von dem Kostenbeamten nach Nr. 9005 GKG KV in den Gerichtskostenansatz<br />

eingestellt und dem Kostenschuldner, sei es der Antragsteller (§ 22 Abs. 1 S. 1 GKG) oder<br />

der Entscheidungs- oder Übernahmeschuldner (§ 29 Nr. 1 und 2 GKG), angesetzt. Der von der<br />

beweisbelasteten Partei gezahlte Vorschuss wird dann abgezogen.<br />

2. Gestellter Zeuge<br />

Besonderheiten sind jedoch dann zu berücksichtigen, wenn eine Partei einen Zeugen zu dem Gerichtstermin<br />

stellt oder wenn der Zeuge eine Verzichtserklärung abgegeben hat.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 225


Fach 24, Seite 1744<br />

Gebührentipps<br />

Gebührenrecht<br />

Der Fall eines gestellten Zeugen, also eines Zeugen, der auf Veranlassung der Partei und nicht aufgrund<br />

einer gerichtlichen Ladung zu dem Verhandlungstermin erscheint, tritt insb. im Eilverfahren, etwa im<br />

Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ein. In diesen Verfahren hat nämlich das Mittel der<br />

Glaubhaftmachung (§ 294 Abs. 1 ZPO) eine herausragende Bedeutung und die Beweisaufnahme muss<br />

gem. § 294 Abs. 2 ZPO sofort erfolgen.<br />

Deshalb hängt der Erfolg eines Eilverfahrens häufig davon ab, ob die Partei ihr Vorbringen durch einen<br />

zum Termin mitgebrachten Zeugen glaubhaft machen kann. Dies hat zur Folge, dass die Auslagen für<br />

einen gestellten Zeugen in einem Eilverfahren dann erstattungsfähig sind, wenn dessen Vernehmung<br />

ernsthaft in Betracht gekommen ist (so OLG Schleswig JurBüro 1981, 760) oder wenn der Gegner dem<br />

Tatsachenvorbringen entgegengetreten ist (OLG Koblenz Rpfleger 1997, 498). Es ist also für die<br />

Erstattungsfähigkeit der Auslagen für einen gestellten Zeugen nicht zwingend erforderlich, dass dieser<br />

auch vom Gericht vernommen worden ist. Auch die Auslagen für einen gestellten Sachverständigen<br />

können unter diesen Voraussetzungen erstattungsfähig sein (s. OLG Frankfurt JurBüro 1983, 1253;<br />

KG NJW 1975, 1423 und JurBüro 1982, 1247).<br />

a) Begrenzung auf die Sätze des JVEG<br />

Da der gestellte Zeuge nicht vom Gericht geladen worden ist, hat das Gericht von der beweisbelasteten<br />

Partei auch keinen entsprechenden Auslagenvorschuss angefordert. Eine Entschädigung des gestellten<br />

Zeugen erfolgt nicht durch das Gericht. Im Regelfall erhält der gestellte Zeuge seine Auslagen und seine<br />

Entschädigung von der Partei, die den Zeugen zum Termin „mitgebracht“ hat.<br />

b) Kostenerstattung<br />

Wird die Hinzuziehung des gestellten Zeugen/Sachverständigen als notwendig angesehen, so sind die<br />

von der Partei dem Zeugen/Sachverständigen gezahlten Beträge nur i.H.d. Sätze des JVEG erstattungsfähig<br />

(OLG Nürnberg RVGreport 2011, 434 [HANSENS] = AGS 2011, 515). Die Partei, die dem von ihr<br />

gestellten Zeugen die Auslagen und Entschädigung selbst gezahlt hat, kann dann im Wege der<br />

Kostenerstattung die gezahlten und durch die Sätze des JVEG begrenzten Beträge von der unterlegenen<br />

Gegenpartei erstattet verlangen. Dies setzt voraus, dass der Gegenpartei die Kosten des Rechtsstreits<br />

ganz oder zumindest teilweise auferlegt worden sind oder sie die Kosten – etwa im Rahmen eines<br />

Vergleichs – übernommen hat. Die Auslagen der obsiegenden Partei für den gestellten Zeugen gehören<br />

dann zu den gem. und unter den Voraussetzungen des § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO zu erstattenden Kosten des<br />

Rechtsstreits. Bei Vorliegen einer entsprechenden Kostengrundentscheidung oder Kostenregelung kann<br />

die Partei die für den von ihr gestellten Zeugen gezahlten Beträge deshalb unter folgenden Voraussetzungen<br />

von der Gegenpartei erstattet verlangen:<br />

• Es war notwendig, dass die Partei den Zeugen zu dem Termin gestellt hat. Davon ist im Regelfall<br />

auszugehen, wenn der gestellte Zeuge vom Gericht vernommen worden ist. Ist es zu einer<br />

Vernehmung des gestellten Zeugen nicht gekommen, sind die Auslagen der Partei dann erstattungsfähig,<br />

wenn die Vernehmung des gestellten Zeugen ernsthaft in Betracht gekommen ist (s. OLG<br />

Schleswig JurBüro 1981, 760). Dies beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalls. In einem<br />

Eilverfahren wird eine eher großzügigere Betrachtung anzustellen sein als in einem „normalen“<br />

Zivilprozess.<br />

• Die Partei, die den Zeugen gestellt hat, hat sich bei der Zahlung der Auslagen und Entschädigung für<br />

den Zeugen an die Sätze des JVEG gehalten.<br />

Liegen diese Voraussetzungen vor, kann die erstattungsberechtigte Partei die Auslagen für den<br />

gestellten Zeugen im Kostenfestsetzungsverfahren geltend machen. Aufgrund des dann ergehenden<br />

Kostenfestsetzungsbeschlusses kann die Partei diese Auslagen dann unmittelbar gegen die erstattungspflichtige<br />

Gegenpartei durchsetzen. Anders als bei einem gerichtlich geladenen Zeugen, dessen<br />

Auslagen zunächst die Staatskasse trägt und welche dann nach Nr. 9005 GKG KV in den Gerichtskostenansatz<br />

aufgenommen werden, werden die Auslagen für einen gestellten Zeugen nicht in den<br />

226 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Gebührenrecht Fach 24, Seite 1745<br />

Gebührentipps<br />

Gerichtskostenansatz aufgenommen. Es handelt sich vielmehr um Parteiauslagen, die die betreffende<br />

Partei – bei Vorliegen einer entsprechenden Kostengrundentscheidung oder Übernahmeerklärung –<br />

von der Gegenpartei erstattet verlangen kann.<br />

3. Besonderheiten bei einer Verzichtserklärung<br />

Probleme können bei der Erstattungsfähigkeit der Auslagen der Partei für einen gestellten Zeugen/<br />

Sachverständigen auftreten, wenn der Zeuge/Sachverständige dem Gericht eine sog. Zeugenverzichtserklärung<br />

eingereicht hat, in der er dem Gericht mitteilt, er lege auf eine Vergütung durch die<br />

Staatskasse keinen Wert. In einem solchen Fall kann es vorkommen, dass das mit dem Kostenfestsetzungsverfahren<br />

befasste Gericht diese Verzichtserklärung auch auf die Zahlung der Partei anwendet<br />

(s. OLG Frankfurt RVGreport 2017, 21 [HANSENS] = zfs 2017, 108 mit Anm. HANSENS = AGS 2017, 359: der<br />

Zeuge war Verwandter der Partei). Die Verzichtserklärung kann ggf. dahin ausgelegt werden, dass der<br />

gestellte Zeuge schlechthin auf eine Entschädigung verzichtet hat, sodass die von der Partei gleichwohl<br />

an den gestellten Zeugen geleistete Zahlung als nicht notwendig i.S.d. § 91 Abs. 1 ZPO angesehen wird.<br />

Praxishinweis:<br />

Deshalb empfiehlt es sich dringend, dass der Zeuge/Sachverständige seine Verzichtserklärung ausdrücklich<br />

auf die Entschädigung/Vergütung seitens des Gerichts beschränkt, und nicht auf die betreffende Partei<br />

erstreckt. Anderenfalls kann es je nach den Umständen des Einzelfalls dazu kommen, dass die Partei, die<br />

dem Zeugen/Sachverständigen seine Auslagen unter Berücksichtigung der Sätze des JVEG direkt gezahlt<br />

hat, diese Auslagen von der Gegenpartei nicht erstattet erhält.<br />

IV. Keine Beschränkung bei den Reisekosten auf Sparangebote<br />

Führt der Prozessbevollmächtigte seine Geschäftsreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch, stellt<br />

sich die Frage, ob er die Fahrt bzw. den Flug zum sog. Normaltarif unternimmt oder ob er ein<br />

entsprechendes „Sparangebot“ des Verkehrsunternehmens in Anspruch nimmt. Bei der Deutschen Bahn<br />

hat der Rechtsanwalt beispielsweise eine Wahl zwischen dem „Flexpreis“-Tarif und dem „Super-<br />

Sparpreis“. Erwirbt der Anwalt ein Ticket zum „Flexpreis“-Tarif, ist dieses im Regelfall jederzeit<br />

umtauschbar. So kann der Anwalt etwa im Fall einer Terminsverlegung zu dem neuen Termin mit dem<br />

zum „Flexpreis“-Tarif erworbenen Ticket anreisen. Demgegenüber kommt ein Umtausch der zum<br />

„Super-Sparpreis“ erworbenen Fahrkarte allenfalls unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen unter<br />

Aufwand weiterer Kosten in Betracht. Außerdem ist der Anwalt bei Erwerb einer Fahrkarte zum „Super-<br />

Sparpreis“ an den gebuchten Zug gebunden. Dauert der Termin länger als eingeplant, kann er somit<br />

nicht mit der zum „Super-Sparpreis“ erworbenen Fahrkarte wieder zurückfahren. Diese verfällt dann.<br />

Für die Rückfahrt muss der Anwalt dann kurzfristig ein neues Ticket erwerben, das wesentlich teurer ist.<br />

Ein zum „Super-Sparpreis“ erworbenes Ticket ist somit wegen der damit verbundenen Zugbindung<br />

praktisch nicht stornier- und umtauschbar, während dies bei einer Fahrkarte nach dem „Flexpreis“<br />

problemlos möglich ist.<br />

1. Fall des BVerwG<br />

Wie sich diese Problematik auf die Kostenerstattung auswirkt, hatte vor einiger Zeit das BVerwG<br />

(RVGreport 2019, 388 [HANSENS] = zfs 2019, 585 mit Anm. HANSENS = JurBüro 2019, 534) zu entscheiden. In<br />

jenem Fall hatte sich die beklagte Behörde in der mündlichen Verhandlung vor dem BVerwG durch einen<br />

Bediensteten vertreten lassen, der die Terminsreise mit der Deutschen Bahn unternommen hatte.<br />

Aufgrund der zu ihren Gunsten ergangenen Kostenentscheidung hat die Beklagte auch die Festsetzung<br />

dieser Terminsreisekosten ihres Bediensteten im Kostenfestsetzungsverfahren geltend gemacht. Hierzu<br />

hat die Beklagte eine zu dem „Flexpreis“-Tarif erworbene Bahnfahrkarte vorgelegt. Der Urkundsbeamte<br />

der Geschäftsstelle (UdG) des BVerwG hat die Terminsreisekosten als nicht notwendig angesehen, weil<br />

die Beklagte vorhandene Sparangebote der Deutschen Bahn weder geprüft noch genutzt habe. Auf die<br />

Erinnerung der Beklagten hat das BVerwG die Terminsreisekosten antragsgemäß auf der Grundlage des<br />

„Flexpreis“-Tarifs als erstattungsfähig angesehen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 227


Fach 24, Seite 1746<br />

Gebührentipps<br />

Gebührenrecht<br />

a) Keine Verweisung auf Spartarife<br />

Das BVerwG hat mit aller Klarheit festgestellt, dass die anreisende Partei nicht auf Spartarife des<br />

jeweiligen Verkehrsunternehmens zu verweisen ist, die regelmäßig nur unter eingeschränkten Voraussetzungen,<br />

insb. mit einer Zug- und damit Terminsbindung, gewährt werden. Nach Auffassung des<br />

BVerwG sind die die Beteiligten zwar gehalten, die Wahrnehmung von Gerichtsterminen rechtzeitig<br />

unter der Berücksichtigung konkreter Einsparmöglichkeiten zu planen und durchzuführen. Dem genügt<br />

es indes, bei der Buchung von Bahntickets auf die von der Deutschen Bahn AG angebotenen „Flexpreis“-<br />

Tickets zuzugreifen. Deshalb müsse sich ein Beteiligter nicht auf die oft wechselnden „Super-Sparpreis-<br />

Fahrkarten“ der Deutschen Bahn AG verweisen lassen. Denn berechtigte Interessen eines Beteiligten<br />

müssten nicht hinter Kostenerwägungen zurücktreten. Zu den berechtigten Interessen jedes Verfahrensbeteiligten<br />

gehört es, orientiert an einem abstrakt-generalisierenden Maßstab unabhängig vom<br />

konkreten Einzelfall (vgl. BGH BGHZ 196, 52 Rn 26 = RVGreport 2013, 155 [HANSENS]), ohne zeitliche<br />

Zugbindungen zu einem Gerichtstermin an- und danach wieder abzureisen.<br />

b) Zeitpunkt der An- und Abreise ungewiss<br />

Für die Abreise ergibt sich dies nach Auffassung des BVerwG schon aus dem Umstand, dass die zeitliche<br />

Dauer eines Gerichtstermins nicht vorab sicher voraussehbar ist, sodass die Wahl eines Sparangebots<br />

mit fester Zugbindung zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeschlossen ist. Aber auch für die Anreise zu<br />

einem Gerichtstermin mit einem regelmäßig verkehrenden Beförderungsmittel – hier der Bahn – dürfe<br />

jeder Beteiligte sein berechtigtes Interesse verfolgen und die zur vollen Wahrnehmung seiner Belange<br />

erforderlichen Schritte tun. Ihn trifft nach Auffassung des BVerwG lediglich die Obliegenheit, unter<br />

mehreren gleichgearteten Maßnahmen die kostengünstigere auszuwählen (BGH RVGreport 2012, 351<br />

[HANSENS] = zfs 2012, 524 Anm. HANSENS = AGS 2012, 493, Rn 9). „Flexpreis“-Tickets und „Super-Spar-<br />

Angebote“ der Deutschen Bahn sind aber nach Auffassung des BVerwG nicht gleichartig und auch<br />

nur bedingt gleichwertig, weil die Sparangebote den Reisenden von vornherein in der Wahl des<br />

Beförderungsmittels einschränken.<br />

c) Unvorhersehbare Terminsaufhebungen<br />

Außerdem hat das BVerwG darauf hingewiesen, dass bei unvorhergesehenen kurzfristigen Terminsaufhebungen<br />

durch das Gericht bei der Inanspruchnahme von Sparangeboten der Deutschen Bahn<br />

mit Zugbindung diese – anders als „Flexpreis“-Tickets – nicht stornier- und umtauschbar sind. Sie<br />

könnten sich im Ergebnis mithin als teurere Variante darstellen, weil sowohl das nicht umtauschbare<br />

Ticket für den aufgehobenen Gerichtstermin als auch die weitere Fahrkarte für den neuen Gerichtstermin<br />

als notwendige Reisekosten nach § 5 Abs. 1 JVEG erstattungsfähig wären.<br />

2. Der Stand der Rechtsprechung<br />

Vergleichbar haben auch andere Gerichte entschieden: Das BVerwG (NZWehr 2018, 253) hat zur Prüfung<br />

der Erstattungsfähigkeit der tatsächlich angefallenen Flugkosten die Kosten der Bahnfahrt – allerdings<br />

der zweiten Klasse – ohne Sparpreis und Bahncard-Bonus gegenübergestellt und die geringeren<br />

Flugkosten als erstattungsfähig angesehen. Das KG (AGS 1996, 29 mit Anm. VON EICKEN) hat zur Schätzung<br />

fiktiver Reisekosten Fahrpreisermäßigungen, die nur unter bestimmten Voraussetzungen gewährt<br />

werden, unberücksichtigt gelassen.<br />

Dieser Beschluss des BVerwG hat auch praktische Auswirkungen auf die Terminsreisekosten der<br />

Rechtsanwälte.<br />

3. Praktische Auswirkungen für den Rechtsanwalt<br />

a) Anfall der anwaltlichen Terminsreisekosten<br />

Für den Anfall von Terminsreisekosten gelten zunächst die Vorschriften des RVG. Für die Benutzung<br />

eines eigenen Kraftfahrzeugs werden nach Nr. 7003 VV RVG für jeden gefahrenen Kilometer derzeit<br />

noch 0,30 € angesetzt. Eine Anhebung auf 0,42 € ist durch das Gesetz zur Änderung des<br />

Justizvergütungs- und -Entschädigungsgesetzes (JVEG-Änderungsgesetz <strong>2020</strong>) zu einem bisher noch<br />

228 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Gebührenrecht Fach 24, Seite 1747<br />

Gebührentipps<br />

nicht feststehenden Zeitpunkt geplant. Bei Benutzung eines anderen Verkehrsmittels erhält der Anwalt<br />

nach Nr. 70<strong>04</strong> VV RVG die tatsächlich angefallenen Fahrtkosten in voller Höhe, soweit sie angemessen<br />

sind. Dabei ist der Rechtsanwalt auch im Verhältnis zu seinem eigenen Mandanten nicht auf Sparpreise<br />

verwiesen (s. HANSENS RVGreport 2015, 247, 249; DERS. in Anm. zu BGH zfs 2015, 4<strong>04</strong> = RVGreport 2015,<br />

267 [HANSENS]; DERS. in Anm. zu OLG Nürnberg zfs 2008, 528 = RVGreport 2008, 352 [DERS.]). Bei der Reise<br />

mit dem Flugzeug ist allgemein anerkannt, dass für einen Inlandsflug der Tarif in der Economy-Class<br />

angemessen ist, der die Möglichkeit zu einer kurzfristigen Umbuchung des Flugs gewährleistet (BGH<br />

RVGreport 2015, 267 [HANSENS]; OLG Hamburg AGS 2011, 463; OLG Brandenburg AGS 2014, 100; HANSENS<br />

RVGreport 2015, 247, 248).<br />

Bei Benutzung der Bahn sind die Aufwendungen des Rechtsanwalts ebenfalls in Höhe des Normalpreises<br />

oder des „Flexpreis“-Tarifs angemessen. Dabei ist der Rechtsanwalt im Übrigen auch nicht<br />

gehalten, sich eine Bahncard anzuschaffen oder im Einzelfall eine erworbene Bahncard einzusetzen.<br />

Sind dem Anwalt hingegen in dem konkreten Fall unter Einsatz seiner Bahncard nur Fahrtkosten in<br />

ermäßigter Höhe angefallen, so sind auch nur die geringeren, tatsächlich entstandenen Fahrtkosten<br />

angemessen und erstattungsfähig (s. N. SCHNEIDER in Anm. zu LAG Schleswig-Holstein AGS 20<strong>04</strong>, 366;<br />

ähnlich LAG Bremen NZA-RR 20<strong>04</strong>, 6<strong>04</strong>; OLG Celle RVGreport 2005, 151 [HANSENS]; s. ferner N. SCHNEIDER<br />

NJW-Spezial 2017, 603; DERS. AnwBl. 2010, 512). Zu dem besonderen Problem, ob die Kosten für die<br />

Anschaffung einer Bahncard anteilig erstattungsfähig sind, siehe bejahend OLG Frankfurt AGS 2007, 136<br />

und 155 = JurBüro 2006, 429; verneinend OLG Karlsruhe JurBüro 2000, 145.<br />

b) Erstattungsfähigkeit der anwaltlichen Terminsreisekosten<br />

Vom Anfall der Geschäftsreisekosten des Rechtsanwalts zu unterscheiden ist deren Erstattungsfähigkeit.<br />

Diese beurteilt sich nach den Verfahrensgesetzen, insb. nach § 91 Abs. 2 S. 1 ZPO, wonach die<br />

gesetzlichen Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts grds. erstattungsfähig sind. Dies betrifft<br />

auch die Terminsreisekosten des Anwalts, sofern die Reise als solche notwendig war. Eine Ausnahme<br />

von diesem Grundsatz gilt im Hinblick auf das auch im Rahmen der Kostenerstattung geltende<br />

allgemeine Gebot sparsamer Prozessführung nur dann, wenn für die Aufwendung der Reiseauslagen<br />

ausnahmsweise kein Anlass bestanden hat oder diese gegen das Gebot verstoßend überhöht sind. Ein<br />

solcher Fall wird in der Praxis vielfach dann angenommen, wenn der Rechtsanwalt seine Geschäftsreise<br />

mit dem Flugzeug unternommen hat, obwohl die Mehrkosten außer Verhältnis zu den Kosten der<br />

Bahnreise und zum Hauptsachewert stehen (s. BGH RVGreport 2008, 113 [HANSENS]; BGH RVGreport<br />

2015, 267 [DERS.]). Dabei ist einmal auf die Höhe der Mehrkosten und die Bedeutung des Rechtsstreits,<br />

zum anderen aber auch auf die bei Benutzung des Flugzeugs gewonnene Zeitersparnis abzustellen<br />

(BGH RVGreport 2008, 113 [DERS.]).<br />

Unternimmt der Anwalt die Geschäftsreise hingegen mit der Bahn, so sind die Kosten der Bahnfahrt in<br />

der ersten Wagenklasse zum Normalpreis oder zum „Flexpreis“ regelmäßig erstattungsfähig.<br />

Gebührentipp:<br />

Für die Durchführung von Geschäftsreisen sollte der Rechtsanwalt bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel<br />

Fahrkarten bzw. Tickets nach dem sog. Normalpreis erwerben, die jederzeit umbuchbar sind. In dem<br />

Kostenfestsetzungsantrag sollte dann ausdrücklich auf die vorstehend erörterte Entscheidung des BVerwG<br />

hingewiesen werden.<br />

V. Prozesskostenhilfe bei Vertretung eines bedürftigen und eines nicht bedürftigen<br />

Streitgenossen<br />

In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass der Rechtsanwalt in einem gerichtlichen Verfahren<br />

neben einem nicht bedürftigen Streitgenossen einen i.S.d. PKH-Rechts bedürftigen Streitgenossen<br />

vertritt. In einem solchen Fall stellt sich einmal die Frage, in welcher Weise dem bedürftigen<br />

Streitgenossen – bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen für die Bewilligung der PKH gem. §§ 114<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 229


Fach 24, Seite 1748<br />

Gebührentipps<br />

Gebührenrecht<br />

ff. ZPO und die Beiordnung eines Rechtsanwalts nach § 121 ZPO – PKH zu bewilligen ist. Zum zweiten<br />

stellt sich die Frage, welche Vergütung dem beigeordneten Rechtsanwalt im Falle der Bewilligung der<br />

PKH gegen die Landeskasse zusteht. Mit der ersten Fallgestaltung hat sich vor einiger Zeit der BGH<br />

(RVGreport <strong>2020</strong>, 35 [HANSENS]) befasst.<br />

1. Fall des BGH<br />

Der Kläger hatte die Beklagte zu 1 und den Beklagten zu 2 vor dem LG Nürnberg-Fürth gesamtschuldnerisch<br />

auf Schadenersatz aufgrund einer Kapitalanlage in Anspruch genommen. Das LG hat<br />

der Beklagten zu 1 PKH für die Rechtsverteidigung im ersten Rechtszug unter Beiordnung ihres<br />

Prozessbevollmächtigten bewilligt. Die Bewilligung hat das LG jedoch mit Rücksicht darauf, dass ihr<br />

nicht bedürftiger Streitgenosse von demselben Prozessbevollmächtigten vertreten wird, hinsichtlich der<br />

Anwaltsgebühren auf die Mehrvertretungsgebühr nach Nr. 1008 VV RVG beschränkt. Die hiergegen<br />

gerichtete Beschwerde der Beklagten zu 1 hat das OLG Nürnberg zurückgewiesen. Dagegen richtet sich<br />

die vom OLG zugelassene Rechtsbeschwerde, für die die Beklagte zu 1 die Bewilligung von PKH begehrt<br />

hat. Der BGH hat diesen Antrag für das Rechtsbeschwerdeverfahren zurückgewiesen.<br />

2. Argumente des BGH<br />

Der BGH hat auf seinen viele Jahre zurückliegenden Beschl. v. 1.3.1993 (NJW 1993, 1715 = AGS 2005, 25)<br />

verwiesen, der in der Rechtsprechung und Literatur auf Zustimmung, aber auch auf Ablehnung<br />

gestoßen ist (zustimmend: OLG Koblenz JurBüro 2001, 652; OLG Naumburg Rpfleger 20<strong>04</strong>, 186; STEIN/<br />

JONAS/BORK, ZPO, 23. Aufl. § 114 Rn 8; Zöller/GEIMER, ZPO, 32. Aufl., § 114 Rn 7; Saenger/KIEßLING, ZPO,<br />

7. Aufl., § 114 Rn 11; Thomas/Putzo/SEILER, ZPO, 39. Aufl., § 114 Rn 11; MüKoZPO/WACHE, 5.Aufl., § 114 Rn 39;<br />

ablehnend: OLG Bamberg OLGR 2001, 28; Musielak/Voit/FISCHER, ZPO, 15. Aufl., § 114 Rn 3; FISCHER<br />

JurBüro 1998, 4; NOTTHOFF AnwBl. 1996, 611; RÖNNEBECK NJW 1994, 2273).<br />

Die Entscheidung des BGH vom 1.3.1993 betrifft den auch hier vorliegenden Fall, dass zwei Streitgenossen<br />

von demselben Prozessbevollmächtigten mit der Vertretung in einem Rechtsstreit<br />

beauftragt worden sind, aber nur bei einem von ihnen die persönlichen Voraussetzungen für die<br />

Bewilligung von PKH vorlagen. In einem solchen Fall ist nach Auffassung des BGH in seinem Beschl. v.<br />

1.3.1993 die Bewilligung bezüglich der Anwaltsgebühren auf die für diesen Fall im Gesetz vorgesehenen<br />

Erhöhungsbeträge – früher § 6 Abs. 1 S. 2 BRAGO, jetzt Nr. 1008 VV RVG – zu beschränken. Dies hatte<br />

der BGH damit begründet, nach dem Sinn der §§ 114 ff. ZPO könne die mittellose Partei für ihre<br />

Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung staatliche Hilfe nur insoweit in Anspruch nehmen, als sie<br />

aus finanziellen Gründen zur Prozessführung außerstande sei. Der finanziell leistungsfähige<br />

Streitgenosse werde hierdurch nicht benachteiligt. Er sei durch die Beschränkung der PKH-Bewilligung<br />

für den bedürftigen Streitgenossen nicht durch höhere Kosten belastet, als wenn er den gemeinsamen<br />

Prozessbevollmächtigten allein beauftragt hätte. Dies folgt jetzt aus § 7 Abs. 2 S. 1 RVG.<br />

Diese Argumentation hat der BGH in seinem neueren Beschl. v. 5.2.2019 aufgegriffen. Mit der<br />

Beschränkung der Bewilligung von PKH auf die Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV RVG werde die<br />

anwaltliche Vertretung des bedürftigen Streitgenossen sichergestellt. Demgegenüber bezwecke die<br />

PKH keinen Gleichlauf von PKH-Bewilligung einerseits und Vergütungsanspruch des Rechtsanwalts<br />

andererseits. Die Beschränkung der PKH-Bewilligung auf die Gebührenerhöhung setze nämlich nicht<br />

voraus, dass lediglich diese Beträge auch vergütungsrechtlich geschuldet würden. Der bedürftige<br />

Streitgenosse würde gegenüber seinem Prozessbevollmächtigten gem. § 122 Abs. 1 Nr. 3 ZPO geschützt.<br />

Ferner hat der BGH die Auffassung vertreten, auch ein etwaiger nachträglicher Gesamtschuldnerausgleich<br />

zwischen den beiden Streitgenossen damit auch ein Ausgleich zugunsten des finanziell<br />

leistungsfähigen Streitgenossen stehe dem nicht entgegen. Die anwaltliche Vertretung des bedürftigen<br />

Streitgenossen und damit die Prozessführung durch Zubilligung der Gebührenerhöhung nach Nr. 1008<br />

VV RVG werde nämlich gewährleistet. Dagegen könne der bedürftigen Partei das allgemeine Risiko,<br />

nachträglich mit Kosten einer erfolglosen Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung belastet zu<br />

werden, durch die Bewilligung von PKH nicht abgenommen werden.<br />

230 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>


Gebührenrecht Fach 24, Seite 1749<br />

Gebührentipps<br />

Welche Auswirkungen es hat, wenn eine bedürftige, um PKH nachsuchende, Partei durch denselben<br />

Rechtsanwalt vertreten wird wie ihr finanziell leistungsfähiger Streitgenosse, ist in Rechtsprechung und<br />

Literatur seit Jahrzehnten umstritten. Dieser Streit tritt in zwei verschiedenen Fallgestaltungen auf, die<br />

nachfolgend näher betrachtet werden.<br />

3. Entscheidung im Prozesskostenhilfe-Bewilligungsverfahren<br />

Im PKH-Bewilligungsverfahren nimmt die wohl überwiegende Auffassung – wie der BGH in seinem<br />

vorstehend erwähnten Beschluss v. 5.2.2019 und übrigens auch in sechs weiteren Parallelverfahren –<br />

eine Beschränkung der PKH-Bewilligung auf die Erhöhungsbeträge/Gebührenerhöhung nach Nr. 1008<br />

VV RVG vor. Allerdings werden derartige Beschränkungen von verschiedenen Gerichten als unzulässig<br />

angesehen (OLG Köln JurBüro 2005, 429; OLG Oldenburg FamRZ 20<strong>04</strong>, 106; LG Berlin JurBüro 1996,<br />

434). Gleichwohl ist die Beschränkung der PKH-Bewilligung auf die Erhöhungsbeträge/Gebührenerhöhung<br />

für den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (UdG) im Festsetzungsverfahren nach § 55 RVG<br />

bindend (Bay. LSG RVGreport 2013, 467 [HANSENS] = AGS 2013, 478). Allerdings stellt sich bei der<br />

Beschränkung der PKH auf die Erhöhungsbeträge/Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV RVG die<br />

vom BGH, a.a.O., nicht erörterte Frage, ob dem so beigeordneten Rechtsanwalt auch die auf die<br />

Gebührenerhöhung entfallende Umsatzsteuer nach Nr. 7008 VV RVG und die anteilige Postentgeltpauschale<br />

nach Nr. 7002 VV RVG aus der Staatskasse zustehen.<br />

Probleme können ferner dann entstehen, wenn der nicht bedürftige Streitgenosse frühzeitig aus dem<br />

Rechtsstreit ausscheidet. Verstirbt beispielsweise im Fall des BGH der Beklagte zu 2 nach Einreichen der<br />

Klageschrift, so wird der Rechtsstreit nur hinsichtlich seiner Person gem. § 239 Abs. 1 ZPO unterbrochen,<br />

gegen die bedürftige Beklagte zu 1 als einfache Streitgenossin hingegen weitergeführt. Der Prozessbevollmächtigte<br />

würde aufgrund der nur eingeschränkten PKH-Bewilligung auch dann lediglich die<br />

Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV RVG aus der Landeskasse erhalten, wenn er allein für die Beklagte<br />

zu 1 einen Verhandlungstermin wahrnimmt, zu dem er angereist ist und in dem er einen Vergleich<br />

schließt. Für die Verfahrensgebühr, die Terminsgebühr, die Einigungsgebühr und die Geschäftsreiseauslagen<br />

könnte der Anwalt dann die bedürftige Beklagte in Anspruch nehmen, weil die PKH-<br />

Bewilligung die vorgenannten Gebühren und Auslagen nicht erfasst.<br />

4. Entscheidung im Festsetzungsverfahren<br />

a) Eingeschränkte Bewilligung<br />

Der für die Festsetzung der dem beigeordneten Rechtsanwalt aus der Staatskasse zu gewährenden<br />

Vergütung gem. § 55 Abs. 1 RVG zuständige UdG ist an die auf die Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV<br />

RVG beschränkte Bewilligung seitens des Prozessgerichts gebunden.<br />

b) Uneingeschränkte PKH-Bewilligung für einen Streitgenossen<br />

Welche Vergütung dem beigeordneten Rechtsanwalt zusteht, wenn er zwei oder mehrere Streitgenossen<br />

vertritt, von denen nur einem Streitgenossen PKH ohne Einschränkung bewilligt worden ist, ist seit<br />

Jahrzehnten umstritten.<br />

aa) Anspruch nur auf die Gebührenerhöhung<br />

Der 13. Zivilsenat des OLG Karlsruhe (Beschl. v. 3.7.2008 – 13 W 55/06) verteidigt die vorstehend unter 3<br />

aufgeführte Auffassung zur eingeschränkten PKH-Bewilligung und will sie überdies in den Fällen<br />

anwenden, in denen einem der beiden Streitgenossen PKH unbeschränkt bewilligt wurde und in denen<br />

beide Streitgenossen bedürftig waren.<br />

bb) Anspruch auf eine Quote<br />

Eine andere Meinung will dem beigeordneten Anwalt gegen die Staatskasse einen Anspruch auf eine<br />

Quote zubilligen, die sämtliche angefallenen Gebühren einschließlich der Gebührenerhöhung nach<br />

Nr. 1008 VV RVG ins Verhältnis zur Gesamtzahl aller Streitgenossen setzt (LSG Niedersachsen-Bremen,<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong> 231


Fach 24, Seite 1750<br />

Gebührentipps<br />

Gebührenrecht<br />

Beschl. v. 22.6.2016 – L 7 AS 152/15 B; AGS 2007, 91; OLG Köln NJW-RR 1999, 725 und AGS 2010, 496 mit<br />

Anm. N. SCHNEIDER; OLG Jena OLGR 2007, 163 = Rpfleger 2006, 663; OLG Zweibrücken OLGR<br />

Zweibrücken 20<strong>04</strong>, 139; KG, Beschl. v. 27.3.2012 – 5 W 265/11; RÖNNEBECK NJW 1994, 2273, 2274).<br />

cc) Voller Vergütungsanspruch ohne Gebührenerhöhung<br />

Die herrschende Ansicht gesteht dem beigeordneten Anwalt gegen die Staatskasse einen Vergütungsanspruch<br />

i.H.d. vollen Gebühren, jedoch ohne die Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV RVG (früher § 6<br />

Abs. 1 S. 2 BRAGO) zu (OLG München JurBüro 1997, 89 = AnwBl 1998, 52 und AGS 2011, 76 = JurBüro 2011,<br />

146; OLG Celle AGS 2007, 250; OLG Karlsruhe – 15. ZS – AGS 2013, 20 = JurBüro 2012, 593; OLG Stuttgart<br />

JurBüro 1997, 200; OLG Zweibrücken AGS 2009, 126; Bay. LSG RVGreport 2013, 467 [HANSENS] = AGS 2013,<br />

478; Thür. LSG, Beschl. v. 25.3.2015 – L 6 SF 163/15 B; LSG Berlin-Brandenburg RVGreport 2018, 297 [DERS.]<br />

= AGS 2018, 421; Sächs. LSG RVGreport 2015, 17 [DERS.] = AGS 2014, 577; Gerold/Schmidt/MÜLLER-RABE,<br />

RVG, 24. Aufl. 2019, § 49 Rn 11; AnwKomm-RVG/FÖLSCH/SCHAFHAUSEN/SCHNEIDER/THIEL, 8.Aufl. 2017, § 48<br />

Rn 108; HARTUNG in Hartung/Schons/Enders, RVG, 3. Aufl. 2017, § 48 Rn 11 und § 49 Rn 25; MAYER/KROIß,<br />

RVG, 6. Aufl. 2013, § 49 Rn 6).<br />

5. Rechtsbehelfe<br />

Der Prozessbevollmächtigte der bedürftigen Partei muss diese beiden unterschiedlichen Verfahrenslagen<br />

bei der Frage, welche Rechtsbehelfe ergriffen werden, berücksichtigen.<br />

• Wird dem bedürftigen Mandanten Prozesskostenhilfe hinsichtlich der Anwaltsvergütung nur auf die<br />

Gebührenerhöhung beschränkt bewilligt, so ist hierdurch allein der Mandant beschwert. Der<br />

Rechtsanwalt muss deshalb ausdrücklich für seinen Mandanten den gegebenen Rechtsbehelf – etwa<br />

die sofortige Beschwerde gem. § 127 ZPO – einlegen.<br />

• Wird hingegen dem Festsetzungsantrag nach § 55 Abs. 1 RVG nur teilweise mit der Begründung<br />

entsprochen, der beigeordnete Anwalt habe neben dem bedürftigen Mandanten auch einen<br />

finanziell leistungsfähigen Streitgenossen vertreten, so ist durch die Absetzung seitens des UdG allein<br />

der Rechtsanwalt beschwert. Folglich kann nur der Anwalt selbst gegen die Absetzung Erinnerung<br />

nach § 56 Abs. 1 S. 1 RVG einlegen.<br />

Gebührentipps:<br />

Die Beschränkung der PKH-Bewilligung auf die Gebührenerhöhung kann auf verschiedenen Wegen<br />

vermieden werden:<br />

• Einmal kann sich der bedürftige Streitgenosse von einem anderen Rechtsanwalt vertreten lassen<br />

als der nicht bedürftige Streitgenosse. Dies gilt insb. dann, wenn zwischen den Streitgenossen<br />

Interessengegensätze bestehen, die eine gemeinsame Vertretung durch einen Rechtsanwalt<br />

ausschließen. Dies hat allerdings zur Folge, dass insgesamt höhere Kosten anfallen.<br />

• Zum zweiten könnte sich der Rechtsanwalt zunächst nur für den bedürftigen Mandanten bestellen<br />

und die Bewilligung von PKH unter seiner Beiordnung beantragen. Bei Erfüllung der hierfür erforderlichen<br />

Voraussetzungen ist dem bedürftigen Mandanten dann uneingeschränkt PKH zu bewilligen und sein<br />

Rechtsanwalt beizuordnen. Danach kann sich der Anwalt nunmehr für den nicht bedürftigen Streitgenossen<br />

mit dem – natürlich zutreffenden- Vortrag bestellen, er sei erst jetzt von dem nicht bedürftigen<br />

Streitgenossen beauftragt worden. Die der bedürftigen Partei uneingeschränkt bewilligte PKH könnte in<br />

einem solchen Fall nicht gem. § 124 ZPO aufgehoben werden, weil sie nicht das Streitverhältnis unrichtig<br />

dargestellt und sie auch keine unrichtigen Angaben über die Voraussetzungen der Bewilligung der PKH<br />

gemacht hat. Selbst wenn die Angabe, der Prozessbevollmächtigte vertrete auch einen nicht bedürftigen<br />

Streitgenossen, hierunter fallen sollte, kann dies der bedürftigen Partei nicht vorgehalten werden, weil der<br />

nicht bedürftige Streitgenosse den Anwalt erst nach der PKH-Bewilligung beauftragt hat. Diese Möglichkeit<br />

ist allerdings nur dann eröffnet, wenn das Gericht über den PKH-Antrag zeitnah entscheidet oder<br />

wenn der nicht bedürftige Mandant keine Nachteile dadurch erleidet, dass er seinem Anwalt den Prozessauftrag<br />

erst später erteilt, was insb. auf Beklagtenseite der Fall sein kann.<br />

232 <strong>ZAP</strong> Nr. 4 19.2.<strong>2020</strong>

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