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ZAP-2019-19

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<strong>ZAP</strong><br />

Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />

<strong>19</strong> <strong>20<strong>19</strong></strong><br />

10. Oktober<br />

31. Jahrgang<br />

ISSN 0936-7292<br />

Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />

BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />

Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />

Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />

Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />

AUS DEM INHALT<br />

Kolumne<br />

Datenschutzgrundverordnung (DSGVO): Ein Rück‐ und Ausblick (S. 987)<br />

Anwaltsmagazin<br />

Verdeckte Ermittler beim Zoll (S. 990) • Änderungen im Inkassorecht (S. 991) • Positive Bilanz zum<br />

Europäischen Haftbefehl (S. 992)<br />

Aufsätze<br />

Viefhues, Die Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht (S. 1003)<br />

Burhoff, Rechtsprechungsübersicht zum Strafrecht 2018/<strong>20<strong>19</strong></strong> (S. 1017)<br />

Kiwitt, Die (virtuelle) Kanzlei und die Zweigstelle – Kanzleianschriften im digitalen Zeitalter (S. 1029)<br />

Eilnachrichten<br />

OLG Dresden: Unberechtigte Benutzung einer Busspur (S. 997)<br />

BGH: Schreckschusspistole: Waffenbegriff (S. 1000)<br />

EuGH: Zahlung im SEPA‐Lastschriftverfahren (S. 1002)<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer


Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />

Kolumne – – 987–988<br />

Anwaltsmagazin – – 989–994<br />

Eilnachrichten 1 143–150 995–1002<br />

Viefhues, Die Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht:<br />

Abzuziehende Belastungen – Sozialabgaben,<br />

Schuldenlasten 11 1535–1548 1003–1016<br />

Burhoff, Rechtsprechungsübersicht zum Strafrecht<br />

2018/<strong>20<strong>19</strong></strong> 22 R 1131–1142 1017–1028<br />

Kiwitt, Die (virtuelle) Kanzlei und die Zweigstelle –<br />

Kanzleianschriften im digitalen Zeitalter 23 1171–1184 1029–1042<br />

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Redaktionsbeirat<br />

Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />

Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />

Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />

Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />

Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F <strong>19</strong>, <strong>19</strong>R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />

Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />

Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />

beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />

Gelsenkirchen • RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert,<br />

Düsseldorf • Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald,<br />

Vallendar • RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA<br />

Dr. Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst,<br />

Hannover/Solingen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund<br />

• RA Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn •<br />

RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />

Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RiOLG a.D. Heinrich Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr.<br />

Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt, Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />

PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />

RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln.<br />

Impressum<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />

schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />

Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />

Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />

(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />

dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />

Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />

Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />

Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 245,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />

ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />

Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/9<strong>19</strong>11-62, Telefax: 0228/9<strong>19</strong>11-66, E-Mail:<br />

service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Peggy von Schoenebeck –<br />

Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />

Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292


<strong>ZAP</strong><br />

Kolumne<br />

Kolumne<br />

Datenschutzgrundverordnung (DSGVO): Ein Rück- und Ausblick<br />

Der 25.5.2018 ist in meinem Kalender rot markiert<br />

und das hat im Wesentlichen zwei Gründe: Die<br />

EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) entfaltete<br />

zu diesem Zeitpunkt ihre volle Wirkung –<br />

genau wie das reformierte Bundesdatenschutzgesetz<br />

(BDSG) – und darüber hinaus handelte es<br />

sich auch noch um einen Freitag. Als u.a. auf das<br />

Datenschutzrecht spezialisierter Anwalt hatte ich<br />

die Hysterie, die etwa seit Mitte 2017 rund um die<br />

Einführung der neuen Datenschutzregeln herrschte,<br />

in dieser Form zwar nicht vorhergesehen, aber<br />

doch gewusst, dass ich am Ende dieses besonderen<br />

Tages sicherlich einen „Absacker“ vertragen könnte.<br />

In der Tat beschloss ich den Tag mit einem<br />

alkoholhaltigen Kaltgetränk auf der Terrasse, um<br />

endlich etwas „durchatmen“ zu können. Denn mit<br />

Beginn des Jahres 2018 war zu beobachten, dass<br />

tagtäglich die Panik rund um das „DSGVO-Mysterium“<br />

bei deutschen Unternehmen stark anstieg –<br />

und zugleich auch die diesbezüglichen Anfragen.<br />

Um es mal so auszudrücken: Jeder Datenschutzrechtler<br />

wird mir zustimmen, wenn ich sage, dass<br />

in dieser Zeit ein Mangel an Mandaten ebenso<br />

wenig vorhanden war wie die Gefahr von Langeweile<br />

– ganz im Gegenteil. Der Zeitraum von<br />

Mitte 2017 bis zum 25.5.2018 war wohl die<br />

arbeitsamste Zeit meiner nun immerhin über<br />

15-jährigen Anwaltstätigkeit, in der ich schon so<br />

manche Gesetzesreform, aber noch nie solch eine<br />

regelrechte Panik erlebt habe. Das mag zum<br />

einen durch die massiv gestiegenen Bußgelder,<br />

zum anderen aber auch durch ein typisches<br />

Verhaltensmuster erklärlich sein. Wenn man zu<br />

Schulzeiten am Montag eine Klausur schreiben<br />

musste, wann hat man dann angefangen zu<br />

lernen? Genau, sonntagabends (jedenfalls haben<br />

das nicht-repräsentative Umfragen im Familienund<br />

Bekanntenkreis ergeben). Und so sind wohl<br />

auch einige Unternehmen das Projekt „DSGVO-<br />

Umstellung“ angegangen, nämlich auf den „letzten<br />

Drücker“. Erschwerend kam hinzu, dass nur<br />

ein verschwindend geringer Prozentsatz der<br />

Mandanten bereits eine vorbildliche Ausgangslage<br />

in puncto Datenschutz vorzuweisen hatte.<br />

Die meisten musste man vielmehr von „Null auf<br />

Hundert“ bringen, obwohl die Zeit drängte und<br />

täglich neue Anfragen hinzukamen.<br />

Genauso unerklärlich wie die entstandene Panik<br />

war ihr plötzliches Nachlassen, denn ab Montag,<br />

den 28.5.2018, herrschte eine fast schon unheimliche<br />

Stille in der Kanzlei und das Telefon stand<br />

tatsächlich einmal länger als fünf Minuten still.<br />

Die wenigen Mandanten, die tatsächlich bis zum<br />

Stichtag die Vorgaben der DSGVO (zumindest<br />

weitgehend) umgesetzt hatten, atmeten durch<br />

und widmeten sich wieder ihrem Tagesgeschäft.<br />

Alle anderen schienen sich zu sagen: „Naja, wenn<br />

wir es bis jetzt nicht geschafft haben, ist es jetzt auch<br />

egal“. Hinzu kam, dass die befürchteten Abmahnwellen<br />

ausblieben, weshalb alle dann halbwegs<br />

beruhigt in die Sommerzeit übergingen. Und fast<br />

schon erwartungsgemäß erwachten nach der<br />

Sommerpause dann die Behörden, die offenbar<br />

bemerkt hatten, dass die DSGVO auch für sie<br />

gilt. Allerdings hatten sie im Verhältnis zu nichtöffentlichen<br />

Stellen deutlich weniger Leidensdruck,<br />

denn der deutsche Gesetzgeber hatte in<br />

§ 43 Abs. 3 BDSG dafür gesorgt, dass gegen sie<br />

keine Bußgelder erlassen werden können.<br />

Leider existiert keine entsprechende Norm für uns<br />

Rechtsanwälte, daher ist im Hinblick auf die<br />

Umsetzung der DSGVO eine „Vogel Strauß“-<br />

Taktik tabu. Dankenswerterweise finden sich<br />

insbesondere auf der Website des Deutschen<br />

Anwaltvereins (DAV) Vorlagen für die wichtigsten<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 987


Kolumne<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Datenschutzdokumente kostenfrei zum Download.<br />

Dies erleichtert zwar die Umsetzung der<br />

zentralen datenschutzrechtlichen Dokumentations-<br />

bzw. Informationspflichten, entbindet aber<br />

natürlich nicht von den restlichen Vorgaben des<br />

Gesetzgebers. Grundsätzlich haben Anwälte die<br />

DSGVO genauso einzuhalten wie andere Freiberufler,<br />

Unternehmen oder Behörden auch. Im<br />

Hinblick auf ihre Stellung als Berufsgeheimnisträger<br />

gibt es allerdings einige Einschränkungen.<br />

So müssen z.B. die allgemeinen Datenschutzhinweise<br />

nicht an Gegner übermittelt werden<br />

(vgl. § 29 Abs. 2 BDSG). Außerdem stehen den<br />

Datenschutz-Aufsichtsbehörden gegenüber Anwälten<br />

nur eingeschränkte Kontrollmöglichkeiten<br />

zu. Gleichwohl drohen im schlimmsten Fall auch<br />

unserem Berufsstand Geldbußen, so dass die<br />

zentralen DSGVO-Anforderungen tunlichst umgesetzt<br />

werden sollten: Größeren Kanzleien (derzeit<br />

noch ab 10, bald ab 20 Mitarbeitern, der<br />

Bundesrat hat am 20.9.<strong>20<strong>19</strong></strong> einen entsprechenden<br />

Gesetzentwurf angenommen) müssen einen<br />

Datenschutzbeauftragten benennen und diesen<br />

bei der zuständigen Aufsichtsbehörde melden, die<br />

Datenschutzerklärung auf der Kanzlei-Website ist<br />

DSGVO-konform bereitzustellen, die allgemeinen<br />

Datenschutzhinweise sind jedem neuen Mandanten,<br />

Mitarbeiter, Dienstleister etc. zur Verfügung<br />

zu stellen und das Verzeichnis von Verarbeitungstätigkeiten<br />

sowie die Aufstellung der technischen<br />

und organisatorischen Maßnahmen sind anzulegen<br />

und aktuell zu halten. Außerdem müssen<br />

Betroffenenrechte gewahrt und etwaige Datenpannen<br />

gemeldet werden. Insbesondere sollten<br />

alle Maßnahmen mit „Außenwirkung“, wie etwa<br />

die Meldung eines Datenschutzbeauftragten oder<br />

die Anpassung der Website-Datenschutzerklärung,<br />

so schnell wie möglich erfolgen, sofern<br />

noch nicht geschehen.<br />

Bis zum August <strong>20<strong>19</strong></strong> und damit über ein Jahr nach<br />

Wirksamwerden der DSGVO wurden bereits über<br />

100 Bußgelder und noch verschiedene andere<br />

Sanktionen aufgrund von Datenschutzverstößen<br />

verhängt, und das nur in Deutschland. Dabei fällt<br />

das Niveau in den einzelnen Bundesländern recht<br />

unterschiedlich aus. In Baden-Württemberg gibt<br />

es den höchsten Gesamt- bzw. Durchschnittsbetrag<br />

(über 29.000 € bzw. 200 €), in Nordrhein-<br />

Westfalen ergingen zahlenmäßig die meisten Bußgelder<br />

(36 insgesamt) und im Saarland beträgt die<br />

durchschnittliche Geldbuße bislang knapp 200 €.<br />

Allerdings laufen derzeit noch zahlreiche weitere<br />

Verfahren, wenn man den Angaben der Datenschutz-Aufsichtsbehörden<br />

Glauben schenken darf,<br />

so dass mittel- bis langfristig mit weiteren Meldungen<br />

über Sanktionen zu rechnen ist. Auch<br />

unsere europäischen Nachbarn waren eifrig, so<br />

gab es beispielsweise in Frankreich eine Geldbuße<br />

i.H.v. immerhin 50 Mio. € gegen Google (was das<br />

Unternehmen wohl aus der vielzitierten Portokasse<br />

zahlte). Spanien verhängte 250.000 €<br />

gegen die nationale Fußball-Bundesliga „LaLiga“,<br />

weil deren App ihre Nutzer ausspionierte.<br />

Bei Lichte betrachtet sind wir noch meilenweit<br />

entfernt von einer einheitlichen Linie in Deutschland,<br />

wo insgesamt 18 Aufsichtsbehörden einen<br />

gemeinsamen Weg finden müssen. Ganz zu<br />

schweigen von Europa, hier gibt es noch zu viele<br />

unterschiedliche Herangehensweisen. Das ist<br />

eine von zahlreichen weiteren Unwägbarkeiten,<br />

die es im Zusammenhang mit dem „neuen“<br />

Datenschutzrecht noch immer gibt. Von der<br />

richtigen Rechtsgrundlage für die Anfertigung<br />

bzw. Veröffentlichung von Fotos über die korrekte<br />

Umsetzung der Informationspflichten bis<br />

hin zur Frage, wann genau eine Datenpanne<br />

bzw. wann ein „hohes Risiko“ im Sinne der<br />

DSGVO vorliegt – es gibt noch eine Vielzahl von<br />

Detailfragen zu klären. Wenn man jedoch bedenkt,<br />

dass eine verbindliche Klärung durch den<br />

EuGH Jahre benötigt, werden wir noch längere<br />

Zeit mit diversen Praxisproblemen zu kämpfen<br />

haben. Es ist einerseits nicht angezeigt, in Panik<br />

auszubrechen, das haben die letzten Wochen<br />

und Monate gezeigt. Andererseits darf man das<br />

Thema Datenschutz auch nicht gänzlich ignorieren.<br />

Hier sollte ein praktikabler, gangbarer und<br />

individueller Weg gefunden werden.<br />

Rechtsanwalt MICHAEL ROHRLICH, Würselen<br />

988 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Anwaltsmagazin<br />

Abschiebungen zwischen 2013 und<br />

2018<br />

Im Zeitraum von 2013 bis 2018 ist es in Deutschland<br />

zu knapp 115.000 Abschiebungen gekommen.<br />

Dies geht aus der Antwort der Bundesregierung<br />

auf eine Kleine Anfrage im Bundestag<br />

hervor. Danach wurden im genannten Zeitraum<br />

insgesamt 12.212 Abschiebungen auf dem Landweg<br />

und 309 Abschiebungen auf dem Seeweg<br />

vollzogen. Insgesamt 102.407 Menschen wurden<br />

den Angaben zufolge auf dem Luftweg abgeschoben<br />

(vgl. BT-Drucks <strong>19</strong>/11676).<br />

Die weitaus meisten Abschiebungen geschahen<br />

somit auf dem Luftweg; demgegenüber erfolgten<br />

nur relativ wenige Abschiebungen auf dem Landweg,<br />

etwa nach Polen, Österreich und in die<br />

Benelux-Staaten oder auf dem Seeweg, z.B. nach<br />

Schweden. Von den genannten 102.407 Abschiebungen<br />

auf dem Luftweg erfolgten 26.506 in<br />

EU-Mitgliedstaaten bzw. Schengen-Staaten, gefolgt<br />

von den Balkan-Staaten. Die rund 12.500<br />

Abschiebungen über Land bzw. per Schiff erfolgten<br />

ausnahmslos in die EU-Mitgliedsstaaten bzw. die<br />

Schengen-Staaten.<br />

Betrachtet nach Staatsangehörigkeiten finden<br />

sich in der Aufstellung Migranten aus den Balkanstaaten<br />

ganz vorn, gefolgt von Angehörigen<br />

nordafrikanischer Staaten.<br />

Zu den Gesamtkosten der Abschiebungen konnte<br />

die Bundesregierung keine Angaben machen; diese<br />

würden nicht gesondert erfasst. Die Kosten allein<br />

der Sicherheitsbegleitungen wurden mit 3,2 Mio. €<br />

in 2013 und 8,2 Mio. € in 2018 beziffert.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Mehrheit wünscht sich besseren<br />

Datenschutz<br />

70 % der Bundesbürger halten es für notwendig,<br />

dass die Politik strengere Vorschriften für Unternehmen<br />

durchsetzt, welche persönlichen Daten<br />

der Verbraucher gesammelt und gespeichert werden<br />

dürfen. Das geht aus dem Roland-Rechtsreport<br />

<strong>20<strong>19</strong></strong> hervor, den der Rechtsschutzversicherer<br />

in Kooperation mit dem Institut für Demoskopie<br />

Allensbach im Juli veröffentlicht hat.<br />

Überrascht zeigen sich die Forscher allerdings, dass<br />

die Gruppe der Befürworter angesichts diverser<br />

Datenskandale in der letzten Zeit abgenommen<br />

hat: Vor fünf Jahren verlangten immerhin noch<br />

78 %, dass die Politik gegenüber Unternehmen wie<br />

Google, Apple oder Facebook härtere Regeln<br />

aufstellen müsste. Laut dem aktuellem Roland-<br />

Report ist demgegenüber die Gruppe der Befragten,<br />

die die Datenschutzbestimmungen in<br />

Deutschland für übertrieben halten, sogar etwas<br />

größer als die Gruppe derjenigen, die sie angemessen<br />

finden (38 % vs. 35 %). Besonders kritisch sind<br />

aus Sicht der Bürger bürokratische Regelungen<br />

wie die Datenschutzgrundverordnung. Entsprechend<br />

dürfte ein aktueller Gesetzentwurf des<br />

Bundestags, der Kleinbetriebe und Vereine entlasten<br />

soll, im Sinne der Bürger sein. Dieser sieht<br />

vor, dass künftig Unternehmen, bei denen mind.<br />

20 Mitarbeiter ständig und automatisiert personenbezogene<br />

Daten verarbeiten, einen eigenen Datenschutzbeauftragten<br />

benennen müssen. Zuvor<br />

lag diese Grenze bei zehn Mitarbeitern. (Bundesrat<br />

hat inzwischen zugestimmt: „Zweites Datenschutz-Anpassungs-<br />

und Umsetzungsgesetz EU“<br />

vom 20.9.<strong>20<strong>19</strong></strong>, vgl. <strong>ZAP</strong> Heft <strong>19</strong>/<strong>20<strong>19</strong></strong> S. 991 – in<br />

diesem Heft [Anm. der Red.]).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 989


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Ob angemessen oder überzogen – immerhin tragen<br />

die geltenden Bestimmungen nach der neuesten<br />

Untersuchung dazu bei, dass sich jeder zweite<br />

Deutsche sehr gut oder gut durch die Datenschutzgesetze<br />

geschützt fühlt. Nur jeder Dritte fühlt sich<br />

weniger oder gar nicht gut abgesichert. Besonders<br />

sicher fühlt sich die Generation der unter 30-<br />

Jährigen: Von ihnen sagen 59 %, dass sie sich (sehr)<br />

gut geschützt fühlen. Wer angegeben hatte, dass er<br />

sich gut geschützt fühlt, weiß nach eigenem<br />

Bekunden auch besser über seine eigenen Rechte<br />

beim Datenschutz Bescheid. Besonders eng korreliert<br />

der Wissensstand bei dieser Frage mit dem<br />

Bildungsabschluss: Von Personen mit einfachem<br />

Schulabschluss kennt nur knapp jeder Zweite seine<br />

persönlichen Rechte im Bereich Datenschutz, bei<br />

den Personen mit höherem Bildungsabschluss sind<br />

es hingegen fast drei Viertel. [Quelle: Roland]<br />

Verdeckte Ermittler beim Zoll geplant<br />

Die Befugnisse des Zollfahndungsdienstes sollen<br />

ausgeweitet werden. Ein von der Bundesregierung<br />

in das Gesetzgebungsverfahren eingebrachter Entwurf<br />

eines Gesetzes zur Neustrukturierung des<br />

Zollfahndungsdienstgesetzes sieht u.a. die Möglichkeit<br />

zum Einsatz verdeckter Ermittler sowie<br />

eine Befugnis zur Identifizierung und Lokalisierung<br />

von Mobilfunkkarten und Telekommunikationsendgeräten<br />

vor. Mit dem Gesetz werden außerdem<br />

die Auskunftspflichten von Betroffenen und Dritten<br />

erweitert (vgl. BT-Drucks <strong>19</strong>/12088).<br />

Der Einsatz verdeckter Ermittler sei zur Abwehr<br />

schwerwiegender Gefahren für die zu schützenden<br />

Rechtsgüter im Zuständigkeitsbereich des Zollfahndungsdienstes<br />

unerlässlich, heißt es in der<br />

Begründung des Gesetzentwurfs. Dies gelte gerade<br />

vor dem Hintergrund, dass Gruppierungen der<br />

organisierten Kriminalität zunehmend konspirativ<br />

und unter größter Abschottung agieren würden.<br />

Außerdem darf das Zollkriminalamt in Zukunft<br />

Gerätenummern von Telekommunikationsendgeräten<br />

und die Nummern der verwendeten Karten<br />

sowie die Standorte von Telekommunikationsendgeräten<br />

ermitteln. Diese Befugnis sei angesichts<br />

der technischen Entwicklung im Telekommunikationsbereich<br />

erforderlich. Bei der Vorbereitung und<br />

Begehung von Straftaten gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz<br />

oder von unerlaubten Handlungen<br />

im Außenwirtschaftsverkehr würden zunehmend<br />

Telekommunikationsendgeräte eingesetzt, deren<br />

Rufnummern oder Kennungen dem Zollkriminalamt<br />

oftmals nicht bekannt seien. Wie in der<br />

polizeilichen Praxis soll das Zollkriminalamt daher<br />

sog. IMSI-Catcher oder WLAN-Catcher zur Gefahrenabwehr<br />

einsetzen dürfen.<br />

Außerdem werden mit dem Gesetzentwurf Vorgaben<br />

aus zwei Urteilen des Bundesverfassungsgerichts<br />

zum Datenschutz sowie eine EU-Richtlinie<br />

umgesetzt. Insbesondere sei eine Stärkung<br />

des Kernbereichsschutzes während und nach der<br />

Datenerhebung durch erweiterte richterliche<br />

Kontrollbefugnisse vorgesehen, heißt es in dem<br />

Entwurf.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

DSGVO: Datenschutzbeauftragter<br />

künftig erst ab 20 Mitarbeitern<br />

Der Bundesrat hat am 20.9.<strong>20<strong>19</strong></strong> einem Gesetzesvorhaben<br />

zugestimmt, das für kleinere Betriebe<br />

– aber z.B. auch für mittelständische Rechtsanwaltskanzleien<br />

– für Erleichterung im Datenschutzrecht<br />

sorgt: Künftig soll ein Datenschutzbeauftragter<br />

erst ab einer Betriebsgröße von<br />

20 mit Datenverarbeitung befassten Mitarbeitern<br />

bestellt werden müssen.<br />

Derzeit haben nicht nur öffentliche Stellen und<br />

Behörden, sondern auch private Organisationen,<br />

wie etwa Unternehmen und Kanzleien einen<br />

Datenschutzbeauftragten oder eine Datenschutzbeauftragte<br />

zu benennen, vorausgesetzt sie beschäftigen<br />

zehn oder mehr Mitarbeiter mit der<br />

automatisierten Verarbeitung personenbezogener<br />

Daten (s. § 38 BDSG). Vor allem kleinere Betriebe<br />

waren damit aber überfordert, zumal das Datenschutzrecht,<br />

wie besonders auch die im vergangenen<br />

Jahr in Kraft getretene Datenschutzgrundverordnung<br />

(DSGVO) wieder vor Augen geführt hat,<br />

ständig komplizierter wird.<br />

Mit dem nun in Vorbereitung befindlichen Zweiten<br />

Gesetz zur Anpassung des Datenschutzrechts an<br />

die Verordnung (EU) 2016/679 und zur Umsetzung<br />

der Richtlinie (EU) 2016/680 (Zweites Datenschutz-Anpassungs-<br />

und Umsetzungsgesetz EU<br />

– 2. DSAnpUG-EU) will der Gesetzgeber deshalb<br />

Entlastung schaffen. Auf Anregung des Bundestagsausschusses<br />

für Inneres und Heimat ist in den<br />

Entwurf noch eine Änderung aufgenommen worden,<br />

derzufolge ein Datenschutzbeauftragter erst<br />

990 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

ab 20 mit der Datenverarbeitung beschäftigen<br />

Betriebsangehörigen bestellt werden muss. Damit<br />

sollen laut Entwurfsbegründung insbesondere<br />

kleinere und mittlere Unternehmen sowie ehrenamtlich<br />

tätige Vereine unterstützt werden.<br />

Diese Änderung dürfte auch viele mittelständische<br />

Anwaltskanzleien betreffen. Der Deutsche Anwaltverein<br />

(DAV) rät aber dennoch dazu, das Thema<br />

Datenschutz nicht zu vernachlässigen. Denn auch<br />

Büros, die (künftig) keinen Datenschutzbeauftragten<br />

benötigen, müssen nach wie vor die datenschutzrechtlichen<br />

Bestimmungen einhalten. Von<br />

daher sei es, so der DAV, auf jeden Fall sinnvoll,<br />

jemanden mit datenschutzrechtlicher Expertise in<br />

der Kanzlei zu haben. [Quellen: Bundesrat/DAV]<br />

Änderungen im Inkassorecht geplant<br />

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz<br />

hat den Referentenentwurf eines<br />

Gesetzes zur Verbesserung des Verbraucherschutzes<br />

im Inkassorecht vorgelegt. Darin sind zahlreiche<br />

Regelungen enthalten, die auch die Anwaltschaft<br />

zentral betreffen. Unter anderem soll es Änderungen<br />

bei den Geschäfts- und Einigungsgebühren<br />

geben, zudem soll die doppelte Inanspruchnahme<br />

von Schuldnern durch Inkassounternehmen und<br />

Rechtsanwälte ausgeschlossen werden. Auch will<br />

der Entwurf das Bewusstsein der Schuldner für die<br />

Folgen einer Nichtzahlung und der Abgabe eines<br />

Schuldanerkenntnisses stärken.<br />

Es habe sich, so die Begründung des Ministeriums,<br />

u.a. durch die Evaluierung der inkassorechtlichen<br />

Vorschriften des Gesetzes gegen unseriöse Geschäftspraktiken<br />

v. 1.10.2013 gezeigt, dass die damaligen<br />

Rechtsänderungen zwar die Transparenz<br />

für Schuldner im Inkassofall deutlich erhöht hätten,<br />

sich jedoch die immer noch viel zu hohen Inkassokosten<br />

als sehr unbefriedigend darstellen.<br />

Der Gesetzentwurf sieht zahlreiche Änderungen<br />

u.a. im RVG (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz), in<br />

der BRAO (Bundesrechtsanwaltsordnung), im<br />

RDG (Gesetz über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen),<br />

im BGB (Bürgerliches Gesetzbuch)<br />

und im UKlaG (Unterlassungsklagegesetz)<br />

vor. Die für Rechtsanwälte wichtigsten Neuerungen<br />

sind nachstehend kurz umrissen:<br />

• Einigungsgebühr: Sie soll von 1,5 auf 0,7<br />

reduziert werden. Im Gegenzug wird der<br />

Gegenstandswert künftig 50 % statt bisher<br />

20 % des Anspruchs betragen.<br />

• Geschäftsgebühr: Eingeführt werden soll eine<br />

besondere Schwellengebühr von 0,7 für die<br />

Einziehung unbestrittener Forderungen. Bei<br />

bestrittenen Forderungen bleibt es bei dem<br />

bisherigen Gebührensatzrahmen von 0,5 bis 2,5.<br />

• Gegenstandswerte: Der Gegenstandswert für<br />

die Einholung von Drittauskünften wird auf<br />

2.000 € gedeckelt. Im Gegenzug steigt er aber<br />

bei Zahlungsvereinbarungen von derzeit 20 %<br />

auf 50 %.<br />

• Doppelbeauftragung: Werden vom Gläubiger<br />

sowohl ein Inkassodienstleister als auch ein<br />

Anwalt eingeschaltet, obwohl die vorgenommenen<br />

Tätigkeiten genauso gut nur von einem<br />

der beiden hätten vorgenommen werden können,<br />

können zukünftig grundsätzlich nur die<br />

Kosten ersetzt verlangt werden, die bei Einschaltung<br />

nur des Anwalts oder nur des Inkassodienstleisters<br />

entstanden wären.<br />

• Erweiterte Aufklärungspflichten: Bereits seit<br />

2014 sieht § 43d BRAO Aufklärungspflichten<br />

des mit Inkassoleistungen beauftragten Rechtsanwalts<br />

ggü. dem Schuldner vor. Diese Pflichten<br />

sollen jetzt noch einmal ausgeweitet werden. So<br />

muss ein Anwalt künftig auch über die beim<br />

Abschluss von Zahlungsvereinbarungen zusätzlich<br />

entstehenden Kosten (Einigungsgebühr)<br />

aufklären. Auch muss der Schuldner über wesentliche<br />

Rechtsfolgen des mit der Vereinbarung<br />

angestrebten Schuldanerkenntnisses unterrichtet<br />

werden, insbesondere darüber, dass Einwendungen<br />

und Einreden gegenüber der Forderung<br />

i.d.R. ausgeschlossen sein werden und<br />

sich die Verjährung der Forderung möglicherweise<br />

neu berechnet.<br />

Der Entwurf ist derzeit an die Verbände und<br />

Experten versandt worden, die noch bis Anfang<br />

November ihre Stellungnahmen einreichen können.<br />

Allerdings gab es kurz nach Bekanntwerden bereits<br />

Kritik seitens der Verbraucherverbände. So bemängelt<br />

etwa der Verbraucherzentrale Bundesverband<br />

(vzbv), dass die geplante Deckelung der Inkassogebühren<br />

unzureichend sei; besonders bei einfachen<br />

Massen-Inkassoschreiben würden die Gebühren<br />

immer noch den tatsächlichen Aufwand<br />

überschreiten. Zudem kritisiert der vzbv, dass die<br />

Aufsicht über die Inkassounternehmen unverändert<br />

bei bundesweit fast 40 Gerichten angesiedelt und<br />

damit zersplittert bleibe. [Quellen: BMJV/vzbv]<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 991


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Positive Bilanz zum Europäischen<br />

Haftbefehl<br />

Die Europäische Kommission zieht eine positive<br />

Bilanz zum Europäischen Haftbefehl. Es sei das am<br />

häufigsten verwendete EU-Instrument der justiziellen<br />

Zusammenarbeit in Strafsachen, teilte<br />

sie Mitte September anlässlich der Vorlage eines<br />

Berichts mit, der u.a. Daten zu der Anzahl der<br />

ausgestellten und vollstreckten Europäischen Haftbefehle,<br />

der verhafteten Personen, der Art der<br />

abgedeckten Straftaten, der angewandten Gründe<br />

für die Nichtausführung und die Dauer des Übergabeverfahrens<br />

zusammengestellt hat. Diese Daten<br />

sollen die Grundlage für statistische Analysen<br />

bilden, Vergleiche zwischen den Mitgliedstaaten<br />

ermöglichen und ein Gesamtbild der Funktionsweise<br />

des Europäischen Haftbefehls vermitteln.<br />

Dem aktuellen Bericht zufolge wurden 2017 über<br />

17.000 Europäische Haftbefehle ausgestellt, die<br />

meisten davon in Deutschland (2.600); im Jahr<br />

zuvor (2016) waren es 16.636. Auch die Frist bis zur<br />

Überstellung der Tatverdächtigen von einem Mitgliedstaat<br />

in den anderen hat sich spürbar verkürzt.<br />

Bevor es den Europäischen Haftbefehl gab,<br />

dauerte ein Auslieferungsverfahren im Schnitt<br />

ein Jahr, jetzt sind es nur noch 15 Tage, wenn<br />

der Tatverdächtige der Übergabe zustimmt, oder<br />

40 Tage, wenn dies nicht der Fall ist.<br />

Damit sei, so die Kommission, der 2004 eingeführte<br />

Europäische Haftbefehl zu einem Schlüsselelement<br />

bei der Kriminalitätsbekämpfung und zu<br />

einem wichtigen Faktor für die innere Sicherheit<br />

in der EU geworden. Er sei ein wirksames Instrument,<br />

um die Auslieferung eines Tatverdächtigen<br />

aus einem anderen Mitgliedstaat zu erwirken und<br />

Schlupflöcher innerhalb Europas zu schließen. Die<br />

offenen Grenzen sollten nicht dazu führen, dass<br />

sich Straftäter der Justiz schlichtweg dadurch<br />

entziehen, dass sie sich in einen anderen Mitgliedstaat<br />

absetzen.<br />

EU-Justizkommissarin VĚRA JOUROVÁ erklärte hierzu:<br />

„Dank des Europäischen Haftbefehls leben die EU-<br />

Bürger an einem sichereren Ort. Egal, wo sich Kriminelle<br />

und Terroristen in Europa verstecken, sie werden vor<br />

Gericht gestellt. Dieses Beispiel zeigt, dass die EU auf<br />

gegenseitigem Vertrauen und Rechtsstaatlichkeit beruht.<br />

Sein Erfolg hängt von der guten Zusammenarbeit<br />

der europäischen und nationalen Behörden ab.“<br />

Der vollständige Bericht zum Europäischen Haftbefehl<br />

(derzeit nur in englischer Sprache verfügbar)<br />

kann auf der Internetseite der EU-Kommission<br />

unter https://ec.europa.eu/info/law/cross-border-cases/<br />

judicial-cooperation/types-judicial-cooperation/europeanarrest-warrant_en#documents<br />

heruntergeladen werden.<br />

[Quelle: EU-Kommission]<br />

Podiumsdiskussion zur Fehlerkultur<br />

in der Justiz<br />

Am 11. September fand im Berliner Kammergericht<br />

eine Podiumsdiskussion zum Thema „Fehlerkultur<br />

in der Justiz“ statt. Unter der Moderation einer<br />

Journalistin diskutierten Juristen aus Rechtspflege<br />

und Wissenschaft, ob sich beim Umgang der<br />

Gerichte mit eigenen Fehlern etwas ändern muss.<br />

Dass es bisher tatsächlich kein Nachdenken über<br />

eine Fehlerkultur – anders als etwa bei Anwälten –<br />

gibt, gab der Präsident des LG Berlin, HOLGER<br />

MATTHIESEN, bereits in seinem Eingangsstatement<br />

zu. Allerdings, so MATTHIESEN, existiere auch kaum<br />

mehr Fehlerkontrolle als in der Justiz. Zur Begründung<br />

verwies er darauf, dass alle Justizangehörigen<br />

der Dienstaufsicht unterliegen. Dies sei auch dort<br />

gegeben, wo diese an die Grenzen komme, nämlich<br />

an der richterlichen Unabhängigkeit, „throne förmlich<br />

die Überprüfung im Instanzenzug“.<br />

Die Richterin am Berliner Verfassungsgerichtshof<br />

MARGARETE VON GALEN lenkte demgegenüber den<br />

Blick auf die Unterschiede in den Auswirkungen<br />

eines fehlerhaften Verhaltens für Richter und<br />

Anwälte. Während Anwälten die Haftung drohe,<br />

seien Richter durch das Spruchrichterprivileg und<br />

die hohen Anforderungen an den Rechtsbeugungsvorsatz<br />

geschützt. Darin sieht VON GALEN<br />

einen Grund für eine ihrer Ansicht nach fehlende<br />

Fehlerkultur. Die Anhörungsrüge sei regelmäßig<br />

erfolglos und als „totes Recht“ anzusehen. Auch<br />

eine an sich notwendige Offenheit fehle, die sich<br />

etwa in der fehlenden Dokumentation der strafgerichtlichen<br />

Hauptverhandlung zeige. Im Umgang<br />

mit fehlerhaften Haftentscheidungen, die doch für<br />

die Betroffenen in erheblichem Maße einschneidend<br />

seien, fehle eine notwendige Aufarbeitung,<br />

die auch für die betroffenen richterlichen Entscheider<br />

wichtig sei. Insoweit sei Hilfe wie Supervision<br />

wünschenswert, an der es fehle. Dass<br />

Anwälte sich Fehler wünschten, konnte VON GALEN<br />

nicht bestätigen. Der Wunsch der Anwälte gehe<br />

992 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

eher dahin, dass eine erkennbare Auseinandersetzung<br />

mit dem anwaltlichen Vortrag stattfinde.<br />

Dass der offene Umgang mit eigenen Fehlern in<br />

der Justiz derzeit eher schwach ausgeprägt ist,<br />

war auch die Meinung von Prof. FABIAN WITTREK<br />

von der Universität Münster. Er verwies auf den<br />

Umgang mit Befangenheitsanträgen und die<br />

Selbstkorrektur i.F.v. Wiederaufnahmeverfahren.<br />

Dies sei aber auch nicht wirklich verwunderlich,<br />

weil hier soziologisch der Gruppengedanke wirke,<br />

der den Einzelnen vor Angriffen schütze, solange<br />

der Verstoß nicht die Gruppe gefährde, so<br />

WITTRECK. Er bestätigte, dass es bisher an belastbaren<br />

wissenschaftlichen Studien zu der Frage<br />

einer Fehlerkultur in der Justiz fehle. Dies wolle er<br />

aber alsbald durch die Vergabe von entsprechenden<br />

Promotionsthemen ändern. [Quelle: DRB]<br />

Zum Schluss: Rentenberater sind<br />

anders<br />

Rechtsanwälte und Steuerberater sind Freiberufler.<br />

Rentenberater sind es nicht. Dies hat kürzlich der<br />

BFH entschieden und letztere Berufsgruppe damit<br />

unter die Gewerbetreibenden einsortiert, die nicht<br />

unter § 18 EStG fallen. Somit ist nun höchstrichterlich<br />

geklärt, dass sie gewerbesteuerpflichtig<br />

sind (Urteile v. 7.5.<strong>20<strong>19</strong></strong> – VIII R 2/16 u. VIII R 26/16).<br />

Geklagt hatten zwei Rentenberaterinnen, die im<br />

Rechtsdienstleistungsregister registriert waren,<br />

jedoch nicht über eine Zulassung als Rechtsanwältin<br />

oder Steuerberaterin verfügten. Die zuständigen<br />

Finanzämter sahen ihre Tätigkeit als gewerblich<br />

an und setzten Gewerbesteuer fest. Die<br />

hiergegen gerichteten Klagen der beiden Beraterinnen<br />

blieben ohne Erfolg.<br />

Der BFH prüfte ausführlich, ob Rentenberater<br />

unter einen der Tatbestände des § 18 EStG fallen<br />

und damit als freiberuflich eingestuft werden<br />

können. Jedoch sah er weder einen der Katalogtatbestände<br />

direkt als erfüllt an noch wollte er<br />

Rentenberater als einem der Katalogberufe zumindest<br />

ähnlich einstufen. Bei der Prüfung, ob<br />

eine Berufstätigkeit der eines Katalogberufs<br />

gleichgestellt werden könne, sei auf die Ähnlichkeit<br />

mit einem der genannten Katalogberufe, z.B.<br />

dem des Rechtsanwalts oder Steuerberaters,<br />

abzustellen. Mit Blick auf letztgenannte fehle es,<br />

so der BFH, jedoch schon bei der Ausbildung und<br />

auch bei der ausgeübten Tätigkeit.<br />

Rechtsanwalt, so führen die Finanzrichter aus,<br />

könne nur werden, wer die Befähigung zum<br />

Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz<br />

erlangt habe, die Eingliederungsvoraussetzungen<br />

nach Teil 3 des Gesetzes über die Tätigkeit<br />

europäischer Rechtsanwälte in Deutschland<br />

(EuRAG) erfülle oder über eine Bescheinigung gem.<br />

§ 16a Abs. 5 EuRAG verfüge. All dies treffe auf<br />

Rentenberater nicht zu. Selbst wenn man, wie eine<br />

der Klägerinnen, über besondere Sachkunde verfüge<br />

und in seinem Tätigkeitsschwerpunkt – hier:<br />

dem Versorgungsausgleichsrecht – eine anerkannte<br />

Expertin sei, fehle letztlich eine Ausbildung,<br />

die in Tiefe und Breite der eines Rechtsanwalts<br />

vergleichbar sei. Auch sei das Aufgabengebiet der<br />

Rentenberater ggü. dem der Anwälte erheblich<br />

beschränkt. Während letztere als unabhängige<br />

Vertreter und Berater in allen Rechtsangelegenheiten<br />

tätig sein dürften, erbrächten Rentenberater<br />

eine nur sehr begrenzte Rechtsdienstleistung.<br />

Gleiches gelte beim Vergleich mit den Katalogberufen<br />

des Steuerberaters und des Steuerbevollmächtigten.<br />

Deren Ausbildung umfasse das<br />

Steuer- und das Steuerstrafrecht sowie Teile des<br />

Zivil-, des Wirtschafts- und des Verfahrens- sowie<br />

Berufsrechts. Sowohl damit als auch mit der<br />

entsprechend breit angelegten Tätigkeit der<br />

Steuerberater und -bevollmächtigten sei diejenige<br />

des Rentenberaters nicht zu vergleichen.<br />

Die Entscheidungsgründe legen nahe, dass die<br />

Klägerinnen sich zur Stützung ihrer Rechtsposition<br />

historisch weit zurückbegeben haben und sich<br />

auch auf die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs<br />

beriefen. Denn der BFH musste auch auf die<br />

Tätigkeit früherer „Prozessagenten“ und „Rechtskonsulenten“<br />

eingehen, die offenbar ebenfalls nur<br />

eingeschränkte Rechtsdienstleistungen erbracht<br />

hatten. Diesen Aspekt „bügelten“ die Finanzrichter<br />

aber kurz damit ab, dies ändere nichts an dem<br />

zuvor herausgearbeiteten Ergebnis.<br />

Fazit: Eine Berufsbezeichnung, die den Begriff<br />

„Berater“ enthält, macht ihren Träger noch lange<br />

nicht zum Freiberufler.<br />

[Red.]<br />

Personalia<br />

Die amtierende Präsidentin des Deutschen Juristinnenbunds<br />

e.V. (djb), Prof. Dr. MARIA WERSIG,<br />

wurde am 14. September i.R.d. der diesjährigen<br />

Mitgliederversammlung des Vereins in Halle/<br />

Saale als Präsidentin in ihrem Amt für zwei<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 993


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

weitere Jahre bestätigt. Als Vizepräsidentinnen<br />

wurden ORIANA CORZILIUS, Syndikusrechtsanwältin<br />

für eine dritte und CLAUDIA ZIMMERMANN-SCHWARTZ,<br />

Ministerialdirigentin a.D., Düsseldorf, für eine<br />

zweite Amtszeit wiedergewählt. Der im Jahr<br />

<strong>19</strong>48 gegründete djb ist ein überparteilicher und<br />

überkonfessioneller Zusammenschluss von Juristinnen,<br />

Volks- und Betriebswirtinnen, der sich die<br />

Fortentwicklung des Rechts auf die Fahne geschrieben<br />

hat, insbesondere die Verwirklichung<br />

der Gleichberechtigung und Gleichstellung der<br />

Frau in allen gesellschaftlichen Bereichen.<br />

Der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts<br />

(BVerfG) Prof. Dr. UDO STEINER hat am 16.<br />

September seinen 80. Geburtstag gefeiert. STEINER<br />

war Professor an Universität Regensburg, wo er<br />

den Lehrstuhl für Deutsches und Bayerisches<br />

Staats- und Verwaltungsrecht sowie Verwaltungslehre<br />

innehatte, bevor er <strong>19</strong>95 an das BVerfG<br />

berufen wurde. Sein Dezernat im Ersten Senat,<br />

dessen Mitglied er bis zu seinem Ausscheiden im<br />

Jahr 2007 war, umfasste insbesondere das Sozialrecht.<br />

Als Berichterstatter wirkte er an einer Reihe<br />

von bedeutenden Entscheidungen mit, etwa zur<br />

rentenrechtlichen Bewertung von Kindererziehungszeiten,<br />

zur Gewährung von BAföG als Volldarlehen<br />

und zur Überleitung der Ostrenten nach<br />

der Wiedervereinigung. Nach seinem Ausscheiden<br />

aus dem aktiven Richterdienst übernahm er die<br />

Funktion eines Ombudsmanns bei der Deutschen<br />

Bahn AG. Vom Bundespräsidenten wurde Prof. Dr.<br />

UDO STEINER mit dem großen Verdienstkreuz mit<br />

Stern und Schulterband ausgezeichnet.<br />

Der ehemalige belgische Rechtsanwalt DIDIER<br />

REYNDERS wird neuer EU-Kommissar für Justiz<br />

und Rechtsstaatlichkeit. Dies teilte die designierte<br />

Kommissionspräsidentin URSULA VON DER LEYEN Mitte<br />

September anlässlich der Vorstellung ihres Teams<br />

mit. REYNDERS wird künftig u.a. für die Erarbeitung<br />

eines umfassenden Rechtsstaatlichkeitsmechanismus<br />

ebenso wie für die Arbeiten an einem Rechtsakt<br />

zum ethischen Umgang mit künstlicher Intelligenz<br />

(KI) und die Effizienzsteigerung der Justiz<br />

durch den Einsatz digitaler Technologien zuständig<br />

sein. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat diese<br />

Personalie bereits ausdrücklich begrüßt: Die Berufung<br />

des früheren Anwalts lasse hoffen, dass die<br />

Anwaltschaft als Garantin bei der Wahrung der<br />

Rechtsstaatlichkeit im derzeit diskutierten Rechtsstaatlichkeits-Mechanismus<br />

eine tragende Rolle<br />

spielen werde, so der DAV in einer Pressemitteilung.<br />

[Quellen: djb/BVerfG/DAV]<br />

Wussten Sie schon, dass … ?<br />

… Sie mithilfe des Cloud-Accounts Ihre Lesezeichen,<br />

Markierungen und Annotationen auf allen<br />

Endgeräten, mit denen Sie die <strong>ZAP</strong> lesen, nutzen<br />

können? Unter www.zap-zeitschrift.de/app/haeufigefragen/<br />

(Rubrik Bedienung, Frage Nr. 4 – Kann ich<br />

Markierungen, Lesezeichen, Annotationen auf<br />

verschiedenen Endgeräten lesen?) zeigen wir<br />

Ihnen, wie Sie den Cloud-Account ganz einfach<br />

einrichten können.<br />

Hinweis:<br />

Unter der Überschrift „Wussten Sie schon, dass“<br />

informiert Sie die <strong>ZAP</strong> Redaktion regelmäßig<br />

über die Vorteile der <strong>ZAP</strong> App oder häufig<br />

gestellte Fragen zur Online Bibliothek, die<br />

Sie als Abonnent kostenfrei nutzen.<br />

[Red.]<br />

Neue eBroschüre zum ERV kostenlos<br />

in der <strong>ZAP</strong> App abrufbar<br />

Unter dem Titel „Arbeitsabläufe mit digitaler<br />

Technik opitmieren: beA – Akteneinsichtsportal –<br />

Projekt Amtsgericht 4.0“ ist soeben die neue<br />

eBroschüre 4/<strong>20<strong>19</strong></strong> aus der Reihe „Elektronischer<br />

Rechtsverkehr“ (ERV) erschienen. Die Abhandlung<br />

gibt Auskunft darüber, was bei der Anwendung des<br />

beA aus Haftungsgründen besonders zu beachten<br />

ist. Tipps und Schaubilder geben eine handfeste<br />

Hilfestellung, mögliche Risiken bei der täglichen<br />

Handhabung des beA-Systems zu vermeiden.<br />

Die Themen dieser Ausgabe sind:<br />

• Aktuelles zum beA<br />

• beA: Haftungsfallen vermeiden<br />

• Elektronische Akte ist wichtig, aber nicht alles!<br />

• Künstliche Intelligenz (KI) zur Bekämpfung<br />

von Kinderpornografie<br />

• Künftig Online-Gründung von Kapitalgesellschaften<br />

Informieren Sie sich über die Vermeidung von<br />

Haftungsfallen im beA: Die eBroschüre steht für<br />

Sie kostenfrei in der <strong>ZAP</strong> App zur Verfügung. Die<br />

Desktop-Version erreichen Sie im Internet unter:<br />

www.silkcodeapps.de/desktop/zap-verlag/#library.<br />

Weitere Informationen zur <strong>ZAP</strong> App finden Sie<br />

unter www.zap-zeitschrift.de/App.<br />

[Red.]<br />

994 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Eilnachrichten <strong>20<strong>19</strong></strong> Fach 1, Seite 143<br />

Eilnachrichten<br />

Volltext-Service: Die Entscheidungsvolltexte zu den <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können Sie online kostenlos bei<br />

unserem Kooperationspartner juris abrufen, Anmeldung unter www.juris.de. Einzelheiten zum Anmeldevorgang<br />

finden Sie auf unserer Homepage www.zap-verlag.de/service. Sie sind Neu-Abonnent? Dann<br />

schicken Sie bitte eine E-Mail mit dem Betreff „Neu-Abonnement“ an freischaltcode-zap@zap-verlag.de<br />

und erhalten so Ihre Zugangsdaten.<br />

Allgemeines Zivilrecht<br />

Unzureichende Befestigung eines Bootes: Schaden am Nachbarboot<br />

(OLG Brandenburg, Urt. v. 21.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 7 U 89/17) • Treibt ein stillliegendes Boot ab und kommt es dadurch<br />

zu einem Schaden an einem Nachbarboot, besteht zugunsten des Geschädigten ein Anscheinsbeweis<br />

dahingehend, dass der „Stilllieger“ ungenügend gesichert war. Wenn sich ein „Stilllieger“ aus seiner<br />

Befestigung löst, war typischerweise die Befestigung, die gerade gegen dieses Lösen angebracht war,<br />

nicht ausreichend. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 542/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Kaufvertragsrecht<br />

Dieselskandal: Unzulässige Abschalteinrichtung-BMW<br />

(OLG München, Beschl. v. 29.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 8 U 1449/<strong>19</strong>) • Eine unzulässige „Abschalteinrichtung“ i.S.v. Art. 3 Nr. 10<br />

Verordnung (EG) Nr. 715/2007 liegt nur vor, wenn ein „Konstruktionsteil“ im genau zu bezeichnenden Motor<br />

des jeweiligen Fahrzeugs vorhanden ist, das in bestimmten, genau zu bezeichnenden Umwelt- oder<br />

Fahrsituationen die Abgasreinigung reduziert oder abschaltet, und dies nicht notwendig ist, um den Motor<br />

vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten. Die<br />

§§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV bzw. Art. 5 II, Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 stellen keine<br />

Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB dar und deshalb ist eine Vorlage an den EuGH nicht veranlasst.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 543/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Ausstattung der Mietsache: Spätere Veränderung durch den Vermieter<br />

(LG Berlin, Beschl. v. 8.8.<strong>20<strong>19</strong></strong>– 67 S 131/<strong>19</strong>) • Der Zuschnitt und die Ausstattung der Mietsache, die der<br />

Mieter zum Zeitpunkt der letzten Besichtigung vor Abschluss des Mietvertrags oder zu Beginn des<br />

Mietverhältnisses vorgefunden hat, gelten auch ohne ausdrückliche mietvertragliche Regelung der<br />

Parteien als konkludent vereinbart. Eine spätere Veränderung durch den Vermieter, die weder gesetzlich<br />

noch rechtsgeschäftlich gerechtfertigt ist, stellt einen Mangel der Mietsache i.S.d. §§ 535 ff. BGB dar.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 544/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 995


Fach 1, Seite 144 Eilnachrichten <strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Bauvertragsrecht<br />

Vergütungsanpassung: Anpassung des Einheitspreises bei Mengenmehrungen<br />

(BGH, Urt. v. 8.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – VII ZR 34/18) • Wie die Vergütungsanpassung bei Mengenmehrungen<br />

vorzunehmen ist, wenn eine Einigung über den neuen Einheitspreis nicht zustande kommt, ist in § 2<br />

Abs. 3 Nr. 2 VOB/B nicht geregelt. Die Bestimmung gibt nur vor, dass bei der von den Parteien zu<br />

treffenden Vereinbarung über den neuen Preis Mehr- oder Minderkosten zu berücksichtigen sind. Die<br />

VOB/B legt die Verantwortung für die neue Preisbestimmung, durch die etwaigen Störungen des<br />

Äquivalenzverhältnisses entgegengewirkt werden soll, damit in die Hände der Vertragsparteien, die<br />

unter Berücksichtigung der geänderten Umstände einen neuen Preis aushandeln sollen. Hinweis: Haben<br />

sich die Parteien nicht insgesamt oder im Hinblick auf einzelne Elemente der Preisbildung geeinigt,<br />

enthält der Vertrag eine Lücke, die im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung gem. §§ 133, 157 BGB zu<br />

schließen ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 545/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Sonstiges Vertragsrecht<br />

Ruhegeldzusage: Weitere Tätigkeit eines Vorstandsmitglieds<br />

(OLG Hamburg, Urt. v. 23.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 11 U 63/<strong>19</strong>) • Übt ein Vorstandsmitglied unmittelbar nach der<br />

Beendigung seines Vorstandsdienstvertrags bis zu seiner Pensionierung in derselben Gesellschaft<br />

weitere Funktionen als Leitender Angestellter aus, kommt es nicht zu einer Unterbrechung seiner<br />

Betriebszugehörigkeit, so dass die sog. m/n-tel-Regelung des § 2 Abs. 1 S. 1 BetrAVG insoweit keine<br />

Anwendung findet. Hinweis: Die Entscheidung beschäftigt sich mit der Auslegung von allgemeinen<br />

Geschäftsbedingungen (AGB) in einem Vorstands-Versorgungsvertrag. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 546/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Personenstandsregistereintragung: Gebührenfreie Sterbeurkunde<br />

(OLG Nürnberg, Beschl. v. 24.7.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 15 W 1125/<strong>19</strong>) • Zum Nachweis gem. § 29 GBO, dass ein Nießbrauch<br />

gem. § 1061 S. 1 BGB wegen Versterbens des Berechtigten erloschen ist, genügt die Vorlage der notariell<br />

beglaubigten Abschrift einer Sterbeurkunde beim Grundbuchamt auch dann, wenn diese vom Standesamt<br />

mit dem Vermerk „Nur für Rente – gebührenfrei“ versehen worden ist. Hinweis: Ein Grundbuchamt hat<br />

nicht die Gebühreninteressen des Standesamts zu wahren und deshalb darf eine gebührenfrei erteilte<br />

Sterbeurkunden nicht zurückgewiesen werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 547/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Bank- und Kreditwesen<br />

Darlehensvertragswiderruf: Finanzierung eines Autokaufs<br />

(OLG Stuttgart, Urt. v. 28.5.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 6 U 78/18) • Ist ein Original der Vertragsurkunde unterschrieben, so ist<br />

dem Verbraucher bei Allgemein-Verbraucherdarlehensverträgen eine Abschrift der Vertragsurkunde<br />

i.S.d. § 356b Abs. 1 BGB auch dann zur Verfügung gestellt, wenn das ihm überlassene Exemplar der<br />

Vertragsurkunde von keiner der Vertragsparteien unterschrieben ist. Eine ansonsten ordnungsgemäße<br />

Widerrufsinformation in einem Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrag wird nicht dadurch unrichtig oder<br />

undeutlich, dass in einbezogenen AGB zum Vertrag möglicherweise AGB-rechtlich unwirksame Klauseln<br />

über ein Aufrechnungsverbot oder die Beschränkung von Zurückbehaltungsrechten des Darlehensnehmers<br />

enthalten sind. Hinweis: Sind Angaben zur Methode der Berechnung der Vorfälligkeitsentschädigung<br />

in einem Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrag fehlerhaft, führt das nicht dazu, dass die<br />

Widerrufsfrist nicht in Gang gesetzt wird; Rechtsfolge insoweit fehlerhafter Angaben ist lediglich der<br />

Verlust entsprechender Ansprüche des Darlehensgebers. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 548/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

996 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Eilnachrichten <strong>20<strong>19</strong></strong> Fach 1, Seite 145<br />

Straßenverkehrsrecht<br />

(Kein) Unabwendbares Ereignis: Unberechtigte Benutzung einer Busspur<br />

(OLG Dresden, Beschl. v. 25.6.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 4 U 580/<strong>19</strong>) • Auf ein unabwendbares Ereignis kann sich nicht<br />

berufen, wer zu einem Verkehrsunfall durch das Überfahren einer durchgezogenen Linie beigetragen<br />

hat. Der nichtberechtigte Benutzer einer Busspur, kann ggü. einem rechtsabbiegenden Verkehrsteilnehmer<br />

keinen Vorrang des Geradeausfahrenden in Anspruch nehmen. Hinweis: Das Gericht hat bei<br />

der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge in Ermangelung besonderer Umstände eine<br />

Haftungsquote von 2 / 3<br />

für den Geradeausfahrenden angenommen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 549/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Unerlaubtes Befahren eines Gehwegs mit einem Fahrrad: Ausweichreaktion<br />

(OLG Hamm, Urt. v. 28.5.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 9 U 90/18) • Auch ein Unfall infolge einer voreiligen – also objektiv und<br />

auch subjektiv nicht erforderlichen – Abwehr- oder Ausweichreaktion kann ggf. dem Betrieb des<br />

Kraftfahrzeugs gem. § 7 StVG zugerechnet werden, das diese Reaktion ausgelöst hat. Stürzt ein den<br />

Gehweg befahrender Radfahrer, der einem auf dem Gehweg zurücksetzenden Pkw auf die Straße<br />

ausgewichen ist, erst beim Wiederauffahren auf den Gehsteig, führt dies nicht zu einer Verneinung des<br />

Zurechnungszusammenhangs zwischen Zurücksetzen und Ausweichmanöver. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 550/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Versicherungsrecht<br />

Doppelversicherung: Krankenversicherungspflichtigkeit kraft Gesetzes<br />

(AG Dortmund, Urt. v. 27.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 425 C <strong>19</strong>69/<strong>19</strong>) • § 205 Abs. 2 S. 1 VVG enthält kein generelles Verbot<br />

einer Doppelversicherung. Sie gewährt nur ein besonders ausgestaltetes, außerordentliches Kündigungsrecht<br />

für den Fall, dass eine versicherte Person kraft Gesetzes kranken- oder pflegeversicherungspflichtig<br />

wird. Der umgekehrte Fall ist von der Norm nicht erfasst. In diesem Fall kann der Versicherungsnehmer<br />

frei entscheiden, ob er sich privat versichern lassen möchte oder nicht. Er wird in diesem Falle nicht<br />

automatisch in einer Doppelversicherung hineingedrängt, sondern kann die Art der Versicherung –<br />

freiwillig gesetzlich oder privat – frei wählen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 551/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Familienrecht<br />

Adoption einer volljährigen Person: Beibehaltung des Geburtsnamens<br />

(OLG Stuttgart, Beschl. v. 28.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 15 UF 184/<strong>19</strong>) • Die annehmende und die anzunehmende Person,<br />

deren Anträge auf Beibehaltung des Geburtsnamens des volljährigen Anzunehmenden abgewiesen<br />

werden, sind zur Anfechtung der ablehnenden Entscheidung beschwerdebefugt. Bei der Adoption einer<br />

volljährigen Person ist es dieser nicht gestattet, ihren bisherigen Geburtsnamen als alleinigen<br />

Familiennamen fortzuführen. Eine dahingehende erweiternde Auslegung der §§ 1767 Abs. 2, 1757 BGB<br />

kommt nicht in Betracht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 552/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Nachlass/Erbrecht<br />

Erteilung eines Testamentsvollstreckerzeugnisses: Kostentragung<br />

(OLG München, Beschl. v. 27.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 31 Wx 235/17) • Auch in einem Verfahren, das die Erteilung eines<br />

Testamentsvollstreckerzeugnisses zum Gegenstand hat, kann es angemessen sein, die Kosten für ein in<br />

der Beschwerdeinstanz eingeholtes Sachverständigengutachten (hier: Klärung der Testierfähigkeit der<br />

Erblasserin) den Erben aufzuerlegen (Fortführung der Senatsrechtsprechung OLG München ZEV 2017,<br />

148). Eine Auferlegung der Kosten zu Lasten der Erben setzt grds. voraus, dass diesen zuvor rechtliches<br />

Gehör gewährt worden ist. Hinweis: Steht zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 997


Fach 1, Seite 146 Eilnachrichten <strong>20<strong>19</strong></strong><br />

noch nicht fest, wer Erbe ist, ist für die unbekannten Erben ein Verfahrenspfleger zu bestellen. Der<br />

Verfahrenspfleger nimmt sodann das rechtliche Gehör für die Erben wahr. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 553/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Erbeinsetzung: Ambulant tätige Pflegekraft<br />

(OLG Köln, Beschl. v. 21.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 2 Wx 216/<strong>19</strong>) • Die testamentarische Erbeinsetzung einer ambulant tätigen<br />

Pflegekraft durch die zu pflegende Person ist nicht gem. § 134 BGB i.V.m. § 7 WTG NRW unwirksam.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 554/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Zivilprozessrecht<br />

VKH-Überprüfungsverfahren: Bekanntgabe fristgebundener Aufforderungen<br />

(OLG Bamberg, Beschl. v. <strong>19</strong>.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 2 WF 183/<strong>19</strong>) • Die fristgebundene Aufforderung zur Erklärung über<br />

eine Veränderung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gem. § 120a Abs. 1 S. 3 ZPO bedarf<br />

in Familienstreitsachen gem. §§ 113 Abs. 1 FamFG, 329 Abs. 2 S. 2 ZPO der Zustellung. Wurde nur die<br />

„formlose“ Hinausgabe (formlose Mitteilung gem. § 15 Abs. 3 FamFG), nicht aber eine förmliche<br />

Bekanntgabe i.S.d. § 15 Abs. 2 FamFG verfügt, fehlt es an einem Willen zur förmlichen Bekanntgabe,<br />

weshalb eine Heilung nach §§ 15 Abs. 2 S. 1 FamFG, 189 ZPO ausscheidet. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 555/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Arzthaftungssache: Keine Aussetzung bei anhängigem Strafverfahren<br />

(OLG Dresden, Beschl. v. 15.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 4 W 653/<strong>19</strong>) • In Arzthaftungssachen kommt eine Aussetzung mit<br />

Blick auf ein gegen den Arzt anhängiges Strafverfahren regelmäßig nicht in Betracht. Hinweis: Das<br />

Gericht hatte keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn aus dem Strafverfahren angenommen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 556/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />

Feststellung einer bestrittenen Forderung zur Insolvenztabelle: Streitwert<br />

(OLG Hamm, Beschl. v. 29.7.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 6 W 21/<strong>19</strong>) • Der Streitwert einer Klage auf Feststellung einer vom<br />

Insolvenzverwalter bestrittenen Forderung zur Insolvenztabelle (§ 182 InsO) ist nach der vom<br />

Prozessgericht zu schätzenden voraussichtlichen Insolvenzquote zu bestimmen; beträgt diese 0 %, so<br />

ist der Streitwert auf den Wert der niedrigsten Gebührenstufe nach der Tabelle in Anl. zu § 34 Abs. 1 S. 3<br />

GKG festzusetzen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 557/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />

Abfindung nach Ausschluss von Minderheitsaktionären: Squeeze-Out<br />

(OLG München, Beschl. v. 6.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 31 Wx 340/17) • Bei Spruchverfahren ist es im Rahmen der<br />

Kapitalisierung der finanziellen Überschüsse nicht zu beanstanden, den nach der Svensson-Methode<br />

hergeleiteten Basiszinssatz auf Prozentpunkte auf- oder abzurunden. Die Rundung dient der Glättung<br />

kurzzeitiger Marktschwankungen und trägt damit zur Planungs- und Rechtssicherheit bei. Die Frage der<br />

Auswirkung der Niedrigzinsphase auf die Gesamtrenditeerwartung ist nicht im Rahmen einer etwaigen<br />

„Normalisierung“ des Basiszinssatzes, sondern bei der Höhe der Marktrisikoprämie zu erörtern.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 558/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />

Anbieten von Zigaretten in Warenausgabeautomaten: Verkaufsmodalität<br />

(OLG München, Urt. v. 25.7.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 29 U 2440/18) • Das Vorrätighalten von Zigarettenpackungen in<br />

einem Warenausgabeautomaten eines Supermarkts, aus dem der Kunde die Zigaretten seiner Wahl<br />

998 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Eilnachrichten <strong>20<strong>19</strong></strong> Fach 1, Seite 147<br />

dadurch bezieht, dass er die entsprechende Auswahltaste nach zuvor erfolgter Freigabe durch das<br />

Kassenpersonal betätigt, woraufhin die angeforderten Zigarettenpackungen aus der Ausgabevorrichtung<br />

auf das Kassenband befördert und erst danach vom Kunden bezahlt werden, ist nicht als<br />

Anbieten i.S.v. § 11 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 TabakerzV anzusehen. Es handelt sich dabei lediglich um eine bloße<br />

von der richtlinienkonform auszulegenden Vorschrift nicht erfasste Verkaufsmodalität. Hinweis: Das<br />

Gericht beschäftigte sich auch mit der Frage, ob gesundheitsbezogene Warnhinweise auf Zigarettenpackungen<br />

als wesentliche Informationen i.S.v. § 5a Abs. 2 UWG anzusehen sind.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 559/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Arbeitsrecht<br />

Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats: Erhöhte Endstufe nach dem TV-Ärzte/VKA<br />

(BAG, Beschl. v. 12.6.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 1 ABR 30/18) • Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 99 Abs. 1<br />

S. 1 BetrVG besteht bei Ein- und Umgruppierungen lediglich in einem Recht auf Mitbeurteilung der<br />

Rechtslage und nicht in der Mitwirkung bei einer erst rechtsgestaltenden Maßnahme des Arbeitgebers.<br />

Stufenvorweggewährung oder die Gewährung einer erhöhten Endstufe nach § 20 Abs. 5 TV-Ärzte/VKA<br />

unterliegen nicht der Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 99 Abs. 1, Abs. 2 BetrVG.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 560/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Sozialrecht<br />

Beschäftigungszeiten in der „UDSSR“: Anerkennung als Spätaussiedler<br />

(BSG, Beschl. v. 8.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – B 5 R 282/18 B) • Für eine Anwendung von § 1 FRG ist die Anerkennung als<br />

Vertriebener oder Spätaussiedler Voraussetzung; der Spätaussiedlerstatus gilt dabei nicht für Ehegatten<br />

von Spätaussiedlern, die nicht selbst anerkannte Spätaussiedler sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 561/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Sozialgerichtliches Verfahren: Keine Parteivernehmung<br />

(BSG, Beschl. v. 31.7.<strong>20<strong>19</strong></strong> – B 13 R 263/18 B) • In sozialgerichtlichen Verfahren gibt es keine Möglichkeit<br />

der Parteivernehmung auf Antrag oder von Amts wegen; in § 118 Abs. 1 S. 1 SGG exisitiert kein Verweis<br />

auf die §§ 445 ff. ZPO. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 562/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Fortsetzungsfeststellungsklage: Erledigung vor Rechtshängigkeit<br />

(OVG des Saarlandes, Beschl. v. 13.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 1 A 103/18) • Die Absicht, eine Amtshaftungsklage zu erheben,<br />

begründet kein schutzwürdiges Interesse an einer verwaltungsgerichtlichen Klage mit dem Ziel, die<br />

Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes festzustellen, wenn sich der Verwaltungsakt bereits vor<br />

Klageerhebung erledigt hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 563/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Auswahl des Prüfers: Sachliche Gründe und Chancengleichheit<br />

(VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 26.3.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 9 S 1704/18) • Ein verfassungsrechtlicher Anspruch des<br />

Prüflings darauf, dass der Prüfer – dem „gesetzlichen Richter“ vergleichbar – nach abstrakten Kriterien im<br />

Vorhinein bestimmt wird, besteht nicht. Allerdings muss die Bestellung des konkreten Prüfers im Einklang<br />

mit den normativen Vorgaben der jeweiligen Prüfungsordnung stehen. Ist die Prüfungsordnung für<br />

ergänzende Regelungen offen, muss die Auswahl des Prüfers jedenfalls von sachlichen Gründen getragen<br />

sein und dem prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit Rechnung tragen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 564/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Bundesgleichstellungsgesetz: Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot<br />

(OVG NRW, Beschl. v. <strong>19</strong>.3.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 1 B 1301/18) • Eine langjährig als Gleichstellungsbeauftragte vollständig<br />

freigestellte Beamtin in Ermangelung einer aktuellen (fortgeschriebenen) dienstlichen Beurteilung nicht<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 999


Fach 1, Seite 148 Eilnachrichten <strong>20<strong>19</strong></strong><br />

in die Auswahlentscheidung einzubeziehen, kann die Beamtin in ihrem Bewerbungsverfahrensanspruch<br />

verletzen und gegen das Benachteiligungsverbot nach dem Bundesgleichstellungsgesetz verstoßen.<br />

Liegt für eine solche Beamtin keine aktuelle dienstliche Beurteilung vor und kann die letzte regelmäßige<br />

Beurteilung mangels belastbarer Tatsachengrundlage nicht mehr fiktiv fortgeschrieben werden, sind<br />

in einem nach dem Prinzip der Bestenauslese durchzuführenden Auswahlverfahren ausnahmsweise<br />

die Beurteilungen aller Bewerberinnen und Bewerber unberücksichtigt zu lassen und allein Hilfskriterien<br />

heranzuziehen, die am besten über Eignung, Befähigung und fachliche Leistung der Bewerber<br />

Aufschluss geben. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 565/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Steuerrecht<br />

Steuerausweis in einer Rechnung: Steuerbefreiung nach Unionsrecht<br />

(BFH, Beschl. v. 31.7.<strong>20<strong>19</strong></strong> – XI B 15/<strong>19</strong>) • Es ist nicht ernstlich zweifelhaft, dass ein Steuerausweis in einer<br />

Rechnung nicht i.S.v. § 14c Abs. 1 S. 1 UStG „unrichtig“ ist, wenn der betreffende Umsatz zwar nach dem<br />

Unionsrecht steuerbefreit ist, der Steuerpflichtige sich jedoch nicht mit Erfolg darauf beruft (s. Rn 16, 17).<br />

Ebensowenig ist nicht ernstlich zweifelhaft, dass ein Berufen auf die Steuerbefreiung nach dem<br />

Unionsrecht nicht mehr möglich ist, wenn eine Änderung der betreffenden Steuerfestsetzung nach den<br />

§§ 172 ff. AO ausscheidet. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 566/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

Schreckschusspistole: Waffenbegriff<br />

(BGH, Beschl. v. 30.7.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 4 StR 238/<strong>19</strong>) • Eine – geladene – Schreckschusspistole unterfällt nur dann<br />

dem Waffenbegriff des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB, wenn feststeht, dass beim Abfeuern der Waffe der<br />

Explosionsdruck nach vorn aus dem Lauf austritt und die Waffe deshalb nach ihrer Beschaffenheit<br />

geeignet ist, erhebliche Verletzungen hervorzurufen. Hierzu hat das Tatgericht regelmäßig Feststellungen<br />

zu treffen, denn der Austritt des Explosionsdrucks nach vorn mag zwar üblich sein, kann aber<br />

nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 567/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Ärztlich assistierte Selbsttötung: Keine Strafbarkeit<br />

(BGH, Urt. v. 3.7.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 5 StR 132/18) • Angesichts der gewachsenen Bedeutung der Selbstbestimmung des<br />

Einzelnen auch bei Entscheidungen über sein Leben kann in Fällen des freiverantwortlichen Suizids der<br />

Arzt, der die Umstände kennt, nicht mit strafrechtlichen Konsequenzen verpflichtet werden, gegen den<br />

Willen des Suizidenten zu handeln. Nimmt der Sterbewillige selbst die todbringende Handlung vor und<br />

behält er dabei die freie Entscheidung über sein Schicksal, tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder<br />

Hilfe. Das Handeln eines Arztes (Mitbringen der Medikamente und Unterlassen von Rettungsmaßnahmen)<br />

kann sich daher als straflose Beihilfe zum eigenverantwortlichen Suizid darstellen. Freiverantwortlich<br />

ist ein Selbsttötungsentschluss, wenn das Opfer die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit<br />

für seine Entscheidung besitzt und Mangelfreiheit des Suizidwillens sowie innere Festigkeit des<br />

Entschlusses gegeben sind (vgl. auch die Parallel-Entscheidung: BGH, Urt. v. 3.7.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 5 StR 393/18,<br />

<strong>ZAP</strong> EN-NR. 535/<strong>20<strong>19</strong></strong>). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 568/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Durch Täuschung erwirkter Darlehensvertrag: Bestimmung des Betrugsschadens<br />

(BGH, Beschl. v. 4.7.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 4 StR 36/<strong>19</strong>) • Ein betrugsrechtlich relevanter Vermögensverlust tritt<br />

ein, wenn die Vermögensverfügung des Getäuschten bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise unmittelbar<br />

zu einer nicht durch Zuwachs ausgeglichenen Minderung des Gesamtwerts seines Vermögens führt.<br />

Liegt dem Täter zur Last, durch Täuschung den Abschluss eines Darlehensvertrags erreicht zu haben, ist<br />

daher zur Bestimmung des Betrugsschadens ein Wertvergleich zwischen der vom Darlehensgeber<br />

1000 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Eilnachrichten <strong>20<strong>19</strong></strong> Fach 1, Seite 149<br />

ausgezahlten Valuta und der Werthaltigkeit des Rückzahlungsanspruchs vorzunehmen. Ein Schaden<br />

entsteht, wenn und soweit eine Möglichkeit zur Rückzahlung des Darlehens nicht besteht und auch<br />

gegebene Sicherheiten wertlos oder minderwertig sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 569/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Volksverhetzung: Holocaust<br />

(OLG Celle, Urt. v. 16.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 2 Ss 55/<strong>19</strong>) • Fälle des umfassenden Herunterrechnens der Opferzahlen des<br />

Holocausts unterfallen allein der Tatbestandsvariante des „Verharmlosen“ i.S.v. § 130 Abs. 3 StGB. Die mit<br />

einer eigenen Bewertung versehene und jedermann im Internet zugängliche Verlinkung eines Beitrages,<br />

der ein augenscheinlich manipuliertes Foto eines Eingangstors zu einem Konzentrationslager zeigt, bei<br />

dem der tatsächlich vorhandene Schriftzug im Torbogen durch die Worte „Muh Holocaust“ ersetzt ist,<br />

und in dem dargelegt wird, in Bezug genommene Quellen seien geeignet, das historisch nachgewiesene<br />

Ausmaß des Völkermordes an der jüdischen Bevölkerung während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft<br />

zu widerlegen, ist geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 570/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

Pflichtverteidiger: Anrechnung von Zahlungen/Vorschüssen<br />

(OLG Koblenz, Beschl. v. 8.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 2 Ws 224/<strong>19</strong>) • Der in § 58 Abs. 3 S. 4 RVG verwendete Begriff der<br />

„Höchstgebühr eines Wahlanwalts“ bezeichnet diejenige Vergütung als Anrechnungsgrenze, die der<br />

Pflichtverteidiger gem. § 14 Abs. 1 RVG unter Berücksichtigung der dort benannten Umstände im<br />

konkreten Einzelfall nach billigem Ermessen (höchstens) verlangen könnte, wenn er das betreffende<br />

Mandat (weiterhin) als Wahlverteidiger wahrgenommen hätte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 571/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Urteilsabsetzungsfrist: Kollegialgericht<br />

(BGH, Beschl. v. 9.7.<strong>20<strong>19</strong></strong> – KRB 37/<strong>19</strong>) • Bei einem Kollegialgericht gestattet auch der unvorhersehbare<br />

Ausfall der Berichterstatterin nicht ohne Weiteres die Überschreitung der Frist zur Absetzung des Urteils<br />

(§§ 275, 338 StPO). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 572/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Gerichtlicher Hinweis: Dringlichkeit wahrende Sachbehandlung<br />

(OLG München, Beschl. v. 8.8.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 29 W 940/<strong>19</strong>) • Haben sich für einen Antragsteller mehrere<br />

Rechtsanwälte einer Kanzlei als Prozessbevollmächtigte bestellt und ist einem dieser Prozessbevollmächtigten<br />

ein gerichtlicher Hinweis mit einer Fristsetzung von einer Woche zugestellt worden, kann<br />

eine die Dringlichkeit wahrende Sachbehandlung grds. nur dann angenommen werden, wenn bis<br />

zum Ablauf der gesetzten Frist eine Stellungnahme auf den Hinweis bei Gericht eingeht. Hinweis: Der<br />

Einwand, dass der Empfänger nicht der Sachbearbeiter gewesen sei und der Fristenlauf deswegen erst<br />

mit Zugang des Hinweises bei diesem zu laufen begonnen habe, ist insoweit unerheblich.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 573/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Fristgebundener Schriftsatz: Verpflichtung zur Versendung aus dem beA<br />

(OLG Dresden, Beschl. v. 29.7.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 4 U 879/<strong>19</strong>) • Scheitert die Übermittlung eines fristgebundenen<br />

Schriftsatzes an das Gericht aus zunächst ungeklärter Ursache, hat der Rechtsanwalt technische<br />

Störungen im Empfangsbereich durch eine Rückfrage bei Gericht auszuschließen. Ist auch hiernach eine<br />

Versendung per Telefax nicht möglich, hat der Rechtsanwalt den Schriftsatz ggf. persönlich aus dem<br />

besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) zu versenden; dass hierfür derzeit nur eine passive<br />

Nutzungspflicht besteht, steht einer solchen Pflicht nicht entgegen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 574/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Pflichtwidrige Mandatsbeschränkung: Keine Aufhebung einer Beiordnung<br />

(LAG Köln, Beschl. v. 30.4.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 1 Ta 17/<strong>19</strong>) • Aufgrund des öffentlich-rechtlichen Rechtsaktes der<br />

gerichtlichen Beiordnung ist der Rechtsanwalt gem. § 48 Abs. 1 Nr. 1 BRAO verpflichtet, seiner<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1001


Fach 1, Seite 150 Eilnachrichten <strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Mandantschaft im Umfang der Beiordnung zur Verfügung zu stehen. Ist beim Prozesskostenhilfemandat<br />

die Beiordnung unbeschränkt beantragt und bewilligt worden, muss der Rechtsanwalt die Vertretung<br />

einschließlich des Nachprüfungsverfahrens anbieten. Zu einer Beschränkung des Mandats auf das<br />

Hauptsacheverfahren ist der Rechtsanwalt in diesem Fall nicht berechtigt. Hinweis: Eine pflichtwidrige<br />

Mandatsbeschränkung stellt keinen Grund zur Aufhebung der Beiordnung i.S.v. § 48 Abs. 2 BRAO dar.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 575/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Gebührenrecht<br />

Unzulässige Streitwertbeschwerde: Herausgabe einer Generalvollmachtsurkunde<br />

(OLG Koblenz, Beschl. v. 4.7.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 12 W <strong>19</strong>2/<strong>19</strong>) • Eine auf Erhöhung des Streitwerts gerichtete Beschwerde<br />

ist unzulässig, wenn der durch das gesamte Verfahren gleichbleibende Duktus der anwaltlichen Schriftsätze<br />

belegt, dass keine Änderung in der Bezugsperson eingetreten ist, sondern auch die den Streitwert<br />

betreffenden Anträge jeweils im Namen des Klägers – und nicht als eigene, dann nach § 32 Abs. 2 RVG<br />

zulässige Anträge des Prozessbevollmächtigten – gestellt worden sind. Verlangt der Vollmachtgeber vom<br />

Bevollmächtigten berechtigterweise die Herausgabe einer (unbeschränkten notariellen) Generalvollmachtsurkunde,<br />

begegnet es keinen Bedenken, wenn bei der Festsetzung des Streitwerts nicht auf das<br />

volle Vermögen des Vollmachtgebers abgestellt, sondern streitwertmindernd berücksichtigt wird, dass der<br />

Bevollmächtigte auf einen erheblichen Teil des – insoweit durch einen Testamentsvollstrecker verwalteten<br />

– Vermögens keinen Einfluss hat und bislang kein Missbrauch der Vollmacht durch den Bevollmächtigten<br />

erfolgt ist und auch keine konkreten Anzeichen für einen drohenden Missbrauch bestehen.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 576/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

EU-Recht/IPR<br />

Zahlung im SEPA-Lastschriftverfahren: Inländischer Wohnsitz<br />

(EuGH, Urt. v. 5.9.<strong>20<strong>19</strong></strong> – C-28/18) • Die Möglichkeit per SEPA-Lastschrift zu zahlen, darf nicht von einem<br />

Wohnsitz im Inland abhängig gemacht werden. Hinweis: Geklagt hatte der österreichische Verein für<br />

Konsumenteninformation gegen eine Klausel in den Beförderungsbedingungen der Deutschen Bahn,<br />

nach der die über die Website der Deutschen Bahn getätigten Buchungen nur dann im SEPA-<br />

Lastschriftverfahren bezahlt werden können, wenn der Zahler einen Wohnsitz in Deutschland hat.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 577/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Beihilferecht: EU-Konformität der deutschen EEG-Umlage<br />

(EuGH, Urt. v. 28.3.<strong>20<strong>19</strong></strong> – C-405/16 P) • Der Beschluss der EU-Kommission, wonach das deutsche Gesetz<br />

von 2012 über erneuerbare Energien (EEG 2012) staatliche Beihilfen umfasst habe, ist nichtig. Die<br />

Kommission hat nicht nachgewiesen, dass die im EEG 2012 vorgesehenen Vorteile unzulässige staatliche<br />

Beihilfen darstellten, weil dabei staatliche Mittel zum Einsatz kamen. Hinweis: Die EU-Kommission hatte<br />

2014 entschieden, dass die Förderung von Unternehmen, die EEG-Strom erzeugen, zwar eine staatliche<br />

Beihilfe darstelle, die jedoch grds. mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Jedoch stufte sie die Verringerung der<br />

EEG-Umlage für stromintensive Unternehmen als nicht vollständig mit EU-Recht vereinbar ein und ordnete<br />

deshalb die Rückforderung eines Teils der Vergünstigung an. Dem folgte der EuGH – anders als noch die<br />

Vorinstanz, das EuG – nicht: Die Umlage sei keine staatliche Leistung und damit auch keine Beihilfe.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 578/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

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1002 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1535<br />

Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht<br />

Unterhaltsrecht<br />

Die Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht: Abzuziehende Belastungen –<br />

Sozialabgaben, Schuldenlasten<br />

Von Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Weiterer Aufsicht führender RiAG a.D., Gelsenkirchen<br />

Inhalt<br />

I. Sozialabgaben und andere Vorsorgeaufwendungen<br />

für Alter und Krankheit<br />

1. Gesetzliche Vorsorgeaufwendungen<br />

2. Beamte und Selbstständige<br />

3. Zusätzliche Vorsorge für Alter und<br />

Krankheit<br />

4. Weitere Versicherungen<br />

II. Berufsbedingte Aufwendungen<br />

1. Allgemeine Anrechnungsregelung für<br />

berufsbedingte Aufwendungen<br />

2. Einzelfragen<br />

III. Leistungen für Kinder<br />

1. Geleisteter Barunterhalt für minderjährige<br />

Kinder<br />

2. Kosten der Kinderbetreuung<br />

3. Kosten des Umgangsrechts<br />

IV. Schuldverbindlichkeiten<br />

1. Grundregeln bei ehelichen Schulden<br />

2. Schulden beim Unterhalt minderjähriger<br />

Kinder<br />

3. Verbraucherinsolvenz<br />

V. Besonderheiten beim Elternunterhalt<br />

1. Zusätzliche Altersvorsorge<br />

2. Bildung allgemeiner Rücklagen<br />

3. Zusätzliche Aufwendungen<br />

I. Sozialabgaben und andere Vorsorgeaufwendungen für Alter und Krankheit<br />

1. Gesetzliche Vorsorgeaufwendungen<br />

Vom Bruttoeinkommen ebenfalls abzuziehen sind die gesetzlichen Sozialabgaben, also die Beiträge<br />

zur gesetzlichen Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung. Auch die Aufwendungen<br />

für eine ergänzende Altersvorsorge (z.B. durch private Lebensversicherung, Riester-Rente) sind im<br />

angemessenen Rahmen abzugsfähig (BGH FamRZ 2003, 1179; Einzelheiten s.u. I. 3).<br />

Übersteigt das Einkommen die sog. Versicherungspflichtgrenze, dann entfällt die Krankenversicherungsund<br />

Pflegeversicherungspflicht. Notwendige freiwillige Vorsorge ist aber abzugsfähig. Die Versicherungspflichtgrenze<br />

beträgt <strong>20<strong>19</strong></strong> bundeseinheitlich 60.750 € jährlich, entsprechend 5.062,50 € monatlich.<br />

In der familienrechtlichen Praxis ist zu beachten, dass bestimmte Einkünfte sozialversicherungsfrei sind,<br />

also vor der Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge herausgerechnet werden müssen.<br />

Hinweis:<br />

Die Beitragssätze für Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung werden jährlich bundeseinheitlich<br />

festgesetzt. Bei den Krankenversicherungsbeiträgen ist darauf zu achten, den korrekten Beitragssatz der<br />

Krankenversicherung anzusetzen! Um das bereinigte Einkommen genau feststellen zu können, muss also<br />

die Krankenkasse des Betroffenen und deren aktueller Beitragssatz bekannt sein.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1003


Fach 11, Seite 1536<br />

Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Die beitragspflichtigen Einkünfte werden nicht unbegrenzt zur Beitragsberechnung herangezogen,<br />

denn es gibt sog. Beitragsbemessungsgrenzen. Einkünfte, die diese Höchstbeträge überschreiten, sind<br />

beitragsfrei. Die Beitragsbemessungsgrenzen sind für die einzelnen Versicherungsarten unterschiedlich<br />

und werden jährlich neu festgesetzt.<br />

<strong>20<strong>19</strong></strong> Renten- und Arbeitslosenversicherung Kranken- und Pflegeversicherung<br />

Gültigkeit Alte Länder und Berlin-West Neue Länder und<br />

Berlin-Ost<br />

Alte und neue Länder<br />

(einheitliche Grenze)<br />

Jahr 80.400 € 73.800 € 54.450 €<br />

Monat 6.700 € 6.150 € 4.537 €<br />

2. Beamte und Selbstständige<br />

Für bestimmte Personen wie Beamte und Selbstständige besteht keine Sozialversicherungspflicht;<br />

hier können also keine gesetzlichen Abzüge Berücksichtigung finden. Notwendige und angemessene<br />

Vorkehrungen für die Altersversorgung und private Krankenversicherung sind aber unterhaltsrechtlich<br />

abzuziehen.<br />

Bei Beamten ist die Altersversorgung über den Dienstherrn sichergestellt. Angesichts der Reduzierungen<br />

auch der Altersversorgungen im öffentlichen Dienst stellt sich die Frage der Angemessenheit einer<br />

zusätzlichen Altersversorgung (s.u. I., 3.). Bei Beamten fällt die private Krankenversicherung an, da der<br />

Dienstherr über die Beihilfe nur einen Teil der Kosten bei Erkrankungen übernimmt. Die Höhe des selbst<br />

zu deckenden Anteils ist von den Familienverhältnisses des Beamten abhängig, da die Beihilfe – je nach<br />

Familienstand und anrechenbarer Kinderzahl – die Kosten zu einem unterschiedlichen Anteil erstattet.<br />

Vermindert sich die Anzahl berücksichtigungsfähiger Kinder, so führt dies zu einer Reduzierung des<br />

Beihilfesatzes und zu einer entsprechenden Erhöhung des zu versichernden Anteils, also zu höheren<br />

Kosten bei der Krankenversicherung.<br />

Auch Selbstständige haben an der gesetzlichen Rentenversicherung keinen Anteil. Ihnen ist aber<br />

ebenfalls eine angemessene Versicherung gegen Krankheit und Erwerbsunfähigkeit sowie eine<br />

Vorsorge für das Alter zuzubilligen. Teilweise wird dabei als Maßstab in Anlehnung an die<br />

Beitragssätze der gesetzlichen Rentenversicherung ein Anteil von 20 % des Bruttoeinkommens als<br />

angemessen angesehen (BGH FamRZ 2003, 860). In der Praxis wird auch eine soziale Absicherung in<br />

Höhe der doppelten Arbeitnehmerbeiträge der gesetzlichen Versicherungen anerkannt. Doppelte<br />

Beträge deshalb, weil der Selbstständige quasi auch seine Arbeitgeberanteile selbst aufbringen muss.<br />

Hinsichtlich der angemessenen Höhe bietet das, was während des Zusammenlebens der Ehepartner<br />

aufgewandt worden ist, eine Orientierung.<br />

3. Zusätzliche Vorsorge für Alter und Krankheit<br />

Die staatlichen Sicherungssysteme der Altersvorsorge reichen bekanntermaßen nicht mehr aus, so dass<br />

allen Personen angeraten wird, zusätzliche, eigene Vorsorge zu treffen, um auch nach Beendigung des<br />

Berufslebens einen angemessenen Lebensstandard sicherzustellen.<br />

a) Angemessene Höhe der Aufwendungen<br />

Der Unterhaltspflichtige darf aber auch Vorsorge für sein eigenes Alter treffen. Beiträge zur Krankenund<br />

Pflegeversicherung sowie die Aufwendungen für eine angemessene Altersversorgung sind deshalb<br />

abzugsfähig. Hier wird ein Anteil von ca. 20 % des Bruttoeinkommens für die Altersversorgung<br />

akzeptiert (BGH NJW 2003, 1660 [BGH, Urt. v. <strong>19</strong>.2.2003 – XII ZR 67/00]).<br />

1004 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1537<br />

Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht<br />

Es sind jedoch nach der Rechtsprechung des BGH noch zusätzliche Rücklagen für die Alterssicherung<br />

auch unterhaltsrechtlich als Abzugspositionen anzuerkennen:<br />

• Beim Elternunterhalt als schwächerer Form einer Unterhaltsverpflichtung kann ein Betrag von<br />

weiteren 5 % des Bruttoeinkommens als angemessener Aufwand für eine zusätzliche Altersversorgung<br />

angesehen werden (BGH FamRZ 2004, 792 [BGH, Urt. v. 14.1.2004 – XII ZR 149/01]).<br />

• Bei anderen Unterhaltsverhältnissen sind sowohl auf Seiten des Unterhaltsberechtigten als auch auf<br />

Seiten des Pflichtigen jeweils 4 % des Jahresbruttoeinkommens als zusätzliche Altersvorsorge<br />

anzuerkennen (BGH FamRZ 2005, 1817).<br />

Lediglich tatsächlich erbrachte Aufwendungen sind abzuziehen; fiktive Abzüge werden nicht anerkannt<br />

(vgl. OLG Hamm, Urt. v. 25.4.2012 – 8 UF 221/10, FamFR 2012, 345 m.w.N). Allerdings kann jederzeit mit<br />

der Altersvorsorge begonnen werden.<br />

Ein Altersvorsorgebedarf entfällt,<br />

• wenn der Berechtigte bereits eine angemessene Altersversorgungerreicht hat oder<br />

• mit Erreichen des 65. Lebensjahrs, da danach Altersversorgung geleistet wird und nicht mehr für eine<br />

solche vorzusorgen ist<br />

b) Art der Altersvorsorge<br />

Da es dem Betroffenen überlassen bleibt, wie er für sein Alter weitere Vorsorge trifft, sind alle Arten der<br />

hierauf gerichteten Vermögensbildung zu akzeptieren. Daher kann diese Absicherung sowohl durch<br />

zusätzliche langfristig laufende private Versicherungen (Riester-Rente, Lebensversicherung auf Kapitaloder<br />

Rentenbasis), aber auch durch andere Anlageformen wie die eigene Wohnung oder auch nur ein<br />

Sparbuch erfolgen. Aber auch die Finanzierung von Wohneigentum kommt in Betracht. Aber auch jede<br />

andere Art von langfristiger, der Alterssicherung dienender Geldanlage ist anzuerkennen. Das gilt für den<br />

Erwerb von Immobilien, Wertpapieren oder Fondsbeteiligungen ebenso wie für Lebensversicherungen.<br />

Allerdings muss in geeigneter Form für das Alter vorgesorgt werden. Je langfristiger die Anlage erfolgt<br />

ist, desto eher lässt sich begründen, dass sie für die Altersversorgung bestimmt ist und nicht zur<br />

Finanzierung des nächsten Urlaubs dienen wird.<br />

Praxistipp:<br />

Da es dem Betroffenen überlassen bleibt, wie er für sein Alter weitere Vorsorge trifft, sind alle Arten der<br />

Vermögensbildung zu akzeptieren. In der Praxis ist es also notwendig, genau darzulegen, inwieweit die<br />

konkret gewählte Vermögensbildung tatsächlich der Altersvorsorge dient. Dies ist insbesondere dann<br />

der Fall, wenn die Anlage sehr langfristig erfolgt ist. Dann sind die entsprechenden Beträge innerhalb der<br />

4 %-Grenze unterhaltsrechtlich zu tolerieren. Je langfristiger eine Vermögensanlage ist, desto eher kann<br />

sie als konkrete Altersvorsorge akzeptiert werden.<br />

c) Krankheitsvorsorge<br />

Auch eine zusätzliche Krankenversicherung ist absetzbar, wenn damit Risiken abgedeckt werden, die<br />

von der normalen Krankenvorsorge nicht getragen werden, nicht aber, wenn die normale Versicherung<br />

bereits eine ausreichende Absicherung im Krankheitsfall bewirkt.<br />

4. Weitere Versicherungen<br />

Ein Abzug der Unfall- und Haftpflichtversicherung und der Hausratversicherung ist bei der Unterhaltsberechnung<br />

nicht möglich. Solche privaten Personen- und Sachversicherungen sind dem allgemeinen<br />

Lebensbedarf zuzuordnen und daher aus dem Selbstbehalt zu bestreiten (BGH, Urt. v. 17.10.2012 – XII<br />

ZR 17/11, FamRZ 2013, 868; BGH, Urt. v. 28.7.2010 – XII ZR 140/07, BGHZ 186, 350-372, FamRZ 2010, 1535;<br />

OLG Saarbrücken, Urt. v. 31.1.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 6 UF 76/18, NZFam <strong>20<strong>19</strong></strong>, 639; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 8.2.2012 –<br />

9 UF 94/11).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1005


Fach 11, Seite 1538<br />

Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

II.<br />

Berufsbedingte Aufwendungen<br />

1. Allgemeine Anrechnungsregelung für berufsbedingte Aufwendungen<br />

Bei jeder beruflichen Tätigkeit fallen typischerweise Kosten an, wie z.B. Fahrtkosten. Solche berufsbedingten<br />

Aufwendungen können unterhaltsrechtlich in Abzug gebracht werden.<br />

Hinweis:<br />

Berufsbedingte Aufwendungen sind grds. nur bei Arbeitseinkommen abzugsfähig. Damit scheidet ein Abzug<br />

aus bei anderen Einkünften von Arbeitnehmern wie z.B. Kapitaleinkünften, Mieteinkommen usw., aber auch<br />

bei anzurechnenden Vorteilen wie dem Wohnwert der selbstgenutzten Wohnung, bei Renten, Pensionen<br />

und dem Einkommen von Selbstständigen.<br />

Zur Vereinfachung werden von einigen Obergerichten Pauschalbeträge angesetzt. So sind nach der<br />

Düsseldorfer Tabelle 5 % des Nettoeinkommens pauschal abzuziehen, wobei ein Mindestbetrag<br />

von 50 € und ein Höchstbetrag von 150 € zu berücksichtigen ist. Bei Teilzeitbeschäftigung kann der<br />

Mindestbetrag auch niedriger angesetzt werden. Der BGH hat Pauschalen in dieser Höhe nicht<br />

beanstandet (BGH NJW <strong>19</strong>92, 1621; vgl. auch BGH FamRZ 2002, 536). Andere Oberlandesgerichte lassen<br />

Pauschalen nicht zu, sondern verlangen eine konkrete Darlegung der berufsbedingten Aufwendungen.<br />

Dabei wird die Pauschale in aller Regel zusätzlich neben dem Erwerbstätigkeitsbonus angewandt. Die<br />

Pauschale soll den tatsächlichen, konkret bezifferbaren Aufwand decken, während der Erwerbstätigkeitsbonus<br />

als Anreiz für die Erwerbstätigkeit dient und die Aufwendungen ausgleichen soll, die sich<br />

nicht eindeutig von den privaten Lebenshaltungskosten abgrenzen lassen. Diese Pauschale wird vom<br />

bereinigten Nettoerwerbseinkommen berechnet, also nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben.<br />

Wird mit der Pauschale gearbeitet, dann sind lediglich höhere notwendige Aufwendungen, die diese<br />

Pauschale übersteigen, konkret darzulegen. Erforderlich sind hierzu genaue Angaben zur Notwendigkeit<br />

des angefallenen Aufwands und zur Höhe, damit das Gericht dann eine Schätzung gem. § 287 ZPO<br />

vornehmen kann.<br />

Eine Pauschale von 5 % des Einkommens wird dem Aufwand für Fahrtkosten im Einzelfall allerdings<br />

dann nicht gerecht, wenn der Unterhaltspflichtige unter Bezeichnung der wechselnden Arbeitsstellen<br />

nachvollziehbar darlegt, monatlich fast 2.000 km, für Fahrten zwischen seinem Wohnort bzw. dem<br />

Ort seiner auswärtigen Unterbringung und der jeweiligen Arbeitsstelle zurückgelegt zu haben, und<br />

der Arbeitgeber ihm diese Kosten nicht ersetzt. Angesichts einer detaillierten und übersichtlichen<br />

Zusammenstellung in Form von Monatstabellen, in denen für jeden Arbeitstag der Einsatzort und die<br />

zurückgelegte Entfernung aufgeführt sowie angegeben wird, ob eine Heimfahrt oder eine Übernachtung<br />

am Einsatzort stattfand, darf die Gegenseite sich nicht auf ein pauschales Bestreiten dieser<br />

Angaben beschränken.<br />

Für Auszubildende gelten nach den Unterhaltstabellen feste Pauschbeträge (so 100 € nach der<br />

Düsseldorfer Tabelle <strong>20<strong>19</strong></strong>).<br />

2. Einzelfragen<br />

a) Berufsbedingte Fahrtkosten<br />

Bei der konkreten Berechnung von notwendigen berufsbedingten Fahrtkosten wird bei der Benutzung<br />

eines Kraftfahrzeugs bislang üblicherweise von den Gerichten in Anlehnung an die Regelungen<br />

über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen (ZuSEG) entsprechend § 5 Abs. 2 JVEG<br />

festgesetzt. Werden Fahrtkosten zur Arbeit mit der in den unterhaltsrechtlichen Leitlinien vorgesehenen<br />

Kilometerpauschale angesetzt, so sind hierin regelmäßig sämtliche Pkw-Kosten einschließlich<br />

derjenigen für Abnutzung und Finanzierungsaufwand enthalten (BGH, Urt. v. 1. 3. 2006 – XII ZR 157/03,<br />

FamRZ 2006, 846).<br />

1006 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1539<br />

Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht<br />

Hinweis:<br />

Daher können die Kosten für den Ratenkredit, mit dem das Auto finanziert worden ist, nicht zusätzlich<br />

unterhaltsrechtlich abgesetzt werden.<br />

Anstelle der pauschalierten Fahrtkosten können auch die eheprägenden Finanzierungskosten abgesetzt<br />

werden, die aber auf den berufsbedingten Anteil reduziert werden müssen (ggf. Schätzung nach § 287 ZPO).<br />

Hier ist also anwaltlicher Sachvortrag erforderlich, um diese Schätzung zu ermöglichen.<br />

Fallen tatsächlich höhere notwendige Fahrtkosten an (z.B. durch wechselnde Arbeitsstellen an<br />

verschiedenen Orten), so können diese konkret geltend gemacht werden. Der Unterhaltspflichtige ist<br />

nicht auf die Pauschale beschränkt.<br />

Bei Selbstständigen sind Fahrtkosten nicht abzusetzen, denn sie sind in die betrieblichen Kosten<br />

einzuordnen und stellen lediglich eine Position der Einnahme/Überschussrechnung dar.<br />

Werden öffentliche Verkehrsmittel benutzt, so gelten die tatsächlich aufgewandten Kosten. Ein<br />

Unterhaltspflichtiger kann aber nicht ohne Weiteres dazu angehalten werden, öffentliche Verkehrsmittel<br />

anstelle seines Kraftfahrzeugs zu benutzen. Hier kommt es vielmehr auf die tatsächlichen<br />

Umstände (Verkehrsverbindung, Zeitaufwand) an. Fallen über längere Zeiträume erhebliche Mehrkosten<br />

durch die Benutzung des Pkw an, wird man u.U. aber über einen Wohnsitzwechsel des<br />

Unterhaltspflichtigen nachdenken müssen. Gegebenenfalls sind dann die anzurechnenden Kosten<br />

entsprechend zu beschränken.<br />

Hinweis:<br />

Zu beachten ist in der Praxis die unterhaltsrechtliche Obliegenheit, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen,<br />

sofern dies in zumutbarer Weise möglich ist. Dann können nicht die tatsächlichen Kosten bei Nutzung des<br />

Pkw angesetzt werden, sondern nur noch die Kosten des öffentlichen Verkehrsmittels.<br />

b) Beiträge zu Gewerkschaften und Berufsverbänden<br />

Notwendige berufsbedingte Aufwendungen von Gewicht sind voll abzuziehen. Zu den berufsbedingten<br />

Aufwendungen zählen i.d.R. auch Gewerkschaftsbeiträge und Beiträge zu anderen Berufsverbänden,<br />

soweit sie im Verhältnis zum Einkommen eine vertretbare Höhe nicht überschreiten.<br />

Kann ein Arbeitnehmer aber den Mindestunterhalt für seine Kinder nicht decken, muss er seine<br />

Ausgaben auf das Allernotwendigste beschränken. Gewerkschaftsbeiträge gehören dazu nicht. Art. 9<br />

GG steht dem nicht entgegen, weil dieses Grundrecht in Wechselwirkung zu den auf Seiten der<br />

minderjährigen Kinder zu berücksichtigenden Art. 2 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG steht und gegenüber der<br />

Notwendigkeit zur Wahrung des Existenzminimums der Kinder als nachrangig zu bewerten ist<br />

(OLG Düsseldorf, Urt. v. 25.4.2005 – 2 UF 225/04, FamRZ 2005, 2016).<br />

III.<br />

Leistungen für Kinder<br />

1. Geleisteter Barunterhalt für minderjährige Kinder<br />

Bei der Berechnung des Ehegattenunterhalts wird der Zahlbetrag des Kindesunterhalts beim<br />

unterhaltsrelevanten Einkommen des unterhaltspflichtigen Ehegatten in Abzug gebracht (BVerfG,<br />

Nichtannahmebeschl. v. 14.7.2011 – 1 BvR 932/10; BGH, Urt. v. 14.4.2010 – XII ZR 89/08; BGH, Urt. v.<br />

17.3.2010 – XII ZR 204/08; BGH, Urt. v. 27.5.2009 – XII ZR 78/08, FamRZ 2009, 1300; BGH, Urt. v.<br />

24.6.2009 – XII ZR 161/08 – juris Rn 22 ff., FamRZ 2009, 1477; BGH, Urt. v. 5.3.2008 – XII ZR 22/06,<br />

FamRZ 2008, 963).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1007


Fach 11, Seite 1540<br />

Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

2. Kosten der Kinderbetreuung<br />

Die für den Kindergartenbesuch anfallenden Kosten, und zwar gleichgültig, ob die Einrichtung halb- oder<br />

ganztags besucht wird, sind zum Bedarf eines Kindes zu rechnen und stellen grds. keine berufsbedingten<br />

Aufwendungen des betreuenden Elternteils dar (BGH, Urt. v. 5.3.2008 – XII ZR 150/05, FamRZ 2008, 1152<br />

mit Anm. BORN = FPR 2008, 299 mit Anm. SÖPPER; BGH, Urt. v. 26.11.2008 – XII ZR 65/07, FamRZ 2009, 962<br />

mit Anm. BORN). Für den Mehrbedarf des Kindes haften beide Eltern anteilig nach ihren Einkommensverhältnissen.<br />

Bei der Berechnung des Ehegattenunterhaltes können diese Kosten – soweit sie vom<br />

unterhaltspflichtigen Ehegatten getragen werden – ebenso wie der Barunterhalt für das Kind in Abzug<br />

gebracht werden.<br />

Dagegen sind die sonstigen Betreuungskosten als berufsbedingter Aufwand des betreffenden<br />

Elternteils einzustufen. Wird die Betreuung eines Kindes durch Dritte allein infolge der Berufstätigkeit<br />

des betreuenden Elternteils erforderlich, stellen die Betreuungskosten keinen Mehrbedarf des Kindes<br />

dar, sondern gehören zur allgemeinen Betreuung, die vom betreuenden Elternteil im Gegenzug zur<br />

Barunterhaltspflicht des anderen allein zu leisten ist. Dafür entstehende Betreuungskosten können<br />

mithin lediglich als berufsbedingte Aufwendungen des betreuenden Elternteils Berücksichtigung<br />

finden (BGH, Urt. v. 4.10.2017 – XII ZB 55/17, NJW 2017, 3786; vgl. auch OLG Bremen, Beschl. v. 23.11.2017 –<br />

5 UF 54/17, FamRZ 2018, 685).<br />

3. Kosten des Umgangsrechts<br />

Grundsätzlich hat der Umgangsberechtigte die „üblichen Kosten“, die ihm bei Ausübung des Umgangsrechts<br />

entstehen, allein zu tragen (BGH, Urt. v. 9.11.<strong>19</strong>94 – XII ZR 206/93, FamRZ <strong>19</strong>95, 215).<br />

Darunter fallen:<br />

• Fahrtkosten,<br />

• Kosten etwaiger Übernachtungen des Kindes und des Umgangsberechtigten,<br />

• Verpflegungskosten des Kindes und des Umgangsberechtigten und<br />

• Kosten etwaiger privater Betreuungspersonen.<br />

Diese Regelung gilt auch bei gemeinsamem Sorgerecht (BGH FamRZ <strong>19</strong>95, 717).<br />

a) Berücksichtigung besonders hoher Umgangskosten<br />

Während die „normalen“ Kosten unterhaltsrechtlich keine Bedeutung haben, kann bei einem höheren<br />

Aufwand aufgrund einer größeren örtlichen Entfernung die Frage der unterhaltsrechtlichen Abzugsfähigkeit<br />

der besonders hohen Kosten stellen.<br />

Jedoch sind dabei allenfalls unterhaltsrechtlich abzugsfähig diejenigen Kosten, die notwendigerweise<br />

anfallen. Der Umgangsberechtigte muss sich folglich ggf. einschränken und darf nur möglichst niedrige<br />

Kosten bei der Ausübung seines Umgangsrechtes auslösen. Dies ergibt sich schon aus dem allgemeinen<br />

unterhaltsrechtlichen Grundsatz der Rücksichtnahme auf die Interessen der anderen am Unterhaltsverhältnis<br />

beteiligten Personen.<br />

Praxistipp:<br />

In der Praxis sollte vorgetragen werden, wie oft der Umgang mit den Kindern stattfindet und welche<br />

Fahrtkosten für das Holen und Wegbringen der Kinder anfallen.<br />

Die einzelnen Kostenpositionen sollten, damit sie berücksichtigt werden können, detailliert und nachvollziehbar<br />

dargelegt werden.<br />

Anlassbezogene Kosten, die zwar dem Umgang dienen, aber nicht notwendig sind, sind nicht berücksichtigungsfähig.<br />

Dazu zählen z.B. Kosten für angemessene Freizeitaktivitäten mit dem Kind und Spielzeug,<br />

für eine kindgerechte Ausstattung der Wohnung bzw. des Fahrzeugs (Kindersitz), aber auch Kosten für<br />

Kleidung des Kindes, die der Umgangsberechtigte zur Nutzung während des Umgangs anschafft (SCHMIDT/<br />

KOHNE in ESCHENBRUCH/SCHÜRMANN/MENNE, Der Unterhaltsprozess, 6. Aufl. 2013, Kap. 2 Rn 513).<br />

1008 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1541<br />

Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht<br />

b) Reduzierung der Kosten<br />

Generell gilt in allen Fällen, dass der in wirtschaftlich beengten Verhältnissen lebende Umgangsberechtigte<br />

sich ggf. einschränken muss und möglichst wenig Kosten bei der Ausübung des<br />

Umgangsrechts auslösen darf.<br />

aa) Maßnahmen auf Seiten des umgangsberechtigten Elternteils<br />

So muss insbesondere der barunterhaltspflichtige Elternteil, der ist in wirtschaftlich beengten<br />

Verhältnissen lebt, die Kosten des Umgangsrechts so niedrig wie möglich halten. Die Kosten<br />

können z.B. dadurch reduziert werden, dass die Umgangskontakte stärker als sonst üblich zeitlich<br />

zusammengefasst werden, also während mehrerer zusammenhängender Tage ausgeübt werden,<br />

dafür aber in geringeren Intervallen (also z.B. alle 3 Wochen statt 14-täglich; vgl. KLINKHAMMER in: WENDL/<br />

DOSE; Unterhaltsrecht in der familiengerichtlichen Praxis, 8. Aufl. 2015, § 2 Rn 273; OLG Brandenburg,<br />

Beschl. v. 26.9.2013, 3 UF 49/13). Dies lässt sich allerdings in der Praxis nur bei Kindern realisieren, die<br />

noch nicht zur Schule gehen.<br />

Bei der Ausübung des Umgangs müssen öffentliche Verkehrsmittel (OLG Jena, Beschl. v. 18.5.2016 – 1UF<br />

142/16, FuR 2017, 462, OLG Schleswig, Beschl. v. 20.12.2013 – 15 WF 414/13, FuR 2014, 371; KLINKHAMMER in:<br />

WENDL/DOSE; a.a.O. § 2 Rn 273), direkte Verbindungen sowie Sondertarife und besonders günstige<br />

Angebote (OLG Koblenz, Beschl. v. 29.6.2017 – 13 UF 72/17, FuR 2018, 592 m.w.N., OLG Jena, Beschl.<br />

v. 18.5.2016 – 1 UF 142/16, FuR 2017, 462) genutzt werden, um jedenfalls den ungeschmälerten<br />

Mindestkindesunterhalt sicherzustellen (OLG Schleswig, Beschl. v. 20.12.2013 – 15 WF 414/13, MDR 2014,<br />

477; OLG Stuttgart, Beschl. v. <strong>19</strong>.10.2007 – 15 WF 229/07, FamRZ 2008, 1273; OLG Brandenburg, Beschl.<br />

v. 16.10.2012 – 10 UF 10/12, FamFR 2012, 535; SCHMIDT/KOHNE in ESCHENBRUCH/SCHÜRMANN/MENNE, Kap. 2<br />

Rn 512). Auch ist das Angebot der Kinder, mit einem Wochenendticket zum niedrigen Preis allein zum<br />

Vater fahren, zu beachten; der Vater kann dann keine höheren Umgangskosten mit dem Auto oder dem<br />

Zug anrechnen (OLG Stuttgart, Beschl. v. 9.8.2011 – 18 WF 130/11, FamFR 2011, 464).<br />

bb) Maßnahmen auf Seiten des betreuenden Elternteils<br />

Zu denken ist aber auch an die Mitwirkung des betreuenden Elternteils, die zu einer Reduzierung<br />

des Aufwands führen können. Auch dies folgt aus dem allgemeinen unterhaltsrechtlichen Gebot,<br />

Belastungen des anderen Unterhaltsbeteiligten möglichst gering zu halten.<br />

Folglich können dem anderen Elternteil Mitwirkungspflichten bei der Durchführung der Umgangskontakte<br />

auferlegt werden wie z.B. Abholen des Kindes am Flughafen, Bahnhof oder an einer<br />

Autobahnraststätte (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 21.2.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 6 UF 145/18 NZFam <strong>20<strong>19</strong></strong>, 498; OLG<br />

Schleswig, Beschl. v. 3.2.2006 – 13 UF 135/05, FamRZ 2006, 881; OLG Nürnberg, Beschl. v. 26.11.2013 –<br />

10 UF 173/13, FamRZ 2014, 858; RAKETE-DOMBECK/KRETSCHMAR in: Münchener Anwaltshandbuch<br />

Familienrecht, 4. Aufl. 2014, § 14 Rn 36 m.w.N..), um die zeitlichen und finanziellen Belastungen für<br />

den umgangsberechtigten Elternteil zu reduzieren (OLG Naumburg, Beschl. v. 26.3.2010 – 8 UF 53/10,<br />

FamRZ 2011, 308; OLG Bremen, FamRZ 2008, 1274, OLG Dresden, Beschl. v. 7.2.2005 – 20 UF 896/04,<br />

FamRZ 2005, 927; OLG Schleswig, Beschl. v. 3.2.2006 – 13 UF 135/05, FamRZ 2006, 881; AG Detmold,<br />

Beschl. v. 2.2.2006 – 15 F 449/05, FamRZ 2006, 880; OLG Naumburg, Beschl. v. 26.3.2010 – 8 UF 53/10,<br />

FamRZ 2011, 308; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 5.2.2002 – 1 BvR 2029/00, FamRZ 2002, 809; PESCHEL/<br />

GUTZEIT in: NK-BGB, 2014, § 1684 BGB Rn 24 m.w.N..; RAKETE-DOMBECK/KRETSCHMAR in: a.a.O. § 14 Rn 36).<br />

cc) Inanspruchnahme öffentlicher Mittel<br />

In bestimmten Fällen lässt sich auch eine Reduzierung der Umgangskosten durch die Beantragung<br />

öffentlicher Hilfen erreichen (s. dazu BSG, Urt. v. 17.2.2016 – B 4 AS 2/15 R, FamRZ 2016, 904, BSG, Urt. v.<br />

4.6.2014 – B 14 AS 30/13 R, FamRZ 2014, 2003, BSG, Urt. v. 12.6.2013 – B 14 AS 50/12 R, FamRZ 2014, 124,<br />

BSG, Urt. v. 2.7.2009 – B 14 AS 75/08 R, FamRZ 2009, <strong>19</strong>97, ROGGATZ, FuR 2015, 680; SCHÜRMANN,<br />

jurisPR-FamR <strong>19</strong>/2014 Anm. 1 m.w.N.; KARL, jM 2014, 467; BERLIT, jurisPR-SozR 9/2015 Anm. 2). Aus<br />

unterhaltsrechtlicher Sicht wird die Obliegenheit zu bejahen sein, solche öffentlichen Hilfen vorrangig in<br />

Anspruch zu nehmen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1009


Fach 11, Seite 1542<br />

Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

c) Unterhaltsrechtliche Berücksichtigung der besonderen Kosten des Umgangsrechts<br />

Wird der Umgang wegen der finanziellen Situation des umgangsberechtigten Elternteils durch die<br />

Kosten der Umgangskontakte nachhaltig erschwert oder gar unmöglich, können diese Kosten nicht<br />

völlig unberücksichtigt bleiben, so dass bei der Unterhaltsberechnung Billigkeitsüberlegungen eingreifen<br />

(BÜTE in Handbuch FAFamR, 11. Aufl. 2018, Kap. 4 Rn 538). Denn die anfallenden Kosten dürfen nicht dazu<br />

führen, dass der Elternteil sein verfassungsrechtlich garantiertes Umgangsrecht faktisch nicht mehr<br />

ausüben kann.<br />

Allerdings ist die konkrete Behandlung der Kosten des Umgangsrechts bei der Festsetzung des<br />

Unterhalts noch nicht abschließend geklärt. Nach den Hinweisen des BGH bieten sich zwei<br />

Lösungswege an (STAUDINGER/KLINKHAMMER [2018] BGB § 1603 Rn 222), wobei eine Festlegung des<br />

BGH auf eine dieser beiden Varianten bislang nicht erfolgt ist. Ist der Umgangsberechtigte durch den<br />

Umgang mit weiteren Kosten belastet, die er nicht aus seinem Einkommen aufbringen kann, ist<br />

entweder der Selbstbehalt angemessen zu erhöhen oder bei der Berechnung des Unterhalts vorweg<br />

ein entsprechender Abzug vom unterhaltsrelevanten Einkommen vorzunehmen (BGH, Urt. v.<br />

29.1.2003 – XII ZR 289/01, FamRZ 2003, 445; BGH, Urt. v. 9.11.2005 – XII ZR 31/03, FamRZ 2006, 108).<br />

aa) Abzug der Kosten vom Einkommen<br />

Wenn die in Zusammenhang mit der Ausübung des Umgangsrechts anfallenden Kosten (ganz oder<br />

teilweise) als Abzugsposten beim unterhaltsrechtlich relevanten Einkommen berücksichtigt werden<br />

(OLG Brandenburg, Beschl. v. 16.10.2012 – 10 UF 10/12, FamFR 2012, 535; OLG Schleswig, Urt. v. 5.9.2005 –<br />

15 UF 63/05, OLGR Schleswig 2005, 695-696; vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 28.5.2001 – 8 UF 46/01,<br />

FamRZ 2001, 1096; OLG Hamm FamRZ 2013, 1146 beim Elternunterhalt; GERHARDT in WENDL/DOSE; a.a.O. § 1<br />

Rn 1085) werden Unterhaltsschuldner, die hohe Umgangskosten aufbringen müssen, unabhängig von der<br />

Höhe ihres Einkommens entlastet.<br />

Diese Lösung über den Abzug der Umgangskosten vom Einkommen hat folgende Schwächen:<br />

• Durch den Abzug vom unterhaltsrechtlich relevanten Einkommen wird der Unterhalt für Kind und<br />

Ehegatten vermindert. De facto bekommen damit die Umgangskosten einen Vorrang vor dem<br />

Barunterhaltsanspruch des Kindes.<br />

• Der Abzug vom unterhaltsrelevanten Einkommen kann dazu führen, dass die Kosten des Umgangsrechts<br />

de facto das Kind und der Ehegatte (ganz oder überwiegend) tragen.<br />

• Denkbar wäre auch, die Anrechnung nur beim Ehegattenunterhalt zuzulassen, damit auf jeden Fall<br />

der Basisunterhalt des Kindes sichergestellt wird. Dies hätte den Vorteil, dass über die 3/7-Quote eine<br />

anteilige Haftung beider Eltern erreicht wird. Allerdings dürfte die unterschiedliche Einkommensbemessung<br />

beim Kindes- und Ehegattenunterhalt – zumindest in bestimmten Fallkonstellationen –<br />

zu Berechnungsproblemen führen.<br />

Der BGH schränkt ein, dass ein solcher Abzug nicht erfolgen könne, wenn der barunterhaltspflichtige<br />

Elternteil nach Abzug der Umgangskosten noch über ausreichendes Einkommen verfügt (BGH, Beschl. v.<br />

12.3.2014 – XII ZB 234/13, FamRZ 2014, 917 = NJW 2014, <strong>19</strong>58; BGH, Urt. v. 21.12.2005 – XII ZR 126/03,<br />

FamRZ 2006, 1015, 1018; KLINKHAMMER in WENDL/DOSE; a.a.O. § 2 Rn 273).<br />

bb) Erhöhung des Selbstbehalts gegenüber dem Ehegattenunterhaltsanspruch<br />

Konsequenterweise ist nach der Rechtsprechung des BGH der Selbstbehalt ggü. dem Ehegattenunterhaltsanspruch<br />

um einen Anteil der Umgangskosten zu erhöhen. Dem Unterhaltspflichtigen<br />

blieben damit die notwendigen Mittel, um die Umgangskosten aufbringen zu können (BGH, Beschl.<br />

v. 12.3.2014 – XII ZB 234/13, FamRZ 2014, 917 = NJW 2014, <strong>19</strong>58; so auch OLG Schleswig, Beschl.<br />

v. 20.12.2013 – 15 WF 414/13, MDR 2014, 477).<br />

1010 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1543<br />

Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht<br />

Bei diesem Lösungsansatz wirken sich damit allerdings erhöhte Umgangskosten bei einem umgangsberechtigten<br />

Elternteil dann nicht aus, wenn dieser über ausreichend hohe Einkünfte verfügt, dessen<br />

Selbstbehalt also gar nicht berührt wird. Folglich muss er damit auch diese erhöhten Kosten in vollem<br />

Umfang selbst tragen.<br />

Da es nur um die Erhöhung des Ehegatten-Selbstbehalts geht, bleibt zudem davon der Kindesunterhaltsanspruch<br />

unberührt. Der Basis-Unterhalt des Kindes ist damit vorrangig gedeckt.<br />

Wird das vorhandene Einkommen für den Basisunterhalt des Kindes und die Umgangskosten sowie den<br />

Selbstbehalt des umgangsberechtigten Elternteils verbraucht, geht der andere Ehegatte leer aus.<br />

Praxistipp:<br />

• Unabhängig davon, auf welche Weise im Unterhaltsrechtsstreit die Kosten des Umgangsrechts<br />

Berücksichtigung finden werden, verlangt diese Rechtsprechung vom beratenden Anwalt<br />

ausreichenden substantiierten Sachvortrag zur den im Zusammenhang mit dem Umgangsrecht<br />

anfallenden Aufwendungen und Kosten hinsichtlich deren Notwendigkeit und Höhe, die dann<br />

das Gericht ggf. gem. § 287 ZPO schätzen kann.<br />

• Die Darlegungs- und Beweislast für die anfallenden Kosten trifft den Unterhaltsverpflichteten.<br />

• Die – verfassungsrechtlich geschützte – Ausübung des Umgangsrechts löst nicht nur Kosten<br />

aus, sondern hat auch eine zeitliche Dimension. Übersteigt der Aufwand für die Umgangskontakte<br />

insbesondere wegen langer Fahrtzeiten das normale zeitliche Maß, kann dies für die Zumutbarkeit<br />

von Überstunden oder Nebentätigkeiten von Bedeutung sein (OLG Nürnberg, Urt. v. 24.6.2004 – 7UF<br />

441/04, FamRZ 2005, 1502).<br />

• Auch kann die Zumutbarkeit einer Arbeitssuche im weiteren örtlichen Abstand vom Wohnort des Kindes<br />

eingeschränkt sein, wenn dadurch die Umgangskontakte zum Kind nachhaltig eingeschränkt werden<br />

oder mit zusätzlichen Mehrkosten verbunden sind (BVerfG, Beschl. v. 29.12.2005 – 1 BvR 2076/03,<br />

NJW 2006, 2317; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 2006 – 1 BvR 2236/06).<br />

IV. Schuldverbindlichkeiten<br />

Bei der unterhaltsrechtlichen Berücksichtigung von Schulden des Unterhaltspflichtigen ist zwischen<br />

dem Ehegattenunterhalt und dem Unterhalt minderjähriger Kinder zu unterscheiden.<br />

Praxistipp:<br />

Maßgeblich ist dabei die Höhe der monatlichen Ratenbelastungen, nicht die Höhe des aufgenommenen<br />

Kredits oder der Restschuld.<br />

1. Grundregeln bei ehelichen Schulden<br />

Außerhalb der gesteigerten Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB kommt Ansprüchen Unterhaltsberechtigter<br />

kein allgemeiner Vorrang vor anderen Verbindlichkeiten (Ratenbelastungen für Schulden)<br />

des Unterhaltspflichtigen zu. Andererseits dürfen diese Verbindlichkeiten auch nicht ohne Rücksicht<br />

auf die Unterhaltsinteressen getilgt werden. Vielmehr bedarf es eines Ausgleichs der Belange von<br />

Unterhaltsgläubiger, Unterhaltsschuldner und Drittgläubiger. Ob eine Verbindlichkeit im Einzelfall zu<br />

berücksichtigen ist, kann danach nur im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung nach billigem<br />

Ermessen entschieden werden. Insoweit sind insbesondere der Zweck der Verbindlichkeiten, der<br />

Zeitpunkt und die Art ihrer Entstehung, die Dringlichkeit der beiderseitigen Bedürfnisse, die Kenntnis<br />

des Unterhaltsschuldners von Grund und Höhe der Unterhaltsschuld und seine Möglichkeiten von<br />

Bedeutung, die Leistungsfähigkeit ganz oder teilweise wiederherzustellen (BGH, Beschl. v. 22.5.<strong>20<strong>19</strong></strong> –<br />

XII ZB 613/16, FamRZ <strong>20<strong>19</strong></strong>, 1415; BGH, Beschl. v. 9.11.2016 – XII ZB 227/15, FamRZ 2017, 109; BGH, Beschl.<br />

v. 10.7.2013 – XII ZB 297/12, FamRZ 2013, 1558 Rn <strong>19</strong> m.w.N.).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1011


Fach 11, Seite 1544<br />

Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Praxistipp:<br />

Die in der Praxis oft höchst umstrittene Frage, wofür das Geld aus dem Kredit aufgenommen worden ist,<br />

ist für die unterhaltsrechtliche Berücksichtigung der Ratenbelastungen irrelevant.<br />

Bei der Berücksichtigung der Schulden im Rahmen des Ehegattenunterhalts ist nach Zeitabschnitten<br />

zu unterscheiden (s. hierzu VIEFHUES, „Von der Trennung bis zur Scheidung“, 1.Aufl. 2018, Deutscher<br />

Anwaltverlag).<br />

a) Schulden aus der Zeit des Zusammenlebens<br />

Während der Ehe haben die Ehepartner bestimmte finanzielle Dispositionen getroffen, von denen sich<br />

allein durch die Trennung und Scheidung keiner der beiden – ehemaligen – Partner einseitig lösen kann.<br />

Hat man also während der Ehe z.B. über die finanziellen Verhältnisse gelebt und seinen Lebensstandard<br />

teilweise über Kredite finanziert, so können diese Belastungen nun nach der Trennung nicht einem<br />

Ehegatten allein angelastet werden.<br />

Daher sind Ratenverpflichtungen, die während der Ehe aufgenommen worden sind, grds. in voller Höhe<br />

– also mit Zins- und Tilgungsanteil – bei der Berechnung des Ehegattenunterhalts abzuziehen. Diese<br />

regelmäßigen Belastungen beeinflussen bereits den Bedarf beider Ehegatten, denn sie haben schon die<br />

ehelichen Lebensverhältnisse geprägt. Dabei ist unerheblich, welcher Ehegatte die Kreditverbindlichkeiten<br />

eingegangen und wofür das Geld ausgegeben worden ist. Irrelevant ist auch, wer die mit dem<br />

Darlehen angeschafften Vermögensgegenstände (z.B. Möbel, Auto) nach der Trennung erhalten hat<br />

(BGH FamRZ <strong>19</strong>96, 162). Für die Berücksichtigungsfähigkeit der Schulden ist der Ehegatte darlegungsund<br />

beweispflichtig, der sich auf die Ratenbelastungen beruft (BGH FamRZ <strong>19</strong>90, 283, 287).<br />

Praxistipp:<br />

Bei Darlehen, die nach dem Vortrag eines Ehegatten von einem Verwandten aufgenommen worden<br />

sind, hegen die Gerichte allerdings meist eine große Zurückhaltung, diese im Unterhalt zu berücksichtigen.<br />

Teilweise wird bereits bezweifelt, ob das Darlehen überhaupt geflossen ist, teilweise wird<br />

die Abzugsfähigkeit generell verneint, teilweise wird die Möglichkeit unterstellt, die monatlichen Raten<br />

hier einseitig zugunsten der Unterhaltslasten deutlich reduzieren zu können. Je vager die Angaben zum<br />

Darlehenszweck, zum Zeitpunkt und zur Auszahlung sind, desto geringer ist die Chance, dass ein Gericht<br />

selbst nach einer Zeugenvernehmung derartigen Behauptungen Glauben schenkt. Dies gilt speziell<br />

dann, wenn die Verwendung des Geldes nicht nachvollziehbar ist. Besondere Zweifel erweckt der<br />

Sachvortrag, wenn ein größeres Darlehen unter Verwandten in bar gegeben worden sein soll.<br />

b) Nach der Trennung aufgenommene Schulden<br />

Kreditbelastungen, die erst nach der Trennung aufgenommen worden sind, können dagegen in aller<br />

Regel nur sehr eingeschränkt in Abzug gebracht werden, da der Unterhaltspflichtige über seine<br />

finanzielle Situation Bescheid weiß und seine Unterhaltsverpflichtungen kennt.<br />

Praxistipp:<br />

Bei Schuldverbindlichkeiten, die nach der Trennung aufgenommen werden, um Hausratsgegenstände<br />

anzuschaffen, besteht Spielraum für eine geschickte anwaltliche Argumentation. Die Gerichtspraxis<br />

ist hier uneinheitlich. Einige Gerichte lehnen die Abzugsfähigkeit generell ab und verweisen auf die<br />

Möglichkeit, eine Zuteilung im Verfahren über die Verteilung der Haushaltsgegenstände zu erreichen.<br />

Andere Gerichte erkennen nachträgliche Schuldbelastungen hier an, wenn die Kreditaufnahme wirklich<br />

unvermeidlich war und dringend notwendige Gegenstände angeschafft worden sind. Dies ist z.B. der Fall,<br />

wenn der Unterhaltspflichtige notwendige Aufwendungen für seine neue Wohnung tätigt. So können<br />

Kosten für die Kaution, die Renovierung der neuen Wohnung ebenso anfallen wie für die Anschaffung von<br />

Gegenständen, die nicht über das Verteilungsverfahren beschafft werden können (Gardinen, Teppichbö-<br />

1012 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1545<br />

Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht<br />

den usw.). Dabei kommt es auch auf die angemessene Höhe der Anschaffungen an. Angesichts der<br />

Unterhaltsverpflichtung kann nur der mindestens notwendige Aufwand berücksichtigt werden. Auch<br />

ist der Unterhaltspflichtige gehalten, einen möglichst langfristigen Kredit mit geringen Monatsraten<br />

aufzunehmen. Hier ist auf jeden Fall ausreichender Sachvortrag unverzichtbar, um doch noch eine<br />

Berücksichtigung der Schuldenbelastungen zu erreichen.<br />

Darlehen zur Finanzierung der Zugewinnausgleichsansprüche können nicht abgezogen werden<br />

(BGH FamRZ 2000, 950). Nicht zu berücksichtigen sind auch die im Rahmen der Verfahrenskostenhilfe<br />

zu zahlenden Raten. Auch Zahlungen auf Anwaltskosten aus anderen Verfahren und auf<br />

Unterhaltsrückständesind nicht abzugsfähig.<br />

c) Tilgungsplan<br />

Die Rückzahlung auf ein unterhaltsrechtlich anzuerkennendes Darlehen hat nach einem vernünftigen<br />

Tilgungsplan in angemessenen Raten zu erfolgen. Dabei sind i.d.R. die während der Zeit des<br />

Zusammenlebens gezahlten Raten in gleicher Höhe weiter zu zahlen. Allerdings kann bei engen<br />

finanziellen Verhältnissen gefragt werden, ob der Unterhaltspflichtige, der auch die Schulden tilgt, nicht<br />

gehalten ist, die monatlichen Raten zu strecken. Abzuwägen ist hier das Interesse des Unterhaltspflichtigen,<br />

die Schulden in absehbarer Zeit zu tilgen, gegen das Interesse der Unterhaltsberechtigten<br />

an möglichst hohen Zahlbeträgen.<br />

In die Abwägung mit einzubeziehen sind auch die Möglichkeiten des Unterhaltsschuldners, seine<br />

Leistungsfähigkeit in zumutbarer Weise ganz oder teilweise wiederherzustellen (z.B. durch den<br />

Verkauf des beruflich nicht benötigten kreditfinanzierten Pkw), sowie ggf. schutzwürdige Belange des<br />

Drittgläubigers.<br />

Diese Grundsätze gelten auch bei der Ermittlung des anzurechnenden Einkommens eines unterhaltsberechtigten<br />

Ehegatten.<br />

2. Schulden beim Unterhalt minderjähriger Kinder<br />

Auch beim Kindesunterhalt kann die Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen durch Schuldverpflichtungen<br />

begrenzt oder sogar ausgeschlossen sein. Allerdings müssen sich minderjährige Kinder dabei<br />

grds. auch diejenigen Kreditverbindlichkeiten entgegenhalten lassen, die in der Zeit des Zusammenlebens<br />

der Eltern zum Zwecke gemeinsamer Lebensführung – und nicht nur zur Wahrnehmung persönlicher<br />

Bedürfnisse des Unterhaltspflichtigen – eingegangen worden sind (vgl. BGH BGHZ 150, 12 = FamRZ 2002,<br />

536 Rn <strong>19</strong> f.). Ist der Elternteil mit Verbindlichkeiten belastet, beeinträchtigt dies naturgemäß auch die<br />

Lebensstellung des Kindes. Da es beim Kindesunterhalt immer auf das aktuelle, tatsächlich verfügbare<br />

Einkommen ankommt, gilt dies ggf. auch für die nach der Trennung oder Scheidung aufgenommenen<br />

Belastungen. Weil Kinder aber jedenfalls bis zum Ende ihrer Schulpflicht keine Möglichkeit haben, durch<br />

eigene Anstrengungen zur Deckung ihres Unterhaltsbedarfs beizutragen, und auf die Entstehung der von<br />

den Eltern aufgenommenen Schulden keinen Einfluss nehmen konnten, wird die Billigkeitsabwägung bei<br />

ihnen im Allgemeinen dazu führen, dass wenigstens der Mindestunterhalt zu zahlen ist, soweit dies nicht<br />

nur auf Kosten einer ständig weiter anwachsenden Verschuldung geschehen kann (vgl. BGH, Beschl.<br />

v. 22.5.<strong>20<strong>19</strong></strong> – XII ZB 613/16, FamRZ <strong>20<strong>19</strong></strong>, 1415; BGH, Urt. v. 30.1.2013 – XII ZR 158/10, FamRZ 2013, 616<br />

Rn <strong>19</strong> f. m.w.N.; BGH, Urt. v. 11.12.<strong>19</strong>85 – IVb ZR 80/84, FamRZ <strong>19</strong>86, 254, 256).<br />

Hinweis:<br />

Mit dem letzten Halbsatz wird deutlich gemacht, dass die vorgenannten Einschränkungen jedenfalls dann<br />

nicht gelten, wenn der verschuldete Elternteil nicht einmal in der Lage ist, die anfallenden Zinsen vollständig<br />

abzudecken und sein Schuldenberg daher weiter anwächst.<br />

Die unterschiedliche Berücksichtigung von Schuldenbelastungen beim Kindesunterhalt und Ehegattenunterhalt<br />

führt dazu, dass u.U. für Ehegattenunterhalt und Kindesunterhalt getrennte Berechnungen<br />

durchzuführen sind!<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1013


Fach 11, Seite 1546<br />

Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Prinzipiell sollte sichergestellt sein, dass wenigstens der Unterhalt in Höhe des Regelbetrags (der<br />

untersten Stufe der Düsseldorfer Tabelle) gewährleistet ist. Ausnahmen können folglich allenfalls<br />

dann gelten, wenn der Unterhaltspflichtige andernfalls nicht einmal die regelmäßige Zinsbelastung<br />

abdecken, jedenfalls aber nicht seine Schuldverpflichtungen tilgen könnte. Denn dann würde die<br />

Nichtberücksichtigung der Schulden zu einer ständig weiter wachsenden Verschuldung des Unterhaltspflichtigen<br />

führen.<br />

Praxistipp:<br />

Zu beachten ist aber die unterhaltsrechtliche Obliegenheit des Unterhaltspflichtigen, sich um die Reduzierung<br />

der monatlichen Raten aktiv zu bemühen (STAUDINGER/VOPPEL (2018) BGB § 1361, Rn 109 m.w.N.; VIEFHUES in:<br />

jurisPK-BGB § 1603 BGB, 1. Überarbeitung 2018, Rn 230).<br />

Hierzu muss er konkret vortragen (BGH, Beschl. v. <strong>19</strong>.3.2014 – XII ZB 367/12, FamRZ 2014, 923; OLG Koblenz,<br />

Beschl. v. 24.2.2016 – 13 UF 795/15, FuR 2016, 539). Allerdings ist zur Herabsetzung der Darlehensraten das<br />

Einverständnis des Kreditgebers erforderlich. Der Unterhaltspflichtige, der sich auf die unterhaltsrechtliche<br />

Berücksichtigung von Schuldenbelastungen beruft, muss sich um die Herabsetzung der monatlichen Raten<br />

beim Kreditgeber aktiv bemühen, um im Unterhaltsrechtsstreit eine Herabsetzung der Monatsraten zu<br />

erreichen. Die Vorlage einer lediglich allgemeinen Äußerung der Bank genügt nicht (OLG Brandenburg,<br />

Beschl. v. 9.1.2018 – 10 UF 104/16, FuR 2018, 363).<br />

Im Zweifel sollte der Unterhaltspflichtige, der sich auf Darlehensbelastungen beruft, vorsorglich bei seiner<br />

Bank vorsprechen und ggf. eine Bescheinigung der Bank vorlegen, aus der sich ergibt, dass und ggf. aus<br />

welchen sachlich nachvollziehbaren Gründen die Bank eine Herabsetzung der monatlichen Raten ablehnt.<br />

Eine Herabsetzung scheidet in aller Regel aus, wenn die regelmäßigen Ratenzahlungen ohnehin fast nur<br />

die Zinsen abdecken (vgl. BGH, Beschl. v. 22.5.<strong>20<strong>19</strong></strong> – XII ZB 613/16; BGH, Urt. 30.1.2013 – XII ZR 158/10,<br />

FamRZ 2013, 616 Rn <strong>19</strong> f. m.w.N.; BGH, Urt. v. 11.12.<strong>19</strong>85 – IVb ZR 80/84, FamRZ <strong>19</strong>86, 254, 256).<br />

Für die Berücksichtigungsfähigkeit der Schulden ist der Unterhaltspflichtige darlegungs- und beweispflichtig<br />

(BGH FamRZ <strong>19</strong>90, 283, 287). Daher hat er gegenüber einem Anspruch des minderjährigen<br />

Kindes auf Mindestunterhalt darzulegen und ggf. zu beweisen, dass es ihm nicht gelungen ist,<br />

durch Verhandlungen mit den Gläubigern eine Herabsetzung der Darlehensbelastungen zu erreichen<br />

(OLG Schleswig, Beschl. v. 10.12.2004 – 10 UF 251/04, FamRZ 2005,1109 ff.; OLG Frankfurt<br />

FamRZ 2005, 803).<br />

3. Verbraucherinsolvenz<br />

Die monatliche Schuldenbelastung kann möglicherweise durch Einleitung der Verbraucherinsolvenz<br />

mit der späteren Restschuldbefreiung verringert werden. Bereits die Eröffnung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens<br />

kann sich erheblich auf die Leistungsfähigkeit des Schuldners auswirken und damit zu<br />

einer Besserstellung der Unterhaltsgläubiger im Mangelfall führen. Denn damit wird dem Unterhaltsberechtigten<br />

ermöglicht, für den laufenden Unterhalt auf den Differenzbetrag zwischen den<br />

Pfändungsfreigrenzen des § 850c ZPO und dem einem Schuldner zu belassenden Unterhalt i.S.v. § 850d<br />

Abs. 1 S. 2 ZPO zuzugreifen.<br />

Die Rechtsprechung bejaht im Fall gesteigerter Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB eine<br />

unterhaltsrechtliche Obliegenheit zur Verbraucherinsolvenz (BGH, Beschl. v. 22.5.<strong>20<strong>19</strong></strong> – XII ZB 613/16,<br />

FamRZ <strong>20<strong>19</strong></strong>, 1415; BGH BGHZ 162, 234 = FamRZ 2005, 608, 610 f.; BGH BGHZ 175, 67 = FamRZ 2008, 497<br />

Rn 10 ff., 18 ff.). Dies gilt nicht, wenn der Unterhaltsschuldner Umstände vorträgt und ggf. beweist,<br />

die diese Obliegenheit im Einzelfall unzumutbar machen (BGH FamRZ 2005, 608; OLG Stuttgart,<br />

Urt. v. 24.4.2003 – 16 UF 268/02, FamRZ 2003, 1216).<br />

1014 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Familienrecht Fach 11, Seite 1547<br />

Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht<br />

V. Besonderheiten beim Elternunterhalt<br />

Das BVerfG hat in seiner ersten Entscheidung zum Elternunterhalt betont, dass der Gesetzgeber nicht<br />

nur dem Elternunterhalt gegenüber dem Kindesunterhalt nachrangiges Gewicht verliehen (§ 1609<br />

BGB), sondern auch den Umfang der Verpflichtung deutlich gegenüber der Pflicht zur Gewährung von<br />

Kindesunterhalt eingeschränkt hat (§ 1603 Abs. 1 BGB). Die nachrangige Behandlung des Elternunterhalts<br />

entspricht der grundlegend anderen Lebenssituation, in der die Unterhaltspflicht jeweils zum<br />

Tragen kommt. Bei der Pflicht zum Elternunterhalt ist dies meist dann der Fall, wenn die Kinder längst<br />

eigene Familien gegründet haben, sich Unterhaltsansprüchen ihrer eigenen Kinder und Ehegatten<br />

ausgesetzt sehen sowie für sich selbst und für die eigene Altersabsicherung zu sorgen haben. Dazu tritt<br />

nun ein Unterhaltsbedarf eines oder beider Elternteile im Alter hinzu, der mit deren Einkommen,<br />

insbesondere ihrer Rente, vor allem im Pflegefall nicht abgedeckt werden kann. Dem hat der<br />

Gesetzgeber Rechnung getragen, indem er sichergestellt hat, dass dem Kind ein, seinen Lebensumständen<br />

entsprechender eigener Unterhalt verbleibt (BVerfG NJW 2005, <strong>19</strong>27 = FamRZ 2005, 1051 m.<br />

Anm. KLINKHAMMER FamRZ 2005, 1050).<br />

Die vom Gesetzgeber dem Elternunterhalt zugewiesene, relativ schwache Rechtsposition wird durch<br />

die neuere Entwicklung der Gesetzgebung aus jüngerer Zeit noch untermauert. Mit der schrittweisen<br />

Reduzierung der Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung und der Einführung der gesetzlich<br />

geförderten privaten Altersvorsorge („Riester-Rente“) hat der Gesetzgeber die Verantwortung jedes<br />

Einzelnen hervorgehoben, für seine Alterssicherung neben der gesetzlichen Rentenversicherung selbst<br />

rechtzeitig und ausreichend vorzusorgen. Dies muss bei der Bestimmung des einem unterhaltspflichtigen<br />

Kind verbleibenden angemessenen Unterhalts Berücksichtigung finden. Insbesondere aber<br />

hat der Gesetzgeber mit der Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und<br />

durch die §§ 41 ff. SGB XII verdeutlicht, dass die Belastung erwachsener Kinder durch die Pflicht zur<br />

Zahlung von Elternunterhalt unter Berücksichtigung ihrer eigenen Lebenssituation in Grenzen gehalten<br />

werden soll. Daraus ergeben sich einige Besonderheiten bei der unterhaltsrechtlichen Berücksichtigung<br />

von Abzugspositionen.<br />

1. Zusätzliche Altersvorsorge<br />

Auch beim Elternunterhalt kann der Unterhaltspflichtige tatsächliche Aufwendungen für seine zusätzliche<br />

Altersversorgung i.H.v. 5 % seines Jahresbruttoeinkommens geltend machen (s.o.).<br />

2. Bildung allgemeiner Rücklagen<br />

Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, in welcher Weise die Bildung von Rücklagen durch den<br />

Unterhaltspflichtigen akzeptiert werden kann. Beim Unterhalt gegenüber Kindern und Ehegatten gilt<br />

der Grundsatz, dass Zahlungen zur Vermögensbildung nicht abgezogen werden können. Dies kann<br />

aber beim Elternunterhalt nicht so pauschal gelten. Denn auch der Unterhaltspflichtige ist berechtigt,<br />

im Rahmen einer ordentlichen Wirtschaft Rücklagen z.B. für Hausinstandsetzungen und Reparaturen<br />

(BGH, Urt. v. 20.10.<strong>19</strong>99 – XII ZR 297/97, LM BGB § 1361 Nr. 70), für entsprechende Aufwendungen<br />

seines Gewerbebetriebs (KALTHOENER/BÜTTNER/NIEPMANN, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts,<br />

9. Aufl. 2005, Rn 94) Kosten der Ersatzbeschaffung eines Pkw oder von Hausrat, Versicherungsprämien<br />

oder für den Familienurlaub zu bilden (OLG Oldenburg, Urt. v. 12.3.<strong>19</strong>91 – 12 UF 141/<br />

90, FamRZ <strong>19</strong>91, 1347; LG Münster, Urt. v. 7.5.<strong>19</strong>93 – 10 S 65/92, FamRZ <strong>19</strong>94, 843 ff.; LG Kiel, Urt. v.<br />

15.11.<strong>19</strong>95 – 5 S 42/95, FamRZ <strong>19</strong>96, 753).<br />

Zudem kann auch der Gesichtspunkt der Bedarfssteigerung im Alter nicht unbeachtet bleiben. Auch der<br />

Unterhaltspflichtige kann zum Pflegefall werden und hat daher Anlass genug, höhere Rücklagen für<br />

seine eigene Alterssicherung zu bilden, um später nicht seine eigenen Kinder in Anspruch nehmen zu<br />

müssen. Dabei muss nicht nur eine „Notpflege“ sichergestellt werden, sondern es muss Vorsorge<br />

getroffen werden für eine angemessene Pflege, die dem bisherigen Lebensstandard entspricht. Ist der<br />

Unterhaltspflichtige verheiratet, so sind entsprechende Vorkehrungen auch für den Ehegatten<br />

anzuerkennen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1015


Fach 11, Seite 1548<br />

Leistungsfähigkeit im Unterhaltsrecht<br />

Familienrecht<br />

Problematisch werden kann auch der Zeitpunkt, zu dem diese weiteren Aufwendungen und Belastungen<br />

begründet werden. Eine besonders sorgfältige Prüfung wird angezeigt sein, wenn die<br />

Verbindlichkeiten erst nach Bekanntwerden der Unterhaltsbedürftigkeit des Elternteils entstanden sind.<br />

Da die Pflegebedürftigkeit des unterhaltsberechtigten Elternteils sich oft über längere Zeit abzeichnet,<br />

kann durch geschickte Dispositionen Einfluss auf die spätere Unterhaltszahlungspflicht genommen<br />

werden.<br />

3. Zusätzliche Aufwendungen<br />

Trägt das unterhaltspflichtige Kind für den im Heim wohnenden unterhaltsberechtigten Elternteil aus<br />

freien Stücken zusätzliche Aufwendungen wie Radiogebühren, Geschenke für Pflegepersonal,<br />

Wäschepflege, ergänzende Nahrung, Lesestoff, Kosmetika usw., so mindern diese Ausgaben das zur<br />

Verfügung stehende Einkommen, auch wenn es sich um Sonderbedarf handelt (OLG Hamm, Urt. v.<br />

2.11.2004 – 3 UF 263/00, NJW 2005, 369 ff.; HAUß, Elternunterhalt – Grundlagen und anwaltliche<br />

Strategien, 5. Aufl. 2015, Rn 521).<br />

Fallen für Besuche des unterhaltspflichtigen Kindes beim unterhaltsberechtigten Elternteil erhebliche<br />

Fahrtkosten an, stellt sich die Frage, ob diese als unterhaltsrechtlich relevante Unkosten vorab<br />

abgezogen werden können. Der BGH hat die Besuche als sittliche Verpflichtung angesehen, die auch<br />

dem Unterhaltsberechtigten zugutekommen und vergleichbar dem Umgang mit minderjährigen<br />

Kindern unter den Schutz von Art. 6 Abs. 1 GG fallen (BGH, Urt. v. 17.10.2012 – XII ZR 17/11, FamRZ<br />

2013, 868 Rn 30, STAUDINGER/KLINKHAMMER [2018] BGB § 1603 Rn 227). Da auch die Pflege des Kontakts zu<br />

den Eltern vom Schutzbereich des Art. 6 GG umfasst ist, sind daher auch als besondere Belastungen<br />

angemessene Fahrtkosten für den Besuch der im Pflegeheim untergebrachten Mutter vom Einkommen<br />

abzuziehen. Es kann nicht verlangt werden, diese aus dem Selbstbehalt zu tragen (OLG Köln, Urt.<br />

v. 5.7.2001 – 14 UF 13/01, FamRZ 2002, 572; HAUß, a.a.O. Rn 505 ff.).<br />

1016 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Strafrecht Fach 22 R, Seite 1131<br />

Rechtsprechungsübersicht 2018/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Rechtsprechung<br />

Rechtsprechungsübersicht zum Strafrecht 2018/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

von Rechtsanwalt DETLEF BURHOFF, RiOLG a.D., Leer/Augsburg<br />

Inhalt<br />

I. Allgemeiner Teil des StGB<br />

1. Fahrverbot (§ 44 StGB)<br />

2. Strafzumessung (§ 46 StGB) bei Leistungserschleichung<br />

(§ 265a StGB)<br />

3. Strafaussetzung zur Bewährung bei<br />

schweigendem Angeklagten?<br />

II. Zueignungsabsicht (§§ 242 ff. StGB)<br />

1. Wegnahme zum Zweck der Datenlöschung<br />

2. Wegwerfen des Behältnisses<br />

3. Fernziel Festnahme<br />

III. (Schwerer) Parteiverrat (§ 356 StGB)<br />

IV. Verkehrsstrafrecht<br />

1. Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort<br />

(§ 142 StGB)<br />

2. Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB)<br />

3. Verbotenes Rennen (§ 315d StGB)<br />

4. Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB)<br />

I. Allgemeiner Teil des StGB<br />

1. Fahrverbot (§ 44 StGB)<br />

Am 24.8.2017 ist die Neuregelung des § 44 StGB in Kraft getreten (vgl. das „Gesetz zur effektiveren und<br />

praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 17.8.2017 [BGBl I, S. 3202]“; zur Neuregelung<br />

DEUTSCHER VRR 1/2017, 4; DERS., VRR 3/2018, 4; KÖNIG DAR 2018, 604; POTT StRR 2/2018, 4; SCHÖCH NStZ<br />

2018, 15; ZOPF DAR 2017, 737 1). Danach ist nun nach § 44 Abs. 1 StGB die Anordnung eines Fahrverbots<br />

auch bei nicht verkehrsbezogenen Straftaten zulässig. Inzwischen liegen die ersten Entscheidungen zur<br />

Neuregelung vor.<br />

a) Urteilsgründe (§ 267 StPO)<br />

Das OLG Düsseldorf (StRR 5/<strong>20<strong>19</strong></strong>, 22 = VRR 7/<strong>20<strong>19</strong></strong>, 18 = VA <strong>20<strong>19</strong></strong>, 145) und auch das OLG Stuttgart<br />

(Beschl. v. 22.5.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 4 Rv 28 Ss 175/<strong>19</strong>, VRR 7/<strong>20<strong>19</strong></strong>, 16) haben sich mit der Frage befasst, welche<br />

Auswirkungen die Neuregelung des § 44 StGB ggf. auf den Inhalt der Urteilsgründe hat. Dabei geht es<br />

insbesondere um die Frage, ob in den schriftlichen Urteilsgründen die Frage behandelt werden muss, ob<br />

ein – zusätzlich zu einer Geldstrafe – angeordnetes Fahrverbot ggf. die Verhängung von kurzen<br />

Freiheitsstrafen entbehrlich machen kann. Das wird bejaht. Die Anordnung des Fahrverbots solle bei<br />

Delikten ohne Verkehrsbezug nach § 44 Abs. 1 S. 2 StGB „namentlich“ dann in Betracht kommen, wenn<br />

sie zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung erforderlich erscheint oder<br />

hierdurch die Verhängung oder Vollstreckung einer Freiheitsstrafe verhindert werden kann. In dieser<br />

Aufzählung komme – neben dem Ziel, auf mit der Geldstrafe nicht hinreichend zu beeindruckende,<br />

etwa besonders vermögende Täter besser einwirken zu können – insbesondere auch der Wille des<br />

Gesetzgebers zum Ausdruck, durch die Neufassung des § 44 StGB und die dadurch bewirkte<br />

Erweiterung des Strafensystems für den Bereich der kleineren bis mittleren Kriminalität die Anordnung<br />

und Vollstreckung von Freiheitsstrafen in bestimmten Fällen zu vermeiden (BT-Drucks 18/11272, S. 14,<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1017


Fach 22 R, Seite 1132<br />

Rechtsprechungsübersicht 2018/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Strafrecht<br />

16 f.; SCHÖCH NStZ 2018, 15, 16 ff.; krit. FISCHER, StGB, 66. Aufl. <strong>20<strong>19</strong></strong>, § 44 Rn 7, 17 ff. m.w.N. [im Folgenden<br />

kurz: FISCHER). Diese vom Gesetzgeber verfolgten Ziele würden durch die Einfügung des § 44 Abs. 1 S. 2<br />

StGB betont, die auf die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses erfolgte, um den Gerichten<br />

„Leitlinien“ für die Entscheidung an die Hand zu geben und die Fallkonstellationen hervorzuheben, bei<br />

denen die zusätzliche Verhängung des Fahrverbots im Falle allgemeiner Straftaten vornehmlich in<br />

Betracht kommt (BT-Drucks 18/12785, S. 43). Diese Ausweitung des Anwendungsbereichs der<br />

Nebenstrafe eines Fahrverbots auf allgemeine Straftaten begründeten zwar, wie auch § 267 Abs. 3<br />

StPO deutlich macht, keine generelle Erörterungspflicht in Urteilen. Dementsprechend bedürfe es einer<br />

Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Anordnung eines Fahrverbots zu erfolgen hat, insbesondere<br />

dann nicht, wenn es sich um ein Nichtverkehrsdelikt handelt, keine auf ein Fahrverbot gerichteten<br />

Anträge gestellt wurden und klar auf der Hand liege, dass die Anordnung des Fahrverbots unter keinem<br />

der in § 44 Abs. 1 S. 2 StGB genannten Gesichtspunkte in Betracht komme und auch sonst keine<br />

besonderen Umstände zu ihrer Anwendung drängen (OLG Düsseldorf, a.a.O.). Anders sei dies allerdings<br />

zu beurteilen, sofern die Umstände des Falls die Anordnung eines Fahrverbots naheliegend erscheinen<br />

lassen (OLG Düsseldorf, a.a.O.; OLG Stuttgart, a.a.O.), weil etwa eine Fallkonstellation nach § 44 Abs. 1<br />

S. 2 StGB erörterungsbedürftig erscheint. In solchen Fällen könne die Nichtbehandlung der Frage, ob ein<br />

Fahrverbot anzuordnen ist oder dies zu unterbleiben hat, einen sachlich-rechtlichen Mangel begründen,<br />

der dann auf die Sachrüge zur Aufhebung des Urteils führt (OLG Stuttgart, a.a.O.).<br />

Hinweis:<br />

Das OLG Düsseldorf (a.a.O.) hat die Erforderlichkeit der Erörterung der Frage der Anordnung eines<br />

Fahrverbots im Urteil verneint bei einem zur Anwendung körperlicher Gewalt neigenden Straftäter,<br />

der bereits mehrfach einschlägig vorbestraft ist. Das OLG Stuttgart (a.a.O.) liefert für den Bereich der an<br />

sich nach § 47 StGB als Ausnahme gedachten kurzen Freiheitsstrafe einige Kriterien für die Anordnung,<br />

die allerdings deutlich machen, dass es sich letztlich um eine Frage des Einzelfalles handelt, ob eine<br />

Erörterung des § 44 StGB nach § 267 Abs. 3 StPO erforderlich ist oder nicht.<br />

b) Fahrverbot zur Reduzierung der Strafe?<br />

Das AG Dortmund hat in seinem Urt. v. 3.5.<strong>20<strong>19</strong></strong> (767 Ls-800 Js 1003/18-15/<strong>19</strong>, SVR <strong>20<strong>19</strong></strong>, 309)<br />

schließlich die Frage gestellt und bejaht, ob in den Fällen der sog. allgemeinen Kriminalität – im<br />

entschiedenen Fall ging es um BtM-Delikte – eine Fahrverbotsanordnung genutzt werden kann, ein<br />

nicht mehr bewährungsfähiges Strafmaß knapp über zwei Jahren Freiheitsstrafe zu vermeiden und<br />

so zu seiner aussetzungsfähigen Strafe zu kommen.<br />

Hinweis:<br />

Sinn und Zweck der Neuregelung ist es – neben dem Ziel, auf mit der Geldstrafe nicht hinreichend zu<br />

beeindruckende, etwa besonders vermögende Täter besser einwirken zu können — auch, durch die mit<br />

der Neuregelung bewirkte Erweiterung des Strafensystems für den Bereich der kleineren bis mittleren<br />

Kriminalität die Anordnung und Vollstreckung von Freiheitsstrafen in bestimmten Fällen zu vermeiden<br />

(vgl. die o.a. Nachweise). Dem kommt die Entscheidung des AG entgegen. Die Entscheidung ist<br />

rechtskräftig geworden, so dass sich das OLG Hamm zu den angesprochenen Fragen nicht äußern muss.<br />

2. Strafzumessung (§ 46 StGB) bei Leistungserschleichung (§ 265a StGB)<br />

In der Praxis spielen die Frage der Strafzumessung in Zusammenhang mit der Verurteilung eines<br />

Angeklagten wegen sog. Leistungserschleichung (§ 265a StGB) immer wieder eine Rolle. Damit hat sich<br />

vor kurzem das BayObLG (Beschl. v. 21.5.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 203 StRR 594/<strong>19</strong>) befasst. Verurteilt worden war der<br />

Angeklagte wegen Leistungserschleichung in drei Fällen. Der Gesamtschaden hatte 9 € betragen. Das<br />

AG hatte eine Gesamtgeldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 10 € festgesetzt. Auf die Berufung der<br />

Staatsanwaltschaft hat das LG Nürnberg-Fürth zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten<br />

(Einzelstrafen je zwei Monate) verurteilt. Dagegen hatte der Angeklagte Revision eingelegt.<br />

1018 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Strafrecht Fach 22 R, Seite 1133<br />

Rechtsprechungsübersicht 2018/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Die Revision hatte Erfolg. Das BayObLG hat die vier Monate Freiheitsstrafe auf zwei Monate reduziert.<br />

Es sah in den vom LG verhängten vier Monaten Freiheitsstrafe angesichts der geringen Schadenshöhe<br />

und fehlender weiterer besonderer strafschärfender Kriterien keinen gerechten Schuldausgleich für das<br />

begangene Tatunrecht. Zwar sei die Strafzumessung grundsätzlich allein Sache des Tatrichters und das<br />

Revisionsgericht könne die Entscheidung nur auf Rechtsfehler nachprüfen. Darunter falle aber auch<br />

die Überprüfung, ob sich die Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löse, gerechter<br />

Schuldausgleich zu sein, ob sie also in grobem Missverhältnis zu Tatunrecht und Tatschuld steht und<br />

gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoße (BGH StV 2014, 611; OLG Hamm NStZ-RR 2014, 214<br />

= StV 2014, 621 = StRR 2014, 354; FISCHER, § 46 Rn 146, 149a). Bei einer Verurteilung wegen eines<br />

Bagatelldelikts, wie etwa Leistungserschleichung, bestünden – so das BayObLG – keine grundsätzlichen<br />

Bedenken gegen die Verhängung einer auch nicht zur Bewährung ausgesetzten kurzzeitigen<br />

Freiheitsstrafe, wenn die besonderen Voraussetzungen des § 47 StGB vorliegen. In der vorzunehmenden<br />

Gesamtbetrachtung von Handlungs- und Erfolgsunwert könne nämlich ein Weniger an Erfolgsunwert<br />

(hier: geringe Schadenshöhe) durch ein Mehr an Handlungsunrecht (hier: vielfache, teils einschlägige<br />

Vorstrafen, der Angeklagte stand unter Bewährung) ausgeglichen werden. Beim Angeklagten habe es<br />

sich um einen hartnäckigen Rechtsbrecher, der sich in der Vergangenheit weder durch Geldstrafen noch<br />

durch eine Vielzahl von Freiheitsstrafen, die zum Großteil auch vollzogen wurden, habe beeindrucken<br />

lassen. In derartigen Fällen sei die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe auch verfassungsrechtlich<br />

nicht zu beanstanden (BVerfG, Beschl. v. 9.6.<strong>19</strong>94 – 2 BvR 710/94).<br />

Allerdings werde bei Bagatelldelikten die Dauer der Freiheitsstrafe dadurch begrenzt, dass diese in<br />

einem angemessenen Verhältnis zur geringen Schadenshöhe stehen muss. Die verhängte Strafe<br />

dürfe sich daher weder nach oben noch nach unten von ihrer Bestimmung lösen, gerechter<br />

Schuldausgleich zu sein (BGHSt 29, 3<strong>19</strong>, 320). Bei Leistungserschleichungen mit geringer Schadenshöhe<br />

sei auch bei hartnäckigen Wiederholungstätern, abhängig von den konkreten Strafzumessungsgründen,<br />

i.d.R. die Verhängung der einmonatigen Mindeststrafe geeignet, gerechter Schuldausgleich<br />

zu sein. Die hier vom LG verhängten, darüber liegenden Einzelstrafen und die daraus gebildete<br />

Gesamtfreiheitsstrafe waren hier aufgrund Fehlens besonderer Erschwernisgründe somit keinen<br />

gerechten Schuldausgleich mehr dar.<br />

Hinweis:<br />

Etwas anders hat das OLG Hamm (StRR 2015, <strong>19</strong>1) entschieden. Das hat auch bei einer Verurteilung wegen<br />

Erschleichens von Leistungen die Verhängung einer nicht nur kurzfristigen Freiheitsstrafe nicht beanstandet,<br />

wenn einschlägige Vorstrafen vorliegen und sich der Angeklagte durch die Verhängung von Geldstrafen<br />

nicht nachhaltig hat beeinflussen lassen. Allerdings: Letztlich sind diese Fragen immer solche des Einzelfalls.<br />

Der Verteidiger muss aber mit „günstigen“ Entscheidungen argumentieren.<br />

3. Strafaussetzung zur Bewährung bei schweigendem Angeklagten?<br />

In der Praxis stellt sich häufig die Frage: Welche Auswirkungen auf die Rechtsfolgen, insbesondere<br />

auf eine potenzielle Strafaussetzung zur Bewährung hat es, wenn der Mandant schweigt. Mit<br />

der Problematik setzt sich das OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.10.2018 – 3 RVs 58/18 (StV <strong>20<strong>19</strong></strong>, 332 = StRR<br />

8/<strong>20<strong>19</strong></strong>, 23) auseinander.<br />

Das AG hatte den Angeklagten wegen gemeinschaftlichen Handels mit Betäubungsmitteln zu einer<br />

Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Der Angeklagte war nicht vorbelastet. Er hatte sich<br />

schweigend verteidigt. Das AG hat die Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt.<br />

Das OLG Düsseldorf (a.a.O.) hat das beanstandet. Das OLG begründet seine Entscheidung im<br />

Wesentlichen damit, dass zwar eine erschöpfende Darstellung aller im Zusammenhang mit der Frage<br />

der Bewährung anzustellenden Erwägungen nicht erforderlich ist, aber doch die wesentlichen Umstände<br />

nachprüfbar darzulegen sind, im Falle der Versagung der Bewährung also die dafür maßgeblichen<br />

Erwägungen (FISCHER, § 56 Rn 23 m.w.N.). Das hatte das Schöffengericht hier nicht getan. Es hatte seine<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 10<strong>19</strong>


Fach 22 R, Seite 1134<br />

Rechtsprechungsübersicht 2018/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Strafrecht<br />

Entscheidung, keine „besonderen Umstände“ i.S.v. § 56 Abs. 2 StGB anzunehmen, ausschließlich darauf<br />

gestützt, der Angeklagte habe sich mit dem Unrecht seiner Tat nicht auseinandergesetzt. Dies sei – so das<br />

OLG – rechtsfehlerhaft, denn das bloße Schweigen des Angeklagten hätte nicht zu seinem Nachteil<br />

berücksichtigt werden dürfen (vgl. u.a. BGH StraFo 2010, 207).<br />

Hinweis:<br />

Jeder Verteidiger kennt die Andeutungen von Richtern, die dahin gehen, dass ein Geständnis bestimmt<br />

helfen könnte, im Falle einer Verurteilung zu verhängende Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt<br />

werden kann. Das OLG Düsseldorf hat nun aber noch einmal deutlich klargestellt, dass einem<br />

schweigenden Angeklagten sein Schweigen unter keinem Gesichtspunkt negativ ausgelegt werden kann<br />

und damit den Grundsatz des „nemo tenetur“ (erneut) gestärkt (so auch FISCHER, § 56 Rn 23).<br />

II.<br />

Zueignungsabsicht (§§ 242 ff. StGB)<br />

1. Wegnahme zum Zweck der Datenlöschung<br />

Wird ein Handy weggenommen, um auf ihm gespeicherte Bilder zu löschen, ist eine Zueignungsabsicht<br />

nur dann zu bejahen, wenn der Täter das Handy – wenn auch nur vorübergehend – über die für die<br />

Löschung der Bilder benötigte Zeit hinaus behalten will. Das ist das Fazit aus dem BGH, Beschl.<br />

v. 11.12.2018 (5 StR 577/18, NStZ <strong>20<strong>19</strong></strong>, 344 = StV <strong>20<strong>19</strong></strong>, 388 = StRR 6/<strong>20<strong>19</strong></strong>, <strong>19</strong>).<br />

Der Entscheidung des BGH lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Angeklagten M und K fuhren in<br />

einer S-Bahn, die wenig später die Geschädigte betrat. Diese setzt sich laut telefonierend wenige Meter<br />

von M entfernt auf einen Sitzplatz. Nachdem M die Geschädigte aufgefordert hatte, das laute<br />

Telefonieren zu unterlassen, entwickelte sich ein Wortgefecht mit gegenseitigen Beleidigungen. Als sich<br />

die Angeklagten zum Ausstiegsbereich begaben, um die S-Bahn zu verlassen, kam es erneut zu einem<br />

Wortgefecht, in dessen Verlauf die Geschädigte M bespuckte. Zudem fertigte sie mit ihrem Handy<br />

Bildaufnahmen von den Angeklagten an.<br />

M fasste nunmehr den Entschluss, sich in den Besitz des Handys der Geschädigten zu bringen, um die<br />

Bilder zu löschen. In dieser Absicht führte er einen Tritt in Richtung der M aus, um dieser das Handy aus<br />

der Hand zu treten, traf jedoch ihr Gesicht. Unmittelbar darauf zog K eine mit Bleikugeln gefüllte CO-<br />

Pistole und feuerte zwei Schüsse auf die Geschädigte ab, welche diese an Nasenflügel und Unterarm<br />

trafen. Da die Geschädigte weiterhin ihr Handy in der Hand hielt, entschloss sich M nun, ihr das Handy<br />

endgültig wegzunehmen. Er schlug ihr mehrmals mit wuchtigen Faustschlägen auf den Oberkörper und<br />

in das Gesicht. Es gelang M das Handy in seinen Gewahrsam zu nehmen. Die Angeklagten verließen die<br />

S-Bahn mit dem Handy. Danach löschten sie die auf dem Handy befindlichen Bilder, auf denen sie<br />

abgebildet waren, und legten es unter eine Tanne ab. Das LG hat die Angeklagten u.a. wegen schweren<br />

Raubs (§ 250 StGB) verurteilt. Die Revision des M hatte Erfolg.<br />

Der BGH hat die vom LG angenommene Zueignungsabsicht verneint, so dass die Verurteilung wegen<br />

schweren Raubs aufzuheben war. Das LG hatte eine Zueignungsabsicht der Angeklagten bei der<br />

Wegnahme des Handys mit der Begründung angenommen, deren Wille sei zumindest vorübergehend<br />

darauf gerichtet gewesen, wie ein Eigentümer über die auf dem Handy gespeicherten Daten zu<br />

verfügen. Der BGH sieht das anders. Zueignungsabsicht sei gegeben, wenn der Täter im Zeitpunkt der<br />

Wegnahme die fremde Sache unter Ausschließung des Eigentümers oder bisherigen Gewahrsamsinhabers<br />

körperlich oder wirtschaftlich für sich oder einen Dritten erlangen und sie der Substanz oder dem<br />

Sachwert nach seinem Vermögen oder dem eines Dritten „einverleiben“ oder zuführen wolle. An dieser<br />

Voraussetzung fehle es dagegen in Fällen, in denen der Täter die fremde Sache nur wegnehme, um<br />

sie „zu zerstören“, „zu vernichten“, „preiszugeben“, „wegzuwerfen“, „beiseite zu schaffen“ oder „zu<br />

beschädigen“ (u.a. BGH BGHSt 16, <strong>19</strong>0; <strong>19</strong>85, 812; NStZ 2011, 699). Entsprechend verhalte es sich in Fällen,<br />

in denen der Täter ein Handy lediglich in der Absicht wegnehme, um dort gespeicherte Bilder zu löschen.<br />

1020 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Strafrecht Fach 22 R, Seite 1135<br />

Rechtsprechungsübersicht 2018/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Eine Zueignungsabsicht sei in solchen Konstellationen nur dann zu bejahen, wenn der Täter das Handy –<br />

wenn auch nur vorübergehend – über die für die Löschung der Bilder benötigte Zeit hinaus behalten<br />

wolle. Ein auf eine Aneignung gerichteter Wille lasse sich den getroffenen Feststellungen jedoch nicht<br />

entnehmen und verstehe sich auch nicht von selbst. Sowohl der Anlass für die Wegnahme als auch die<br />

Besitzaufgabe am Handy kurz nach der Tat sprächen vielmehr dafür, dass die Angeklagten das Handy<br />

nicht über den Löschungsvorgang hinaus behalten wollten.<br />

Hinweis:<br />

Der BGH setzt mit dieser Entscheidung seine Rechtsprechung zur Entwendung von Handys bzw. zur<br />

Zueignungsabsicht in den Fällen konsequent fort (vgl. a. BGH v. 28.4.2015 – 3 StR 48/15, NStZ-RR 2015,<br />

371). Im Beschl. v. 14.2.2012 (3 StR 392/11, NStZ 2012, 627) hatte er sie verneint für den Fall der Durchsuchung<br />

und des Kopierens vom Speicher des entwendeten Handys. Hier ging darum, dass die auf dem Handy gespeicherten<br />

Daten nicht nur kopiert und verwertet werden sollten und dass der Datenträger unverändert<br />

zurückgegeben werden sollte, sondern dass die Täter Daten vom Handy löschen wollten. Der BGH stellt<br />

offenbar auf das Interesse des Täters ab, der nur Interesse an den Daten und nicht an dem Datenträger<br />

selbst hat. Ob ggf. andere Tatbestände erfüllt sind – zu denken ist ggf. an §§ 303a f. StGB – hat der BGH<br />

offen gelassen.<br />

2. Wegwerfen des Behältnisses<br />

Der BGH (Beschl. v. 3.4.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 3 StR 530/18) befasst sich ebenfalls mit der Problematik der Zueignungsabsicht,<br />

und zwar bei einem Wohnungseinbruchsdiebstahl.<br />

Das LG hatte folgende Feststellungen getroffen: Der Angeklagte war mit einem gesondert abgeurteilten<br />

Mittäter in ein freistehendes Einfamilienhaus eingebrochen. Dort nahmen sie „tatplanmäßig“<br />

eine Schatulle mit Modeschmuck mit, um sie für sich zu behalten. Als die Beiden nach Verlassen des<br />

Anwesens feststellten, dass es sich „wider Erwarten“ um nahezu wertlosen Modeschmuck handelte,<br />

warfen sie die Schatulle nebst dem Schmuck weg. Das LG hat wegen Wohnungseinbruchdiebstahls<br />

verurteilt.<br />

Der BGH hat die Entscheidung aufgehoben: Auf der Grundlage dieser Feststellungen könne die<br />

Verurteilung wegen vollendeten Wohnungseinbruchdiebstahls nach § 244 Abs. 1 StGB a.F. keinen<br />

Bestand haben; denn sie trügen nicht die Annahme, dass der Angeklagte und sein Mittäter bezüglich des<br />

Schmuckkoffers samt Modeschmuck die nach § 242 Abs. 1 StGB erforderliche Zueignungsabsicht hatten.<br />

Enthalte ein Behältnis, das der Täter in seinen Gewahrsam bringt, nicht die vorgestellte werthaltige<br />

Beute, auf die es ihm bei der Tat allein ankommt, und entledige er sich – nachdem er dies festgestellt<br />

habe – deswegen des Behältnisses sowie des ggf. darin befindlichen, ihm nutzlos erscheinenden Inhalts,<br />

so könne er mangels Zueignungsabsicht bezüglich der erlangten Beute nicht wegen eines vollendeten,<br />

sondern nur wegen versuchten (fehlgeschlagenen) Diebstahls bestraft werden (BGH NStZ 2000, 531;<br />

NStZ-RR 2013, 309; Beschl. v. 13.10.2016 – 3 StR 173/16; Beschl. v. 1.2.2000 – 4 StR 564/99).<br />

Hinweis:<br />

Das bedeutet: Die vom Tatgericht getroffenen Feststellungen müssen widerspruchsfrei belegen, dass sich<br />

die konkrete Zueignungsabsicht des Täters bei der Wegnahme auf das Behältnis an sich oder jegliche darin<br />

befindlichen Sachen bezog und somit ein vollendeter Diebstahl vorlag.<br />

3. Fernziel Festnahme<br />

Dem BGH (Beschl. v. 26.4.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 1 StR 37/<strong>19</strong>, NStZ-RR <strong>20<strong>19</strong></strong>, 248) lag dann folgender Sachverhalt<br />

zugrunde: Die Angeklagte war am 12.5.2018 aus der Haft entlassen worden. Da sie mit dem Leben in<br />

Freiheit nicht zurechtkam und das ihr zur Verfügung stehende Übergangsgeld bereits verbraucht hatte,<br />

entschloss sie sich, mit einem – zum Zwecke der Selbstverteidigung angeschafften – Pfefferspray einen<br />

Raub zu begehen. Durch die Straftat wollte sie wieder in das „geregelte Leben der Justizvollzugsanstalt“<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1021


Fach 22 R, Seite 1136<br />

Rechtsprechungsübersicht 2018/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Strafrecht<br />

und zu ihrer dort nach wie vor inhaftierten Ehefrau gelangen. Vor diesem Hintergrund hielt die<br />

Angeklagte am 15.5.2018 in der Innenstadt von Augsburg gezielt nach einem möglichen Opfer Ausschau.<br />

Am Bahnhof erblickte sie die Geschädigte, die ein Mobiltelefon vom Typ Samsung Galaxy S7 in der Hand<br />

hielt, und entschloss sich, ihren Plan umzusetzen. Die Angeklagte ging auf die Geschädigte zu und<br />

sprühte ihr Pfefferspray ins Gesicht, um das Mobiltelefon an sich zu nehmen und es „ohne Berechtigung<br />

für sich behalten zu können“. Aufgrund der Beeinträchtigung durch das Pfefferspray und aus Angst vor<br />

weiteren Angriffen ließ die Geschädigte das Mobiltelefon nach kurzer Zeit los, so dass die Angeklagte das<br />

Gerät an sich nehmen konnte. Die Angeklagte flüchtete schnellen Schritts einige Meter, wurde dann<br />

aber von einem Zeugen angehalten und schließlich von der Polizei festgenommen. Das entwendete<br />

Mobiltelefon wurde bei der Durchsuchung der Angeklagten in deren Hosentasche sichergestellt.<br />

Das LG hat wegen „schweren Raubes“ (§ 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren<br />

und acht Monaten verurteilt. Dagegen die Revision der Angeklagten, die beim BGH Erfolg hatte: Der<br />

BGH hat eine tragfähige Begründung für die Annahme der Strafkammer, die Angeklagte habe zur Zeit<br />

der Wegnahme mit Zueignungsabsicht gehandelt, vermisst. Die Annahme stehe im Widerspruch zu der<br />

Feststellung, die Angeklagte habe den Überfall begangen, um wieder inhaftiert zu werden. Eine<br />

Zueignungsabsicht scheidet nämlich aus, wenn der Täter die fremde bewegliche Sache nur wegnehme,<br />

um sodann gestellt zu werden und die Sache sogleich wieder an den Eigentümer zurückgelangen zu<br />

lassen (vgl. BGH NStZ-RR 2012, 207 und auch schon GA <strong>19</strong>69, 306 ff.). An der Zueignungsabsicht im<br />

Zeitpunkt der Wegnahme fehle es, wenn die Angeklagte ggf. davon ausgegangen sei, dass das<br />

Mobiltelefon infolge ihrer Ergreifung in der Folgezeit wieder an die Geschädigte zurückgelangen würde.<br />

Hinweis:<br />

Dass die Aneignung vom Täter nur als mögliche Folge seines Verhaltens in Kauf genommen wird, reicht<br />

für das Bejahen einer Zueignungsabsicht nicht aus. Vielmehr muss der Täter sie für sich oder einen Dritten<br />

mit unbedingtem Willen erstreben (vgl. BGH StraFo 2012, 276 = NStZ-RR 2012, 239 = StV 2013, 435 m.w.<br />

N.). Gegebenenfalls kommt die Annahme einer Zueignungsabsicht im Zeitpunkt der Wegnahme in diesen<br />

Fällen aber dann in Betracht, wenn die Festnahme lediglich ein (nachrangiges) Interesse gewesen wäre.<br />

III. (Schwerer) Parteiverrat (§ 356 StGB)<br />

Für die Annahme eines schweren Parteiverrats i.S.d. § 356 Abs. 2 StGB kommt es darauf an, ob<br />

der Rechtsanwalt bei Begehung des Parteiverrats im Einverständnis mit der Gegenpartei zum<br />

Nachteil seiner Partei gehandelt hat. So hat der BGH im Beschl. v. 21.11.2018 (4 StR 15/18, NJW <strong>20<strong>19</strong></strong>, 316<br />

= NStZ-RR <strong>20<strong>19</strong></strong>, 47 = StraFo <strong>20<strong>19</strong></strong>,1 28 = StRR 5/<strong>20<strong>19</strong></strong>, 21) entschieden.<br />

Der Angeklagte war Rechtsanwalt und Notar. Er war vom LG wegen (schweren) Parteiverrats nach<br />

§ 356 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung verurteilt<br />

worden. Ausgangspunkt des Strafverfahrens war ein Verwaltungsverfahren, das 2012 beim BVerwG<br />

anhängig war. Der Rechtsanwalt hatte mehrere Kläger aus Oldenburg vertreten, darunter auch die<br />

Stadt, eine Wohnungsbaugesellschaft, eine Stiftung und Privatleute. Beklagte war die Deutsche Bahn,<br />

die die Bahnstrecke zum Tiefwasserhafen „Jade Weser Port“ im nahen Wilhelmshaven ausbauen will,<br />

streckenweise wohl mitten durch das Oldenburger Stadtgebiet. In dem Verfahren vor dem BVerwG<br />

hatte die Deutsche Bahn einen Vergleich angeboten, der Lärmschutzmaßnahmen für die betroffenen<br />

Wohngebiete in Oldenburg vorsah. Der Rechtsanwalt hat seinen Mandanten geraten, das Angebot<br />

anzunehmen. Einige der Kläger, u.a. die Stadt Oldenburg, willigten ein, nicht so auch vertretene private<br />

Kläger, die die ausdrückliche Weisung erteilt hatten, keinen Vergleich abzuschließen. Und darum ging es<br />

dann im Strafverfahren, da der Rechtsanwalt dennoch einen Vergleich abgeschlossen hat.<br />

Die Revision des Angeklagten hatte wegen des Strafausspruchs Erfolg. Der BGH sieht in dem Verhalten<br />

des Rechtsanwalts nur einen „einfachen Parteiverrat“ und hat deshalb den Strafausspruch des<br />

landgerichtlichen Urteils aufgehoben. Mit dem LG ist der BGH von Parteiverrat (§ 356 Abs. 1 StGB)<br />

1022 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Strafrecht Fach 22 R, Seite 1137<br />

Rechtsprechungsübersicht 2018/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

ausgegangen. Er hat aber die Voraussetzungen für die Annahme eines schweren Parteiverrats i.S.d.<br />

§ 356 Abs. 2 StGB verneint. Denn dafür komme es darauf an, ob der Rechtsanwalt bei Begehung des<br />

Parteiverrats im Einverständnis mit der Gegenpartei zum Nachteil seiner Partei gehandelt habe. Schon<br />

nach dem Wortlaut des § 356 Abs. 2 StGB qualifiziere nicht jedes Handeln des Anwalts zum Nachteil<br />

seiner Partei den Verrat zum Verbrechen. Hinzutreten müsse vielmehr das Einverständnis der<br />

Gegenpartei in sein schädigendes Handeln. Hierfür sei ein gemeinsames Schädigungsbewusstsein von<br />

Anwalt und Gegenpartei erforderlich. Als Teilelement des gemeinsamen Bewusstseins um die<br />

Schädigung der Partei müsse das Einverständnis der Gegenpartei bereits zu dem Zeitpunkt vorliegen,<br />

zu dem der Anwalt pflichtwidrig diene. Erforderlich sei, dass die Tathandlung als solche vom<br />

Einverständnis der Gegenpartei getragen werde. Und das hat der BGH aufgrund der Umstände des<br />

Einzelfalls verneint.<br />

Hinweis:<br />

Die Entscheidung liegt auf der Linie der Rechtsprechung des BGH aus früheren Jahren (vgl. BGH NStZ <strong>19</strong>81,<br />

479, 480; BGHSt 45, 148, 156). Für den betroffenen Rechtsanwalt ist die Einordnung und damit die Höhe<br />

der Strafe im Hinblick auf berufsrechtliche und sonstige Folgen von erheblicher Bedeutung.<br />

IV. Verkehrsstrafrecht<br />

Breiten Raum hat im Berichtszeitraum wieder die Rechtsprechung der Obergerichte zu den auch die<br />

Praxis beherrschenden Verkehrsstraftaten eingenommen.<br />

1. Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB)<br />

a) Öffentlicher Verkehrsbereich<br />

Im Verkehrsstrafrecht spielt insbesondere auch beim unerlaubten Entfernen vom Unfallort die Frage<br />

eine Rolle, ob der Unfallort zum öffentlichen Verkehrsbereich zählt(e) und damit der Tatbestand des<br />

§ 142 StGB überhaupt vorliegen konnte. Mit der Frage hat sich dann auch noch einmal das OLG<br />

Oldenburg befasst (OLG Oldenburg, Beschl. v. 4.6.2018 – 1 Ss 83/18, zfs 2018, 532 = VRR 10/2018, 12 =<br />

StRR 12/2018, 23).<br />

Das AG hatte folgende Feststellungen getroffen: Die Angeklagte war am Tattag trotz des deutlich<br />

sichtbaren Schildes „Ausfahrt“ mit ihrem Pkw versehentlich von der falschen Seite in die Waschanlage<br />

einer Tankstelle eingefahren, da sie die Waschanlage von früheren Besuchen her kannte und sich die<br />

Einfahrt etwa ein Jahr zuvor noch auf der anderen Seite der Waschanlage befunden hatte. Bei der<br />

Einfahrt stieß die Angeklagte mit ihrem Pkw so heftig gegen das Portal der Waschanlage, dass dieses<br />

wackelte und die neben der Waschanlage stehende Filialleiterin der Tankstelle alarmiert wurde. Eine<br />

Zeugin, die den Vorfall beobachtet hatte, ging daraufhin in die Waschanlage und sprach die Angeklagte<br />

auf ihren Irrtum an. Die Angeklagte stieg aus ihrem Fahrzeug und erklärte, dass sie schon immer von<br />

dieser Seite in die Waschanlage fahre und nun ihr Auto waschen möchte. Anschließend stieg die<br />

Angeklagte wieder in ihr Fahrzeug und versuchte, rückwärts aus der Waschanlage zu fahren. Dabei<br />

stieß sie nochmals gegen das Portal der Waschanlage, stieg erneut aus und sah sich um. Die Angeklagte<br />

stieg danach wieder in ihren Pkw und setzte weiter zurück, wobei sie zum dritten Mal gegen das Portal<br />

der Waschanlage stieß. An der Waschanlage, deren Betrieb aufgrund des Schadens zunächst für<br />

mehrere Tage eingestellt werden musste, entstand ein Sachschaden i.H.v. etwa 1.600 €. Die Angeklagte<br />

war davon gefahren, ohne jegliche Angaben zu ihrer Person zu machen.<br />

Das OLG Oldenburg (a.a.O.) hat die Voraussetzungen des unerlaubten Entfernens vom Unfallort gem.<br />

§ 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB bejaht. Die Feststellungen des AG belegten nach seiner Auffassung das Vorliegen<br />

eines Unfalls im Straßenverkehr. Zum öffentlichen Straßenverkehr i.S.v. § 142 StGB gehören nämlich<br />

außer den öffentlichen Straßen alle Verkehrsflächen, auf denen aufgrund ausdrücklicher oder<br />

stillschweigender Duldung des Verfügungsberechtigten die Benutzung durch jedermann tatsächlich<br />

zugelassen ist. Erfasst seien damit auch private Zufahrtswege, wenn sie einem unbestimmten<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1023


Fach 22 R, Seite 1138<br />

Rechtsprechungsübersicht 2018/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Strafrecht<br />

Personenkreis zur Nutzung offenstehen. Dazu zählen etwa die Zu- und Ausfahrten eines Tankstellengeländes<br />

sowie der Tanksäulenbereich selbst (vgl. FISCHER, § 142 Rn 8). Das Merkmal der<br />

Öffentlichkeit entfalle nur dann, wenn entweder bereits durch die eindeutig ersichtliche Gestaltung der<br />

Anlage oder durch eine Einzelkontrolle jedem Nichtberechtigten der Zugang von vornherein unmöglich<br />

gemacht wird, oder wenn, falls solche Vorkehrungen nicht getroffen sind, nur solchen Benutzern der<br />

Zugang gewährt werden soll, die in einer näheren persönlichen Beziehung zu dem Verfügungsberechtigten<br />

stehen (vgl. BayObLG VRS 58, 216). Stehe – wie hier – die Benutzung der mit einer<br />

Tankstelle verbundenen automatischen Autowaschanlage jedermann frei, sofern er nur das Entgelt<br />

hierfür entrichte, gehöre der vom Kunden zu befahrene Bereich der Autowaschanlage zum Verkehrsgrund<br />

i.S.d. Straßenverkehrsrechts (vgl. BayObLG, a.a.O.). Dies gelte nicht nur für die Zu- und Ausfahrt,<br />

sondern auch (insoweit vom BayObLG offengelassen) für den Bereich der eigentlichen Waschanlage.<br />

Maßgeblich könne insoweit nur sein, ob das Fahrzeug noch aus eigener Kraft und nicht lediglich mit den<br />

zur Anlage gehörenden Vorrichtungen bewegt wird (vgl. LG Kleve, Urt. v. 23.12.2016 – 5 S 146/15). Soweit<br />

das AG Erfurt in einer Entscheidung vom 6.5.2015 (982 Js 14417/13 47 Cs) die Auffassung vertreten hat, die<br />

Bewegung des Fahrzeugs habe bei Einfahrt in die Waschanlage nicht mehr und bei der Ausfahrt aus<br />

dieser noch nicht die verkehrstypische Qualität der Teilnahme am Straßenverkehr erreicht, ist das OLG<br />

dem nicht gefolgt. Anders als bei der Einfahrt eines Pkw in die Werkhalle eines Reparaturbetriebs, die<br />

regelmäßig nur aufgrund der Aufforderung durch den Betriebsinhaber erfolge und deshalb eben nur<br />

Personen gestattet sei, die in einer persönlichen Beziehung zu Verfügungsberechtigten stehen, habe die<br />

Portalwaschanlage der Tankstelle grundsätzlich jedem zur Benutzung offen gestanden. Ob eine<br />

abweichende Beurteilung für den Fall geboten sei, dass sich ein Unfall während des Betriebs der<br />

Waschanlage und des eigentlichen Waschvorganges ereigne, könne dahinstehen.<br />

Hinweis:<br />

Die Entscheidung ist hinsichtlich des Merkmals „öffentlicher Straßenverkehr“ zutreffend (vgl. dazu auch<br />

Burhoff in: Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl. 2018, Rn 3562 ff. m.w.N.).<br />

Für ein durch ein massives Eisengitter gesicherte Betriebsgelände einer Spedition ist die Eigenschaft:<br />

„öffentlicher Verkehrsraum“ zu verneinen, auch wenn das Gelände tagsüber nicht durch Schranken<br />

oder Tore begrenzt ist (AG Nürtingen, Urt. v. 29.10.2018 – 11 Cs 71 Js 20096/18, VRR 12/2018, 2 [Ls.]<br />

= VA <strong>20<strong>19</strong></strong>, 48).<br />

b) Feststellungspflicht<br />

Das AG Tiergarten hat sich mit der Frage befasst, inwieweit der Mieter eines Kraftfahrzeugs gegenüber<br />

dem Vermieter der sich aus § 142 StGB ergebenden Feststellungspflicht unterliegt (vgl. Beschl.<br />

v. 21.3.2018 – 297 Gs 47/18, zfs 2018, 587 = NStZ-RR 2018, 224). Besonderheit des Falls war, dass es sich<br />

um ein „Carsharing“-Fahrzeug gehandelt hat. Das AG hat die Feststellungspflicht bejaht. Teilweise wird<br />

in der Literatur zwar die Auffassung vertreten, in Fällen des berechtigten Führens eines im fremden<br />

Eigentum stehenden Fahrzeugs reiche ein Schaden an diesem Fahrzeug für eine Strafbarkeit nach § 142<br />

StGB und eine Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB nicht aus (FISCHER, § 69 Rn 27)<br />

und dies solle auch bei einem gemieteten Fahrzeug gelten (Münchener Kommentar zum Straßenverkehrsrecht/SCHWERDTFEGER,<br />

StGB, § 142 Rn 28). Nach Auffassung des AG könne der Auffassung in<br />

den Fällen der klassischen Autovermietung zuzustimmen sein, in denen der Vermieter das Fahrzeug<br />

mangelfrei an den Mieter übergibt und bei jeder Rückgabe kontrolliert, ob das Fahrzeug mangelfrei<br />

zurückgegeben wird. Die Fälle des „Carsharing“ würden sich davon jedoch in dem entscheidendem<br />

Punkt unterscheiden, dass hier gerade keine Kontrolle des Zustands des Fahrzeugs bei dessen<br />

Rückgabe stattfinde, denn das Fahrzeug werde nach Ende der Nutzung durch den Mieter irgendwo<br />

stehengelassen und dort irgendwann von einem späteren Mieter übernommen, ohne dass irgendwelche<br />

Zustandskontrollen durch den Vermieter stattfinden. In derartigen Fällen sei die Zuordnung<br />

eines (irgendwann) festgestellten Schadens zu einem bestimmten Mieter dem Vermieter nicht oder nur<br />

mit großen Schwierigkeiten möglich. Aus diesem Grund erstreckt sich der Schutzbereich des § 142 StGB<br />

jedenfalls in Fällen des „Carsharing“ auch auf den Vermieter des Fahrzeugs.<br />

1024 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Strafrecht Fach 22 R, Seite 1139<br />

Rechtsprechungsübersicht 2018/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

c) Rechtsfolgen<br />

Die Frage, wann ein bedeutender Schaden i.S.v. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB vorliegt, ist in der Rechtsprechung<br />

immer noch – zumindest teilweise – im Fluss. Teilweise wird die Grenze erst ab einem<br />

Betrag von 2.500 € (netto) gezogen (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 12.11.18 – 5 Qs 73/18, StRR 1/<strong>20<strong>19</strong></strong>,<br />

4 [Ls.] = VRR 2/<strong>20<strong>19</strong></strong>, 2 [Ls.] = VA aktuell <strong>20<strong>19</strong></strong>, 53). Für die Regelentziehung nach § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB<br />

dürfte es allerdings nunmehr h.M. sein, dass von einer Wertgrenze von (nur) 1.500 € auszugehen ist<br />

(vgl. dazu u.a. LG Dortmund, Beschl. v. 29.3.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 32 Qs 35/<strong>19</strong>, VA <strong>20<strong>19</strong></strong>, 144; LG Dresden, Beschl.<br />

v. 7.5.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 3 Qs 29/<strong>19</strong>, StRR 7/<strong>20<strong>19</strong></strong>, 3 [Ls.] = VRR 7/<strong>20<strong>19</strong></strong>, 2 [Ls.]; vgl. aber LG Berlin VRS 135, 266 [immer<br />

noch 1.300 €]). Die Frage hat auch im o.a. Beschluss des OLG Oldenburg (1 Ss 83/18, zfs 2018, 532 =<br />

VRR 10/2018, 12 = StRR 12/2018, 23) eine Rolle gespielt. Dort hatte der Angeklagte eingewandt, das AG<br />

habe zu Unrecht das Vorliegen eines bedeutenden Schadens i.S.v. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB bejaht. Das OLG<br />

ist darauf nicht im Einzelnen eingegangen. Es hat lediglich ausgeführt, dass „ein bedeutender Schaden<br />

i.S.v. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB entstanden ist“, ohne sich konkret mit der Schadenshöhe – nach den<br />

Feststellungen „etwa 1.600 €“ – auseinander zu setzen.<br />

Hinweis:<br />

Der Verteidiger wird sich auf die o.a. herrschende Meinung beziehen, um so zu versuchen, eine Entziehung<br />

der Fahrerlaubnis zu vermeiden (vgl. wegen weiterer Rechtsprechung <strong>ZAP</strong> F. 22 R, S. 1085).<br />

2. Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB)<br />

a) Falsches Überholen<br />

Die Problematik des „falschen Überholens“ i.S.d. § 315c Abs. 1 Nr. 2b) StGB hat in einem vom OLG<br />

Oldenburg entschiedenen Fall eine Rolle gespielt (vgl. Beschl. v. 29.10.2018 – 1 Ss 173/18, zfs <strong>20<strong>19</strong></strong>, 113 =<br />

VRR 3/<strong>20<strong>19</strong></strong>, 16 = StRR 6/<strong>20<strong>19</strong></strong>, 20). Das LG hatte den Angeklagten wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung<br />

gem. § 315c Abs. 1 Nr. 2b), Abs. 3 Nr. 1 StGB verurteilt. Dabei war es von folgenden<br />

Feststellungen ausgegangen. Am Tattag brach der Angeklagte morgens mit seinem Pkw von zu Hause<br />

auf, um zu seinem Arbeitsplatz am W.-Weg auf kürzester Strecke zu gelangen. Sein Fahrzeug war dabei<br />

auf dem Grundstückstreifen zwischen Wohnhaus und dem gepflasterten Gehweg der stadtauswärts<br />

führenden O.-Straße geparkt. Da auf der O.-Straße – wie an jedem Wochentag außerhalb der<br />

Schulferien – der Verkehr aufgrund seiner erhöhten Dichte ins Stocken geraten war, entschied sich der<br />

Angeklagte, diesen zu umgehen und die Entfernung bis zur nächsten Querstraße, der B.-Straße, in die er<br />

zum Wenden ohnehin einfahren wollte, auf dem Geh- und Radweg zurückzulegen. Die bis zur B.-Straße<br />

zurückzulegende Strecke von 15 m durchfuhr der Angeklagte mit einer Geschwindigkeit von etwa<br />

10-15 km/h. Als er von dem Geh- und Radweg auf die B.-Straße fuhr, befand sich der Zeuge P im<br />

Abbiegevorgang von der O.-Straße auf die besagte Querstraße. Der Angeklagte wollte sich noch vor den<br />

Zeugen setzen und fuhr daher – zügiger als der Zeuge P. – weiter auf die Straße ein. Dieses Verhalten<br />

zwang den Zeugen dazu, abrupt abzubremsen und dem Angeklagten und seinem Pkw auszuweichen,<br />

um einen Zusammenstoß zu verhindern. Das Fahrzeug des Zeugen P. kam in einem Abstand zum<br />

Fahrzeug des Angeklagten von wenigen Millimetern bis zu maximal 3 cm zum Stehen. Im Falle einer<br />

Kollision wäre am Fahrzeug des Zeugen P ein Schaden von etwa 2.000-2.500 € entstanden. Die<br />

Revision des Angeklagten hatte teilweise Erfolg.<br />

Nach Auffassung des OLG Oldenburg (a.a.O.) erfüllt das Verkehrsverhalten des Angeklagten nicht die<br />

allein in Betracht kommende Tatbestandsalternative des falschen Überholens oder des sonstigen<br />

Falschfahrens bei Überholvorgängen (§ 315c Abs. 1 Nr. 2b) StGB. Allerdings sei – so das OLG – die<br />

Reichweite des Tatbestands des § 315c Abs. 1 Nr. 2b) StGB nicht auf Überholvorgänge i.S.d. StVO – den<br />

tatsächlichen Vorgang des Vorbeifahrens von hinten an Fahrzeugen anderer Verkehrsteilnehmer, die<br />

sich auf derselben Fahrbahn in dieselbe Richtung bewegen oder verkehrsbedingt halten – beschränkt.<br />

Ein Überholen sei auch gegeben bei einem Vorbeifahren über Seiten- oder Grünstreifen, über Ein- oder<br />

Ausfädelspuren oder über lediglich durch Bordsteine oder einen befahrbaren Grünstreifen von der<br />

Fahrbahn abgesetzte Rad- oder Gehwege (vgl. OLG Hamm VRS 32, 449). Dagegen fehle es an einem<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1025


Fach 22 R, Seite 1140<br />

Rechtsprechungsübersicht 2018/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Strafrecht<br />

Überholvorgang etwa bei einem Vorbeifahren unter Benutzung einer von der Fahrbahn baulich<br />

getrennten Anliegerstraße oder mittels Durchfahren einer Parkplatz- oder Tank- und Rastanlage auf<br />

der Bundesautobahn (vgl. zu allem BGHSt 61, 249 m.w.N.). Der Angeklagte habe jedoch sein<br />

Fahrmanöver nicht auf der Fahrbahn begonnen. Vielmehr sei er mit seinem zunächst auf einem<br />

Streifen vor dem Haus geparkten Pkw unmittelbar auf dem Gehweg losgefahren. Ob ein Überholen<br />

nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b) StGB aber auch dann vorliege, wenn das Vorbeifahren nicht auf der von dem<br />

anderen Fahrzeug benutzten Fahrbahn seinen Ausgang nimmt, habe der BGH bislang nicht entschieden,<br />

vielmehr ausdrücklich offengelassen (vgl. zuletzt BGH, a.a.O.). Die Frage hat das OLG verneint und<br />

die dazu von KUBICIEL in seiner Anmerkung zur Entscheidung des BGH vertretenen Auffassung<br />

(jurisPR-StrafR 23/2016 Anm. 1) abgelehnt. Zwar setze der weite Begriff des Überholens i.S.v. § 315c<br />

Abs. 1 Nr. 2b) StGB eine Bewegung auf derselben Fahrbahn nicht voraus. Andererseits könne bei<br />

Bewegungsvorgängen auf Flächen außerhalb der Fahrbahn bzw. auf verschiedenen Fahrbahnen auch<br />

nicht jedes „Vorbeifahren eines Verkehrsteilnehmers von hinten an einem anderen, der sich in derselben<br />

Richtung bewegt,“ unter den strafrechtlichen Überholbegriff subsumiert werden Ein Überholen liege<br />

daher z.B. nicht vor, wenn der in eine BAB Einfahrende schneller als der sich auf der Durchgangsfahrbahn<br />

bewegende Fahrzeugführer fahre und sich nach dem Einfahrvorgang vor diesen setze. Denn hier<br />

sei mangels Beginns des „Überholvorgangs“ auf der durchgehenden Fahrbahn der Schwerpunkt nicht<br />

dort anzusiedeln.<br />

Hinweis:<br />

Ob tatsächlich kein weiterer Fall des § 315c StGB vorliegt, lässt sich anhand des festgestellten Sachverhalts<br />

nicht abschließend beurteilen. Zu denken wäre etwa noch an § 315c Abs. 1 Nr. 2a oder d StGB.<br />

Das OLG hat den Angeklagten jedoch nicht frei gesprochen, sondern ihn wegen einer Ordnungswidrigkeit<br />

verurteilt, und zwar wegen eines Verstoßes gegen §§ 2 Abs. 1, 10 S. 1 StVO. Durch das Befahren des<br />

kombinierten Geh- und Radwegs an der O.Straße mit einem Pkw habe der Angeklagte vorsätzlich gegen<br />

die Vorschriften über die Straßenbenutzung und durch das abschließende Auffahren von dem Geh- und<br />

Radweg auf die B.-Straße unter Gefährdung des Zeugen P zugleich gegen die Vorschriften über das<br />

Einfahren und Ausfahren (§ 10 S. 1 StVO) verstoßen.<br />

b) Gefährdung fremder Sachen von bedeutendem Wert – Falsches Überholen<br />

In seinem Beschl. v. 10.4.<strong>20<strong>19</strong></strong> (4 StR 86/<strong>19</strong>) hat der 4. Strafsenat des BGH noch einmal zu der Frage<br />

Stellung genommen, wie im Urteil bei einer Straßenverkehrsgefährdung die Gefährdung fremder Sachen<br />

von bedeutendem Wert festgestellt werden kann/muss.<br />

Auszugehen war von folgendem Tatgeschehen: Der alkoholisierte Angeklagte war beim Ausparken<br />

gegen einen vor seinem Pkw geparkten Pkw gestoßen und hatte diesen beschädigt. Er war außerdem<br />

noch gegen einen auf der gegenüberliegenden Fahrbahnseite geparkten Pkw gefahren, an dem<br />

ebenfalls Sachschaden entstanden war. Sein Fahrzeug, das einer Bekannten gehörte, wurde ebenfalls<br />

beschädigt. Das LG Kassel hatte das Verkehrsgeschehen als fahrlässige Gefährdung des Straßenverkehrs<br />

i.S.d. § 315c StGB gewertet.<br />

Der BGH hat das anders gesehen. § 315c StGB setze voraus, dass einer fremden Sache von bedeutendem<br />

Wert auch ein bedeutender Schaden gedroht hat. Es seien daher stets zwei Prüfschritte erforderlich, zu<br />

denen im Strafurteil entsprechende Feststellungen zu treffen sind: Zunächst sei zu fragen, ob es sich bei<br />

der gefährdeten Sache um eine solche von bedeutendem Wert gehandelt hat, was etwa bei älteren<br />

oder bereits vorgeschädigten Fahrzeugen fraglich sein könne. Handele es sich um eine Sache von<br />

bedeutendem Wert, so sei in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob ihr auch ein bedeutender Schaden<br />

gedroht habe, wobei ein tatsächlich entstandener Schaden geringer sein könne als der allein<br />

maßgebliche Gefährdungsschaden. Der Wert der Sache sei hierbei nach dem Verkehrswert und die<br />

Höhe des (drohenden) Schadens nach der am Marktwert zu messenden Wertminderung zu berechnen<br />

(vgl. ERNEMANN in SSW-StGB, 4. Aufl., § 315c Rn 25 m.w.N. aus der Rechtsprechung des BGH).<br />

1026 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Strafrecht Fach 22 R, Seite 1141<br />

Rechtsprechungsübersicht 2018/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Dem genügten die Ausführungen im Urteil des LG nicht. Das LG hatte sich darauf beschränkt, in den<br />

Feststellungen mitzuteilen, dass an den Fahrzeugen „Sachschaden“ entstanden ist. In der Beweiswürdigung<br />

wurde hierzu noch ergänzt, dass die Strafkammer zugunsten des Angeklagten von einem<br />

Schaden „von unter 1.000 € an allen 3 Fahrzeugen zusammen ausgeht“. Damit war zum einen nicht<br />

sicher festgestellt, dass der (Gefährdungs-)Schaden die Wertgrenze von 750 € sicher erreicht oder<br />

überschreitet (vgl. dazu BGH NStZ 2011, 215 = VRR 2011, 70 = StRR 2011, 112 = VA 2011, 47). Hinzu kam,<br />

dass das LG auch das vom Angeklagten gefahrene, der Bekannten gehörende Fahrzeug einbezogen hat;<br />

nach der ständigen Rechtsprechung des BGH bleibt hingegen der (Gefährdungs-)Schaden an dem vom<br />

Täter gefahrenen Fahrzeug auch dann außer Betracht, wenn es ihm nicht gehört (BGHSt 27, 40; BGH<br />

DAR <strong>19</strong>85, 387).<br />

Hinweis:<br />

Bei der vom BGH entschiedenen Frage handelt es sich um einen verkehrsrechtlichen Dauerbrenner.<br />

Die Problematik wird allerdings von den LG häufig übersehen, was dann zur Urteilsaufhebung führt.<br />

Die Fragen spielen i.Ü. auch beim gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr nach § 315b StGB eine<br />

Rolle und werden dort ebenso wie bei § 315c StGB gelöst.<br />

3. Verbotenes Rennen (§ 315d StGB)<br />

Die (neue) Vorschrift des § 315d StGB ist am 13.10.2017 in Kraft getreten. Sie verbietet Kraftfahrzeugrennen<br />

und hat aus der früheren Verkehrs-OWi nach § 29 StVO nun einen Straftatbestand gemacht<br />

(vgl. dazu u.a. STAM StV 2018, 464 ff.). In § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB ist – auf Vorschlag des<br />

Rechtsausschusses erst im Gesetzgebungsverfahren eingefügt – das sog. Alleinrennen unter Strafe<br />

gestellt worden. Die Anwendung dieser Vorschrift macht in der Praxis (erhebliche) Probleme, denn:<br />

Nicht jede – auch erhebliche – Geschwindigkeitsüberschreitung ist ein Alleinrennen. Darauf haben<br />

inzwischen einige Gerichte hingewiesen (vgl. u.a. KG, Beschl. v. 15.4.<strong>20<strong>19</strong></strong> – (3) 161 Ss 36/<strong>19</strong> (25/<strong>19</strong>), StraFo<br />

<strong>20<strong>19</strong></strong>, 342; OLG Stuttgart, Beschl. v. 4.7.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 4 Rv 28 Ss 103/<strong>19</strong>, NJW <strong>20<strong>19</strong></strong>, 2787; LG Aurich VA <strong>20<strong>19</strong></strong>, 103;<br />

LG Berlin VRS 133, 15 = NZV 2018, 481; LG Stade DAR 2018, 577 = VRR 11/2018, 18 = StRR 11/2018, <strong>19</strong>;<br />

AG Essen VA <strong>20<strong>19</strong></strong>, 30).<br />

Es kommt vielmehr auf die Umstände des Einzelfalls an. Der Kraftfahrzeugverkehr und z.B. ein<br />

Überholvorgang dienen nämlich regelmäßig dem „möglichst“ schnellen Vorankommen, so dass für die<br />

Verwirklichung des Straftatbestands des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB zum bloßen zügigen Überholen ein<br />

Fahren mit Renncharakter hinzukommen muss. Ein Renncharakter ist (erst) gegeben, wenn der Fahrer<br />

sein Fahrzeug bis an die technischen und physikalischen Grenzen ausfährt (KG, a.a.O.; LG Stade, a.a.O.).<br />

Von einem (Allein-)rennen wird auch auszugehen sein, wenn der Angeklagte, „um sich zu profilieren“<br />

und seinen Beifahrern „zu imponieren“, einen mit 605 PS motorisierten Mietwagen „einmal austesten“<br />

will und hierzu über eine Strecke von zumindest 3,8 km durch das innerstädtische Berlin rast, wobei er<br />

eine Geschwindigkeit von „mindestens 150 km/h“ erreicht. Durch aggressiv ruckartiges Lückenspringen<br />

hatte der Angeklagte zudem andere Verkehrsteilnehmer gezwungen, immer wieder abzubremsen.<br />

Unter anderem diese Feststellungen zeigten nach Auffassung des KG (a.a.O.), dass die Tat über eine<br />

bloße Geschwindigkeitsüberschreitung hinausging (vgl. BT-Drucks 18/12964, 6). Diese Feststellungen<br />

würden auch bei zurückhaltender Auslegung die Anwendung der neuen Strafvorschrift des § 315d Abs. 1<br />

Nr. 3 StGB tragen.<br />

Hinweis:<br />

Nach Auffassung des OLG Stuttgart (a.a.O.) kann es sich auch bei einer sog. Polizeiflucht um ein Alleinrennen<br />

i:S.d. § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB handeln. Die Absicht, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, müsse<br />

nicht Haupt- oder Alleinbeweggrund für die Fahrt sein (so aber HECKER in: SCHÖNKE/SCHRÖDER, StGB, 30. Aufl.<br />

§ 315d Rn 3 und 9). Die Auffassung, die Verfolgungsjagd könne bei der Polizeiflucht nicht als Wettbewerb oder<br />

Leistungsprüfung eingestuft werden und unterliege deshalb nicht der Strafbarkeit nach § 315d Abs. 1 Nr. 3<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1027


Fach 22 R, Seite 1142<br />

Rechtsprechungsübersicht 2018/<strong>20<strong>19</strong></strong><br />

Strafrecht<br />

StGB, finde weder einen Anhalt im Wortlaut der Norm noch in der Gesetzesbegründung. Vielmehr sprächen<br />

diese wie auch der Sinn und Zweck der Vorschrift auch in Fällen der Polizeiflucht für eine Strafbarkeit nach<br />

§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB, soweit die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen im Einzelfall festgestellt<br />

werden können.<br />

Eine sog. Poserfahrt ist aber (noch) kein verbotenes Kraftfahrzeugrennen i.S.d. § 315d StGB (so OLG<br />

Hamburg, Beschl. v. 5.7.<strong>20<strong>19</strong></strong> – 2 RB 9/<strong>19</strong> – 3 Ss-OWi 91/18). Die Polizei hatte den Betroffenen<br />

beobachtet, als er mit seinem Audi R8 an einer roten Ampel neben einem Lotus Sport 135R stand und<br />

beide Fahrzeuge die Motoren aufheulen ließen. Als die Ampel Grün zeigte, fuhren beide Fahrzeuge mit<br />

hoher Drehzahl los. Dies wiederholten beide Fahrzeugführer an mehreren Ampeln hintereinander.<br />

Das AG hat darin die Teilnahme an einem illegalen Straßenrennen i.S.d. zur „Tatzeit“ geltenden § 29<br />

StVO a.F. gesehen.<br />

Das OLG (a.a.O.) hat das AG-Urteil aufgehoben. Das AG habe nicht berücksichtigt, dass es sich nicht<br />

zwingend um ein Straßenrennen, sondern insbesondere auch um eine Schaufahrt ohne kompetitiven<br />

Hintergrund gehandelt haben könnte, bei der es den Beteiligten nicht auf ein Kräftemessen mit ihren<br />

Fahrzeugen im eigentlichen Sinne ankam, sondern alleine darauf, durch ihre Fahrweise die Aufmerksamkeit<br />

von Passanten zu erheischen, um ihre Fahrzeuge optisch und akustisch voreinander oder vor<br />

anderen Verkehrsteilnehmern in Szene zu setzen und sich zu profilieren.<br />

Hinweis:<br />

Die Entscheidung ist zwar noch zur Vorgängervorschrift des § 315d StGB ergangen, nämlich zu § 29 StVO.<br />

Die Grundsätze lassen sich aber auf die Neuregelung übertragen.<br />

4. Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB)<br />

Ein zwei- bis dreimaliges Überfahren der Spurbegrenzungslinie auf einer Strecke von mehreren<br />

Kilometern mit einem problemlosen und zügigen Zurücklenken in die eigene Fahrspur stellen kein<br />

klassisches Schlangenlinienfahren dar. Dazu ist ein deutlich häufigeres Überfahren der Spurbegrenzungslinien<br />

sowie ein entweder sehr langsames oder ein ruckartiges Zurücklenken zu erwarten<br />

(AG Tiergarten, Urt. v. 31.8.2018 – 343 Cs 3034 Js 7166/18 [112/18], VRR 11/2018, <strong>19</strong> = StRR 11/2018, 21 = VA<br />

2018, 138). Nach dem dem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt war der Beschuldigte mit einer BAK<br />

von 0,92 Promille gefahren. Im Strafbefehl war die Fahruntüchtigkeit u.a. auch noch damit begründet<br />

worden, dass der Angeschuldigte vor den ihn kontrollieren wollenden Polizeibeamten geflohen sei und<br />

dabei mit lauten Motorengeräuschen, überhöhter Geschwindigkeit und fehlender Anzeige von Wendebzw.<br />

Abbiegemanöver gefahren sei. Das hat dem AG nicht gereicht. Denn das Verhalten können nicht<br />

mit der erforderlichen Sicherheit als alkoholbedingte Ausfallerscheinung gewertet werden. Wolle sich<br />

ein Kraftfahrer – aus welchen Gründen auch immer – einer Verkehrskontrolle entziehen und versuche<br />

er, einem Streifenwagen zu entfliehen, spreche das Fahren mit lauten Motorengeräuschen, überhöhter<br />

Geschwindigkeit und fehlender Anzeige von Wende- bzw. Abbiegemanöver nachvollziehbar für die<br />

Fluchtintention und nicht unbedingt auf eine Alkoholisierung (AG Tiergarten, a.a.O.). Nach Auffassung<br />

des AG Tiergarten (Urt. v. 6.11.2018 – [311 Cs] 3024 Js 6441/18 [145/18], VA <strong>20<strong>19</strong></strong>, 28), genügt es bei einer<br />

BAK von 0,88 Promille auch nicht die relative Fahruntüchtigkeit mit dem Gang und der Aussprache des<br />

Angeklagten zu begründen, wenn die herangezogene Gangart für den Angeklagten normal ist und die<br />

Aussprache auf die Herkunft des Angeklagten (Italien) zurückzuführen ist.<br />

1028 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1171<br />

Virtuelle Kanzlei und Zweigstelle<br />

Anwaltsbüro<br />

Die (virtuelle) Kanzlei und die Zweigstelle – Kanzleianschriften im digitalen<br />

Zeitalter<br />

Von Rechtsanwalt TOBIAS KIWITT, Wedel<br />

Inhalt<br />

I. Einleitung<br />

II. Begriffsbestimmungen<br />

1. Die Kanzlei (Hauptniederlassung)<br />

2. Die Zweigstelle (Nebenniederlassung)<br />

3. Die weitere Kanzlei<br />

4. Die virtuelle Kanzlei<br />

III. Rechtsschein im Berufs- und<br />

Wettbewerbsrecht<br />

1. Die Einordnung von Bürodienstleistungszentren<br />

2. Das Argument des digitalen Zeitalters<br />

3. „Beratungsbüros“ als Schaffung einer<br />

neuen Terminologie<br />

IV. Ausblick<br />

I. Einleitung<br />

Mit dem Wegfall des Zweigstellenverbots in § 28 BRAO a.F. (seit Inkrafttreten des „Gesetzes zur<br />

Stärkung der Selbstverwaltung der Rechtsanwaltschaft“ zum 1.6.2007, BGBl I, 358) sind „findige“<br />

Rechtsanwälte auf die Idee gekommen, Bürodienstleistungszentren in verschiedenen größeren Städten<br />

Deutschlands als Briefkastenanschriften anzumieten und sich dort eingehende Post an ihre Kanzlei<br />

nachschicken zu lassen. Dieser Beitrag ergründet, welche berufsrechtlichen und wettbewerbsrechtlichen<br />

Probleme sich bei virtuellen Büros stellen und gibt dazu einleitend eine Orientierung über die<br />

verschiedenen gesetzmäßigen Möglichkeiten der Kanzleistandortorganisation.<br />

II. Begriffsbestimmungen<br />

In seiner seit dem 18.5.2017 gültigen Fassung sieht § 27 BRAO folgende Kanzleiformen vor.<br />

1. Die Kanzlei (Hauptniederlassung)<br />

Die „Kanzlei“ i.S.v. § 27 Abs. 1 BRAO ist der Mittelpunkt der anwaltlichen Berufsausübung. Der Begriff<br />

der Kanzlei ist im Gesetz nicht definiert. Berufsrechtlich gilt die „Kanzlei“ als die berufliche Niederlassung<br />

eines Rechtsanwalts.<br />

Das Gesetz benennt die berufliche Niederlassung eines Rechtsanwalts nicht als Hauptstelle, Hauptkanzlei<br />

oder Hauptniederlassung, sondern einfach nur als „Kanzlei“. Dies mag dem Umstand geschuldet<br />

sein, dass der Gesetzgeber weiterhin von dem Regelfall ausgeht, dass ein Rechtsanwalt nur eine einzige<br />

Büroräumlichkeit hat.<br />

Im gegenwärtigen allgemeinen und juristischen Sprachgebrauch wird das Wort „Kanzlei“ vornehmlich<br />

zur Beschreibung der räumlichen Einheit gebraucht, von der aus ein Rechtsanwalt seinen Beruf<br />

ausübt (vgl. z.B. § 27 Abs. 1 BRAO), der den Mittelpunkt seiner Tätigkeit bildet, wo man ihn also<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1029


Fach 23, Seite 1172<br />

Virtuelle Kanzlei und Zweigstelle<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

während der üblichen Bürokernzeiten grundsätzlich antreffen kann, wenn er nicht berufs- oder<br />

erholungsbedingt ortsabwesend ist (Anwaltsgerichtshof Dresden, Beschl. v. 4.11.2004 – AGH 18/03 (II),<br />

BRAK-Mitteilungen 2005, 31 ff.).<br />

Der Rechtsanwalt unterhält dort eine Kanzlei, in der er für seine Mandanten, aber auch für Gerichte und<br />

Behörden erreichbar und ansprechbar ist (FEUERICH/WEYLAND, § 27 Rn 2; SIEGMUND, in: GAIER/WOLF/GÖCKEN,<br />

§ 27 BRAO Rn 21 ff.; KLEINE-COSACK, § 27 Rn 1). Er hat dort auch Mitglied der Rechtsanwaltskammer (RAK)<br />

zu sein. Man spricht hier sinnvollerweise von einer Hauptstelle oder Hauptniederlassung, wenn es<br />

daneben noch Zweigstellen (Zweigniederlassungen) gibt.<br />

Jeder Rechtsanwalt kann in seiner Person nur eine Hauptstelle für seine Kanzlei haben (Ausnahme ist<br />

die in § 27 Abs. 2 BRAO normierte „weitere Kanzlei“, die aber eine Sonderform, nämlich eine andere<br />

Kanzlei, ist. Dazu näher unter II. 3). Eine Berufsausübungsgemeinschaft kann aber natürlich auch<br />

mehrere Hauptstellen unterhalten, wenn einzelne ihr angehörende Berufsträger jeweils in anderen<br />

Räumlichkeiten für ihre Mandanten, für Gerichte und Behörden, erreichbar und ansprechbar sind.<br />

Bezeichnen mehrere, gleichgültig auf welcher rechtlichen Grundlage zu gemeinsamer Berufsausübung<br />

zusammengeschlossene Rechtsanwälte mehrere Orte als „Kanzleistandorte“, erwartet der Rechtsuchende<br />

an jedem dieser Orte eine organisatorisch selbstständige Betriebseinheit, die von mindestens<br />

einem Rechtsanwalt dergestalt geführt wird, dass – jedenfalls von außen betrachtet – dieser Ort der<br />

Mittelpunkt seiner beruflichen Tätigkeit ist und der Rechtsanwalt dort zu angemessenen Zeiten präsent<br />

ist (KG, Beschl. v. 14.8.2018 – 5 U 134/17, BRAK-Mitteilungen <strong>20<strong>19</strong></strong>, 145 [rkr.; die NZB wurde abgelehnt,<br />

BGH Beschl. v. 14.3.<strong>20<strong>19</strong></strong> – I ZR 167/18, K&R <strong>20<strong>19</strong></strong>, 401 ff.]).<br />

Das Gesetz unterscheidet in §§ 27 Abs. 2 BRAO, 5 BORA zwischen „Kanzlei“ und „Zweigstelle“, stellt aber<br />

seinerseits klar, dass der Rechtsanwalt an beiden Standorten die im Wesentlichen gleichen personellen<br />

und organisatorischen Voraussetzungen bereithalten muss. Sowohl Hauptniederlassung als auch<br />

Zweigniederlassung bilden zusammen eine Kanzlei im weiteren Sinne.<br />

Der Begriff Kanzlei in § 27 Abs. 1 BRAO, wonach der Rechtsanwalt verpflichtet ist, in dem Bezirk der<br />

RAK, in der er Mitglied ist, eine Kanzlei zu errichten und zu unterhalten, meint bei Vorliegen von<br />

Zweigniederlassungen die Hauptniederlassung.<br />

2. Die Zweigstelle (Nebenniederlassung)<br />

Denn die Zweigstelle (mitunter auch als „Zweigniederlassung“ oder „Nebenniederlassung“ bezeichnet)<br />

und die notwendigerweise vorhandene, aber vom Gesetz so nicht benannte Hauptstelle (bzw.<br />

Hauptniederlassung) werden jeweils als Niederlassungen der „Kanzlei im weiteren Sinne“ angesehen, die<br />

sich danach unterscheiden, in welcher der Rechtsanwalt seine berufliche Tätigkeit ihrem Schwerpunkt<br />

nach entfaltet (BGH NJW 2010, 3787; BGH GRUR 2012, 1275 – Zweigstellenbriefbogen, Rn 56).<br />

Die Zweigstelle ist ein weiterer Standort, der abhängig von der Hauptkanzlei geführt wird. Den für die<br />

Kanzlei nach §§ 27 BRAO, 5 BORA geltenden Anforderungen muss auch die Zweigstelle (§ 27 Abs. 2<br />

BRAO) grundsätzlich genügen.<br />

An die Zweigstelle werden genau die gleichen Anforderungen wie an eine Hauptniederlassung gestellt,<br />

mit dem Unterschied, dass der Rechtsanwalt dort nicht überwiegend während der üblichen Bürozeiten<br />

anzutreffen sein muss. Hauptniederlassungen als auch Zweigniederlassungen sind von der physischen<br />

Präsenz eines Berufsträgers abhängig, wobei die Zweigniederlassung aber der Ort ist, an den sich der<br />

Berufsträger nicht überwiegend aufhält.<br />

Genauso wenig wie an seiner Hauptniederlassung trifft ihn eine Pflicht, an seiner Zweigniederlassung<br />

weitere Mitarbeiter, etwa Rechtsanwaltsfachangestellte, zu beschäftigen. Eine Pflicht eines Rechtsanwalts,<br />

Mitarbeiter zu beschäftigen, sieht das Gesetz nicht vor.<br />

1030 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1173<br />

Virtuelle Kanzlei und Zweigstelle<br />

An der Zweigniederlassung muss aber eine gewisse Büroorganisation bereitgehalten werden, die<br />

auf eine Regelmäßigkeit der anwaltlichen Tätigkeit an dieser Adresse schließen lässt, wenngleich es<br />

keiner personellen Ausstattung durch Mitarbeiter an der Zweigstelle bedarf. Nach § 5 BORA ist der<br />

Rechtsanwalt verpflichtet, die für seine Berufsausübung erforderlichen sachlichen, personellen und<br />

organisatorischen Voraussetzungen in Kanzlei und Zweigstelle vorzuhalten. Das heißt auch an der<br />

Zweigniederlassung muss der Rechtsanwalt einen eigenständigen Büroraum, Telekommunikationsanschluss,<br />

Briefkasten und Kanzlei- oder zumindest Briefkastenschild aufweisen (die Pflicht zu einem<br />

Kanzleischild besteht an keinem Kanzleistandort, wenn ein Klingelschild und Briefkastenschild<br />

vorhanden sind, vgl. BGH, DtZ <strong>19</strong>95, 132). Er muss wenigstens zu festen Sprechtagen in seiner<br />

Zweigniederlassung auch persönlich anzutreffen sein (vgl. BGH, Urt. v. 13.9.2010 – AnwZ (P) 1/09, NJW<br />

2010, 3787, 3789). Die Räumlichkeit der Zweigstelle muss als solche klar erkennbar sein. Die Räumlichkeit<br />

muss als „Zweigstelle“ auf dem Kanzleischild deutlich sichtbar ausgewiesen werden. Anders als bei der<br />

Hauptstelle, ist also in jedem Fall ein Kanzleischild notwendig. Damit soll sichergestellt werden, dass der<br />

Besucher von vornherein weiß, dass es sich nur um eine Zweigstelle und nicht um die Hauptstelle der<br />

Kanzlei handelt.<br />

An eine Zweigstelle werden seit der Satzungsreform, die zum 1.1.2011 in Kraft trat, ansonsten die<br />

gleichen beruflichen Anforderungen wie an die Hauptkanzlei gestellt. Es muss nach § 5 BORA einen<br />

Mindestbestand an sachlichen, personellen und organisatorischen Voraussetzungen erfüllt sein. In<br />

organisatorischer Hinsicht meint dies, dass der Rechtsanwalt in den Räumlichkeiten eine normale<br />

Büroeinrichtung, eine juristische Einrichtung (Gesetze, Kommentare, wobei ein Zugriff mittels<br />

elektronischer Medien ausreicht) und Telekommunikationsmittel (Telefon, Telefax, Internet) aufweisen<br />

muss. Der entscheidende Unterschied zwischen Kanzlei und Zweigstelle ergibt sich allein aus<br />

dem Willen des Rechtsanwalts, der seine Kanzlei als den ersten Ort und die Anbindung an die<br />

zuständige RAK erklärt und jede Zweigstelle als einen weiteren Ort der Niederlassung ansieht<br />

(HENSSLER/PRÜTTING, BRAO Bundesrechtsanwaltsordnung, 5. Aufl. <strong>20<strong>19</strong></strong> Rn 23 zu § 5 BORA).<br />

Praxistipp:<br />

Die RAK überprüft nicht, in welchem Büro der Rechtsanwalt mehr Zeit verbringt. So kann ein Rechtsanwalt<br />

durchaus auch die Kanzlei zu seiner Hauptstelle machen, an der er sich im Gegensatz zur Zweigstelle zeitlich<br />

etwas weniger aufhält, solange die Diskrepanz der Zeit des Aufenthalts zwischen beiden Büros nicht auffällig<br />

stark auseinanderfällt und er die organisatorischen Voraussetzungen an beide Niederlassungen nicht erfüllt.<br />

Es reicht, wenn der Berufsträger dort regelmäßig zu festen Sprechtagen anzutreffen ist, wobei im<br />

Idealfall von einer mindestens wöchentlichen physischen Präsenz auszugehen sein dürfte. Doch dies ist<br />

in Rechtsprechung und Schrifttum nicht konkret definiert.<br />

Das KG verwendet dazu in einem obiter dictum zur Abgrenzung einer Zweigstelle von einer Hauptkanzlei<br />

den Begriff „bei Bedarf“ (KG, a.a.O.: „Orte, an denen ein Rechtsanwalt regelmäßig (nur) bei Bedarf anzutreffen<br />

ist, wäre nach dieser Definition Zweigstellen“). Es führt aus, dass der Rechtsanwalt dort eine Zweigstelle<br />

unterhalte, wo er sich „bei Bedarf“ physisch aufhalte. Eine genaue Definition, was unter „bei Bedarf“ zu<br />

verstehen ist, gibt auch das KG nicht.<br />

Es reicht mit Sicherheit jedenfalls nicht aus, wenn der Berufsträger nur in seltenen Ausnahmefällen dort<br />

physisch anwesend ist, z.B. einen potenziellen Neumandanten in einem Großmandat einmalig dort zu<br />

empfangen bereit ist und sonst über Jahre hinweg dort nie physisch präsent ist. Eine gewisse<br />

Beständigkeit und Verlässlichkeit muss erwartet werden können. Auch kann es nicht reichen, nur einmal<br />

jährlich oder einmal im Jahresquartal (wenngleich regelmäßig) vor Ort zu sein, da auch damit der<br />

Vorstellung, die Gepflogenheiten der örtlichen Behörden und Gerichte zu kennen und mit ihnen im<br />

Kontakt zu stehen, nicht gewährleistet werden kann (vgl. dazu FEUERICH/WEYLAND, § 27 Rn 2; SIEGMUND in:<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1031


Fach 23, Seite 1174<br />

Virtuelle Kanzlei und Zweigstelle<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

GAIER/WOLF/GÖCKEN, § 27 BRAO Rn 21 ff.; a.A. PRÜTTING in: HENSSLER/PRÜTTING, BRAO Rn 7 zu § 27 BRAO, der<br />

eine regelmäßige persönliche Anwesenheit des Rechtsanwalts weder in seiner Kanzlei, noch in seiner<br />

Zweigstelle für erforderlich hält).<br />

Mit der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft tritt der Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege (§ l BRAO)<br />

zugleich auch in ein besonderes Pflichtenverhältnis ein. Er übernimmt besondere Verpflichtungen<br />

und Verantwortlichkeiten für die Rechtspflege im demokratischen Gemeinwesen. Die Rechtsordnung<br />

stattet den Rechtsanwalt aus diesem Grunde auch mit besonderen Privilegien aus (Recht zur<br />

Verschwiegenheit, Akteneinsichtsrecht und Ähnliches). Er muss daher im Interesse einer funktionsfähigen<br />

Rechtspflege, an der mitzuwirken er als Organ der Rechtspflege verpflichtet ist, für Gerichte,<br />

Behörden und Rechtssuchende gleichermaßen erreichbar sein. Er kann sich dabei nicht darauf<br />

zurückziehen, dass es ausreiche, wenn er telefonisch oder schriftlich erreichbar sei, wenn er keine<br />

geeigneten Räumlichkeiten unterhält, in denen auch vertrauliche Gespräche geführt werden können<br />

(BVerfG, Beschl. v. 12.2.<strong>19</strong>86 – 1 BvR 1770/83, NJW <strong>19</strong>86, 1801).<br />

Dies kann auch bei einer Zweigstelle nicht anders sein, die nach § 5 BORA eben genau die gleichen<br />

Anforderungen an die sachlichen, personellen und organisatorischen Voraussetzungen erfordern, wie<br />

die Hauptniederlassung.<br />

Etwas anderes würde zudem gegen § 48 BRAO verstoßen. Denn ein Rechtsanwalt kann sich auch nicht<br />

darauf berufen, dass er gem. § 44 BRAO frei sei, Mandate abzulehnen und deswegen für Rechtsuchende<br />

physisch auch nicht erreichbar sein müsse. Diese Argumentation übersieht die Pflichten des Rechtsanwaltes,<br />

bestimmte Hilfeleistungen für Rechtssuchende im Interesse einer geordneten Rechtspflege<br />

sehr wohl übernehmen zu müssen (§ 48 BRAO). Der Anwalt ist verpflichtet, bei Antragung eines<br />

Mandats zunächst zu prüfen, ob er dieses tatsächlich ablehnen darf oder ob er ggf. im Einzelfall<br />

verpflichtet ist, nach § 48 BRAO die Vertretung zu übernehmen. Dies ist aber nur möglich, wenn er auch<br />

persönlich an der von ihm geführten Haupt- oder Zweigniederlassung erreichbar ist.<br />

Den Rechtsanwalt trifft aber keine Pflicht, anders als es bei seiner Hauptniederlassung der Fall ist, die<br />

Zweigniederlassung in seinem Briefbogen anzugeben (BGH NJW 2010, 3787; BGH GRUR 2012, 1275).<br />

Umgekehrt muss er jedoch, sofern er es doch tut, seine Hauptniederlassung stets als solche kenntlich<br />

machen und Klarheit schaffen, welche seine Haupt- und welche seine Zweigniederlassung ist. Dies<br />

resultiert aus der Kanzleipflicht aus §§ 29 Abs. 1, 27 Abs. 1 BRAO.<br />

Diese Kenntlichmachung kann auch u.U. schon dadurch geschehen, in dem er deutlich angibt (sofern<br />

für Hauptniederlassung und Zweigniederlassung verschiedene Rechtsanwaltskammern zuständig<br />

wären), welcher RAK er angehört. Bei der Verwendung eines einheitlichen Briefbogens muss<br />

jedenfalls klar erkennbar sein, wo der Hauptsitz der Kanzlei ist. Zwar bedarf es keiner Hervorhebung<br />

etwa durch Fettdruck, doch muss sich aus dem Briefbogen ergeben, welcher der Hauptsitz ist. § 10<br />

BORA wurde mit Wirkung zum 1.11.2013 neu gefasst. Darin ist klargestellt, dass jeder Rechtsanwalt<br />

seine Hauptkanzleianschrift auf jedem Briefbogen – also auch auf dem der Zweigstelle – aufführen<br />

muss. Die Satzungsversammlung wollte sichergestellt sehen, dass der Rechtssuchende über die<br />

aufgeführte Anschrift ermitteln kann, welche RAK die Berufsaufsicht über den jeweiligen Rechtsanwalt<br />

ausübt. Der Rechtsanwalt ist jedoch nicht verpflichtet, sämtliche Zweigstellen auf seinem<br />

Briefbogen aufzuführen.<br />

An den Anforderungen für die Zweigniederlassung ändert auch die Aufhebung des § 28 BRAO a.F.<br />

(Zweigstellenverbot) nichts, denn sie ist nur Resultat der Aufhebung des Lokalisationsgebots. Der<br />

Gesetzgeber hat aber die Aufhebung des Lokalisationsgebots gerade nicht zum Anlass genommen,<br />

die Kanzleipflicht abzuschaffen oder die Einrichtung von Zweigstellen von allen beschränkenden<br />

Regelungen freizustellen.<br />

1032 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1175<br />

Virtuelle Kanzlei und Zweigstelle<br />

Eine Zweigstelle richtet der Rechtsanwalt deshalb ein, weil er mit Gerichten und Behörden sowie mit<br />

seinen vorhandenen und zu gewinnenden Mandanten nicht nur von einer Hauptkanzlei in Kontakt<br />

treten möchte, sondern zusätzlich auch von einem anderen Ort. Häufig ist es so, dass der Rechtsanwalt<br />

sich z.B. privat in verschiedenen Regionen aufhält und seine Arbeitsorganisation dadurch erleichtert<br />

wird, auch an seinem Zweitwohnsitz ein Büro zu unterhalten.<br />

Dies verbietet ihm das Gesetz seit der Aufhebung von § 28 BRAO a.F. nicht mehr, aber das Gesetz hält –<br />

mit gutem Grund – daran fest, dass der Rechtsanwalt dann auch sicherstellen muss, dass er von dieser<br />

Niederlassung auch von Gerichten, Behörden und Mandaten angesprochen werden kann, d.h. dort auch<br />

regelmäßig präsent ist.<br />

Denn die Zweigniederlassung ist nichts anderes als die Hauptniederlassung, nur dass der Rechtsanwalt<br />

selbst festlegt, an welcher der beiden Standorte er seinen beruflichen Mittelpunkt hat. Hält er sich an<br />

beiden Niederlassungen ungefähr die gleich lange Arbeitszeit auf, darf er selbst durch einfache Anzeige<br />

an die RAK bestimmen, welche Niederlassung jeweils eine Hauptniederlassung ist und welche die<br />

Zweigniederlassung ist, ohne dass das an bestimmte sachliche Voraussetzungen geknüpft wäre.<br />

Der Anwaltsgerichtshof Dresden (a.a.O., BRAK-Mitteilungen 2005, 31 ff.) hat zum Erfordernis der<br />

Anwesenheit eines Rechtsanwalts ausgeführt, dass es nicht überflüssig ist, dass es für all diejenigen, die<br />

mit einem Rechtsanwalt in Kontakt treten wollen, eine (orts-)feste Anlaufstelle gibt. Im Anwaltsverkehr<br />

gibt es typischerweise Vorgänge, bei denen Schriftstücke zugestellt, Unterlagen übergeben oder<br />

persönliche Vorsprachen erforderlich werden. Das macht es erforderlich, dass der Anwalt zwar nicht<br />

ständig persönlich anwesend ist. Zu verlangen ist aber ein Mindestmaß an Kommunikation und<br />

Erreichbarkeit und damit eine ausreichende Kennzeichnung und sachliche und persönliche Ausstattung,<br />

um derartige Anliegen des Rechtsverkehrs entgegenzukommen.<br />

Das wird von solchen Kanzleien verkannt, die sich gerne als Hauptniederlassung eine renommierte<br />

Anschrift (z.B. Kurfürstendamm oder Unter den Linden in Berlin, Königsallee in Düsseldorf) „zulegen“,<br />

aber tatsächlich ihren beruflichen Mittelpunkt an einer ganz anderen Anschrift haben. Hier steht der<br />

äußere Rechtsschein und das Marketinginteresse ggü. Neumandanten im Mittelpunkt des anwaltlichen<br />

Treibens, aber nicht die Praxiswirklichkeit. Ein Bewusstsein zur Täuschung der Öffentlichkeit kann hier<br />

indiziert werden. Rechtsanwaltskammern, jedenfalls die Berliner RAK, tun sich bislang jedoch schwer<br />

damit, gegen solche Irreführungen berufsrechtlich vorzugehen, da es ihnen Rechercheaufwand<br />

abverlangt, wieviel Zeit ein Rechtsanwalt in welchem Büro verbringt.<br />

Für die Einrichtung einer Zweigniederlassung ist auch die jeweilige RAK zu informieren. Liegt die<br />

Zweigniederlassung im Bezirk einer anderen RAK ist neben der eigenen RAK auch gegenüber der RAK<br />

anzuzeigen, in deren Bezirk die Zweigniederlassung errichtet wird.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen: Eine Kanzlei ist der Mittelpunkt der anwaltlichen Berufsausübung,<br />

also der Ort, in der alle Arbeitsabläufe für eine optimale Betreuung der eigenen Mandanten<br />

zusammenlaufen. Und eine Zweigstelle ist nicht nur ein Ort, an dem der Rechtsanwalt ohne Kontakt<br />

nach außen ähnlich wie in einer Gerichtsbibliothek seiner anwaltlichen Tätigkeit nachgeht, die örtlich<br />

an seiner Hauptkanzlei konzentriert bleibt (BGH a.a.O., NJW 2010, 3787, 3789).<br />

3. Die weitere Kanzlei<br />

Neu ist in § 27 Abs. 2 BRAO geregelt, dass der Rechtsanwalt eine weitere Kanzlei unterhalten darf.<br />

Gemeint ist eine weitere selbstständige Kanzlei. Um eine weitere Kanzlei i.S.v. § 27 Abs. 2 BRAO handelt<br />

es sich, wenn die von einem Rechtsanwalt neben der in der Zulassungskanzlei ausgeübten Tätigkeit<br />

entfaltete Berufsausübung nicht von der Zulassungskanzlei (Hauptkanzlei) abhängig und an diese<br />

angegliedert ist, sondern der eigenständigen, von der Zulassungskanzlei rechtlich unabhängigen<br />

anwaltlichen Berufsausübung dient (BT-Drucks 18/9521, S. 103).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1033


Fach 23, Seite 1176<br />

Virtuelle Kanzlei und Zweigstelle<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Unterhält er etwa in einer Stadt eine Berufsausübungsgemeinschaft und errichtet er in einer anderen<br />

Stadt als Einzelanwalt eine weitere Kanzlei, so ist ihm dies erlaubt. Die Folge ist, dass er unter zwei<br />

verschiedenen Rechtspersönlichkeiten auftritt und für jede Kanzlei auch Mitglied der jeweils örtlichen<br />

RAK sein muss. Er muss an jeden der Kanzleistandorte eine Kanzlei einrichten und unterhalten.<br />

Der Fall verschiedener Rechtspersönlichkeiten dürfte der Hauptgrund sein, sich in dieser Form beruflich<br />

mit einer „weiteren Kanzlei“ zu betätigen. Denkbar ist aber auch, als Einzelanwalt unter verschiedenen<br />

Kanzleinamen jeweils eine Kanzlei in verschiedenen Städten zu betreiben, die voneinander unabhängig<br />

sind. Letzteres dürfte aber eher selten vorkommen, ist aber denkbar, wenn er in einer Stadt zu einem<br />

ganz bestimmten Rechtsgebiet arbeiten möchte und in einer anderen Kanzlei in einer anderen Stadt<br />

vorrangig zu einem anderen Rechtsgebiet, und dies in seinem Kanzleinamen deutlich werden soll. Denn<br />

der Rechtsanwalt ist nicht mehr verpflichtet, seine Kanzlei nach seinem eigenen Personennamen zu<br />

benennen, sondern kann auch Kunstnamen und eigene Markennamen für seine Kanzlei kreieren.<br />

4. Die virtuelle Kanzlei<br />

Nach alledem ist die Errichtung einer virtuellen Kanzlei, einer Telekanzlei (Cyper-Kanzlei), ausnahmslos<br />

nach § 27 BRAO untersagt (PRÜTTING führt in HENSSLER/PRÜTTING, BRAO, 5. Aufl., Rn 6 zu § 27 BRAO<br />

aus, dass eine Telekanzlei derzeit den Anforderungen von § 27 BRAO noch nicht erfülle, ohne diese<br />

zeitbezogene Ansicht näher zu begründen). Eine reine Briefkastenanschrift, also die postalische<br />

Erreichbarkeit ohne eigene Räumlichkeit, stellt keine zulässige Kanzlei dar. Ebenso wenig ist das bloße<br />

Bestehen eines Telekommunikationsanschlusses, der eine Anruf oder ein Telefax an einen anderen Ort<br />

weiterleitet, keine Kanzlei. Eine virtuelle Kanzlei oder Telekanzlei genügt den Anforderungen des § 27<br />

BRAO nicht (vgl. dazu auch PRÜTTING, AnwBl 2011, 46, 47).<br />

III.<br />

Rechtsschein im Berufs- und Wettbewerbsrecht<br />

1. Die Einordnung von Bürodienstleistungszentren<br />

Anschriften in Bürodienstleistungszentren sind vereinzelt ein charmanter Versuch, das Prinzip einer<br />

Briefkastenfirma auf die Verhältnisse einer Rechtsanwaltsausübung zu übertragen.<br />

Das einfache Aufstellen von Briefkästen, so wie wir es von typischen legalen Briefkastenfirmen<br />

kennen (die illegale Begehungsform von Briefkästen in nicht selten steuerbegünstigten Ländern sollen<br />

hier erst gar nicht thematisiert werden), ist nach § 27 Abs. 1 BRAO für Rechtsanwälte in jedem Fall<br />

untersagt. Der Rechtsanwalt muss jedenfalls seiner Kanzleipflicht nachkommen. Die Kanzleipflicht<br />

dient dazu, die Erreichbarkeit des Anwalts für das rechtsuchende Publikum, Berufskollegen, Gerichte<br />

und Behörden sicherzustellen. Von einer Kanzlei im Rechtssinne kann daher nur bei Vorhandensein<br />

organisatorischer Maßnahmen gesprochen werden, die der Öffentlichkeit den Willen des Anwalts<br />

offenbaren, anwaltliche Dienstleistungen bereitzustellen (BGH, Beschl. v. 20.10.2014 – AnwZ (Brfg)<br />

32/13, BeckRS 2014, 20924 Rn 11; BGH, Beschl. v. 6.7.2009 – AnwZ (B) 26/09, NJW-RR 2009, 1577 Rn 5).<br />

Der Rechtsanwalt muss dem rechtsuchenden Publikum in den Praxisräumen zu angemessenen Zeiten<br />

für anwaltliche Dienste zur Verfügung stehen (BGH, Beschl. v. 6.7.2009 a.a.O.). Letzteres ist nicht der<br />

Fall, wenn die Praxisräume zur Wahrung anwaltlicher Pflichten – wie der Verschwiegenheitspflicht<br />

gem § 43a Abs. 2 BRAO – ungeeignet sind (vgl. hierzu SIEGMUND in: GAIER/WOLF/GÖCKEN, Anwaltliches<br />

Berufsrecht, 2. Aufl., § 27 BRAO Rn <strong>19</strong>).<br />

Grundsätzlich keine Bedenken stellen sich, wenn ein Rechtsanwalt seine Kanzlei i.S.v. § 27 Abs. 1 BRAO in<br />

die Räumlichkeiten eines Bürodienstleistungscenters legt. Die sich damit weiter stellenden Probleme in<br />

den Bereichen des Datenschutzes und/oder anwaltlichen Verschwiegenheit und/oder Verbot der<br />

Vertretung widerstreitender Interessen, müssen dabei natürlich beachtet werden. Denn er bedient sich<br />

letztlich der Infrastruktur eines Dritten. So ist eine berufliche Zusammenarbeit mit anderen Berufen nur<br />

dann nach § 30 BORA und § 59a BRAO möglich, wenn diese auch das anwaltliche Berufsrecht beachten.<br />

1034 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1177<br />

Virtuelle Kanzlei und Zweigstelle<br />

Es kommt also immer entscheidend darauf an, wie ein Bürodienstleistungszentrum für die Ausübung<br />

der eigenen anwaltlichen Tätigkeit genutzt wird. Gilt sie nur als eine Briefkastenanschrift und finden<br />

Rufumleitungen von dort aus statt, handelt es sich um eine unzulässige Kanzlei nach § 27 BRAO.<br />

Es ist in jedem Fall berufsrechtswidrig und wettbewerbswidrig (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 UWG), wenn ein<br />

Rechtsanwalt Anschriften an Bürodienstleistungszentren anmietet, dort aber nicht physisch präsent ist,<br />

diese aber als „Kanzleistandort“ bzw. „Zweigstelle“ bezeichnet.<br />

Bereits das Anwaltsgericht Hamburg hatte mit Entscheidung vom 28.5.2015 (I AnwG 2/15) in einem Fall<br />

eine irreführende Werbung gesehen, in dem eine Kanzlei an insgesamt sieben norddeutschen Orten<br />

jeweils einen „Standort“ behauptete. In den Entscheidungsgründen heißt es:<br />

„Betrachtet man die einzelnen „Standorte“ genauer, so stellt man fest, dass es sich nur bei der Niederlassung in<br />

Hamburg um eine eigenständige Kanzlei handelt. An den anderen Orten werden lediglich Besprechungsräumlichkeiten<br />

vorgehalten, was aber erst bei genauem Studium der Homepage auffällt. Der Rechtsuchende<br />

wird unter der Bezeichnung „Standort“ sowie dem Angebot einer entsprechenden Rechtsberatung vor Ort,<br />

jedoch regelmäßig eine Kanzlei oder zumindest ein von einem Anwalt besetztes Büro erwarten. Die Bezeichnung<br />

als „Standort“ ist damit irreführend. Mit dieser Werbung wird eine Größe und Tätigkeit der Kanzlei des<br />

Rechtsanwalts vermittelt, die tatsächlich so nicht besteht.“<br />

Das KG (a.a.O.) hatte jüngst über einen solchen Fall auch wettbewerbsrechtlich zu entscheiden. Ein<br />

Einzelrechtsanwalt, der sich der Hilfe von zwei bis vier freien Mitarbeitern bedient, verwendete einen<br />

Briefbogen und einen Internetauftritt, in dem er über 30 „Kanzleistandorte“ angab. Überwiegend<br />

handelte es sich dabei um Anschriften von Büro-Dienstleistungszentren, so etwa in Hamburg,<br />

Stuttgart und Bielefeld, bei denen er gegen Zahlung von ungefähr 200 € monatlich eine Postanschrift<br />

angemietet hat. Es haben sich vielfältige Anbieter für virtuelle Büros auf dem Markt angesiedelt, etwa<br />

die Firmen Regus, Ecos oder AllOfficeCenters, die damit werben, „Geschäftspartner und Kunden mit einer<br />

repräsentativen Geschäftsadresse zu beeindrucken“ (vgl. https://www.allofficecenters.de/de/virtuelles-buero<br />

[abgerufen am 24.9.<strong>20<strong>19</strong></strong>]). Dort eingehende Post wird dem Rechtsanwalt an seine Kanzlei nach<br />

Düsseldorf nachgeschickt. Überwiegend gab er als Telefonnummer bei diesen Anschriften eine<br />

einheitliche 0800-Telefonnummer an oder arbeitete mit Rufumleitungen, die von solchen Bürodienstleistungszentren<br />

mitunter ebenfalls angeboten werden.<br />

An dem jeweiligen Bürodienstleistungszentrum kann gegen zusätzliches monatliches Entgelt ein<br />

Kanzleischild am Eingang angebracht werden. Am Empfangstresen befindet sich eine Mitarbeiterin<br />

des Bürodienstleistungszentrums, die zugleich auch eingehende Post anderer Mitmieter annimmt.<br />

Persönlich anwesend ist der Rechtsanwalt oder einer seiner Mitarbeiter dort aber nicht. Eigene nur für<br />

ihn bestimmte abschließbare Büroräumlichkeiten, in denen vertrauliche Informationen gelagert<br />

werden können, bestehen auch nicht.<br />

Diese Konstellation ist auch aus Gründen der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht (§ 2 BORA) sehr<br />

bedenklich. Nach § 43e Abs. 3 BRAO bedarf es einer Verschwiegenheitsverpflichtung des Dienstleisters<br />

in Textform (§ 126b BGB), in der über die strafrechtlichen Folgen einer Pflichtverletzung zur<br />

Verschwiegenheit belehrt werden muss. Die Nichteinhaltung der Verschwiegenheitspflicht von § 203<br />

Abs. 4 S. 1 StGB, wonach der Rechtsanwalt gem. § 203 Abs. 1 StGB mit einer Freiheitsstrafe bis zu<br />

einem Jahr oder Geldstrafe bestraft wird, hat gem. § 203 Abs. 4 S. 1 StGB ebenso strafrechtliche Folgen<br />

für den Dienstleister als „mitwirkende Person“. Auch er kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr<br />

oder Geldstrafe bestraft werden. Der Rechtsanwalt hat ihn hierüber aufzuklären.<br />

Die Wettbewerbswidrigkeit, solche Anschriften als „Kanzleistandort“ zu bezeichnen, steht diesem<br />

Konstrukt schon geradezu auf der Stirn geschrieben. Das KG dazu (a.a.O.): „Der Begriff ‚Standort‘ vermittelt<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1035


Fach 23, Seite 1178<br />

Virtuelle Kanzlei und Zweigstelle<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Präsenz und Statik. Er ist mit dem Bild eines nur nach Terminsvereinbarung mit dem Mandanten anreisenden<br />

Rechtsanwalts oder eines Rechtsanwalts, der nur über Telekommunikationsmittel mit Mandant und Gericht<br />

Kontakt hält, nicht in Einklang zu bringen.“<br />

Daran ändert auch die Entwicklung moderner Telekommunikationsmittel nichts. Das Kammergericht<br />

Berlin dazu weiter: „Die Arbeitsweise einiger Rechtsanwälte mag sich infolge dieser Entwicklung so verändert<br />

haben, dass sie den notwendigen Informationsaustausch mit Mandanten und Mitarbeitern auf elektronischem<br />

Weg regeln. Der Regelfall, den der Durchschnittsverbraucher aufgrund eigener Erfahrungen, aber auch durch<br />

Darstellungen in z.B. Fernsehfilmen und -serien kennt, zeichnet sich aber durch ein persönliches Gespräch nach<br />

Vereinbarung eines Termins in Räumen aus, in denen der Rechtsanwalt nicht nur eine Sprechstunde abhält, zu der<br />

er eigens anreist.“<br />

Um eine Kanzlei nach § 27 Abs. 1 BRAO handelt es nicht und auch von einer „weiteren Kanzlei“ nach § 27<br />

Abs. 2 BRAO kann keine Rede sein. Auch als Zweigstelle kann solch eine Konstruktion nicht bezeichnet<br />

werden, da diese Postanschriften nicht von der Hauptkanzlei organisatorisch abhängen und keine<br />

physische Präsenz von Berufsträgern dort in gewisser Beständigkeit vorliegt.<br />

Die Zweigniederlassung unterscheidet sich von der Hauptniederlassung nur dadurch, dass der<br />

Rechtsanwalt dort nicht überwiegend personell anwesend ist. Er muss aber auch dort regelmäßig<br />

physisch präsent sein. § 5 BORA stellt zwischen „Kanzlei“ und „Zweigstelle“ klar, dass der Rechtsanwalt<br />

an beiden Standorten die im Wesentlichen gleichen personellen und organisatorischen Voraussetzungen<br />

bereithalten muss.<br />

Dies ist bei einer derartigen einfachen Postannahmesituation über ein Bürodienstleistungszentrum<br />

nicht der Fall.<br />

2. Das Argument des digitalen Zeitalters<br />

Im prognostizierten Zeitalter von Legal Tech sind auch virtuelle Kanzleien (mitunter auch<br />

„Telekanzleien“ genannt, so etwa PRÜTTING, AnwBl 2011, 46, 47) in vieler Munde. Einher geht mit dieser<br />

Argumentation häufig die Forderung, den Kanzleibegriff aus § 27 Abs. 1 BRAO weiter aufzuweichen oder<br />

gar fallen zu lassen. Man hört in solchen Fällen, dass die BRAO nicht mehr up to date und noch das letzte<br />

Relikt des abgeschafften Lokalisationsgebots aus § 28 BRAO a.F. sei (so etwa von MÖLLENDORF in:<br />

Kanzleipflicht und Digitalisierung: Das Kanzleischild hat ausgedient, zu finden unter https://www.lto.de/<br />

recht/juristen/b/digitalisierung-kanzlei-kanzleipflicht-liberalisierung-anwaltsberuf/).<br />

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Von einem letzten Relikt vergangener Zeiten zu sprechen,<br />

verkennt den Umstand, dass der Gesetzgeber in § 27 Abs. 1 BRAO bewusst die Kanzleipflicht nicht<br />

abgeschafft hat.<br />

Die heutige Praxiswirklichkeit bedeutet zwar nicht mehr, dass ein Rechtsanwalt nur noch an seinem<br />

Schreibtisch vor einer Wand von Büchern sitzt und dort seinen Mandanten empfängt. Natürlich haben<br />

längst Online-Rechtsberatungen ihren Weg in die anwaltliche Tätigkeit gefunden. Mitunter wird der<br />

Rechtsanwalt sogar schon durch Maschinen im Rahmen von Legal Tech abgelöst. Doch spätestens<br />

dann, wenn sich dem Mandanten die Frage stellt, wer eigentlich für die falsche anwaltliche Beratung<br />

haftet, bedarf es eine Person, die zuständig ist. Es ist ein Irrglaube zu meinen, in einer digitalisierten<br />

Welt bedürfe es keiner persönlichen Erreichbarkeiten von Verantwortlichen. Das Gegenteil ist der<br />

Fall. Je weiter die Digitalisierungsmöglichkeiten voranschreiten, umso wichtiger wird es werden,<br />

klare persönliche Verantwortlichkeiten ausmachen zu können. Ein Verantwortlicher, der nach dem<br />

Impressum auf den Bahamas sitzt, wird dem einzelnen Rechtssuchenden jedenfalls keine Verlässlichkeit<br />

bieten können. Ein Rechtsanwalt, dessen fester Anschriftenbezugspunkt nicht bekannt ist oder erst<br />

durch Abfragen bei Einwohnermeldebehörden ermittelt werden muss, stellt z.B. für rechtswirksame<br />

Zustellungen und den Vertrauensschutz der Öffentlichkeit eine Gefahr für die Gewährleistung der<br />

Rechtspflege dar. Das Gleiche gilt für Rechtsanwälte, die zwar eine Anschrift angeben, dort eingehende<br />

1036 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1179<br />

Virtuelle Kanzlei und Zweigstelle<br />

Post jedoch nicht zustellbar ist und der Rechtsanwalt dort auch nicht anzutreffen ist (so Anwaltsgerichtshof<br />

Dresden, Beschl. v. 4.11.2004 – AGH 18/03 (II), BRAK-Mitteilungen 2005, 31 ff.) Die<br />

allgemeine Internationalisierung und Globalisierung des Wirtschaftsverkehrs und die Tatsache, dass der<br />

Rechtsanwalt seinen Geschäften immer häufiger außerhalb seines Kanzleisitzes nachgeht, macht eine<br />

ortsfeste Anlaufstelle sogar umso wichtiger und notwendiger.<br />

Das ändert nichts daran, dass Rechtsanwälte auch klassische Hausbesuche ableisten dürfen und sich<br />

online, etwa über Skype, mit Mandanten unterhalten dürfen. Sie müssen auch die Bearbeitung ihrer<br />

Akten nicht stets in ihren benannten Räumlichkeiten erledigen, sondern können auch im Homeoffice<br />

bestimmte Schriftsätze verfassen oder auf Bahnfahrten ihr Notebook mitnehmen. Doch es bedarf eines<br />

festen Bezugspunkts, über den der Rechtsanwalt gewöhnlich erreichbar ist.<br />

Wenn der Rechtsanwalt von Gerichten und Behörden etwa Akteneinsicht für z.B. zwei Tage in eine Akte<br />

erhält, muss auch gewährleistet werden, dass sie rechtzeitig wieder zurückgeschickt werden kann.<br />

Wenn sie aber zunächst erst noch von einem Bürodienstleistungszentrum weiter an die Kanzlei des<br />

Rechtsanwalts geschickt werden muss, wird die Rechtspflege erschwert oder u.U. sogar gefährdet.<br />

Akten, die verloren gehen oder verzögert zugestellt werden und damit behördliche bzw. gerichtliche<br />

Entscheidungen verzögern, stehen solchen Konstruktionen entgegen. Eine geordnete und effektive<br />

Rechtspflege wird gehindert.<br />

Daran ändert auch die Möglichkeit des elektronischen Rechtsverkehrs (ERV), etwa in Form der<br />

elektronischen behördlichen Akte (beA) nichts. Der elektronische Rechtsverkehr erleichtert dem<br />

Rechtsanwalt zwar den Austausch von Dokumenten über weitere Entfernungen hinweg, aber ändert<br />

spätestens an der Übermittlung von Originalunterlagen und Beweisstücken, Asservaten und Gerichtsakten<br />

nichts. Auch beeinflusst die Entwicklung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA)<br />

nicht das Verkehrsverständnis. Wenn dessen Entwicklung und Existenz dem Durchschnittsverbraucher<br />

überhaupt zur Kenntnis gelangt ist, dann am ehesten aufgrund der mehrmonatigen Abschaltung wegen<br />

Sicherheitsproblemen (so das KG a.a.O.). Unabhängig davon wird die Kommunikation mit dem<br />

Mandanten nie ausschließlich elektronisch möglich sein. Mandanten reichen etwa Beweisstücke ein.<br />

Andere sind nicht in der Lage, elektronisch zu kommunizieren. Auch lassen sich viele gerade<br />

schwierigere Mandantengespräche nur optimal im persönlichen Gespräch während einer gemeinsamen<br />

Sprechstunde am gleichen Ort, in einer die Vertraulichkeit wahrenden Räumlichkeit, führen. Eine seriöse<br />

Besprechung zwischen Anwalt und Mandant kann in einer Vielzahl von Mandaten nur im persönlichen<br />

Gespräch bei physischem Gegenübersitzen ermöglicht werden.<br />

Ausschließlich elektronisch zu kommunizieren, schließt auch hilfebedürftige Mandanten aus. Das<br />

Internet schafft es nie vollends, barrierefrei etwa für behinderte Menschen, Kommunikation und<br />

verlässliche Rechtsberatung möglich zu machen.<br />

Die Notwendigkeit des persönlichen und vertraulichen Mandantengesprächs gilt umso mehr bei<br />

komplexen Sachverhalten, wie im Bau- und Architektenrecht, dem Medizinrecht, dem Asyl- und<br />

Migrationsrecht, dem Gesellschaftsrecht oder dem Strafrecht.<br />

Dies ändert doch nichts daran, dass manche Rechtsgebiete sich auch über weitere örtliche<br />

Entfernungen mit dem Mandanten klären lassen oder es sogar Beratungen in einem ruhigen Café<br />

um die Ecke bei einfach gelagerten Fällen, möglich sein könnten. Die Kanzleipflicht geht jedoch auch<br />

damit einher, Vertrauen in die Beständigkeit und Erreichbarkeit des Rechtsanwalts zu gewährleisten.<br />

Der Rechtsanwalt hat besonders viel mit wichtigen behördlichen und gerichtlichen Zustellungen<br />

zu tun. Er hat es besonders viel mit Telefonaten von Mandanten oder dessen Streitgegnern zu<br />

tun. Für diese muss er ansprechbar und ohne Umwege erreichbar sein, wenn eine zuverlässige und<br />

gewissenhafte Mandatsbearbeitung gewährleistet werden soll.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1037


Fach 23, Seite 1180<br />

Virtuelle Kanzlei und Zweigstelle<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Der Hauptkritikpunkt an Bürodienstleistungszentren, die einzig zur Annahme und Weiterverschickung<br />

von eingehender Post beauftragt werden, ist aber gerade im digitalen Zeitalter so aktuell wie nie zuvor.<br />

Wenn es doch heute technisch so einfach ist wie noch nie, mit Mandanten in die Kommunikation zu<br />

treten, so bedarf es umso mehr einer Verlässlichkeit für den Mandanten, zu wissen, wo er seinen<br />

Rechtsanwalt auch physisch erreicht.<br />

Die Anmietung von Bürodienstleistungszentren als Briefkastenanschrift dient nicht dem Servicegedanken<br />

des Mandanten. Gerade im digitalen Zeitalter wäre eine solche Rechtfertigung fernliegend. Sie<br />

dient vielmehr einzig dazu, nach außen ggü. potenziellen neuen Mandanten eine Größe und örtliche<br />

Präsenz vorzuspiegeln, die tatsächlich aber nicht besteht. Die Kritik an solchen Konstruktionen ist nicht,<br />

dass der Rechtsanwalt jedenfalls in manchen Rechtsbereichen nicht auch über weitere örtliche<br />

Entfernungen hinweg eine Rechtsberatung erteilen könnte. Sondern die Kritik an solchen Konstruktionen<br />

ist gerade vornehmlich der Schutz der Öffentlichkeit vor dem falschen Glauben, wo er<br />

seinen Rechtsanwalt antreffen könne. Wer sich sehenden Auges einen weit entfernten Rechtsanwalt<br />

anvertraut, kann dies tun. Niemand wird daran gehindert, im Internet nach einem Rechtsanwalt in einer<br />

anderen Stadt zu suchen und ihn zu beauftragen, ohne ihn jemals getroffen zu haben. Ob dies aus<br />

Mandantensicht sinnvoll ist, darf in vielen Fällen bezweifelt werden, soll aber hier nicht bewertet<br />

werden.<br />

Die geschäftliche Entscheidung, vor der der Rechtssuchende geschützt werden soll, ist die Kontaktaufnahme<br />

mit dem Rechtsanwalt in den durch die Werbung des Rechtsanwalts hervorgerufenen irrigen<br />

Vorstellungen. Ob die Fehlvorstellungen nach der Kontaktaufnahme im Gespräch mit dem Rechtsanwalt<br />

ausgeräumt werden, ist damit nicht beachtlich (KG a.a.O.).<br />

Auch eine virtuelle Kanzlei muss irgendwo einen festen Ankerpunkt, eine feste Kanzleianschrift haben,<br />

über die der Rechtsanwalt erreichbar ist und an dessen Gerichtsort er Mitglied der RAK ist. Es muss klare<br />

Orientierungen auch für die Berufsaufsicht geben. Das ändert nichts daran, dass er von dort aus auch<br />

online und über Telekommunikationswege anwaltlich tätig sein kann. Eine virtuelle Kanzlei, die im<br />

luftleeren Raum schwebt, d.h. einem Rechtsanwalt seine Berufsausübung von allen Orten der Welt<br />

ohne jegliche Gebundenheit zu einer festen Kanzleiräumlichkeit ermöglicht, ist ein Irrglaube. Der<br />

Rechtsanwalt dient der Rechtspflege und bedarf dazu auch eines festen Bezugspunkts, die denklogisch<br />

nur in einer Kanzleipflicht begründet liegen kann.<br />

Die Prognose von PRÜTTING (PRÜTTING, AnwBl 2011, 46, 47.), dass langfristig die Vorstellung eines räumlich<br />

erreichbaren Kanzleiorts durch die Möglichkeiten der Digitalisierung überholt sei, verkennt, dass gerade<br />

auch eine sog. reine Telekanzlei ebenso wie jede andere Kanzlei einen festen örtlichen Bezugspunkt<br />

braucht. Ist eine Anschrift nicht bekannt, kann eine Person auch nicht verklagt werden. Daran ändern<br />

auch die Möglichkeiten des elektronischen Anwaltspostfachs nichts. Klageschriften werden stets auch<br />

zur Konkretisierung der bevollmächtigten Person klare Anschriften des Prozessbevollmächtigten im<br />

Rubrum benötigen. Wird eine Anwaltskanzlei von einem Mandanten verklagt, braucht sie eine Anschrift.<br />

Die ZPO ermöglicht zwar, einen rein elektronischen Prozess zu führen mit elektronischer<br />

Einreichung von Schriftsätzen und Zustellungen, mit mündlicher Verhandlung durch Videokonferenz,<br />

mit elektronischem Protokoll und Aktenführung sowie jedenfalls teilweiser elektronischer Beweisaufnahme<br />

(§§ 128a, 130a, 130b, 160a, 298a, <strong>19</strong>9a, 371a, 416a ZPO). Jedoch sind der Digitalisierung auch<br />

Grenzen gesetzt. Selbst wenn die elektronische Entwicklung noch weiter gehen wird, an dem<br />

Erfordernis einer gewissen Erreichbarkeit des Rechtsanwalts in einer Kanzlei ändert sich doch nichts<br />

allein deshalb, weil sich die Arbeitsweisen eines Rechtsanwalts mit dem Aufkommen von elektronischen<br />

Prozessen verändert haben. Auch eine reine „Telekanzlei“, also eine Kanzlei, die anwaltliche Beratung<br />

ausschließlich mithilfe von Telekommunikationsmitteln ausübt, unterscheidet sich doch nicht von einer<br />

„herkömmlichen“ Kanzlei. Sie entscheidet sich eben nur dadurch, dass sie Mandanten nicht mehr bei sich<br />

persönlich empfängt, sondern sie nur noch über Telekommunikationswege betreut. Sie machen aus<br />

einer schon bei jedem Rechtsanwalt bestehenden anwaltlichen Übung, mit dem eigenen Mandanten<br />

gelegentlich zu telefonieren oder über E-Mail mit ihm zu kommunizieren, eine Ausschließlichkeit. Eine<br />

1038 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>


Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1181<br />

Virtuelle Kanzlei und Zweigstelle<br />

solche Kanzlei schränkt also die Kontaktmöglichkeiten zu ihren Mandanten ein. Was daran für den<br />

einzelnen Mandanten bei sachlicher Betrachtung reizvoller sein soll, d.h. ausschließlich ohne<br />

persönlichen Kontakt mit dem Rechtsanwalt seinen Rechtsfall betreuen zu lassen, erschließt sich<br />

jedenfalls nicht unmittelbar. Insbesondere ist von solchen Kanzleien ein kurzfristiger rechtlicher Rat zu<br />

erwarten, aber wohl kaum eine anwaltliche Vertretung etwa vor Gerichten oder Behörden.<br />

Dennoch ändert sich nichts daran, dass auch eine Telekanzlei, die sich eben nur die Möglichkeit der<br />

persönlichen Begegnung mit dem Mandanten nimmt, an einem festen Ort auch ansässig sein muss,<br />

d.h. irgendwo eine Kanzlei i.S.v. § 27 Abs. 1 BRAO unterhalten muss. Schon allein die Pflicht zur<br />

Vertraulichkeit der Rechtsberatung macht es erforderlich, dass die Beratung im Grundsatz aus<br />

geschlossenen Räumen heraus erfolgen muss. Klar muss auch sein, wer im Falle eines Anwaltsregresses<br />

bei falscher anwaltlicher Beratung in Anspruch genommen werden kann und wie er<br />

erreichbar ist.<br />

Ein Rechtsanwalt hat nach der BRAO und BORA zudem vielfältige Pflichten, die er verletzen würde,<br />

wenn er nicht auch an einem festen Bezugsort ansässig sei, der sich innerhalb des Bundesgebiets fest<br />

bestimmen lassen muss. Die Ausübung der Rechtspflege wäre gefährdet, wenn er nicht an einen festen<br />

Bezugsort zu erreichen wäre. Zu nennen ist etwa das Akteneinsichtsrecht aus § <strong>19</strong> BORA, das dem<br />

Rechtsanwalt ermöglicht, in Originalunterlagen von Gerichten und Behörden in seiner Kanzlei Einsicht<br />

zu nehmen.<br />

Auch die Möglichkeit des Freiberuflers, seinen Lebensmittelpunkt in ein anderes Land oder gar auf<br />

einen anderen Kontinent zu verlegen, ändert daran übrigens nichts. Es ist der Fall eines Fachanwalts für<br />

Medizinrecht bekannt, der in einer kleinen Ortschaft im Westerwald mit anderen Rechtsanwälten eine<br />

Partnerschaftsgesellschaft als Partner betrieb, seinerseits aber den wohl überwiegenden Teil seines<br />

Lebens seinem Lebenstraum widmete, in einer Hütte in Ostkanada zu leben. Zum einen sieht § 29 Abs. 1<br />

BRAO Befreiungstatbestände von der Kanzleipflicht vor, wenn sie im Interesse der Rechtspflege und<br />

zur Vermeidung von Härten dienen.<br />

Eine Befreiung nach § 29a BRAO von der Verpflichtung nach § 27 Abs. 1 BRAO setzt voraus, dass der<br />

Rechtsanwalt seine Kanzlei in einem anderen Staat eingerichtet hat bzw. unterhält.<br />

Eine Niederlassung in „anderen Staaten“ ist möglich, insoweit es sich dabei um EU-Mitgliedstaaten,<br />

EWR-Vertragsstaaten, die Schweiz oder GAZ-Vertragsstaaten handelt. Die Voraussetzungen, unter<br />

denen deutsche Rechtsanwälte im Ausland rechtlich tätig werden können, richten sich neben den<br />

Bestimmungen des Heimatlandes vor allem nach denen des aufnehmenden Staates.<br />

Zum anderen setzt die Kanzleipflicht gar nicht voraus, dass der Rechtsanwalt täglich von z.B. 9 Uhr bis<br />

16 Uhr sich in seiner Kanzlei am Gerichtsort aufhalten muss.<br />

Nur zur Fairness und zur Vermeidung einer Täuschung des Verkehrs gehört es dann auch dazu, dass<br />

Mandanten von vornherein darüber aufgeklärt werden, dass sich ihr Rechtsanwalt z.B. vorwiegend in<br />

Kanada aufhält, also für persönliche Unterredungen nur unter erschwerten Bedingungen ansprechbar ist.<br />

Anders liegt aber der Fall, wenn der Rechtsanwalt eine Kanzleigröße und Kanzleianwesenheit vortäuscht,<br />

die gar nicht vorhanden ist, in dem er die Öffentlichkeit in die Irre führt, in direkter örtlicher<br />

Nähe präsent zu sein (dabei ist es für einen Verstoß gegen das Irreführungsverbot nicht erforderlich,<br />

dass eine Täuschung des Verkehrs bzw. einzelner Verkehrsteilnehmer tatsächlich eingetreten ist.<br />

Vielmehr genügt nach dem klaren Wortlaut des § 5 Abs. 1 S. 1 UWG, dass eine Angabe geeignet ist, die<br />

Umworbenen irrezuführen und sie zu falschen Entscheidungen zu beeinflussen (vgl. BORNKAMM/FEDDERSEN<br />

in: KÖHLER/BORNKAMM/FEDDERSEN, UWG, 36. Aufl., § 5, Rn 1.52 und 1.171).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong> 1039


Fach 23, Seite 1182<br />

Virtuelle Kanzlei und Zweigstelle<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Denn gerade im Hinblick auf die Bedeutung der Kanzleipflicht für die Rechtspflege und im Hinblick<br />

darauf, dass die Kanzleipflicht nur aus ihrer Bedeutung für die Rechtspflege ihre Rechtfertigung findet,<br />

ist in der Praxis kaum zu erwarten, dass der Wegfall der Kanzleipflicht seine Rechtfertigung finden<br />

könnte.<br />

Eine Befreiung zur Vermeidung von Härten i.S.d. § 29 Abs. 1 BRAO kann nur persönliche Härten, die den<br />

Rechtsanwalt unmittelbar betreffen, meinen, wobei Härte eine Belastung im Einzelfall bedeutet, von der<br />

andere Rechtsanwälte nicht betroffen sind (zu denken ist hier heute eigentlich nur noch an<br />

gesundheitliche Gründe oder die Inhaftierung des Rechtsanwalts in Untersuchungshaft, die jedoch<br />

nur eine Befreiung von der Kanzleipflicht auf Zeit ermöglicht. Für die Sondersituation der grenzüberschreitenden<br />

anwaltlichen Tätigkeit ist § 29a BRAO geschaffen worden). Der Umstand, dass eine Kanzlei<br />

keine weiteren Mandate zu übernehmen wünscht, stellt keinen Härtefall i.S.v. § 29 Abs. 1 BRAO dar<br />

(Anwaltsgerichtshof Dresden, a.a.O., BRAK-Mitteilungen 2005, 31 ff.) Vorliegend war es zudem gerade<br />

die Intention, auf diese Weise Mandate zu generieren, so dass von einem Täuschungsbewusstsein des<br />

Rechtsanwalts gegenüber dem Rechtsverkehr auszugehen sein muss.<br />

In einem Fall, wie in dem Verfahren des KG – in dem es ein Einzelrechtsanwalt auf die Spitze trieb, in<br />

dem er 30 Postanschriften in Bürodienstleistungszentren als Postannahmestelle anmietete und diese<br />

Anschriften nach außen als „Kanzleistandorte“ oder „Zweigstellen“ auf Internet und Kanzleibriefbogen, in<br />

Werbeanzeigen und in Telefonbüchern bewarb – kann eine solche Rechtfertigung von einer Ausnahme<br />

der Kanzleipflicht wahrlich nicht gesehen werden.<br />

Die Fehlvorstellung über die Zahl der „Kanzleistandorte“ ist unter zwei Aspekten geeignet, das<br />

Marktverhalten der Rechtssuchenden zu beeinflussen. Zum einen vermittelt diese Zahl eine Marktpräsenz,<br />

die den angesprochenen Verkehr Rückschlüsse auf den beruflichen Erfolg der werbenden<br />

Rechtsanwälte und die Qualität der dort angebotenen Rechtsdienstleistungen ziehen lässt. Zum<br />

anderen vermittelt jeder Hinweis auf einen „Kanzleistandort“ eine Vertrautheit mit den örtlichen<br />

Verhältnissen, d.h. mit den am Ort tätigen Richtern und deren Gepflogenheiten und Rechtsansichten,<br />

von der sich der Rechtssuchende Vorteile bei der Durchsetzung seiner Ansprüche verspricht (KG a.a.O.).<br />

Praxistipp:<br />

Ehrlich währt am längsten. Die Vortäuschung von Büros, bei denen es sich in Wirklichkeit nur<br />

um Postweiterleitungsadressen handelt, ist eine Irreführung. Meist ist weniger mehr: Eine gute<br />

anwaltliche beständige Arbeit spricht sich auch herum und bedarf keiner Vortäuschung größerer<br />

Strukturen, die gar nicht gegeben sind.<br />

Um seine anwaltlichen Dienstleistungen auf dem Markt des Arzthaftungsrechts auf Patientenseite<br />

bundesweit zu bewerben, täuschte er eine Kanzleigröße vor, die er tatsächlich gar nicht hat. In den<br />

Bürodienstleistungszentren eingehende Post wurde ihm in seine Hauptkanzlei in Düsseldorf nachgeschickt.<br />

Selbst ist er in den meisten dieser angeblichen Kanzleistandorte aber noch nie physisch<br />

persönlich anwesend gewesen. Ein solches Verhalten indiziert ein Täuschungsbewusstsein und kann<br />

nicht gewollt sein.<br />

3. „Beratungsbüros“ als Schaffung einer neuen Terminologie<br />

§ 27 BRAO ist abschließend. Danach gibt es nur die Hauptkanzlei, die Zweigstelle und die weitere<br />

Kanzlei.<br />

Auch wenn die Rechtsprechung die irreführende Bezeichnung von „Kanzleistandort“ und „Zweigstelle“<br />

für virtuelle Büros berufsrechtlich und wettbewerbsrechtlich untersagt, nutzt besagter Rechtsanwalt,<br />

der die Anschriften von 30 virtuellen Büros werbend für sich als „Kanzleistandort“ bewarb und<br />

damit vor dem KG unterlegen gewesen ist, die angemieteten Postanschriften heute dennoch weiter.<br />

Er bewirbt die Anschriften dieser Bürodienstleistungszentren, also seine virtuellen Büros, nach<br />

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Anwaltsrecht/Anwaltsbüro Fach 23, Seite 1183<br />

Virtuelle Kanzlei und Zweigstelle<br />

verlorenem Gerichtsurteil nunmehr als „Beratungsbüros“ seiner Kanzlei öffentlich weiter und führt<br />

damit die wettbewerbswidrig bestätigte Bezeichnung als „Kanzleistandort“ bzw. „Zweigstelle“ durch<br />

die Verwendung eines sich im Gesetz nicht wiederfindenden Begriffs fort. Auch andere Kanzleien<br />

nutzen mitunter lapidar das Wort „Büro“ für derartige angemietete Geschäftsadressen in Bürodienstleistungszentren<br />

auf ihren Websites und Kanzleibriefbögen.<br />

Damit suggerieren diese Rechtsanwälte ggü. Rechtssuchenden weiterhin eine örtliche Nähe zum<br />

Mandanten, die in einer Vielzahl der Fälle tatsächlich aber gerade nicht besteht. Die Anschriften<br />

werden in einen Begriff umtituliert, den es in der BRAO und der BORA gar nicht gibt: § 27 BRAO kennt<br />

den Begriff der „Beratungsbüros“ oder „Büros“ nicht.<br />

Nicht jedem Verbraucher dürfte nach der Verkehrsauffassung der Unterschied sofort klar sein.<br />

Insbesondere wird weiterhin eine örtliche Nähe vorgetäuscht, die tatsächlich gar nicht besteht.<br />

Darf der Rechtsanwalt über § 27 BRAO hinaus noch weitere Kanzleiräumlichkeiten schaffen, die weder<br />

Kanzlei (§ 27 Abs. 1 BRAO), noch Zweigstelle (§ 27 Abs. 2 BRAO) oder eine „weitere Kanzlei“ (§ 27 Abs. 2<br />

BRAO) darstellen? Die Frage muss mit einem klaren „Nein“ beantwortet werden, weil § 27 BRAO<br />

abschließend die Zulässigkeiten von Kanzleiräumlichkeiten klärt.<br />

Hinweis:<br />

§ 27 BRAO ist eindeutig: Es gibt nur Hauptkanzlei, Zweigkanzlei und weitere Kanzlei.<br />

Jede weitere Wortschöpfung einer derartigen Dependance muss also unter eine dieser drei Begrifflichkeiten<br />

subsumierbar sein.<br />

Alleinige „Beratungsbüros“ in Bürodienstleistungszentren, die bei Bedarf gegen Stundenmietzins<br />

angemietet werden können, erfüllen keine dieser drei Voraussetzungen. Die Räumlichkeit muss<br />

dauerhaft zur Verfügung stehen und nicht erst, in dem die Kanzlei einen Besprechungsraum auf<br />

Stundenbasis dazu mietet.<br />

Zumal mit einer solchen werbenden Terminologie weiterhin eine Täuschung einhergeht. Der Rechtssuchende<br />

wird regelmäßig davon ausgehen, dass eine der in § 27 BRAO genannten Kanzleien an der<br />

betreffenden Anschrift von dem Rechtsanwalt geführt würde.<br />

IV. Ausblick<br />

Wenn „findige“ Anwälte auf die Idee kommen, die Möglichkeiten von Bürodienstleistungszentren für<br />

sich zu nutzen, indem sie Postanschriften in anderen Städten anmieten und sich dort eingehende Post in<br />

ihre Kanzlei nachschicken lassen, täuschen sie nach außen eine Größe vor, die sie tatsächlich gar nicht<br />

haben und führen damit in die Irre (§ 27 Abs. 2 BRAO; § 5 Abs. 1 Nr. 1 UWG). Das Gleiche gilt, wenn sie<br />

solche Postanschriften werbend als „Büro“ oder „Beratungsbüro“ titulieren.<br />

Post, die an eine solche Anschrift geschickt wird, erreicht den Rechtsanwalt tatsächlich erst mit einigen<br />

Tagen Verspätung. Bei Zustellungen ist infolge der notwendigen Nachsendung mit Verzögerungen<br />

zu rechnen, die ebenfalls eine geordnete und effektive Rechtspflege behindern (Anwaltsgerichtshof<br />

Dresden, a.a.O., BRAK-Mitteilungen 2005, 31, 34).<br />

Und was nutzt es dem Rechtssuchenden zu glauben, der Rechtsanwalt sei physisch an dem Ort<br />

präsent und würde dort Besprechungen mit ihm durchführen, wenn tatsächlich eine persönliche<br />

Besprechung in der Räumlichkeit mit einer weiten Entfernung für den Rechtsanwalt verbunden wäre?<br />

Schlussendlich finden Besprechungen sodann mit dem Rechtssuchenden nur mithilfe von Telekommunikationsmitteln<br />

statt oder würden durch lange Anreisen des Rechtsanwalts (soweit dieser<br />

überhaupt bereit ist, tatsächlich die Besprechungsräume für eine Unterredung gegen zusätzliches<br />

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Fach 23, Seite 1184<br />

Virtuelle Kanzlei und Zweigstelle<br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Mietentgelt anzumieten und dafür anzureisen) terminlich erschwert werden. Die Regel ist, dass diese<br />

Anschriften nur werbend als Vorwand angegeben werden, die Kanzlei sei auch vor Ort tätig.<br />

Der Grund für ein solches virtuelles Büro ist für den Rechtsanwalt vielmehr offensichtlich rein von<br />

Marketinggesichtspunkten geleitet. Es wird nach außen der Eindruck erweckt, der Rechtsanwalt sei<br />

auch in der jeweiligen Stadt physisch präsent, was er tatsächlich aber nicht ist. Es wird eine Vertrautheit<br />

mit den örtlichen Verhältnissen, d.h. mit den am Ort tätigen Richtern und deren Gepflogenheiten und<br />

Rechtsansichten suggeriert, von der sich der Rechtssuchende Vorteile bei der Durchsetzung seiner<br />

Ansprüche verspricht. Es wird suggeriert, der Rechtsanwalt sei vor Ort anzutreffen und zu sprechen.<br />

Allemal redlicher wäre es, Rechtssuchenden einen persönlichen Besuch bei ihnen daheim zu<br />

versprechen (und dies sodann auch einzulösen!), als nach außen vorzutäuschen, an einer bestimmten<br />

Anschrift erreichbar zu sein.<br />

Diese Rechtsanwälte arbeiten im Wettbewerb zum Nachteil aller redlich am Markt teilnehmenden<br />

Rechtsanwälte. Ihre Vorgehensweise hat Wettbewerbsverzerrungen zur Folge, die auf den Rücken all<br />

der Rechtsanwälte ausgetragen werden, die sich an den Spielregeln halten. Man stelle sich eine Republik<br />

vor, bei der jeder Rechtsanwalt sich in jeder größeren Stadt in Bürodienstleistungszentren Postanschriften<br />

anmieten würde. Wir erlebten einen Boom von Bürodienstleistungszentren in unseren<br />

Städten. So viele Bürodienstleistungszentren könnten kaum eröffnen, wie Briefkastenschilder von<br />

Rechtsanwälten sich in deutschen Städten ausbreiten würden.<br />

Manche Bürodienstleistungszentren „beherbergen“ schon heute mehrere Anschriften von Rechtsanwälten,<br />

zum Teil sogar von direkten Wettbewerbern auf dem gleichen anwaltlichen Dienstleistungsbereich.<br />

Irgendwann würde es sich alsbald wirtschaftlich nicht mehr lohnen, dermaßen inflationär seine<br />

eigene Kanzlei in mehreren Städten zwanghaft zu bewerben. Der Öffentlichkeit wäre damit aber auch<br />

das letzte Vertrauen in die Rechtsanwaltschaft genommen.<br />

Umso dringender erscheint es – nicht nur aber auch gerade im Angesicht eines prognostizierten<br />

digitalen Zeitalters, aber auch für eine Chancengleichheit aller Rechtsanwälte – notwendig, die<br />

Kanzleipflicht aus § 27 Abs. 1 BRAO beizubehalten und die schwammige Formulierung in § 5 BORA,<br />

wonach der Rechtsanwalt verpflichtet ist, „die für seine Berufsausübung erforderlichen, sachlichen, personellen<br />

und organisatorischen Voraussetzungen in Kanzlei und Zweigstelle vorzuhalten“, zu konkretisieren.<br />

Rechtsanwaltskammern sollten entschiedener gegen Täuschungen des Rechtssuchenden durch<br />

Rechtsanwälte vorgehen und werbende Anschriften in Bürodienstleistungszentren, in denen der<br />

Rechtsanwalt keine Kanzlei i.S.d. § 27 BRAO unterhält, berufsrechtlich vorgehen. Dies kann im<br />

Einzelfall etwas Arbeit für die Rechtsanwaltskammern bedeuten. Doch der Schutz der Rechtspflege<br />

und die Herstellung und Bewahrung des Vertrauens in den Berufsstand des Rechtsanwalts erscheint<br />

dies allemal wert zu sein.<br />

1042 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>19</strong> 10.10.<strong>20<strong>19</strong></strong>

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