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ZAP-2019-20

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<strong>ZAP</strong><br />

Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />

<strong>20</strong> <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

23. Oktober<br />

31. Jahrgang<br />

ISSN 0936-7292<br />

Herausgeber: Rechtsanwalt und Notar Dr. Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer • Rechtsanwalt beim<br />

BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln • Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für<br />

Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins •<br />

Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen • Rechtsanwalt<br />

Dr. Hubert W. van Bühren, Köln Begründet von: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider<br />

AUS DEM INHALT<br />

Kolumne<br />

Geht das? Klar geht das! (S. 1043)<br />

Anwaltsmagazin<br />

60 Jahre BRAK (S. 1045) • Gesetz gegen die Umgehung der Grunderwerbsteuer geplant (S. 1046) •<br />

Rückkehr zum alten Überschuldungsbegriff (S. 1049)<br />

Aufsätze<br />

Caspers, Kündigung des Vermieters wegen Zahlungsverzugs des Mieters (S. 1059)<br />

Sartorius/Winkler, Rechtsprechungs- und Literaturübersicht zum Sozialrecht (S. 1069)<br />

Hansens, Gebührentipps für Rechtsanwälte (S. 1089)<br />

Eilnachrichten<br />

BGH: Entfernen einer über 30 Jahre alten Tapete (S. 1052)<br />

BVerwG: Betrieb einer Facebook-Fanpage (S. 1055)<br />

AGH Hamm: Vermögensverfall eines Rechtsanwalts (S. 1057)<br />

In Zusammenarbeit mit der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer


Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />

Kolumne – – 1043–1044<br />

Anwaltsmagazin – – 1045–1050<br />

Eilnachrichten 1 151–158 1051–1058<br />

Caspers, Kündigung des Vermieters wegen Zahlungsverzugs<br />

des Mieters infolge einer Mietminderung<br />

wegen behaupteter Mängel der Mietsache 4 1817–1826 1059–1068<br />

Sartorius/Winkler, Rechtsprechungs‐ und Literaturübersicht<br />

zum Sozialrecht – 1. Halbjahr <strong><strong>20</strong>19</strong> 18 1679–1698 1069–1088<br />

Hansens, Gebührentipps für Rechtsanwälte<br />

(II <strong><strong>20</strong>19</strong> – Teil 2) 24 1721–1722 1089–1090<br />

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Redaktionsbeirat<br />

Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />

Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />

Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F <strong>20</strong>) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />

Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RAuN Daniel Krause,<br />

Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />

Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />

Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />

beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />

Ständige Mitarbeiter<br />

Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG a.D. Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus,<br />

Gelsenkirchen • RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert,<br />

Düsseldorf • Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald,<br />

Vallendar • RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA<br />

Dr. Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Dr. Hans Reinold Horst,<br />

Hannover/Solingen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund<br />

• RA Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn •<br />

RA Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />

Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RiOLG a.D. Heinrich Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr.<br />

Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt, Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. •<br />

PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen • RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach •<br />

RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln.<br />

Impressum<br />

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />

schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />

Befugnis zur Einspeicherung in eine Datenbank sowie das Recht der weiteren Vervielfältigung. Haftungsausschluss: Verlag und<br />

Autor/en übernehmen keinerlei Gewähr für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der abgedruckten Inhalte. Insb. stellen<br />

(Formulierungs-)Hinweise, Muster und Anmerkungen lediglich Arbeitshilfen und Anregungen für die Lösung typischer Fallgestaltungen<br />

dar. Die Verantwortung für die Verwendung trägt der Leser. Urheber- und Verlagsrechte: Alle Rechte zur<br />

Vervielfältigung und Verbreitung sind dem Verlag vorbehalten. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen<br />

Einrichtungen. Anzeigenverwaltung: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, E-Mail: anzeigen@zap-verlag.de.<br />

Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 245,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />

ist auf unbestimmte Zeit geschlossen; Preisänderungen bleiben vorbehalten. Abbestellungen müssen sechs Wochen zum<br />

Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />

service@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Astrid von Schweinitz (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Peggy von Schoenebeck –<br />

Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />

Druck: Hans Soldan Druck GmbH, Essen. ISSN 0936-7292


<strong>ZAP</strong><br />

Kolumne<br />

Kolumne<br />

Geht das? Klar geht das!<br />

Die Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen im DAV<br />

hat schon vor sieben Jahren eine Broschüre unter<br />

dem Titel: „Anwältin und Mutter – klar geht das“<br />

herausgebracht. Darin hat sie das Ergebnis ihrer<br />

Umfrage unter Rechtsanwältinnen dokumentiert,<br />

ob und wie Kinder und Anwaltstätigkeit in<br />

Einklang zu bringen sind. Das Ergebnis war: Klar<br />

geht das – aber: Einfach ist es nicht. Denn Anwältinnen<br />

wollen erfolgreich sein und Karriere<br />

machen, ohne dabei auf Kinder bzw. Familie zu<br />

verzichten. Der damalige Befund: Die dafür notwendigen<br />

Rahmenbedingungen sind noch nicht<br />

ausreichend vorhanden. Anwältinnen erzielen<br />

immer noch weniger Einkünfte als Anwälte, sie<br />

sind als Partnerinnen vor allem in Großkanzleien<br />

unterrepräsentiert, attraktive Teilzeitangebote<br />

sind nur unzureichend vorhanden und die<br />

Kinderbetreuung wird noch nicht hinreichend als<br />

gemeinsame Aufgabe aufgefasst.<br />

Nun scheint es, dass die Anwältinnen sich den<br />

Titel „Anwältin und Mutter – klar geht das“ zu<br />

Herzen genommen haben. Sie bescheren dem<br />

Anwaltsberuf regen Zulauf. Die Anzahl der neu<br />

zugelassenen Anwältinnen ist mit 52 % erstmals<br />

höher als die der männlichen Kollegen.<br />

Woran liegt das? Sollten sich tatsächlich die Rahmenbedingungen<br />

geändert haben?<br />

Die Zahlen der zugelassenen Anwälte – bei<br />

Außerachtlassung der Syndikusanwaltschaft –<br />

gehen zurück. Kanzleien müssen zunehmend<br />

der Tatsache entsprechen, dass nicht nur Frauen<br />

auf eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie<br />

Wert legen, sondern auch jüngere männliche<br />

Berufsträger die „Work-Life-Balance“ im Fokus<br />

haben.<br />

Teilzeittätigkeit ist aber immer noch weiblich.<br />

Laut neuester Soldan-Studie, vorgestellt auf dem<br />

Anwaltstag in Leipzig im Mai <strong><strong>20</strong>19</strong> von Prof.<br />

Dr. MATTHIAS KILIAN, Direktor des Soldan Instituts,<br />

arbeiten 42 % der Rechtsanwältinnen in Teilzeit,<br />

hingegen nur 16 % der Rechtsanwälte. Bemerkenswert<br />

ist jedoch der Grund für die Teilzeit: Bei<br />

Frauen ist es der Wunsch nach Vereinbarkeit von<br />

Familie und Beruf, bei Männern die Ausübung<br />

eines weiteren Zweitberufs. Bemerkenswert ist<br />

auch ein weiteres Ergebnis der Soldan Studie:<br />

Werden Männer Väter, arbeiten sie zu 95 %<br />

weiterhin in Vollzeit, werden Frauen Mütter,<br />

arbeiten sie nur noch zu 58 % Vollzeit.<br />

Frauen haben andere Tätigkeitsschwerpunkte als<br />

Männer: Sie sind im Familienrecht, im Sozialrecht<br />

sowie Medizinrecht tätig. Dort liegt ihr Anteil<br />

über dem Anteil an den Zulassungen. Auch das<br />

Arbeitsrecht ist ein großes, weiblich besetztes<br />

Feld. Dagegen sind sie in den lukrativen Gebieten<br />

des Gesellschafts- sowie im Handels- und Wirtschaftsrecht<br />

viel weniger vertreten.<br />

Anwältinnen verdienen deutlich weniger. Auch<br />

unter bereinigten Bedingungen stellt KILIAN einen<br />

deutlichen Gender Pay Gap fest: Während Männer<br />

durchschnittlich 31,32 € verdienen, sind es bei<br />

den Frauen nur 22,25 €. Das durchschnittliche<br />

jährliche Bruttoeinkommen in Teilzeit tätiger<br />

Rechtsanwälte beläuft sich laut STAR Report<br />

<strong>20</strong>18 bei den angestellten Rechtsanwälten auf<br />

29.000 €, dass der in Teilzeit tätigen Syndikusrechtsanwälte<br />

auf 49.000 €.<br />

Da ist es nicht verwunderlich, dass die Syndikusanwaltschaft<br />

einen Zustrom der Anwältinnen<br />

erfahren hat. Entsprechend liegt dort der Anteil<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1043


Kolumne<br />

<strong>ZAP</strong><br />

der Anwältinnen bei 54,7 %. Doch die Soldan<br />

Studie sieht noch einen anderen Grund für die<br />

überproportionale Zunahme der Syndikusanwaltschaft:<br />

Frauen seien eher als Männer daran<br />

interessiert, in einem Angestelltenverhältnis zu<br />

arbeiten.<br />

Nach wie vor ist die Anwaltschaft jedoch unternehmerisch<br />

geprägt. Lediglich <strong>20</strong> % der Anwaltschaft<br />

ist angestellt. Nur beim Berufseinstieg ist<br />

das anders. Da ist die Mehrheit (72 %) angestellt.<br />

Diese Tätigkeit verlagert sich aber sehr schnell in<br />

Richtung unternehmerische Berufsausübung, so<br />

KILIAN.<br />

Und diese sieht bei Anwältinnen anders aus als<br />

bei Anwälten. Laut Soldan Studie sind 68 % der<br />

Frauen und 86 % der Männer Miteigentümer in<br />

den Kanzleien, in denen sie tätig sind. Viele der<br />

Frauen sind aber in sehr kleinen Einheiten, in<br />

Einzelkanzleien oder Bürogemeinschaften tätig.<br />

Das ist nicht verwunderlich. Nach wie vor ist der<br />

Beruf männlich dominiert. Der Anteil der Anwältinnen<br />

an der Gesamtanwaltschaft liegt derzeit<br />

bei 35,13 %. Bei Beginn der Statistik der BRAK 1970<br />

lag er bei 4,52 %. Dementsprechend sind Anwältinnen<br />

im Schnitt zwangsläufig jünger, da sie erst<br />

in den letzten beiden Jahrzehnten in größerer<br />

Anzahl ihre Zulassung erhielten. Und demzufolge<br />

haben überwiegend Männer nahezu alle Machtpositionen<br />

in Sozietäten inne. Und diese Männer<br />

sind traditionell geprägt. Auch wenn sie wissen,<br />

dass die Geschlechterrollen sich geändert haben,<br />

wirken ihre Geschlechterstereotypen nach. Bei<br />

der Einstellung verfahren sie allzu oft nach dem<br />

Ähnlichkeitsprinzip. Frauen erscheinen da häufig<br />

noch als die „Anderen“, mit denen man nicht ein<br />

gemeinsames Vorverständnis – und sei es nur im<br />

Hinblick auf Fußball – teilt, wie ULRIKE SCHULZ in<br />

ihrem Aufsatz „Haben Frauen in der Anwaltschaft<br />

schlechte Karten?“ in den BRAK Mitteilungen 5/<br />

<strong>20</strong>18 konstatiert. Der Arbeitsmodus dieser männlich<br />

geprägten Kanzleien sieht lange, ungeregelte<br />

und zum Teil unplanbare Arbeitszeiten vor und<br />

belohnt diejenigen, welche die meisten Stunden<br />

erbringen.<br />

Stellen sich diese Kanzleien nicht auf die veränderte<br />

Anwaltschaft mit ihrer Forderung nach<br />

Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein, werden<br />

sie in Zukunft bei dem Kampf um juristischen<br />

Nachwuchs das Nachsehen haben, besagt die<br />

Soldan Studie. Großkanzleien und viele wirtschaftsrechtlich<br />

geprägte Kanzleien haben das<br />

erkannt und bieten nun auch Programme zur<br />

Partnerschaft in Teilzeit an, was noch vor zehn<br />

Jahren undenkbar war.<br />

Doch bei den kleineren und mittleren Sozietäten<br />

tut sich im Hinblick auf Vereinbarkeit von Familie<br />

und Beruf noch wenig. Ideen sind Mangelware.<br />

Was die grundsätzliche Vereinbarkeit von Familie<br />

im Beruf für die Anwältinnen angeht, ist zwar<br />

vieles erreicht, aber nicht genug. Immer noch sind<br />

nicht ausreichend Betreuungsmöglichkeiten für<br />

Kinder gegeben. Von einer partnerschaftlichen<br />

Arbeitsteilung sind wir in Deutschland noch um<br />

Einiges entfernt. Selbstständige Frauen haben<br />

keinen Mutterschutz. Privat krankenversicherte<br />

Schwangere müssen sich um ihre finanzielle<br />

Absicherung während der Elternzeit selbst kümmern.<br />

Hier sind die Gesellschaft und der Gesetzgeber<br />

gefordert.<br />

Es gilt weiter für bessere Rahmenbedingungen<br />

zu kämpfen. Denn wir können es uns schlichtweg<br />

nicht leisten, auf die Frauen und ihre Kompetenzen<br />

zu verzichten – sowohl in wirtschaftlicher<br />

als auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht. Denn<br />

letztlich ist es ein Gebot der Geschlechtergerechtigkeit<br />

– Repräsentation, Gleichbehandlung<br />

und Antidiskriminierung sind Gerechtigkeitsfragen.<br />

Die Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen setzt sich<br />

für die Anwältinnen ein und ist auf dem nächsten<br />

DAT in Wiesbaden zum Thema „Die Kanzlei als<br />

Unternehmen“ dabei, u.a. mit der Veranstaltung<br />

„Die Anwältin als Unternehmerin – Finanzieller<br />

Erfolg durch Spezialisierung“.<br />

Rechtsanwältin CHRISTINA DILLENBURG, Stellv.<br />

Vorsitzende AG Anwältinnen im DAV, Essen<br />

1044 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

Anwaltsmagazin<br />

60 Jahre Bundesrechtsanwaltskammer<br />

Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hat am<br />

1. Oktober ihr 60-jähriges Bestehen gefeiert. Die<br />

erste Hauptversammlung der Kammer fand vor<br />

genau 60 Jahren am 1.10.1959 in Würzburg statt.<br />

Seither vertritt die BRAK als Dachorganisation<br />

der 28 Rechtsanwaltskammern die Gesamtinteressen<br />

der Anwaltschaft gegenüber dem Bundestag,<br />

dem Bundesrat, den Ministerien, aber<br />

auch gegenüber den Gerichten, beispielsweise<br />

dem Bundesverfassungsgericht. Durch Eingaben<br />

und Stellungnahmen wirkt sie aktiv an Gesetzgebungsvorhaben<br />

mit.<br />

Auf diese Weise führt die BRAK seit nun schon<br />

sechs Jahrzehnten den rechtspolitischen Diskurs<br />

im nationalen und internationalen Kontext. Insbesondere<br />

die ständig zunehmende Bedeutung<br />

der europäischen Rechtsetzung erfordert eine<br />

wirksame und effektive Interessenvertretung<br />

der deutschen Anwaltschaft auch bei den europäischen<br />

Institutionen. Das Brüsseler Büro der<br />

BRAK hat die Aufgabe, Aktivitäten und Vorhaben<br />

der EU-Institutionen zu beobachten, die Kontakte<br />

mit den Abgeordneten des Europäischen<br />

Parlaments, den Kommissionsbeamten und den<br />

Vertretern des Rates zu pflegen und durch<br />

fundierte Stellungnahmen Einfluss auf europäische<br />

Gesetzesvorhaben zu nehmen. Auch auf<br />

internationaler Ebene engagiert sich die BRAK<br />

durch regen Austausch mit Anwaltschaften aus<br />

der ganzen Welt, z.B. durch das Internationale<br />

Anwaltsforum, zu dem regelmäßig anwaltliche<br />

Vertreter aus über 30 Ländern anreisen.<br />

Untrennbar verknüpft mit der Gründung der<br />

Bundesrechtsanwaltskammer ist das Inkrafttreten<br />

der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO),<br />

die im August 1959 im Bundesgesetzblatt verkündet<br />

wurde. Mit ihr wurde erstmals eine gesetzliche<br />

Regelung zu einer Dachorganisation der<br />

Anwaltschaft geschaffen. „Der Rechtsanwalt ist ein<br />

unabhängiges Organ der Rechtspflege“, heißt es in § 1<br />

BRAO. Dieser kurze Satz beschreibt präzise die<br />

besondere Stellung der Rechtsanwaltschaft und<br />

ihre Bedeutung für unseren Rechtsstaat.<br />

Den 60. Geburtstag feierte die BRAK ganz bescheiden<br />

– jedoch inhaltlich fundiert – mit einer<br />

Festschrift, herausgegeben vom früheren Richter<br />

am BVerfG Prof. Dr. REINHARD GAIER, der seit dem<br />

1. September dieses Jahres auch neuer Schlichter<br />

bei der Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft<br />

ist. Prominente Rechtslehrer, Rechtshistoriker und<br />

Vertreter aus der Anwaltschaft beleuchten darin<br />

die Geschichte der Anwaltschaft und die Entwicklungen<br />

im Anwaltsrecht der vergangenen Jahrzehnte.<br />

Das 408 Seiten umfassende Werk ist<br />

unter der ISBN 978-3-504-06055-8 im Buchhandel<br />

erhältlich.<br />

[Quelle: BRAK]<br />

BRAK dringt auf Klärung bei<br />

Auslandsdienstreisen<br />

Seit Mai <strong>20</strong>10 müssen Dienst- und Geschäftsreisende<br />

ins Ausland die sog. A1-Bescheinigung<br />

für die vorübergehende Erwerbstätigkeit eines<br />

Selbstständigen bzw. für die Entsendung einer<br />

abhängig beschäftigten Person ins EU- und<br />

EFTA-Ausland mitführen. Grundlage hierfür ist<br />

die Verordnung (EG) Nr. 883/<strong>20</strong>04 zur Koordinierung<br />

der Sozialsysteme, deren Ziel es ist,<br />

Sozialversicherungsbetrug zu verhindern. Auch<br />

Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte fallen<br />

unter diese Bestimmung. Dass die Regelung jedoch<br />

auf Freiberufler wie Anwälte nicht recht<br />

passt, hat kürzlich HUFF in der <strong>ZAP</strong>-Kolumne („Ein<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1045


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

Bürokratiemonster lässt grüßen“, s. <strong>ZAP</strong> 5/<strong><strong>20</strong>19</strong>,<br />

S. 223 f.) eindrücklich geschildert.<br />

Aus diesem Grund gab es auch bereits Vorstöße,<br />

die Regelung wieder zu vereinfachen. So hatten<br />

im März des Jahres das Europäische Parlament<br />

und der Europäische Rat eine Modernisierung<br />

der Regelungen zur Koordinierung der Sozialsysteme<br />

in Aussicht gestellt (vgl. <strong>ZAP</strong>-Anwaltsmagazin<br />

8/<strong><strong>20</strong>19</strong>, S. 376). Allerdings ist seitdem<br />

nicht viel passiert, denn eine Einigung in den<br />

politischen Gremien der EU kam bislang nicht<br />

zustande. Dies war jetzt Anlass für die Bundesrechtsanwaltskammer<br />

(BRAK), sich an das Ministerium<br />

der Justiz und für Verbraucherschutz<br />

(BMJV) zu wenden und um Unterstützung im<br />

Interesse der Rechtsanwälte zu bitten. Mit<br />

Schreiben vom 10. September an die Bundesjustizministerin<br />

weist die Kammer darauf hin,<br />

dass für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte<br />

die Beantragung der Bescheinigung insbesondere<br />

deshalb problematisch ist, weil i.R.d. Fragebogens<br />

Angaben zur Arbeits- bzw. Beschäftigungsstelle<br />

und damit u.U. zum Mandanten<br />

gemacht werden müssen.<br />

Die BRAK betont, dass die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht<br />

Rechtsanwälte verpflichtet,<br />

im Interesse ihrer Mandanten alle im Rahmen<br />

eines Mandats gewonnenen Erkenntnisse geheim<br />

zu halten, wozu auch die Tatsache gehöre, dass<br />

das Mandat überhaupt bestehe. Rechtsanwälte<br />

müssten somit mit der Beantragung der Bescheinigung<br />

einen ihrer Kernwerte verletzten, um eine<br />

bürokratische Auflage zu erfüllen, durch die<br />

zwar theoretisch Sozialversicherungsbetrug verhindert<br />

werden soll, wobei allerdings unklar sei,<br />

wie Rechtsanwälte einen solchen Betrug begehen<br />

sollten.<br />

Die BRAK weist ferner darauf hin, dass sich der<br />

federführende Ausschuss für Beschäftigung und<br />

soziale Angelegenheiten der EU in einer Sitzung<br />

Anfang September dafür ausgesprochen hat, so<br />

schnell wie möglich die Trilog-Verhandlungen<br />

wieder aufzunehmen, um eine praktikablere Regelung<br />

mit einer Ausnahme für Geschäftsreisen zu<br />

ermöglichen. Die BRAK bittet die Ministerin daher<br />

eindringlich um ihre Unterstützung, eine dahingehende<br />

Klarstellung durchzusetzen und innerhalb<br />

der Bundesregierung dafür zu werben, eine<br />

entsprechende Neuregelung zu unterstützen.<br />

[Quelle: BRAK]<br />

Gesetz gegen die Umgehung der<br />

Grunderwerbsteuer geplant<br />

Die Bundesregierung plant eine Regelung gegen<br />

missbräuchliche Gestaltungen bei der Grunderwerbsteuer.<br />

Im Fokus stehen dabei insbesondere<br />

sog. Share Deals, bei denen Investoren beim<br />

Kauf von Immobilien die Grunderwerbsteuer<br />

umgehen können. Wie die Bundesregierung in<br />

ihrem Gesetzentwurf schreibt, will sie solche<br />

missbräuchlichen Steuergestaltungen durch verschiedene<br />

Einzelmaßnahmen eindämmen (vgl.<br />

BT-Drucks 19/13437).<br />

Der Gesetzentwurf sieht vor, die 95%-Grenze in<br />

den Ergänzungstatbeständen auf 90 % abzusenken.<br />

Zudem soll ein Ergänzungstatbestand zur<br />

Erfassung von Anteilseignerwechseln i.H.v. mind.<br />

90 € bei Kapitalgesellschaften eingeführt und<br />

die Fristen von fünf auf zehn Jahre verlängert<br />

werden. Die Ersatzbemessungsgrundlage auf<br />

Grundstücksverkäufe soll darüber hinaus im<br />

Rückwirkungszeitraum von Umwandlungsfällen<br />

Anwendung finden. Ferner sollen die Vorbehaltensfrist<br />

in § 6 des Grunderwerbsteuergesetzes<br />

auf fünfzehn Jahre verlängert und die Begrenzung<br />

des Verspätungszuschlags aufgehoben<br />

werden.<br />

Die Praxis habe – so die Begründung der Bundesregierung<br />

– gezeigt, dass es besonders im Bereich<br />

hochpreisiger Immobilientransaktionen immer<br />

wieder gelinge, durch gestalterische Maßnahmen,<br />

wie etwa Share Deals, die Grunderwerbssteuer zu<br />

vermeiden. Die hiermit einhergehenden Steuermindereinnahmen<br />

seien von erheblicher Bedeutung.<br />

Es sei deshalb nicht weiter hinnehmbar,<br />

dass die durch Gestaltungen herbeigeführten<br />

Steuerausfälle von denjenigen finanziert würden,<br />

denen solche Gestaltungen nicht möglich seien.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Höhere Grundsteuern sollen<br />

Grundstücksspekulationen<br />

eindämmen<br />

Städte und Gemeinden sollen im Zusammenhang<br />

mit der in Vorbereitung befindlichen Reform der<br />

Grundsteuer die Möglichkeit der Festlegung eines<br />

erhöhten, einheitlichen Hebesatzes auf baureife<br />

Grundstücke erhalten. Die sieht ein von der Bun-<br />

1046 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

desregierung eingebrachter Entwurf eines Gesetzes<br />

zur Änderung des Grundsteuergesetzes<br />

zum Zwecke der Mobilisierung von baureifen<br />

Grundstücken für die Bebauung vor (BT-Drucks<br />

19/13456).<br />

Mit dem erhöhten Satz könne über die Grundsteuer<br />

ein finanzieller Anreiz geschaffen werden,<br />

baureife Grundstücke einer sachgerechten und<br />

sinnvollen Nutzung durch Bebauung zuzuführen,<br />

heißt es in dem Gesetzentwurf. Darin wird auch<br />

auf den erheblichen Wohnungsmangel insbesondere<br />

in Ballungsgebieten hingewiesen. Die damit<br />

verbundene Wertentwicklung von Grundstücken<br />

werde vermehrt dazu genutzt, baureife Grundstücke<br />

als Spekulationsobjekt zu halten. Diese<br />

Grundstücke würden nur aufgekauft, um eine<br />

Wertsteigerung abzuwarten und die Immobilien<br />

anschließend gewinnbringend wieder zu veräußern.<br />

Einer sachgerechten und sinnvollen Nutzung<br />

würden diese Grundstücke nicht zugeführt.<br />

Trotz des damit vorhandenen Baulands werde der<br />

erforderliche Wohnungsbau ausgebremst, heißt<br />

es in dem Gesetzentwurf.<br />

Mit der zusätzlichen grundsteuerlichen Belastung<br />

von baureifen, aber brachliegenden Grundstücken<br />

gebe es künftig ein wichtiges Instrument,<br />

um einerseits Spekulationen zu begegnen<br />

und andererseits Bauland für die Bebauung zu<br />

mobilisieren. So könnten wichtige Impulse für<br />

die Innenentwicklung der Städte und Gemeinden<br />

gegeben werden, erwartet die Regierung.<br />

[Quelle: Bundesregierung]<br />

Experten bewerten geplante<br />

StVO-Novelle<br />

Das Bundesverkehrsministerium plant derzeit<br />

weitere Änderungen in der Straßenverkehrsordnung.<br />

Mit einer StVO-Novelle sollen u.a. die<br />

Geldbußen für das Parken in zweiter Reihe, auf<br />

Geh- und Radwegen sowie das Halten auf<br />

Schutzstreifen erhöht werden. Zudem soll künftig<br />

ein Mindestüberholabstand von 1,5 m innerorts<br />

und von 2 m außerorts für das Überholen<br />

von Fußgängern und Radfahrern festgeschrieben<br />

sowie die Grünpfeilregelung auf Radfahrer<br />

ausgeweitet werden. Weiterhin soll das Nebeneinanderfahren<br />

von Radfahrern ausdrücklich erlaubt<br />

werden, wenn der Verkehr dadurch nicht<br />

behindert wird. Auf Schutzstreifen für den Radverkehr<br />

soll zudem künftig ein generelles Halteverbot<br />

gelten.<br />

Zu diesen geplanten Änderungen haben auf Einladung<br />

des Bundestags-Verkehrsausschusses im<br />

September in einer öffentlichen Anhörung mehrere<br />

Experten Stellung genommen. Sie äußerten<br />

sich teils zustimmend, teilweise aber auch ablehnend.<br />

So sah etwa der Leiter der Unfallforschung im<br />

Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft<br />

beim Nebeneinanderfahren von Radfahrern<br />

keinen Regelungsbedarf. Die Neuformulierung<br />

verschärfte eher den Konflikt zwischen<br />

Radfahrern und Autofahrern. Den Abbiegepfeil<br />

für Radfahrer bezeichnete er als Komfortverbesserung<br />

für Radfahrer, der jedoch keinen Sicherheitsgewinn<br />

für Fußgänger bringe. Was die<br />

Regelung angeht, wonach Lkw nur noch in<br />

Schrittgeschwindigkeit abbiegen dürfen sollen,<br />

gab er zu bedenken, dass damit ein Vollzugsdefizit<br />

entstehe. Um Abbiegeunfälle zu verhindern,<br />

werde das Abbiegeassistenzsystem benötigt,<br />

betonte er.<br />

Für Letzteres sprach sich auch der Vertreter der<br />

Dekra aus. Er forderte die verpflichtende Einführung<br />

des Abbiegeassistenzsystems für Fahrzeuge<br />

oberhalb von 3,5 Tonnen. Die Systeme<br />

seien verfügbar und könnten nachgerüstet werden,<br />

sagte er. Kritisch bewertete er die Regelung,<br />

wonach Radfahrer an Kreuzungen an haltenden<br />

Fahrzeugen rechts vorbeifahren dürfen, wenn<br />

„ausreichend Platz“ vorhanden sei. Dieser ausreichende<br />

Platz sollte mit mind. 1,5 m klar definiert<br />

werden, forderte er.<br />

Der Experte vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat<br />

wies daraufhin, dass die Überlebenschance<br />

für Fußgänger bei einer Kollision mit<br />

einem Auto bei Tempo 30 deutlich höher sei als<br />

bei Tempo 50. Einer bundesweiten Regelung für<br />

Tempo 30 innerorts stand er dennoch skeptisch<br />

gegenüber. Dafür brauche es mehr Forschung in<br />

festgelegten Modellregionen, sagte er und plädierte<br />

dafür, dass Kommunen eigenständig Tempo-30-Zonen<br />

ausweisen können und zwar in<br />

größerem Umfang als bisher.<br />

Der Vertreter des ADAC war der Auffassung, dass<br />

ein absolutes Halteverbot in zweiter Reihe und<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1047


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

auf Fahrradschutzstreifen zu Problemen führen<br />

könne. Es sei dann nicht mehr möglich, betagte<br />

und gehbehinderte Menschen bis beispielsweise<br />

vor die Arztpraxis zu fahren, anzuhalten und sie<br />

dort aussteigen zu lassen. Auch die Situation von<br />

Paketauslieferern gelte es zu bedenken. Da ein<br />

solches Halten im Grunde immer eine Behinderung<br />

darstelle, drohten Bußgeldbescheide und<br />

Punkte.<br />

Die Expertin vom Auto Club Europa (ACE) kritisierte<br />

die geplante Freigabe von Busspuren für<br />

Pkw mit mehr als drei Insassen und Elektrokleinstfahrzeuge.<br />

Dadurch könne der Öffentliche<br />

Personennahverkehr an Attraktivität verlieren.<br />

Positiv äußerte sie sich zu den Schutzstreifen für<br />

Fahrradfahrer auf Landstraßen mit einer geringen<br />

Nutzung, bei denen der Bau von Fahrradwegen<br />

nicht vertretbar sei. Diese Schutzstreifen schafften<br />

mehr Aufmerksamkeit für Radfahrer.<br />

Der Vertreter des Deutschen Instituts für Urbanistik<br />

sah die Einführung eines Verkehrszeichens<br />

für Fahrradzonen als nicht erforderlich an, da<br />

Fahrradstraßen streckenbezogen im Zuge von<br />

Fahrradrouten sinnvoll seien, jedoch nicht im<br />

Zuge einer Zonenregelung. Alternativ sei zu<br />

empfehlen, dass Radfahrer in Tempo-30-Zonen<br />

generell nebeneinander fahren dürfen. Diese<br />

Regelung sei nicht nur wesentlich einfacher<br />

vermittelbar, sondern würde auch ohne zusätzlichen<br />

Beschilderungsaufwand zum gleichen Ergebnis<br />

führen.<br />

Schließlich warnte ein Professor von der Friedrich-<br />

Schiller-Universität Jena davor, StVG und StVO<br />

mit Verbotsregelungen zu überfrachten, deren<br />

Einhaltung in der tagtäglichen Praxis nicht überwacht<br />

werden könnte und deren Missachtung<br />

daher auch nicht sanktioniert werde. Dies würde<br />

letztlich zulasten der Akzeptanz und Überzeugungskraft<br />

der Regelungen gehen, mahnte er.<br />

[Quelle: Bundestag]<br />

Zahlen der EU-Kommission zum<br />

Mehrwertsteuerbetrug<br />

Anfang September hat die EU-Kommission eine<br />

Studie vorgestellt, die sich mit Steuermindereinnahmen<br />

bei der Umsatzsteuer befasst (Study and<br />

Reports on the VAT Gap in the EU-28 Member<br />

States). Ihr zufolge entgingen den EU-Mitgliedstaaten<br />

im Jahr <strong>20</strong>17 Mehrwertsteuereinnahmen<br />

i.H.v. 137 Mrd. €. Die sog. Mehrwertsteuerlücke –<br />

d.h. die Differenz zwischen den erwarteten Mehrwertsteuereinnahmen<br />

und dem tatsächlich erhobenen<br />

Betrag – hat sich zwar im Vergleich zu<br />

den Vorjahren leicht verringert, ist jedoch nach<br />

wie vor sehr groß.<br />

Die sog. Mehrwertsteuerlücke ist ein Indikator für<br />

die Wirksamkeit der Durchsetzungs- und Compliancemaßnahmen<br />

der Mitgliedstaaten auf dem<br />

Gebiet der Mehrwertsteuer, da sie als Schätzwert<br />

für Mindereinnahmen aufgrund von Steuerbetrug,<br />

-hinterziehung und -umgehung sowie von<br />

Insolvenzen, Zahlungsunfähigkeit und fehlerhaften<br />

Berechnungen dient.<br />

Am größten war die Lücke <strong>20</strong>17 in Rumänien;<br />

dort entgingen dem Staat 36 % der erwarteten<br />

Mehrwertsteuer. Es folgten Griechenland (34 %)<br />

und Litauen (25 %). Die geringsten Mehrwertsteuerlücken<br />

wurden in Schweden, Luxemburg<br />

und Zypern verzeichnet, wo durchschnittlich nur<br />

1 % der Mehrwertsteuereinnahmen verloren ging.<br />

In Deutschland beträgt die Lücke 9,9 %.<br />

In absoluten Zahlen weist Italien mit rund 33,5<br />

Mrd. € die größte Lücke bei den Mehrwertsteuereinnahmen<br />

auf. Auch Deutschland liegt mit rund<br />

25 Mrd. € im oberen Bereich. Zum Vergleich: In<br />

Frankreich gingen <strong>20</strong>17 „nur“ 12 Mrd. € verloren, in<br />

Großbritannien waren es 19 Mrd. €.<br />

Nach wie vor gibt es große Unterschiede zwischen<br />

den Mitgliedstaaten. In 25 Mitgliedstaaten<br />

verkleinerte sich die Mehrwertsteuerlücke, in<br />

dreien wurde sie größer. Malta (minus 7 %), Polen<br />

(minus 6 %) und Zypern (minus 4 %) konnten ihre<br />

Mehrwertsteuerverluste besonders stark reduzieren.<br />

Sieben Mitgliedstaaten (Slowenien, Italien,<br />

Luxemburg, die Slowakei, Portugal, Tschechien<br />

und Frankreich) erzielten ebenfalls achtbare Ergebnisse<br />

und verringerten die Mehrwertsteuerlücke<br />

um mehr als 2 %. Die Mehrwertsteuerlücke<br />

vergrößerte sich erheblich in Griechenland (plus<br />

2,6 %) und Lettland (plus 1,9 %), in Deutschland<br />

nahm sie leicht zu (plus 0,2 %).<br />

In der gesamten EU ist die Mehrwertsteuerlücke<br />

im Jahr <strong>20</strong>17 nominal um 8 Mrd. € auf 137,5 Mrd. €<br />

zurückgegangen; damit war der Rückgang ähnlich<br />

wie <strong>20</strong>16 (minus 7,8 Mrd. €). Die Mehrwert-<br />

1048 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


<strong>ZAP</strong><br />

Anwaltsmagazin<br />

steuerlücke im Jahr <strong>20</strong>17 entsprach 11,2 % der<br />

Mehrwertsteuereinnahmen in der EU, gegenüber<br />

12,2 % im Jahr zuvor. Dieser Abwärtstrend setzt<br />

sich nun schon das fünfte Jahr in Folge fort.<br />

Laut EU-Kommission zeigen diese Zahlen wieder<br />

einmal, wie wichtig die bereits <strong>20</strong>17 von der EU<br />

vorgeschlagene Reform der Mehrwertsteuervorschriften,<br />

die verstärkte Zusammenarbeit zwischen<br />

den Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung<br />

von Mehrwertsteuerbetrug und die Durchsetzung<br />

der Vorschriften für legale Unternehmen<br />

und Händler sind. Der Kommissar für Wirtschaftsund<br />

Finanzangelegenheiten, Steuern und Zoll,<br />

PIERRE MOSCOVICI, erklärte dazu: „Das günstige Wirtschaftsklima<br />

und einige kurzfristige politische Lösungen,<br />

die die EU eingeführt hat, haben <strong>20</strong>17 zur<br />

Reduzierung der Mehrwertsteuerlücke beigetragen. Um<br />

jedoch noch größere Fortschritte zu erzielen, müssen<br />

wir das Mehrwertsteuersystem umfassend reformieren,<br />

damit es weniger betrugsanfällig ist. Unsere Vorschläge<br />

zur Einführung eines endgültigen, unternehmensfreundlichen<br />

Mehrwertsteuersystems liegen nach<br />

wie vor auf dem Tisch. Die Mitgliedstaaten können es<br />

sich nicht erlauben, untätig zu bleiben, während ihnen<br />

durch Karussellbetrug und systemimmanente Unstimmigkeiten<br />

Milliarden verloren gehen.“<br />

[Quelle: EU-Kommission]<br />

DAV fordert Rückkehr zum alten<br />

Überschuldungsbegriff<br />

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat sich mit<br />

den Auswirkungen der jüngsten Insolvenz im<br />

Reisemarkt (Thomas Cook) auf deutsche Touristen<br />

befasst und ist der Auffassung, dass eine der<br />

Ursachen dieser Pleite im fehlenden Überschuldungsbegriff<br />

des britischen Insolvenzrechts zu<br />

suchen ist.<br />

Die Insolvenz des Thomas-Cook-Konzerns, so<br />

der DAV, treffe Hundertausende von Touristen,<br />

sie gefährde aber auch zahlreiche Arbeitsplätze in<br />

Deutschland. Der Umfang und die hohe Zahl der<br />

Geschädigten resultierten vor allem aus der Tatsache,<br />

dass das britische Recht den Insolvenzauslösetatbestand<br />

der Überschuldung nicht kenne.<br />

Aber auch in Deutschland sieht der Verein ein<br />

ähnliches Problem: Die Überschuldung als Tatbestand<br />

für die Insolvenzauslösung könne nach<br />

der InsO ausgesetzt werden, wenn die Fortführung<br />

„überwiegend wahrscheinlich“ sei. De<br />

facto maßgeblich für eine Insolvenz sei daher<br />

aktuell nur die Zahlungsunfähigkeit.<br />

Der DAV kritisiert, dass überschuldete Unternehmen<br />

dann, wenn sie für sich die Wahrscheinlichkeit<br />

sehen, künftig wieder die Liquidität<br />

zu erreichen, weiterarbeiten und damit auch<br />

weiterhin operative Verluste produzieren. Dabei<br />

nutzten sie zur Schöpfung von Liquidität unterschiedliche<br />

Quellen: etwa Anleihen und Schuldscheine,<br />

aber auch die Anzahlungen auf in der<br />

Zukunft liegende Leistungen wie etwa Reisen.<br />

Für den Verbraucher bedeute seine Vorleistung<br />

oft unbewusst die Vergabe eines ungesicherten<br />

Kredits an ein nur eingeschränkt kreditwürdiges<br />

Unternehmen. So habe auch Thomas Cook über<br />

längere Zeit seine Liquidität erhalten.<br />

Der DAV fordert daher, statt wie jetzt bei<br />

der Thomas-Cook-Tochtergesellschaft Condor<br />

immer wieder das Einspringen des Staats zu<br />

fordern, vielmehr die Unternehmen zu verpflichten,<br />

die Vorauszahlungen der Touristen auf einem<br />

gesonderten Treuhandkonto zu separieren.<br />

Auch solle der alte Überschuldungsbegriff<br />

des § 19 InsO wieder eingeführt werden. Leider<br />

sei dieser im Zusammenhang mit der Lehman-<br />

Krise „nachhaltig entschärft“ worden. Er habe<br />

vorgeschrieben, dass ein Unternehmen Insolvenzantrag<br />

stellen musste, wenn das Eigenkapital<br />

die Verbindlichkeiten nicht mehr deckte.<br />

Ein dauerhaftes Weiterwirtschaften mit Verlusten<br />

sei damit bei gesetzeskonformem Verhalten<br />

ausgeschlossen gewesen. Jetzt dagegen trage<br />

der Verbraucher das Risiko einer fehlerhaften<br />

Prognose zur zukünftigen Liquidität des Unternehmens.<br />

„Ein Gesetz für die Pflicht zur Insolvenzantragstellung<br />

bei Überschuldung wäre gelebter Verbraucherschutz“,<br />

so das Resümee des Vereins.<br />

[Quelle: DAV]<br />

Personalia<br />

Der neue Präsident des Gerichts der Europäischen<br />

Union (EuG) heißt MARC VAN DER WOUDE. Er<br />

wurde am 27.9.<strong><strong>20</strong>19</strong> von seinen Richterkollegen<br />

für die Amtszeit bis zum 31.8.<strong>20</strong>22 gewählt. Der<br />

ehemalige Rechtsanwalt und Professor an der<br />

Erasmus-Universität Rotterdam folgt in diesem<br />

Amt MARC JAEGER nach, der nicht mehr kandidiert<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1049


Anwaltsmagazin<br />

<strong>ZAP</strong><br />

hatte. VAN DER WOUDE war zuvor Vizepräsident des<br />

EuG. Diese Position übernimmt nun SAVVAS PAPA-<br />

SAVVAS. PAPASAVVAS war früher Rechtslehrer an der<br />

Universität von Zypern und ist seit <strong>20</strong>04 Richter<br />

am EuG.<br />

Am Bundesgerichtshof (BGH) gibt es seit Anfang<br />

Oktober drei neue Richter. Der Bundespräsident<br />

hat Richterin am Oberlandesgericht<br />

SIMONE WIEGAND, Direktor des Amtsgerichts BERND<br />

ODÖRFER und Richter am Oberlandesgericht Dr.<br />

HARTMUT RENSEN zur Richterin bzw. zu Richtern<br />

am BGH ernannt. Frau WIEGAND kommt vom OLG<br />

Karlsruhe, Herr ODÖRFER vom AG Stuttgart-Bad<br />

Cannstatt; Herr Dr. RENSEN war zuvor jeweils mit<br />

halber Arbeitskraft beim OLG Köln und beim<br />

VGH NRW tätig. Frau WIEGAND ist nun dem für<br />

das Kauf-, Leasing- und Wohnraummietrecht<br />

zuständigen VIII. BGH-Zivilsenat, Herrn ODÖRFER<br />

dem vornehmlich mit Streitigkeiten aus dem<br />

gewerblichen Rechtsschutz und dem Urheberrecht<br />

befassten I. Zivilsenat und Herr Dr. RENSEN<br />

dem für Patentsachen zuständigen X. Zivilsenat<br />

zugewiesen.<br />

Neuer Richter am Bundesverwaltungsgericht<br />

(BVerwG) ist der bisherige Richter am OVG<br />

NRW DAMIAN-MARKUS PREISNER. Herr PREISNER begann<br />

seine richterliche Laufbahn im Jahr 1998 am<br />

VG Gelsenkirchen; von <strong>20</strong>02 bis <strong>20</strong>07 war er an<br />

das Bundesjustizministerium, von <strong>20</strong>09 bis <strong>20</strong>12<br />

als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Bundesverfassungsgericht<br />

abgeordnet. Er wurde jetzt<br />

dem 5. Revisionssenat des BVerwG zugewiesen.<br />

In den Ruhestand getreten ist Ende September<br />

Richter am BGH JOCHEM GRÖNING. Herr GRÖNING<br />

kam <strong>20</strong>06 an den BGH und war zunächst dem<br />

I. Zivilsenat, später dem X. Zivilsenat zugewiesen,<br />

dessen stellvertretender Vorsitzender er in der<br />

Zeit von April <strong>20</strong>09 bis Ende Dezember <strong>20</strong>10 und<br />

erneut in den Jahren <strong>20</strong>13 bis <strong>20</strong>15 war. Während<br />

seiner Amtszeit war er mehrfach als ordentliches<br />

oder stellvertretendes Mitglied in dem Gemeinsamen<br />

Senat der obersten Gerichtshöfe des<br />

Bundes entsandt.<br />

Ebenfalls Ende September ist der Vorsitzende<br />

Richter am Bundesverwaltungsgericht JÜRGEN<br />

VORMEIER nach mehr als <strong>20</strong>-jähriger Tätigkeit<br />

am Bundesverwaltungsgericht in den Ruhestand<br />

getreten. Herr VORMEIER wurde im September<br />

1999 zum Richter am Bundesverwaltungsgericht<br />

ernannt, wo er zunächst dem 10. Revisionssenat<br />

angehörte. Zugleich wurde er Mitglied des für<br />

das Beamtendisziplinarrecht zuständigen 1. Disziplinarsenats,<br />

später auch des 2. Disziplinarsenats.<br />

Im September <strong>20</strong>01 wechselte er in den<br />

6. Revisionssenat. Im November <strong>20</strong>11 übernahm<br />

Herr VORMEIER den Vorsitz des 5. Revisionssenats.<br />

Neben seinen richterlichen Aufgaben nahm er<br />

auch fast vier Jahre die Aufgaben des Präsidialrichters<br />

des BVerwG wahr. Zudem wurde er<br />

mehrfach in den Bundeswahlausschuss berufen.<br />

Der Fachöffentlichkeit ist Herr VORMEIER insbesondere<br />

als Mitherausgeber und Autor von<br />

Kommentaren zum Asylgesetz, Ausländerrecht<br />

und Staatsangehörigkeitsrecht bekannt.<br />

[Quellen: EuGH/BGH/BVerwG]<br />

1050 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>19</strong> Fach 1, Seite 151<br />

Eilnachrichten<br />

Volltext-Service: Die Entscheidungsvolltexte zu den <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können Sie online kostenlos bei<br />

unserem Kooperationspartner juris abrufen, Anmeldung unter www.juris.de. Einzelheiten zum Anmeldevorgang<br />

finden Sie auf unserer Homepage www.zap-verlag.de/service. Sie sind Neu-Abonnent? Dann<br />

schicken Sie bitte eine E-Mail mit dem Betreff „Neu-Abonnement“ an freischaltcode-zap@zap-verlag.de<br />

und erhalten so Ihre Zugangsdaten.<br />

Allgemeines Zivilrecht<br />

Buchung eines Flugs: Gesondertes Firmenportal<br />

(AG Frankfurt/M., Urt. v. 4.4.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 32 C 1964/18 [86]) Bei Buchung eines Flugs über ein gesondertes<br />

Firmenportal, welches nur den jeweiligen Mitarbeitern zugänglich ist und ihnen gesonderte Firmentarife<br />

einräumt, entfällt im Falle der Verspätung oder Annullierung ein Ausgleichsanspruch nach der sog.<br />

FluggastrechteVO (EG VO 261/<strong>20</strong>04). Hinweis: Grundsätzlich gewährt die EG VO 261/<strong>20</strong>04 Ansprüche<br />

im Falle der Annullierung oder Verspätung (von über drei Stunden) eines Flugs. Ausgeschlossen sind<br />

nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 EG VO 261/<strong>20</strong>04 Ansprüche von Passagieren, die kostenlos oder zu einem<br />

reduzierten Tarif reisen, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist. Da<br />

andere Personen als die Mitarbeiter solch einen Tarif nicht in Anspruch nehmen können, steht er der<br />

Öffentlichkeit folglich nicht zur Verfügung. Auf den Zweck der Buchung kommt es nicht an, so dass auch<br />

bei Privatreisen, welche von den Mitarbeitern über solch ein Firmenportal unter Nutzung der dort<br />

hinterlegten Konditionen gebucht werden, einem Anspruch nach der FluggastrechteVO entgegenstehen.<br />

Der Flug wurde über das Portal der Bundeswehr gebucht, welches nur deren Mitarbeiter nutzen<br />

konnten. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 579/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Kaufvertragsrecht<br />

Diesel-Skandal: Importeurin von Skoda-Neufahrzeugen<br />

(OLG Frankfurt, Urt. v. 4.9.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 13 U 136/18) • Das Wissen der VW AG kann der Importeurin von<br />

Neufahrzeugen der Marke Skoda, die mit dem Dieselmotor EA 189 ausgestattet sind, nicht ohne<br />

Weiteres zugerechnet werden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 580/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Dieselskandal: Ersatzlieferung eines Neufahrzeugs nach Modellwechsel<br />

(OLG Koblenz, Urt. v. 19.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 12 U 773/18) • Macht der Käufer – nach erfolgtem Modellwechsel –<br />

einen Anspruch auf Ersatzlieferung eines typgleichen Neufahrzeugs aus der aktuellen Serienproduktion<br />

geltend, genügt sein Klageantrag den vorgeschriebenen verfahrensrechtlichen Erfordernissen,<br />

wenn die technischen Merkmale des übereignet verlangten Fahrzeugs – verbunden mit dem Adverb<br />

„zumindest“–im Einzelnen bezeichnet sind. Eine Nacherfüllung durch Ersatzlieferung eines Fahrzeugs<br />

aus der aktuellen Produktionsserie ist (ausnahmsweise) nicht geschuldet, wenn bereits zwei Monate<br />

vor Abschluss des Kaufvertrags der bevorstehende Modellwechsel öffentlich angekündigt worden<br />

war, bei Abschluss des Kaufvertrags das Nachfolgemodell bestellbar war und dem Käufer bekannt<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1051


Fach 1, Seite 152 Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

war, dass es sich bei dem von ihm bestellten Fahrzeug um ein „Auslaufmodell“ handelte, welches er<br />

bewusst aus ökonomischen Gesichtspunkten unter Inanspruchnahme des für das Auslaufmodell<br />

gewährten Preisvorteils erwarb. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 581/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Begründung von Teileigentum: Tiefgaragenplätze<br />

(KG, Beschl. v. 10.9.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 1 W 127/19) • Teilt der Eigentümer benachbarter Grundstücke diese jeweils<br />

nach § 8 WEG, steht der Begründung von Teileigentum an Tiefgaragenplätzen nicht entgegen, dass sich<br />

die Tiefgarage unter allen Grundstücken erstreckt, wenn sich die einzelnen Stellplätze jeweils unter dem<br />

konkret zur Teilung vorgesehenen Grundstück befinden. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 582/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Bauvertragsrecht<br />

Fehlerhafte Architektenplanung: Feststellungstitel<br />

(OLG Oldenburg, Urt. v. 27.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 2 U 102/19) • Die Bindungswirkung eines wegen fehlerhafter<br />

Architektenplanung erstrittenen Feststellungstitels, der auf den Ersatz weiterer Schäden für eine<br />

konkrete Maßnahme zur Beseitigung der im Bauwerk verkörperten Mängel gerichtet ist, erstreckt<br />

sich nicht auf eine sich später als notwendig herausstellende gänzlich andere Art der Mängelbeseitigung.<br />

Hinweis: Dabei handelt es sich um verschiedene Streitgegenstände, was im Hinblick auf<br />

eine Verjährung der anderen Art der Mängelbeseitigung zu beachten ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 583/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />

Keine Schadenersatzpflicht: Entfernung einer über 30 Jahre alten Tapete<br />

(BGH, 21.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> – VIII ZR 263/17) • Die den Mieter treffende Verpflichtung, die ihm überlassenen<br />

Mieträume in einem dem vertragsgemäßen Gebrauch entsprechenden Zustand zu halten, insbesondere<br />

die Räume schonend und pfleglich zu behandeln sowie alles zu unterlassen, was zu einer<br />

Verschlechterung führen kann, ist eine nicht leistungsbezogene Nebenpflicht. Ihre Verletzung kann<br />

eine Schadenersatzpflicht allein nach den in § 280 Abs. 1 BGB geregelten Voraussetzungen begründen.<br />

Der BGH führte dazu aus, dem Vermieter entstehe kein Schaden, wenn der Mieter eine ungefähr 30<br />

Jahre alte Tapete entferne, die sich bereits teilweise gelöst habe und die vor der Besitzzeit des Mieters<br />

mehrfach überstrichen worden sei, jedoch nicht mehr zum Überstreichen geeignet sei. Denn es sei<br />

nicht so, dass ein Schaden i.H.v. 80 % der Kosten entstanden sei, die für eine Neutapezierung der<br />

Wände erforderlich gewesen wären – unabhängig vom Alter und Zustand der entfernten Tapetenteile.<br />

Hinweis: Das Berufungsgericht hatte erklärt, dass ein Abzug „neu für alt“ gerechtfertigt ist, wenn<br />

beim Ersetzen einer gebrauchten Sache durch eine neue Sache bei dem Geschädigten eine messbare<br />

Vermögensmehrung eintritt. Da der Beklagte hier jedoch in die Entscheidungsfreiheit der Klägerin<br />

eingegriffen habe, sei nur ein moderater Abzug „neu für alt“ anzusetzen, der mit <strong>20</strong> % der Kosten zu<br />

bemessen sei, so noch das Berufungsgericht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 584/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Straßenverkehrsrecht<br />

Helmpflicht beim Motorradfahren: Grds. auch bei Berufung auf religiöse Hinderungsgründe<br />

(BVerwG, Urt. v. 4.7.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 3 C 24.17) • Nach der StVO kann die Straßenverkehrsbehörde in bestimmten<br />

Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen von den in § 21a StVO enthaltenen<br />

Vorschriften über das Anlegen von Sicherheitsgurten und das Tragen von Schutzhelmen genehmigen.<br />

1052 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>19</strong> Fach 1, Seite 153<br />

Der Anspruch auf Genehmigung einer Ausnahme von der Pflicht, beim Motorradfahren einen<br />

geeigneten Schutzhelm zu tragen, besteht nicht bereits dann, wenn der Betroffene am Tragen eines<br />

Schutzhelms gehindert ist. Eine Reduzierung des behördlichen Ermessens auf Null kommt nur in<br />

Betracht, wenn dem Betroffenen ein Verzicht auf das Motorradfahren aus besonderen individuellen<br />

Gründen nicht zugemutet werden kann. Das gilt auch für Personen, die aus religiösen Gründen einen<br />

Turban tragen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 585/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Nutzung elektronischer Geräte: Taschenrechner<br />

(OLG Hamm, Beschl. v. 15.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 4 RBs 191/19) • Fällt ein reiner (elektronischer) Taschenrechner als<br />

elektronisches Gerät, das der Kommunikation, Information oder Organisation bzw. der Unterhaltungselektronik<br />

oder der Ortsbestimmung dient bzw. dienen soll, unter § 23 Abs. 1a StVO? (Vorlagebeschluss<br />

an den BGH) <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 586/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Familienrecht<br />

Familiengerichtliche Anhörung eines Kindes: Abwesenheit der Eltern<br />

(BVerfG, Beschl. v. 5.6.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 1 BvR 675/19) • Die zu § 50b FGG a.F. formulierten verfassungsrechtlichen<br />

Anforderungen an die Ausgestaltung der Kindesanhörung im Sorgerechtsverfahren betreffen auch die<br />

geltenden Regelungen über die Kindesanhörung nach § 159 FamFG. Es ist verfassungsrechtlich nicht<br />

geboten, den bei einer Kindesanhörung nicht im Vernehmungszimmer anwesenden Eltern zu gestatten,<br />

die Anhörung im Wege der Videoübertragung zu verfolgen. Hinweis: Eine solche Gestattung liefe<br />

ersichtlich dem Schutzzweck des § 163a FamFG zuwider. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 587/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Nachlass/Erbrecht<br />

Erteilung eines Testamentsvollstreckerzeugnisses: Antragrücknahme<br />

(OLG München, Beschl. v. 3.9.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 31 Wx 118/18) • Die Rücknahme des Antrags auf Erteilung eines<br />

Testamentsvollstreckerzeugnisses führt zur Beendigung des Verfahrens kraft Gesetzes. Die gilt auch<br />

dann, wenn der Antrag in der Beschwerdeinstanz zurückgenommen wird. Ein Ausspruch über die<br />

Erledigung des Verfahrens unterbleibt in diesen Fällen grundsätzlich. Folge der Beendigung des Verfahrens<br />

ist, dass die nachlassgerichtliche Entscheidung wirkungslos wird. Hinweis: Die Wirkungslosigkeit<br />

der Entscheidung erfasst auch die Nebenentscheidungen, insbesondere die Kostenentscheidung.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 588/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Zivilprozessrecht<br />

Bestimmung des zuständigen Gerichts: Willkürlicher Verweisungsbeschluss<br />

(OLG Brandenburg, Beschl. v. 23.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 1 AR 18/19 [SA Z]) • Ein Verweisungsbeschluss ist nur dann nicht<br />

verbindlich, wenn er auf Willkür beruht. Hierfür genügt es aber nicht, dass der Beschluss inhaltlich<br />

unrichtig oder sonst fehlerhaft ist. Willkür liegt nur vor, wenn dem Beschluss jede rechtliche Grundlage<br />

fehlt (BGH NJW-RR <strong>20</strong>02, 1498; BGH, NJW 1993, 1273). Dies kann auch dann der Fall sein, wenn die<br />

Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr<br />

verständig erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BVerfGE 29, 45, 49). Hinweis: Die Verweisung kann<br />

offenbar gesetzwidrig oder grob rechtsfehlerhaft sein, also gleichsam jeder gesetzlichen Grundlage<br />

entbehren. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 589/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1053


Fach 1, Seite 154 Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />

Vollstreckung einer Umgangsregelung: Keine Prüfung materieller Rechtsfragen<br />

(OLG Brandenburg, Beschl. v. <strong>20</strong>.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 13 WF 174/19) • Im Vollstreckungsverfahren ist nicht zu<br />

prüfen, ob die im Erkenntnisverfahren getroffene Umgangsregelung mit dem Kindeswohl vereinbar<br />

ist, es sei denn, die Ausnahmevoraussetzung einer einstweiligen Einstellung der Vollstreckung nach<br />

§ 93 Abs. 1 Nr. 4 FamFG auf Grund eines Abänderungsverfahrens nach § 1696 BGB liegt vor (vgl. Senat<br />

FamRZ <strong><strong>20</strong>19</strong>, 628 m.w.N). Nur insoweit können neu hinzutretende Umstände der Vollstreckung eines<br />

Umgangstitels zur Wahrung des Kindeswohls entgegenstehen, wenn darauf auch ein zulässiger<br />

Antrag auf Abänderung des Ausgangstitels und auf Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 93<br />

Abs. 1 Nr. 4 FamFG gestützt werden kann. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 590/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />

Vollstreckbarerklärung eines Schiedsspruchs: Gerichtlicher Vergleich<br />

(OLG München, Beschl. v. 30.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 34 SchH 16/17) • Bei Verfahren über die Vollstreckbarerklärung<br />

eines Schiedsspruchs findet eine Ermäßigung der Gebühren nicht statt, wenn die Parteien einen gerichtlichen<br />

Vergleich schließen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 591/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Kapitalerhöhung zur €-Umstellung: Glättung von Beträgen des Stammkapitals<br />

(OLG Düsseldorf, Beschl. v. 10.5.<strong><strong>20</strong>19</strong> – I-3 Wx 219/18) • Ist die Verschmelzung einer GmbH auf eine<br />

GmbH, deren Stammkapital noch auf DM lautet, beabsichtigt, soll dabei eine €-Umstellung stattfinden<br />

und wird dazu eine Kapitalerhöhung zur Glättung beschlossen, so sind diese Maßnahmen jedenfalls<br />

dann in getrennten Schritten durchzuführen, wenn an der übernehmenden GmbH teilweise oder<br />

vollständig andere Gesellschafter beteiligt sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 592/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />

Bewerbung von Lebensmitteln: Vegane Käse-Alternative<br />

(OLG Celle, Beschl. v. 6.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 13 U 35/19) • In der Bewerbung eines pflanzlichen Produkts als „Käse-<br />

Alternative“ liegt keine unzulässige Bezeichnung als „Käse“ vor. Damit wird das Produkt lediglich in eine<br />

Beziehung zu dem Milchprodukt Käse gesetzt und dabei hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht,<br />

dass es sich eben nicht um Käse, sondern um etwas Anderes – nämlich eine Alternative zu Käse –<br />

handelt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 593/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Arbeitsrecht<br />

Nachteilsausgleich: Streitwertbemessung<br />

(LAG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 6.9.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 26 Ta [Kost] 6012/19) • Bei einem unbezifferten Leistungsantrag<br />

(hier bzgl. Nachteilsausgleichs) ist der Streitwert am angemessenen Betrag auszurichten,<br />

wenn die klagende Partei die Festlegung des Betrags in das Ermessen des Gerichts gestellt hat. Die in<br />

§ 1a Abs. 2 KSchG festgelegte Höhe des gesetzlichen Abfindungsanspruchs nach § 1a Abs. 1 KSchG kann<br />

wegen der hierin ausgedrückten gesetzgeberischen Wertung als Berechnungsgrundlage beim Nachteilsausgleich<br />

nach § 113 Abs. 1 bis 3 BetrVG herangezogen werden (vgl. BAG, Urt. v. 7.11.<strong>20</strong>17 – 1 AZR<br />

186/16, Rn 35 – 38). Hinweis: Das Gericht kann den Streitwert im Hinblick auf einen ihm angemessen<br />

und billig erscheinenden Betrag auch höher festsetzen, als dies einer angegebenen Größenvorstellung<br />

der klagenden Partei entspricht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 594/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

1054 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>19</strong> Fach 1, Seite 155<br />

Kein Kündigungsschutz: im Privathaushalt beschäftigte Arbeitnehmer<br />

(LAG Niedersachsen, Urt. v. 14.3.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 5 Sa 822/18) • Ein im Privathaushalt des Arbeitgebers beschäftigter<br />

Arbeitnehmer genießt nicht den durch das Kündigungsschutzgesetz vermittelten allgemeinen Kündigungsschutz.<br />

Ein Privathaushalt stellt keinen Betrieb i.S.d. §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG dar. Dies folgt bereits<br />

aus dem Begriff des Betriebs. Auch die Systematik des Gesetzes spricht dafür, nicht den Privathaushalt<br />

unter den Betriebsbegriff im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes zu fassen. Denn in anderen Rechtsgebieten<br />

finden sich Regelungen, in welchen die Begriffe Betrieb und Privathaushalt im Ergebnis als<br />

Gegensatz verwendet werden. Auch ist keine anderweitige Auslegung von Verfassungs wegen geboten.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 595/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Sozialrecht<br />

Schädel-Hirn-Trauma: Gewaltsame Einwirkung<br />

(LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 29.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> – L 6 U 2977/18) • Die Feststellung eines Schädel-Hirn-<br />

Traumas setzt insbesondere eine durch eine gewaltsame Einwirkung hervorgerufene Funktionsstörung<br />

oder Verletzung des Gehirns voraus. Eine traumatische Verletzung des Kopfs ohne Hirnfunktionsstörung<br />

oder Gehirnverletzung ist dagegen als Schädelprellung einzustufen. Nach dem derzeitigen medizinischwissenschaftlichen<br />

Erkenntnisstand ist die Entstehung einer Dysthymia, wie auch anderer Erkrankungen<br />

des depressiven Formenkreises, nicht auf einzelne Einwirkungen, sondern auf eine Wechselwirkung<br />

aus biologischen und psychosozialen Faktoren zurückzuführen (sog. multifaktorielles Erklärungskonzept).<br />

Eine Entstellung ist nicht in jedweder ungewollten und allgemein sichtbaren Änderung des äußeren<br />

Erscheinungsbildes, etwa durch eine Narbe im Gesicht, zu sehen. Es ist vielmehr im konkreten<br />

Einzelfall festzustellen, ob hierdurch eine bedeutsame Abweichung von der Norm gesellschaftlicher<br />

Ästhetikvorstellungen eintritt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 596/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Berufskrankheit: Ort der gefährdenden Tätigkeit<br />

(LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 29.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> – L 6 U 551/18) • Die Zuständigkeit bei Berufskrankheiten<br />

richtet sich auch unter Anwendung der RVO nach dem Unternehmen, in dem die gefährdende Tätigkeit<br />

zuletzt ausgeübt wurde. Für die Diagnose einer Polyneuropathie ist eine elektrophysiologische<br />

Untersuchung unerlässlich. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 597/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />

Betrieb einer Facebook-Fanpage: Datenschutzrechtliche Mängel<br />

(BVerwG, Urt. v. 11.9.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 6 C 15.18) • Der Betreiber eines im sozialen Netzwerk Facebook unterhaltenen<br />

Unternehmensauftritts (Fanpage) kann verpflichtet werden, seine Fanpage abzuschalten, falls<br />

die von Facebook zur Verfügung gestellte digitale Infrastruktur schwerwiegende datenschutzrechtliche<br />

Mängel aufweist. Hinweis: Facebook griff bei Aufruf der Fanpage auf personenbezogene Daten der<br />

Internetnutzer zu ohne die notwendige Unterrichtung der Nutzer über ihre Rechte.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 598/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Urnengrabstätte: Dauer der Totenruhe<br />

(BVerwG, Urt. v. 19.6.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 6 CN 1.18) • Ein landesgesetzlicher Regelungsauftrag genügt dem<br />

Gesetzesvorbehalt für die satzungsrechtliche Festlegung von Ruhezeiten für Urnen in der Grabstätte<br />

durch die GemeindenEine Ruhezeit für Urnen von zwei Jahren verletzt die postmortale Menschenwürde<br />

nach Art. 1 Abs. 1 GG jedenfalls dann nicht, wenn die Gemeinde satzungsrechtlich die Verleihung<br />

langjähriger Nutzungsrechte an Grabstätten für Urnen vorsieht. Die zweijährige Ruhefrist verletzt auch<br />

die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Rechte der Angehörigen auf Totenfürsorge und Totengedenken<br />

nicht. Das postmortal wirkende Persönlichkeitsrecht und das nachrangige Recht der Angehörigen auf<br />

Totenfürsorge können in Bezug auf Bestattungsart, Nutzungsrecht an einer Grabstätte, Grabgestaltung<br />

und Grabpflege nur im Rahmen der rechtswirksamen Vorgaben des Friedhofs- und Bestattungsrechts<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1055


Fach 1, Seite 156 Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

ausgeübt werden. Erheblich längere Ruhezeiten für Leichen als für Urnen sind nicht gleichheitswidrig,<br />

weil sich Ruhezeiten für Leichen an der voraussichtlichen Dauer des Verwesungsprozesses orientieren.<br />

<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 599/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Entlassung aus dem Beamtenverhältnis auf Probe: Streitwertfestsetzung<br />

(OVG NRW, Beschl. v. 9.9.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 6 E 610/19) • Für ein Verfahren um die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis<br />

auf Probe sieht § 52 Abs. 6 S. 1 Nr. 2, S. 2 und 3 GKG für die Streitwertbemessung die Hälfte<br />

der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen vor. Der<br />

sich daraus ergebende Betrag ist im Hinblick auf den im Eilverfahren lediglich angestrebten Sicherungszweck<br />

um die Hälfte zu reduzieren. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 600/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Oberbürgermeister einer selbstständigen Stadt: Kreistagsabgeordneter<br />

(OVG Lüneburg, Urt. v. 3.9.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 10 LC 231/18) • Der Oberbürgermeister einer großen selbstständigen<br />

Stadt kann nicht zugleich Abgeordneter im Kreistag des Landkreises sein, dem diese Stadt angehört.<br />

Dieser fällt unter den Anwendungsbereich des § 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 NKomVG. Die in § 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 6<br />

i.V.m. § 50 Abs. 3 S. 1. U. 2 NKomVG normierte Unvereinbarkeitsregelung ist mit höherrangigem Recht<br />

vereinbar. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 601/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Unzuverlässigkeit eines Altenpflegers: Unterlassene Hilfeleistung<br />

(VG Oldenburg, Beschl. v. 11.9.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 7 B 2431/19) • Die rechtskräftige Verurteilung eines Altenpflegers<br />

wegen in Berufsausübung begangener unterlassener Hilfeleistung rechtfertigt den Widerruf der Erlaubnis<br />

zum Führen der Berufsbezeichnung „Altenpfleger“ wegen Unzuverlässigkeit. Die Anordnung der sofortigen<br />

Vollziehung ist aus den Gründen der Interimsgefahr gerechtfertigt. Hinweis: Fortführung der<br />

Rechtsprechung im Beschluss vom 12.7.<strong>20</strong>16 – 7 B 3175/16. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 602/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Steuerrecht<br />

Richtsatzschätzung: Fehlerhafte elektronische Registrierkasse<br />

(BFH, Beschl. v. 8.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> – X B 117/18) • Werden Bareinnahmen mit einer elektronischen Registrierkasse<br />

erfasst, erfordert dies auch im Fall der Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschussrechnung die<br />

tägliche Erstellung eines Z-Bons. Weisen die Z-Bons technisch bedingt keine Stornierungen aus, liegt ein<br />

schwerer formeller Fehler der Kassenaufzeichnungen vor, der die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen<br />

nötig macht. Die Richtsatzschätzung ist dazu eine anerkannte Schätzungsmethode. Soweit die<br />

grundsätzliche Bedeutung der Gewichtung der Richtsatzschätzung in einem Revisionsverfahren überprüft<br />

werden soll, bedarf es daher im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren auch der (umfassenden)<br />

Darlegung kritischer Literaturansichten. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 603/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Tätigkeit eines Rentenberaters: Gewerblichkeit<br />

(BFH, Urt. v. 7.5.<strong><strong>20</strong>19</strong> – VIII R 2/16) • Der Rentenberater übt keine Tätigkeit aus, die einem der in § 18<br />

Abs. 1 Nr. 1 S. 2 EStG genannten Katalogberufe – insbesondere dem des Rechtsanwalts bzw. Steuerberaters<br />

– ähnlich ist. Es fehlt an einer Vergleichbarkeit von Ausbildung und ausgeübter Tätigkeit. Der<br />

Rentenberater erzielt auch keine Einkünfte aus sonstiger selbstständiger Tätigkeit gem. § 18 Abs. 1 Nr. 3<br />

EStG, denn seine Tätigkeit ist im Schwerpunkt beratender Natur und – anders als die gesetzlichen<br />

Regelbeispiele – nicht berufsbildtypisch durch eine selbstständige fremdnützige Tätigkeit in einem fremden<br />

Geschäftskreis sowie durch Aufgaben der Vermögensverwaltung geprägt. Hinweis: Der Rückgriff<br />

auf die Katalogberufe ist nach Ansicht des BFH verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. dazu <strong>ZAP</strong>-<br />

Anwaltsmagazin 19/<strong><strong>20</strong>19</strong>, S. 993 [Red.]). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 604/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Wertminderung bei verzinslichen Wertpapieren: Wirtschaftlicher Zusammenhang<br />

(BFH, Urt. v. 18.4.<strong>20</strong>18 – I R 37/16) • Bei verzinslichen Wertpapieren, die eine Forderung in Höhe ihres<br />

Nominalwerts verbriefen, ist eine Teilwertabschreibung unter den Nennwert allein wegen gesunkener<br />

1056 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>19</strong> Fach 1, Seite 157<br />

Kurse regelmäßig nicht zulässig. Ob Betriebsausgaben und Betriebsvermögensminderungen mit den<br />

den ausländischen Einkünften zugrunde liegenden Einnahmen i.S.d. § 34c Abs. 1 S. 4 EStG in wirtschaftlichem<br />

Zusammenhang stehen, bestimmt sich nach dem Veranlassungsprinzip. In die Bemessung<br />

des Anrechnungshöchstbetrags nach § 34c Abs. 1 S. 4 EStG können auch Wertveränderungen des Vermögensstamms<br />

eingehen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 605/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />

Fahrradunfall: Hindernis bereiten<br />

(OLG Karlsruhe, Urt. v. 16.7.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 14 U 60/17) • Ein Weg auf einem öffentlichen Sportgelände, dessen<br />

Benutzung mit dem Fahrrad oder zu Fuß jedermann gestattet ist, ist eine Straße i.S.d. §§ 32 StVO, 315b<br />

StGB. Wer für Balanceübungen ein Gurtband („Slackline“) quer zum Verlauf eines für Fahrradfahrer<br />

zugelassenen Weges spannt, bereitet ein verkehrsgefährdendes Hindernis i.S.d. §§ 32 StVO, 315b StGB.<br />

Die gebotene Sorgfalt eines Fahrradfahrers bzgl. des vorausschauenden Fahrens erfordert es nicht, die<br />

Straße so sorgfältig zu beobachten, dass auch auf ein völlig untypisches, auf eine Distanz von mehr als<br />

fünf Metern nicht erkennbares Hindernis rechtzeitig reagiert werden kann. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 606/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Untreue: Fremdgeld des Rechtsanwalts<br />

(OLG Köln, Beschl. v. 19.6.<strong><strong>20</strong>19</strong> – III-1 RVs 97 und 99/19) • „Jederzeit fähig“ mit Fremdgeld bestimmungsgemäß<br />

umzugehen ist der Rechtsanwalt u.U. auch dann, wenn ihm ein nicht ausgeschöpfter<br />

Dispositionskredit eingeräumt ist. Die Entscheidung stellt auf die im Hinblick auf die Bereitschaft des<br />

Rechtsanwalts, mit Fremdgeldern bestimmungsgemäß umzugehen, im Falle einer Mandatskündigung<br />

erforderlichen Feststellungen ab. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 607/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />

PKH-Richtlinie: Unmittelbare Anwendung nach Ablauf der Umsetzungsfrist<br />

(BGH, Beschl. v. 4.6.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 1 BGs 170/19) • Für eine unmittelbare Anwendung der Bestimmungen der sog.<br />

PKH-Richtlinie in Verbindung mit § 141 Abs. 3 StPO mit der Folge, dass bereits mit Ablauf der<br />

Umsetzungsfrist für die Mitgliedstaaten am 5.5.<strong><strong>20</strong>19</strong> (vgl. Art. 12 Abs. 1 PKH-Richtlinie in Verbindung mit<br />

Ziffer 2 der Berichtigung der PKW Richtlinie [Abl. <strong>20</strong>17 L 91/40]) „im Regelfall schon vor der ersten<br />

Beschuldigtenvernehmung ein Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung zu stellen ist“, ist rechtlich kein<br />

Raum. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 608/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />

Vermögensverfall eines Rechtsanwalts: Eintrag im Schuldnerverzeichnis<br />

(AGH Hamm, Urt. v. 30.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 1 AGH 39/18) • Ein Vermögensverfall liegt nach der ständigen<br />

Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. nur BGH, Beschl. v. 8.10.<strong>20</strong>10 – AnwZ [B] 11/09 m.w.N.)<br />

vor, wenn der Rechtsanwalt in ungeordnete, schlechte finanzielle Verhältnisse geraten ist, die er in<br />

absehbarer Zeit nicht ordnen kann und außer Stande ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen.<br />

Beweisanzeichen für einen Vermögensverfall sind dabei die Erwirkung von Schuldtiteln und fruchtlose<br />

Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen den Rechtsanwalt. Nach § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO wird darüber<br />

hinaus der Vermögensverfall vermutet, wenn der Rechtsanwalt in das vom Vollstreckungsgericht zu<br />

führende Schuldnerverzeichnis (§ 882b ZPO) eingetragen ist. Maßgeblicher Zeitpunkt, auf den abzustellen<br />

ist, ist der Zeitpunkt des Abschlusses des behördlichen Widerrufsverfahrens (BGH, Urt. v.<br />

29.6.<strong>20</strong>11 – AnwZ (BRFG) 11/10, NJW <strong>20</strong>11, 3234). Hinweis: Die Vermutung entfällt, wenn die Eintragung<br />

wieder gelöscht ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 609/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1057


Fach 1, Seite 158 Eilnachrichten <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Gebührenrecht<br />

Entstehen einer Terminsgebühr: Anwesenheit der Prozessbevollmächtigten<br />

(LAG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 29.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 26 Ta [Kost] 6062/19) • Für das Entstehen einer<br />

Terminsgebühr müssen über die bloße Anwesenheit eines Rechtsanwalts hinaus im Berufungsverfahren<br />

jedenfalls die Voraussetzungen der Nr. 3<strong>20</strong>3 VV RVG erfüllt sein. Aus den Regelungen unter<br />

Nr. 3<strong>20</strong>3 VV RVG und Nr. 3105 VV RVG wird deutlich, dass gewisse Mindestanforderungen erfüllt sein<br />

müssen. So kann allein die Anwesenheit der Prozessbevollmächtigten ausreichend sein. Dann muss<br />

aber zumindest eine Entscheidung zur Prozess-, Verfahrens- oder Sachleitung seitens des Gerichts<br />

von Amts wegen getroffen worden sein (vgl. dazu BGH, Urt. v. 24.1.<strong>20</strong>17 – VI ZB 21/16, Rn 14). Hinweis:<br />

Der Rechtsanwalt erhält nach Vorbemerkung 4 Abs. 3 VV RVG die Terminsgebühr auch dann, wenn er<br />

zu einem anberaumten Termin erscheint, dieser aber aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, nicht<br />

stattfindet. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 610/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

EU-Recht/IPR<br />

Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge: Zugangsmöglichkeit<br />

(EuGH, Urt. v. 19.9.<strong><strong>20</strong>19</strong> – C-527/18) • Art. 6 Abs. 1 S. 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/<strong>20</strong>07 über den Zugang<br />

zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge ist dahin auszulegen, dass er Automobilhersteller<br />

nicht verpflichtet, unabhängigen Marktteilnehmern Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen<br />

für Fahrzeuge in elektronisch weiterzuverarbeitender Form zu gewähren. Artikel 6 Abs. 1<br />

S. 1 der Verordnung Nr. 715/<strong>20</strong>07 ist dahin auszulegen, dass, wenn ein Automobilhersteller durch<br />

Einschaltung eines Informationsdienstleisters zugunsten von autorisierten Händlern und Reparaturbetrieben<br />

einen weiteren Informationskanal für den Vertrieb von Originalersatzteilen eröffnet, darin<br />

kein Zugang unabhängiger Marktteilnehmer liegt, der gegenüber dem Zugang der autorisierten Händler<br />

und Reparaturbetriebe diskriminierend im Sinne dieser Bestimmung ist, sofern die unabhängigen<br />

Marktteilnehmer i.Ü. über einen Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge<br />

verfügen, der gegenüber dem Zugang der autorisierten Händler und Reparaturbetriebe und der diesen<br />

gewährten Informationsbereitstellung nicht diskriminierend ist. Hinweis: Geklagt hatte der Gesamtverband<br />

Autoteile-Handel e.V. gegen KIA Motors Corporation. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 611/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Behinderung: Mittelbare Diskriminierung<br />

(EuGH, Urt. v. 11.9.<strong><strong>20</strong>19</strong> – C-397/18) • Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. ii der Richtlinie <strong>20</strong>00/78 ist dahin<br />

auszulegen, dass die Kündigung eines behinderten Arbeitnehmers aus „sachlichen Gründen“, weil<br />

dieser die vom Arbeitgeber für die Bestimmung der zu entlassenden Personen herangezogenen<br />

Auswahlkriterien erfülle, nämlich eine unter einer bestimmten Quote liegende Produktivität, eine<br />

geringe vielseitige Einsetzbarkeit an den Arbeitsplätzen des Unternehmens und eine hohe Fehlzeitenquote<br />

aufweise, eine mittelbare Diskriminierung wegen einer Behinderung im Sinne dieser<br />

Bestimmung darstellt. Hinweis: Geklagt wurde gegen die Nobel Plastiques Ibérica SA wegen der<br />

Rechtswidrigkeit einer Kündigung. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 612/<strong><strong>20</strong>19</strong><br />

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1058 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1817<br />

Kündigung wegen Zahlungsverzugs infolge einer Mietminderung<br />

Miete/Nutzungen<br />

Wohnraummietrecht<br />

Kündigung des Vermieters wegen Zahlungsverzugs des Mieters infolge<br />

einer Mietminderung wegen behaupteter Mängel der Mietsache<br />

Von Richter am Amtsgericht Dr. SVEN CASPERS, München<br />

Inhalt<br />

I. Vorbemerkung<br />

II. Vorfrage: Rechtzeitigkeit der Mietzahlung<br />

III. Mietminderung wegen Mangelhaftigkeit der<br />

Mietsache (§ 536 Abs. 1 BGB)<br />

1. Berechnung einer Mietminderung<br />

2. Erforderlicher Mietervortrag bei Mängeln<br />

3. Sekundäre Darlegungslast des Vermieters<br />

IV. Zurückbehaltungsrechte des Mieters aus<br />

§§ 3<strong>20</strong>, 273 BGB i.V.m. 535 Abs. 1 S. 2 BGB<br />

1. Unterschied zur Mietminderung<br />

2. Gesetzliche Vorleistungspflicht des Mieters<br />

nach § 556b BGB<br />

3. Zeitliche Dauer der Ausübung<br />

4. Höhe des Zurückbehaltungsrechts<br />

5. Vorliegen eines unverschuldeten Rechtsoder<br />

Tatsachenirrtums des die Miete<br />

mindernden Mieters<br />

6. Abdingbarkeit des Zurückbehaltungsrechts<br />

V. Zusammenfassung und Ratschläge für die<br />

Praxis<br />

I. Vorbemerkung<br />

Der Vermieter kann dem Wohnraummieter nach § 573 Abs.1 u. 2 Nr. 1 BGB ordentlich wegen einer nicht<br />

nur unerheblichen und schuldhaften Pflichtverletzung des Mieters und nach §§ 543 Abs. 1 u. 2 Nrn. 3 a) und<br />

b), 569 Abs. 3 u. 4 BGB außerordentlich und fristlos kündigen, sofern der Mieter über einen relevanten<br />

Zeitraum unberechtigter Weise zu wenig Miete gezahlt hat. Eine fristlose Kündigung ist wirksam, wenn<br />

der Mieter für zwei aufeinander folgende Termine mit der Entrichtung der Miete mit einem Betrag von<br />

mehr als einer Monatsmiete in Verzug gerät (§ 543 Abs. 2 Nr. 3a) i.V.m. § 569 Abs. 3 Nr. 1 BGB) oder in<br />

einem Zeitraum, der sich über mehr als zwei Monate erstreckt, mit einer Miethöhe in Rückstand gerät,<br />

welcher die Miethöhe von zwei Monaten erreicht (§ 543 Abs. 2 Nr. 3b) BGB).<br />

Von besonderer Praxisrelevanz ist in diesem Zusammenhang die häufig auftreffende Konstellation,<br />

dass der Mieter angebliche Mängel der Mietsache behauptet, welche der Vermieter angeblich nicht<br />

bzw. nicht ausreichend behoben hat, so dass der Mieter aus seiner Sicht zur Mietminderung berechtigt,<br />

sprich zu einer nur verminderten Mietzahlung verpflichtet ist. Regelmäßig ist der Vermieter der Auffassung,<br />

dass entweder gar kein zur Mietminderung berechtigender Mangel vorliegt oder er einen<br />

solchen ordnungsgemäß beseitigt hat, so dass jedenfalls kein Recht zur Mietminderung (mehr) besteht<br />

bzw. es sich lediglich um solche Beeinträchtigungen handelt, die so gering sind, dass sie der Mieter<br />

ohne Minderungsrecht hinzunehmen habe. Alle Fälle der genannten Konstellation haben gemein, dass<br />

der Mieter nach Mängelanzeige und ggf. Aufforderung zur Mängelbeseitigung den Mietzins in einer<br />

geminderten Höhe an den Vermieter erbringt, der Vermieter seinerseits die Mängel zurückweist und<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1059


Fach 4, Seite 1818<br />

Miete/Nutzungen<br />

Kündigung wegen Zahlungsverzugs infolge einer Mietminderung<br />

nach Erreichung eines ausreichenden Mietrückstands eine fristlose und i.d.R. hilfsweise ordentliche<br />

Kündigung wegen ebendieser Mietrückstände erklärt.<br />

Entscheidend für den Erfolg der Räumungsklage ist, ob die Mietwohnung tatsächlich mangelbehaftet<br />

i.S.v. § 536 BGB ist und ggf. in welcher prozentualer Höhe eine Minderung gerechtfertigt ist. Weiter<br />

ist neben der Mietminderung zu beachten, dass dem Mieter ein Zurückbehaltungsrecht aus § 3<strong>20</strong> BGB<br />

und § 273 BGB gestützt auf den Anspruch auf Mängelbeseitigung zustehen kann, der neben der<br />

Mietminderung geltend gemacht werden kann, so dass ein möglicher schuldhafter Mietrückstand, der<br />

für eine hierauf gestützte Kündigung erforderlich ist, nicht gegeben sein kann.<br />

II. Vorfrage: Rechtzeitigkeit der Mietzahlung<br />

Der Mieter kommt mit seiner monatlichen Mietzahlung in Verzug, wenn er diese nicht zum vereinbarten<br />

Zeitpunkt leistet, wobei es keiner besondere Mahnung bedarf, weil sich der Leistungszeitpunkt<br />

entweder aus dem Gesetz (§ 556b Abs. 1 BGB) oder aus der mietvertraglichen Vereinbarung (§ 286 Abs. 2<br />

BGB) ergibt (SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, Mietrecht, 13. Aufl. <strong>20</strong>17, § 543 Rn 92). Für die in der Praxis zumeist<br />

verwendete Zahlungsmethode mittels eingerichteten Dauerauftrags des Mieters folgt nach h.M. aus der<br />

Richtlinie <strong>20</strong>00/35/EG und einem Urteil des EuGH vom 3.4.<strong>20</strong>08 (Erste Kammer – C-306/06) hinsichtlich<br />

der Rechtzeitigkeit der Mietzahlung, dass die Mietzahlung als sog. qualifizierte Schickschuld<br />

einzuordnen ist, so dass für die Rechtzeitigkeit der Zeitpunkt die (letzte) Leistungshandlung und nicht<br />

der Eintritt des Leistungserfolges ist (BGH, Urt. v. 5.10.<strong>20</strong>16 – VIII ZR 222/15; STAUDINGER/EMMERICH, Neubearbeitung<br />

<strong>20</strong>18, § 556b Rn 14a; SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 543 Rn 94a, 94b m.w.N. zu den nach<br />

wie vor in der Literatur vertretenen Gegenauffassungen). Für die Rechtzeitigkeit der Zahlung der Miete<br />

genügt also regelmäßig die Erteilung des Überweisungsauftrags durch den Mieter spätestens am dritten<br />

Werktag eines jeden Monats, auch wenn das Geld erst später dem Vermieterkonto gutgeschrieben<br />

wird.<br />

Praxishinweis:<br />

In der Praxis wird auf Vermieterseite häufig übersehen, dass daher eine Kündigung wegen unpünktlicher<br />

Mietzahlungen und/oder Zahlungsverzugs nicht von vornherein darauf gestützt werden kann, dass die<br />

Miete nicht spätestens am dritten Werktag dem Vermieterkonto gutgeschrieben wurde, da die Verzögerungsgefahr<br />

der Vermieter und der Mieter lediglich die Verlustgefahr trägt. Aus Vermietersicht sollte daher<br />

sicherheitshalber frühestens am sechsten Werktag eines jeden Monats gekündigt werden, da bei einer<br />

Überweisung von einem deutschen Mieter- auf ein deutsches Vermieterkonto davon ausgegangen werden<br />

kann, dass das Geld in diesem Fall spätestens am sechsten Werktag auf dem Vermieterkonto auch gutgeschrieben<br />

wird, sofern der Überweisungsauftrag am dritten Werktag tatsächlich erteilt wurde.<br />

III. Mietminderung wegen Mangelhaftigkeit der Mietsache (§ 536 Abs. 1 BGB)<br />

Voraussetzung einer Mietminderung nach § 536 Abs. 1 S. 1 BGB ist, dass der tatsächliche Zustand der<br />

Mietsache negativ von der durch Vertrag oder Verkehrssitte definierten Sollbeschaffenheit abweicht, so<br />

dass der Mieter an der Ausübung seines mietvertraglichen Gebrauchs mehr als nur unerheblich<br />

gehindert wird (ganz h.M. vgl. BGH, Urt. v. 29.4.<strong>20</strong>15 – VIII ZR 197/14; STAUDINGER/EMMERICH, a.a.O., § 536<br />

Rn 1 m.w.N.). Primärer Maßstab zur Bestimmung eines Mangels sind also die vertraglichen Abreden der<br />

Parteien, die auch konkludent erfolgen können. Fehlen wie i.d.R. solche Abreden ist auf die mittels<br />

Auslegung gem. §§ 133, 157 BGB zu ermittelnde Verkehrssitte zurückzugreifen und danach zu fragen,<br />

welchen Zustand der Mietsache der Mieter unter Berücksichtigung von Art und Lage der vermieteten<br />

Sache üblicher- und billigerweise erwarten darf (SCHMIDT-FUTTERER/EISENSCHMID, a.a.O., § 536 Rn 19 f.).<br />

Praxistipps:<br />

1. In diesem Zusammenhang erlangen z.B. bei in Streit stehendem Baulärm von einer nahe gelegenen<br />

Baustelle technische Normen wie Richtlinien und Regelwerke wie die sog. DIN-Normen Bedeutung,<br />

1060 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1819<br />

Kündigung wegen Zahlungsverzugs infolge einer Mietminderung<br />

welche jedoch primär nur indizielle Bedeutung haben und für die Mietminderung nur dann von unmittelbarem<br />

Interesse sind, wenn die Parteien oder die Verkehrssitte auf diese Bezug nimmt.<br />

2. Nach einem neuen Urteil des BGH aus dem Jahre <strong>20</strong>18 (BGH, Urt. v. 22.8.<strong>20</strong>18 – VIII ZR 99/17) gilt, dass<br />

das Recht zur Mietminderung nach § 536 Abs. 1 BGB unabhängig davon gilt, ob der Mieter die Mietsache<br />

im fraglichen Zeitraum genutzt hat bzw. überhaupt nutzen konnte oder ob der Mieter ggf. einen nur<br />

eingeschränkten oder sogar gar keinen Gebrauch machen konnte (STAUDINGER/EMMERICH, a.a.O., § 536<br />

Rn 93).<br />

3. Vom BGH noch nicht ausdrücklich entschieden ist die Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen<br />

ein Recht zur Minderung vorliegen kann, wenn aufgrund baulich bedingter Besonderheiten<br />

der Mietsache die Gefahr eines Mietmangels (hier: einer Schimmelbildung) besteht, mithin inwieweit<br />

eine sog. Mangelgefahr (vgl. hierzu LG Lübeck, Urt. v. 15.2.<strong>20</strong>18 – 14 S 14/17) einen Mietmangel darstellen<br />

kann (vgl. BGH, Urt. v. 5.12.<strong>20</strong>18 – VIII ZR 271/17).<br />

Das Recht zur Minderung darf schließlich nicht nach den §§ 536 Abs. 1a, 536b und 536c Abs. 2 S. 2 BGB<br />

ausgeschlossen sein. Die Ausschlusstatbestände können hier aufgrund der Schwerpunktsetzung des<br />

hiesigen Aufsatzes nur kurz skizziert werden (zur Vertiefung SCHMIDT-FUTTERER/EISENSCHMID, a.a.O., § 536<br />

Rn 624 ff.):<br />

• § 536 Abs. 1a BGB: Keine Minderung innerhalb der ersten drei Monate aufgrund einer energetischen<br />

Modernisierung i.S.v. § 555b Nr. 1 BGB.<br />

• § 536b S. 1 BGB: Bei Kenntnis des Mangels durch den Mieter bei Vertragsschluss ist eine Minderung<br />

ausgeschlossen.<br />

• § 536c Abs. 1, Abs. 2 S. 2 Nr. 1 BGB: Schuldhafte Nichtanzeige eines Mangels durch den Mieter und<br />

darauf beruhende nicht mögliche Abhilfe des Vermieters.<br />

• § 242 BGB: Selbstverursachung des Mangels durch den Mieter<br />

1. Berechnung einer Mietminderung<br />

Bei Vorliegen eines Mangels der Mietwohnung reduziert sich der geschuldete Mietzins berechnet<br />

anhand der Bruttowarmmiete (BGH, Urt. v. 6.4.<strong>20</strong>05 – XII ZR 225/03; interessanterweise immer noch<br />

a.A. OLG Dresden, Urt. v. 31.7.<strong>20</strong>07 – 5 U 284/07 und 5 U 0284/07) kraft Gesetzes gem. § 536 Abs. 1 BGB<br />

um den Teil, der wertungsmäßig eine mehr als unerhebliche Gebrauchsbeeinträchtigung der Mietwohnung<br />

begründet (vgl. § 536 Abs. 1 S. 3 BGB). Dies folgt unmittelbar aus § 536 Abs. 1 BGB, insoweit<br />

handelt es sich streng genommen nicht um ein spezielles Mietminderungsrecht des Mieters, da die<br />

Rechtsfolge unabhängig vom Willen, mithin im Einzelfall auch entgegen dem Willen des Mieters kraft<br />

Gesetzes eintritt. Unter der Bruttomiete in diesem Sinne ist die jeweils abgerechnete Bruttomiete zu<br />

verstehen, mit anderen Worten diejenige Bruttomiete, welche sich nach erfolgter Betriebskostenabrechnung<br />

und nach Verrechnung etwaiger Guthaben oder Nachforderungen ergibt (BGH, Urt. v.<br />

13.4.<strong>20</strong>11 – VIII ZR 223/10; zum sog. Betriebskostendilemma wird auf SCHMIDT-FUTTERER/EISENSCHMID,<br />

a.a.O., § 536 Rn 372 ff. verwiesen).<br />

2. Erforderlicher Mietervortrag bei Mängeln<br />

Der Mieter, der sich im Rahmen einer Räumungsklage wegen Zahlungsverzugs auf eine Mietminderung<br />

beruft, ist für das Vorliegen eines mehr als unerheblichen Mietmangels nach den allgemeinen<br />

Grundsätzen darlegungs- und beweisverpflichtet. Der Mieter muss daher in einem ersten Schritt substantiiert<br />

darlegen, dass, in welcher Zeit und in welchem Umfang ein konkret bezeichneter Mietmangel<br />

vorgelegen hat, der beim Mieter zu einer konkret darzulegenden wesentlichen Gebrauchsbeeinträchtigung<br />

geführt hat (SCHMIDT-FUTTERER/EISENSCHMID, a.a.O., § 536 Rn 488 m.w.N.). Dies umfasst<br />

allerdings nicht das Maß der Beeinträchtigung, d.h. der Mieter muss keine konkrete Minderungsquote<br />

oder einen konkreten Minderungsbetrag und vor allem auch nicht die Ursache des behaupteten<br />

Mangels darlegen (BVerfG, Beschl. v. 29.5.<strong>20</strong>07 – 1 BvR 624/03; BGH, Urt. v. 15.4.<strong>20</strong>15 – VIII ZR 59/14).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1061


Fach 4, Seite 18<strong>20</strong><br />

Miete/Nutzungen<br />

Kündigung wegen Zahlungsverzugs infolge einer Mietminderung<br />

Praxistipp:<br />

Der häufig zu lesende Satz in Schriftsätzen an das Gericht im Rahmen von rechtshängigen Mietrechtsverfahren<br />

„wegen erheblicher Schimmelbildung/Lärmwirkungen o.Ä. durfte der Beklagte ohne Weiteres die<br />

Miete im streitgegenständlichen Zeitraum um 50 % mindern“ ist in dieser Allgemeinheit unsubstantiiert<br />

und vermag in keiner Weise darzulegen, wie und in welchem Ausmaß eine mehr als unerhebliche Tauglichkeitsbeeinträchtigung<br />

vorliegt.<br />

3. Sekundäre Darlegungslast des Vermieters<br />

Sofern ein ausreichend substantiierter Vortrag des Mieters zu einem Mangel vorliegt, muss der Vermieter<br />

aufgrund der ihn treffenden sekundären Darlegungs- und Beweislast ebenfalls substantiiert<br />

vortragen und ggf. unter Beweis stellen, warum kein (erheblicher) Mangel vorhanden ist, er bestehende<br />

Mängel endgültig behoben hat und/oder gesetzliche Ausschlusstatbestände (z.B. §§ 536b, 536c BGB,<br />

s. oben) eingreifen (SCHMIDT-FUTTERER/EISENSCHMID, a.a.O., § 536 Rn 318 u. 498 ff. m.w.N.).<br />

Praxistipp:<br />

Der in diesem Zusammenhang häufig zu lesende Satz der Vermieterseite „es wird vollumfänglich mit Nichtwissen<br />

bestritten, dass die Mietsache mehr als unerheblich mangelbehaftet war“ ist weder ausreichend substantiiert<br />

noch im Lichte von § 138 Abs. 4 ZPO möglich, da der Zustand der Mietsache regelmäßig in der Sphäre<br />

des Vermieters liegt, welcher sich durch Ausübung von Besuchsrechten einen Überblick über den Zustand<br />

der (mangelbehafteten) Wohnung verschaffen kann, so dass ein Bestreiten mit Nichtwissen regelmäßig<br />

unzulässig ist.<br />

Beim in der Praxis häufig anzutreffenden Problem eines Schimmelbefalls der Mietsache trägt der<br />

Mieter die Beweislast für das Vorhandensein von Schimmel, sofern vom Vermieter bestritten wird, dass<br />

Schimmel überhaupt vorliegt und nur dann, wenn der Vermieter das Vorhandensein des Schimmels<br />

bestätigt und (nur) Streit über dessen Verursachung besteht (baulich- oder nutzerbedingt), trägt der<br />

Vermieter nach der Sphärentheorie die Beweislast dafür, dass der Schimmel bauseitig und nicht durch<br />

ein fehlerhaftes Nutzerverhalten des Mieters verursacht wurde, sog. Sphärentheorie (vgl. SCHMIDT-<br />

FUTTERER/EISENSCHMID, a.a.O., § 536 Rn 498 ff. m.w.N.).<br />

Sofern sich nach einer durchgeführten Beweisaufnahme zur Überzeugung des Gerichts ergibt, dass eine<br />

mehr als unerhebliche Gebrauchsbeeinträchtigung durch einen Mietmangel bestand, bestimmt das<br />

Gericht eine darauf basierende, prozentuale Minderungsquote (§ 286 ZPO).<br />

Praxistipp:<br />

Aus Anwaltssicht ist hierbei zu berücksichtigen, dass eine Überprüfung der konkreten prozentualen Bezifferung<br />

des Tatrichters (z.B. Minderungsquote von 25 %) in der Berufungsinstanz aufgrund der eingeschränkt<br />

rügbaren tatrichterlichen Beweiswürdigung („Verstoß gegen Denkgesetze“) nur im Einzelfall<br />

möglich sein wird.<br />

IV. Zurückbehaltungsrechte des Mieters aus §§ 3<strong>20</strong>, 273 BGB i.V.m. 535 Abs. 1 S. 2 BGB<br />

Neben dem Recht auf eine angemessene Mietminderung hat der Mieter die Möglichkeit der<br />

Ausübung eines Zurückbehaltungsrechts aus § 3<strong>20</strong> BGB für die Zeit der Mangelhaftigkeit der<br />

Mietsache, um auf den Vermieter Druck auszuüben, den vertragsgemäßen Zustand wiederherzustellen<br />

(BGH, Urt. v. 7.5.1982 – V ZR 90/81; BGH, Beschl. v. 11.6.1997 – XII ZR 254/95; SCHMIDT-FUTTERER/<br />

EISENSCHMID, a.a.O. § 536 Rn 409). Gewährleistungsrechte werden nach ganz h.M. von § 3<strong>20</strong> BGB nicht<br />

berührt. Praktisch bedeutet dies, dass der Mieter den nicht von der Minderung erfassten Betrag des<br />

Mietzinses zurückhalten darf, um den Vermieter zusätzlich zur Erfüllung seiner Primärpflicht aus § 535<br />

BGB anzuhalten. Sofern der Vermieter den Mangel beseitigt, muss der Mieter den zurückbehaltenen<br />

1062 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1821<br />

Kündigung wegen Zahlungsverzugs infolge einer Mietminderung<br />

Betrag nachzahlen (§ 322 BGB). Ein Anspruch des Vermieters auf Verzinsung des zurückgehaltenen<br />

Mietzinses besteht mangels Fälligkeit dieser Forderungen jedoch nicht (LG Köln, Urt. v. <strong>20</strong>.12.1989 –<br />

10 S <strong>20</strong>1/89). Daneben steht dem Mieter das Zurückbehaltungsrecht aus § 273 BGB zu, allerdings nur<br />

für künftige Mietzahlungen (OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.4.1987 – 10 U 2<strong>20</strong>/86).<br />

Praxistipp:<br />

Nach der Entscheidung des BGH vom 22.8.<strong>20</strong>18 (VIII ZR 99/17) gilt die Pflicht des Vermieters, die Wohnung<br />

gem. § 535 Abs. 1 S. 2 BGB zum vertragsgemäßen Gebrauch zu überlassen und sie fortlaufend in diesem<br />

Zustand zu erhalten unerheblich davon, ob der Mieter die Mietsache tatsächlich nutzt und ihn ein Mangel<br />

daher subjektiv beeinträchtigt.<br />

Macht der Mieter ein Zurückbehaltungsrecht aus § 3<strong>20</strong> BGB gegen Mietzinsansprüche aus Vergangenheit<br />

und Gegenwart geltend, genügt es materiell rechtlich, dass das Zurückbehaltungsrecht besteht,<br />

der Mieter muss sich nicht vorgerichtlich darauf berufen (BGH, Urt. v. 31.3.1993 – XII ZR 198/91). Bei<br />

einem auf § 273 BGB gestützten Zurückbehaltungsrecht hinsichtlich in der Zukunft liegender Mietzinsansprüche<br />

ist hingegen erforderlich, dass vor dem Zugang einer auf Zahlungsverzug gestützten Kündigungserklärung<br />

die daraus folgende Einrede erhoben wurde, damit der Vermieter ggf. von seiner<br />

Abwendungsbefugnis nach § 273 Abs. 3 BGB Gebrauch machen kann (SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O.<br />

§ 543 Rn 99).<br />

Praxistipp:<br />

Die Tatsache, dass § 3<strong>20</strong> BGB bereits materiell-rechtlich den Eintritt des Schuldnerverzugs verhindert,<br />

darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mieter im Rahmen eines Räumungsprozesses die Einrede<br />

prozessual erheben muss, um diese materiell-rechtlichen Wirkungen geltend machen zu können! Eine<br />

mögliche Formulierung könnte z.B. wie folgt lauten:<br />

„Es wird ein Zurückbehaltungsrecht aus § 3<strong>20</strong> BGB und § 273 BGB gestützt auf den Anspruch auf Mängelbeseitigung<br />

aus § 535 BGB geltend gemacht: Neben der Mietminderung i.H.v. 50 % der Bruttomiete<br />

durfte der Mieter weitere 800 € pro Monat seit September <strong>20</strong>18 zurückhalten, um den Vermieter zur<br />

Mängelbeseitigung anzuhalten.“<br />

Nach der Rechtsprechung des BGH besteht das Zurückbehaltungsrecht für den Mieter erst nach<br />

rechtzeitiger Mangelanzeige, sofern der Mangel dem Vermieter tatsächlich nicht bekannt war.<br />

Insoweit besteht ein Gleichlauf zum Erfüllungsanspruch aus § 535 Abs. 1 S. 2 BGB, der nach h.M. in<br />

diesem Fall auch nicht besteht, weil der Mieter sich selbst nicht vertragstreu verhält (§ 242 BGB). Nach<br />

Auffassung des BGH kann das Zurückbehaltungsrecht seine Druckfunktion auf den Vermieter nicht<br />

entfalten, wenn Letzterer keine Kenntnis vom Mangel erlangt. Des Weiteren sei eine schuldhaft nicht<br />

erfolgte Mängelanzeige durch den Mieter eine Vertragsverletzung, welche nicht zur Folge haben<br />

dürfe, dass der Mieter eine Kündigung wegen ausbleibender Mietzahlungen verhindern oder hinauszögern<br />

könne (BGH, Versäumnisurteil v. 3.11.<strong>20</strong>10 – VIII ZR 330/09; a.A. SCHMIDT-FUTTERER/BLANK,<br />

a.a.O., § 543 Rn 99b).<br />

Sofern der Mieter die Mangelbeseitigung durch den Vermieter verweigert, so kann er sich nach Treu und<br />

Glauben gem. § 242 BGB ab dem Zeitpunkt nicht mehr auf das Zurückbehaltungsrechts berufen, zu<br />

welchem die Mangelbeseitigung nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge voraussichtlich abgeschlossen<br />

gewesen wäre und der Vermieter folglich wieder die ungeminderte Miete hätte verlangen dürfen (BGH,<br />

Urt. v. 13.5.<strong>20</strong>15 – XII ZR 65/14).<br />

1. Unterschied zur Mietminderung<br />

Der wesentliche Unterschied zwischen dem Recht auf Mietminderung und dem Zurückbehaltungsrechts<br />

des Mieters liegt darin, dass sich im Fall eines erheblichen Mangels der Mietsache kraft Gesetzes<br />

der zu bezahlende Mietzins entsprechend verringert und damit das ursprüngliche Äquivalenzverhältnis<br />

von Leistung und Gegenleistung wieder hergestellt wird, während das Zurückbehaltungsrecht primär<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1063


Fach 4, Seite 1822<br />

Miete/Nutzungen<br />

Kündigung wegen Zahlungsverzugs infolge einer Mietminderung<br />

dazu dient, Druck auf den Vermieter auszuüben, den vertragsgemäßen Zustand der Mietsache wiederherzustellen<br />

(SCHMIDT-FUTTERER/EISENSCHMID, a.a.O., § 536 Rn 422).<br />

Für die hier besonders interessierende Fallkonstellation einer auf Mietrückständen begründeten Vermieterkündigung<br />

ist zu beachten, dass für die Frage, ob tatsächlich Mietrückstände des Mieters bestanden,<br />

sowohl die Frage einer Mietminderung inzident zu prüfen ist und bei prozessualer Erhebung<br />

des Zurückbehaltungsrechts zusätzlich, ob und ggf. in welcher Höhe der Mieter einen weiteren Teil des<br />

nicht bezahlten Mietzinses zurückhalten durfte, um den Vermieter zur alsbaldigen Mängelbeseitigung<br />

anzuhalten.<br />

Praxistipp:<br />

Auf Vermieterseite ist bei anhängiger Räumungsklage zu beobachten, dass die Möglichkeit eines auf<br />

Mängelbeseitigung gestützten Zurückbehaltungsrechts häufig nicht ausreichend beachtet wird, da<br />

insbesondere die fristlose Kündigung nach § 543 Abs. 1, Abs. 2 Nrn. 3a), b) BGB bei Unterschreiten der<br />

gesetzlichen Mindesthöhen des vorliegenden Mietrückstandes (s.o.) materiell unwirksam sein kann.<br />

Gleiches kann namentlich auch für die regelmäßig erklärte (hilfsweise) ordentliche Kündigung gelten, die<br />

zudem ein Verschulden erfordert.<br />

2. Gesetzliche Vorleistungspflicht des Mieters nach § 556b BGB<br />

Fraglich ist, ob § 3<strong>20</strong> BGB trotz der in § 556b Abs. 1 BGB statuierten Vorleistungspflicht anwendbar<br />

bleibt, vgl. § 3<strong>20</strong> Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BGB ([…]„es sei denn, dass er vorzuleisten verpflichtet ist“).<br />

Nach vorzugswürdiger Auffassung steht die in § 556b Abs. 1 BGB statuierte Vorleistungspflicht des<br />

Mieters in Bezug auf den Mietzinsanspruch einem Zurückbehaltungsrecht aus § 3<strong>20</strong> BGB gestützt auf<br />

den Anspruch auf Mängelbeseitigung nicht entgegen. Dies folgt bereits aus der Wertung in § 556b<br />

Abs. 2 BGB, wo ausdrücklich geregelt ist, dass der Mieter wegen Forderungen aus §§ 536a, 539 BGB<br />

sowie aus ungerechtfertigter Bereicherung ein Zurückbehaltungsrecht zusteht, selbst wenn vertraglich<br />

etwas anderes geregelt wurde. Diese Regelung zeigt, dass ein Zurückbehaltungsrecht trotz<br />

Vorleistungspflicht bestehen bleibt (SCHMIDT-FUTTERER/EISENSCHMID, a.a.O., § 536 Rn 412). Zudem ergibt<br />

sich aus der Gesetzesbegründung zu § 556b BGB, dass mit der Regelung einer Vorleistungspflicht nur<br />

die Vertragswirklichkeit abgebildet werden sollte und keine weiteren Rechte des Mieters geschmälert<br />

werden sollten, so dass letztlich § 556b BGB teleologisch als reine Fälligkeitsregelung zu reduzieren ist<br />

(SCHMIDT-FUTTERER/EISENSCHMID, a.a.O., m.w.N.). Da es sich bei § 556b BGB aber in jedem Fall nur um eine<br />

sog. unbeständige Vorleistungspflicht handelt, führt diese bei einem fälligen Anspruch auf die Gegenleistung<br />

am Ende der durch die Vorleistung bestimmten Monatsperiode zu einem Anspruch auf<br />

Leistung Zug um Zug, so dass dann wieder uneingeschränkt § 3<strong>20</strong> Abs. 1 BGB gilt (vgl. BGH, Urt. v.<br />

11.7.1989 – XI ZR 61/88; vgl. auch STAUDINGER/EMMERICH, a.a.O., § 536 Rn 102, der zu Recht darauf hinweist,<br />

dass § 3<strong>20</strong> BGB jedenfalls auf die erste nach Auftreten des Mangels fällige monatliche Miete erstreckt<br />

werden kann).<br />

3. Zeitliche Dauer der Ausübung<br />

Ein bestehendes Zurückbehaltungsrecht des Mieters endet jedenfalls mit der vollständigen Beseitigung<br />

des Mangels durch den Vermieter sowie bei Beendigung des Mietvertrags. In beiden Fällen gilt, dass die<br />

vom Mieter unter Berufung auf ein Zurückbehaltungsrecht zurückgehaltenen Beträge sodann<br />

nachgezahlt werden müssen (BGH, Urt. v. 10.4.<strong><strong>20</strong>19</strong> – VIII ZR 12/18; BGH, Urt. v. 17.6.<strong>20</strong>15 – VIII ZR 19/14).<br />

Praxistipp:<br />

Auch nach der Entscheidung des BGH vom 10.4.<strong><strong>20</strong>19</strong> (a.a.O.) bleibt eine für die Praxis sehr relevante Frage<br />

ungeklärt, nämlich ob der Mieter mit erfolgreicher Mangelbeseitigung durch den Vermieter und dem<br />

damit verbundenen Wegfall des Zurückbehaltungsrechts sofort mit den ausstehenden Mietzahlungen in<br />

Zahlungsverzug (§ 286 BGB) gerät oder ob hierfür eine Handlung des Vermieters (Mahnung oder sonstige<br />

Zahlungsaufforderung) erforderlich ist. Diese Frage ist insbesondere für eine unmittelbar nach Mangel-<br />

1064 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1823<br />

Kündigung wegen Zahlungsverzugs infolge einer Mietminderung<br />

beseitigung erfolgte ordentliche und/oder fristlose Kündigung des Vermieters wegen Zahlungsverzugs<br />

relevant. Nach hier vertretener Meinung ist eine Zahlungsaufforderung oder eine Mahnung nicht erforderlich,<br />

da der Vermieter den Mieter durch die erfolgte Mängelbeseitigung in Annahmeverzug hinsichtlich<br />

der Leistung gesetzt hat, auf die das Zurückbehaltungsrecht gestützt wurde, so dass ab diesem<br />

Zeitpunkt Schuldnerverzug des Mieters nach § 286 BGB hinsichtlich seiner Mietzinszahlungspflicht<br />

bestand (BGH, Urt. v. 6.12.1991 – V ZR 229/90; MüKo-BGB/ERNST, 8.Aufl. <strong><strong>20</strong>19</strong>, § 286 Rn 25). Dem Mieter<br />

wird aber jedenfalls aus § 242 BGB eine angemessene Frist zur Nachzahlung einzuräumen sein, die mit<br />

einer Woche ausreichend bemessen sein sollte. (vgl. zu diesem Problem umfassend KRUG, AnwZert MietR<br />

17/<strong><strong>20</strong>19</strong>, Anm. 2, der aus teleologischen Gründen das Erfordernis einer vorherigen Zahlungsaufforderung<br />

bejaht; ähnlich STREYL, NJW <strong><strong>20</strong>19</strong>, 2308, Anm. zu BGH – VIII ZR 12/18).<br />

Das Zurückbehaltungsrecht entfällt ferner, wenn der Vermieter das Grundstück veräußert, weil sich<br />

dann der Anspruch auf Mängelbeseitigung wegen § 566 Abs. 1 BGB ausschließlich gegen den Erwerber<br />

richtet, der in den Mietvertrag eintritt (BGH, Urt. v. 19.6.<strong>20</strong>06 – VIII ZR 284/05). Dasselbe gilt, sofern der<br />

Mieter infolge einer eigenen Kündigung endgültig kein Interesse an der Erfüllung des Mietvertrages<br />

mehr hat, was im Regelfall bei einer fristlosen Mieterkündigung und baldigen Räumung durch den<br />

Mieter zu bejahen ist (STAUDINGER/EMMERICH, a.a.O., § 536 Rn 107; BGH, Urt. v. 25.1.1982 – VIII ZR 310/80).<br />

Nicht erforderlich ist hingegen, dass der Mieter das zurückbehaltene Geld anlegt oder zurücklegt, allein<br />

entscheidend ist, dass er zahlungswillig und zahlungsbereit ist. Schließlich soll nach der Rechtsprechung<br />

des BGH das Zurückbehaltungsrecht enden, wenn nicht mehr zu erwarten sei, dass der Vermieter seiner<br />

Verpflichtung auf Mängelbeseitigung unter dem Druck des Leistungsverweigerungsrecht nachkommen<br />

wird (so explizit BGH, Urt. v. 17.6.<strong>20</strong>15 – VIII ZR 19/14, wobei im dortigen Zeitraum für einen Zeitraum von<br />

drei Jahren keinerlei Miete gezahlt wurde). Weigert sich der Mieter, die Beseitigung von Mängeln durch<br />

den Vermieter, dessen Mitarbeiter oder von ihm beauftragte Handwerker zu dulden, entfällt das Zurückbehaltungsrecht<br />

in der Weise, dass er einbehaltene Beträge sofort nachzuzahlen hat und ein weiterer<br />

Einbehalt nicht mehr zulässig ist. Das gilt auch für solche Fälle, in welchen der Mieter die Mangelbeseitigung<br />

im Hinblick auf einen anhängigen Rechtsstreit über rückständige Miete aus Gründen der<br />

Beweissicherung verweigert (BGH, Urt. v. 10.4.<strong><strong>20</strong>19</strong> – VIII ZR 12/18).<br />

4. Höhe des Zurückbehaltungsrechts<br />

Nach wie vor heftig umstritten ist, in welcher Höhe das Zurückbehaltungsrecht ausgeübt werden darf<br />

(vgl. SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 543 Rn 99 m.w.N.). Einigkeit besteht jedenfalls darin, dass die Höhe<br />

von allen Umständen des Einzelfalls abhängt, wobei der Grundsatz von Treu und Glauben aus § 242 BGB<br />

zu berücksichtigen ist (BGH, Urt. v. 8.7.1982 – VII ZR 96/81). Maßgeblich soll hierbei insbesondere sein,<br />

welche Beeinträchtigungen des mietvertraglichen Gebrauchs durch den jeweiligen Mangel vorliegen.<br />

Nach Auffassung des BGH muss der zurückbehaltene Betrag in jedem Fall nach Treu und Glauben<br />

aufgrund einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls zeitlich und summenmäßig begrenzt<br />

sein, um zu verhindern, dass der Mieter, wenn der Vermieter den Mangel nicht alsbald beseitigt,<br />

möglicherweise über längere Zeit hinweg (nahezu) keine Miete zu zahlen braucht. Sofern der Vermieter<br />

– wie regelmäßig – seine Leistung zum Teil erbracht hat, so kann der Mieter i.d.R. nicht die gesamte<br />

ungeminderte Miete zurückhalten (vgl. § 3<strong>20</strong> Abs. 2 BGB). Die jeweilige Zurückbehaltungsquote muss in<br />

einer angemessenen Relation zur Bedeutung des Mangels stehen (BGH, Urt. v. 7.6.<strong>20</strong>15 – VIII ZR 19/14;<br />

BGH, Urt. v. 27.10.<strong>20</strong>15 – VIII ZR 288/14).<br />

Die neuere Rechtsprechung des BGH ist in der Literatur auf nahezu einhellige Kritik gestoßen, da diese<br />

dazu führen würde, dass eine Vertragsverletzung des Vermieters aus § 535 Abs. 1 S. 2 BGB mit einem<br />

Rechtsverlust für den Mieter durch höhenmäßige Begrenzung seines Zurückbehaltungsrechts belohnt<br />

werde und der Vermieter zudem die Möglichkeit habe, eine Kündigung wegen rückständigen Mietzinses<br />

abzugeben, so dass der Mieter grundsätzlich die gesamte Miete zurückhalten könne in der Höhe und so<br />

lange, bis der Vermieter den Mangel vollständig beseitigt hat (so explizit STAUDINGER/EMMERICH, a.a.O.,<br />

§ 536 Rn 106 m.w.N.; ebenfalls kritisch SCHMIDT-FUTTERER/EISENSCHMID, a.a.O., § 536 Rn 426 ff. m.w.N.).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1065


Fach 4, Seite 1824<br />

Miete/Nutzungen<br />

Kündigung wegen Zahlungsverzugs infolge einer Mietminderung<br />

Praxistipp:<br />

Die für die mietrechtliche Praxis zu beachtende Rechtsprechung des BGH führt dazu, dass sich eine<br />

schematische Betrachtungsweise zur Höhe des berechtigter Weise zurückzuhaltenden Betrags verbietet<br />

und es mithin Aufgabe des Tatrichters ist, im Rahmen seines Beurteilungsspielraums unter Beachtung<br />

der aufgestellten Abwägungskriterien eine konkrete maximale Höhe festzustellen. Für den Mieter ergibt<br />

sich daraus ein Dilemma, sofern er den Weg einer Mietminderung und eines Zurückbehaltungsrechts<br />

wählt, anstatt Klage gegen den Vermieter auf Mängelbeseitigung zu erheben und sich eine Rückforderung<br />

zu viel gezahlter Miete ausdrücklich vorzubehalten:<br />

Der Mieter kann regelmäßig nicht wissen, zu welchem konkreten Minderungsbetrag der Tatrichter nach<br />

umfassender Abwägung im Einzelfall gelangt, so dass aus Mietersicht dringend anzuraten ist, nur äußerst<br />

zurückhaltend zu agieren und möglicherweise doch den sicheren Weg zu wählen, Hauptsacheklage gegen<br />

den Vermieter auf Mängelbeseitigung zu erheben (vgl. hierzu BÖRSTINGHAUS, MietPrax-AK § 543 BGB Nr. 26,<br />

der aufgrund dieser Problematik dem Mieter einen sog. Schätzirrtum zubilligen möchte).<br />

Der Entscheidung des BGH ist wohl zu entnehmen, dass der Mieter bei leichten Mängeln maximal drei<br />

und bei schweren Mängeln u.U. vier bis sechs Monatsmieten zurückhalten darf, wobei es dem Mieter in<br />

zeitlicher Hinsicht überlassen bleibt, ob er den vollen Betrag möglichst schnell ausschöpft oder ob er sich<br />

bis zur Erreichung des Höchstbetrags mehr Zeit lässt (SCHMIDT-FUTTERER/EISENSCHMID, a.a.O., § 536 Rn 426b<br />

m.w.N.).<br />

5. Vorliegen eines unverschuldeten Rechts- oder Tatsachenirrtums des die Miete mindernden<br />

Mieters<br />

Das in früherer Zeit geltende Mieterschutzgesetz sah in § 3 Abs. 2 MSchG eine Regelung vor, welche den<br />

Mieter vor einem unverschuldeten Zahlungsverzug infolge rechtsirrig erhobener Mietminderungs-,<br />

Zurückbehaltungsrechte und/oder Aufrechnungserklärungen schützte. Diese Regelung wurde sodann<br />

nicht in das BGB übernommen.<br />

Nach überkommener Meinung ist § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB der anerkannte Grundsatz zu entnehmen,<br />

dass mangels Verschulden des Mieters kein Verzug vorliegt, wenn sich dieser in einem schuldlosen<br />

Irrtum über seine Zahlungspflicht befindet (SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 543 Rn 103). Einigkeit<br />

besteht darin, dass für die Annahme eines schuldlosen Irrtums des Mieters zu fordern ist, dass dieser<br />

sorgfältig prüft, ob eine Einstellung oder angemessene Kürzung der Mietzahlungen gerechtfertigt ist.<br />

Sofern z.B. der Grund eines Mietmangels (die sog. Mangelursache) unklar ist, muss der Mieter eine<br />

hinreichend qualifizierte Person mit der Prüfung beauftragen und, sofern der Grund des Mietmangels<br />

weiter unklar bleibt, muss der Mieter die Miete vollständig unter Vorbehalt der Rückleistung zahlen,<br />

anderenfalls kommt er in Schuldnerverzug (SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O. m.w.N.). Macht der Mieter<br />

eine Mietminderung und/ oder ein Zurückbehaltungsrecht geltend, so muss der jeweilige Betrag der<br />

zurückgehaltenen Miete in einem angemessenen Verhältnis zu Art und Schwere des betreffenden<br />

Mangels stehen. So ist anerkannt, dass eine völlige Einbehaltung der Miete wegen Mängeln dann nicht<br />

gerechtfertigt ist, wenn der Mietgebrauch lediglich geringfügig eingeschränkt ist (LG Mannheim, Urt.<br />

v. 30.10.1975 – 4 S 102/75). Sofern Zweifel über das Bestehen und/oder die Höhe des berechtigterweise<br />

zurückzuhaltenden Betrags bestehen, muss der Mieter Rechtsrat einholen, wobei hier neben den Vertretern<br />

der Rechtsanwaltschaft auch solche Personen in Betracht kommen, bei denen hinreichende<br />

Anhaltspunkte für deren Kompetenz vorliegen.<br />

Praxistipp:<br />

Mitarbeiter gerichtlicher (Rechtsantragsstelle) oder kommunaler Auskunftsstellen und der Mietervereine<br />

sind nach h.M. solche Personen, denen eine hinreichende Auskunftskompetenz zugeschrieben wird.<br />

Umstritten ist, welche Rechtsfolge eintritt, wenn der Mieter durch seinen Rechtsanwalt bzw. diesen<br />

gleichstellten Auskunftspersonen falsch beraten wird. Nach einer in der Literatur vertretenen hat der<br />

Mieter nur die ihm obliegende Sorgfalt bei Auswahl des Beraters zu beachten, für eine fehlerhafte<br />

1066 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Miete/Nutzungen Fach 4, Seite 1825<br />

Kündigung wegen Zahlungsverzugs infolge einer Mietminderung<br />

Beratung des Beraters hafte der Mieter mangels Eigenschaft als Erfüllungsgehilfe nach § 278 BGB<br />

hingegen nicht (LORENZ, WuM <strong>20</strong>13, <strong>20</strong>2, <strong>20</strong>6 f.). Nach der vorzugswürdigen h.M. hat der Mieter auch für<br />

fehlerhafte Auskünfte seines Rechtsberaters (namentlich Rechtsanwalts) oder auch anderer Auskunftspersonen<br />

einzustehen, da es sich hierbei um Erfüllungsgehilfen i.S.v. § 278 BGB handelt (BGH, Urt. v.<br />

25.10.<strong>20</strong>06 – VIII ZR 102/06; BGH, Urt. v. 13.5.<strong>20</strong>18 – XII ZR 65/14; PALANDT/WEIDENKAFF, 78. Auflage <strong><strong>20</strong>19</strong>,<br />

§ 573 Rn 14; a.A. KG, Rechtsentscheid v. 15.6.<strong>20</strong>00 – 16 RE-Miet 10611/99).<br />

Praxistipp:<br />

Nach Auffassung des BGH sind an das Vorliegen eines unverschuldeten Rechtsirrtums des Mieters strenge<br />

Maßstäbe anzulegen. Er hat insoweit wörtlich folgendes ausgeführt:<br />

„Der Schuldner muss die Rechtslage sorgfältig prüfen, soweit erforderlich Rechtsrat einholen und die höchstrichterliche<br />

Rechtsprechung sorgfältig beachten“. Ein Irrtum ist nur dann entschuldigt, „wenn der Irrende bei Anwendung<br />

der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt mit einer anderen Beurteilung durch die Gerichte nicht zu rechnen<br />

brauchte. Bei einer zweifelhaften Rechtsfrage handelt bereits fahrlässig, wer sich erkennbar in einem Grenzbereich des<br />

rechtlich Zulässigen bewegt.“ (vgl. BGH, Urt. v. 25.10.<strong>20</strong>06 – VIII ZR 102/06).<br />

In diesem Zusammenhang bleibt es bei den allgemein anerkannten Grundsätzen, dass der Mieter<br />

darlegen und beweisen muss, dass er ohne Verschulden an der Entrichtung der Miete gehindert war<br />

(BGH, Urt. v. 11.4.<strong>20</strong>12 – XII ZR 48/10). Nach der Rechtsprechung des BGH gelten diese Grundsätze<br />

sowohl für die Verzugshaftung des Mieters als auch für die Wirksamkeit einer Vermieterkündigung<br />

(BGH, Urt. v. 13.5.<strong>20</strong>15 – XII ZR 65/14). Will der Mieter also eine Kündigung wegen Zahlungsverzugs<br />

vermeiden, sofern nach Auffassung des Mieters Mängel vorhanden sind, so muss er die Miete unter<br />

dem einfachen Vorbehalt der Rückforderung bezahlen, da der einfache Vorbehalt Erfüllungswirkung<br />

nach § 362 BGB zeitigt (PALANDT/GRÜNEBERG, a.a.O., § 362 Rn 14). Unter einem solchen einfachen<br />

Vorbehalt ist zu verstehen, dass der Mieter deutlich macht, nur unter Vorbehalt zu leisten, um die<br />

Wirkung von § 814 BGB auszuschließen und sich einen Rückforderungsanspruch aus § 812 BGB für den<br />

Fall vorbehalten will, dass er das Nichtbestehen der Forderung beweist (BGH, Urt. v. 24.11.<strong>20</strong>06 –<br />

LwZR 6/05). Allerdings ist auf Mieterseite zu beachten, dass der einfache Vorbehalt zu einer Umkehr<br />

der Beweislast führt (SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O., § 543 Rn 103). Ein qualifizierter Vorbehalt ist für<br />

den Mieter problematisch, weil dieser keine Erfüllungswirkung hat. Ein solcher ist gegeben, wenn der<br />

Mieter nur unter der Bedingung leistet, dass die Forderung tatsächlich besteht und damit dem<br />

Gläubiger weiterhin die Beweislast für das Bestehen der Forderung aufbürdet (BGH, Urt. v. <strong>20</strong>.7.<strong>20</strong>10 –<br />

EnZR 23/09). Eine Leistung mit einem solchen qualifizierten Vorbehalt darf der Vermieter zurückweisen<br />

(BGH, Urt. v. 19.1.1983 – VIII ZR 315/81).<br />

Hinweis:<br />

In diesen Fällen hat die Rspr. einen schuldlosen Rechtsirrtum bejaht:<br />

Irrtum über die Wirksamkeit eines Mieterhöhungsverlangens (AG Wernigerode, Urt. v. 17.12.1992 – 9C<br />

449/92); Fehleinschätzung der Minderungsquote (LG Bückeburg, Urt. v. 2.12.<strong>20</strong>10 – 1 S 9/10; AG Lübeck,<br />

Urt. v. 15.6.<strong>20</strong>11 – 24 C 4044/09); Nichtentrichtung der Miete bei berechtigten Zweifeln an der Vermieterstellung<br />

(AG Gelsenkirchen, Urt. v. 7.11.<strong>20</strong>11 – 3a C 299/11).<br />

bzw. verneint, mit der Folge einer wirksamen Vermieterkündigung:<br />

bei schwieriger Rechtslage und Fehlbeurteilung durch den Mieter (BGH, Urt. v. 25.10.<strong>20</strong>06 – VIII ZR<br />

102/06); wenn der Mieter zu Unrecht die Miete mindert, weil er irrig glaubt, dass die Feuchtigkeitsschäden<br />

auf einen Baumangel zurückzuführen sind (BGH, Urt. v. 11.7.<strong>20</strong>12 – VIII ZR 138/11); wenn sich der<br />

Mieter wegen der Rechtslage an einen Rechtsanwalt, eine anerkannte Rechtsberatungsstelle oder an<br />

einen Mieterverein wendet und auf dessen Rat die Mieter mindert, zurückbehält oder aufrechnet (BGH,<br />

Urt. v. 25.10.<strong>20</strong>06 – VIII ZR 102/06); wenn der Mieter seine Rechtsauffassung auf eine in der Rechtsprechung<br />

vertretene Meinung stützen kann und das zur Entscheidung berufene Gericht dieser Meinung<br />

nicht folgt (BGH, a.a.O.).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1067


Fach 4, Seite 1826<br />

Miete/Nutzungen<br />

Kündigung wegen Zahlungsverzugs infolge einer Mietminderung<br />

Auf Mietersicht ist zu beachten, dass zwar in der Literatur durchaus Bestrebungen erkennbar sind, dem<br />

Mieter ein Schätzermessen (vgl. hierzu SCHMIDT-FUTTERER/BLANK, a.a.O. § 543 Rn 105 m.w.N.) in Bezug auf<br />

eine angenommene Minderungsquote zuzubilligen, welche auch von einigen Amtsgerichten gestützt<br />

werden, allein die neueren Entscheidungen des BGH zeigen eine entgegengesetzte Tendenz, dem<br />

Mieter nur in absoluten Ausnahmefällen einen schuldlosen Rechtsirrtum zuzugestehen.<br />

6. Abdingbarkeit des Zurückbehaltungsrechts<br />

Der formularvertragliche Ausschluss eines Zurückbehaltungsrechts wegen Mängeln der Mietsache ist<br />

bei einem Wohnraummietverhältnis wegen § 309 Nr. 2b) BGB unwirksam, sowohl was § 3<strong>20</strong> BGB als<br />

auch was § 273 BGB betrifft. Aufgrund der synallagmatischen Verpflichtung ist der Ausschluss des<br />

Zurückbehaltungsrechts aus § 3<strong>20</strong> BGB nach § 309 Nr. 2a) BGB grundsätzlich ausgeschlossen,<br />

unabhängig von dem Vorliegen von Mietmängeln (SCHMIDT-FUTTERER/EISENSCHMID, a.a.O., § 536 Rn 433<br />

m.w.N.). Individualvertraglich kann das Zurückbehaltungsrecht ausgeschlossen werden, da dieses kein<br />

zwingendes Recht darstellt (BGH, Urt. v. 26.3.<strong>20</strong>03 – XII ZR 167/01). Nach überwiegender Meinung<br />

findet auch § 556b Abs. 2 BGB keine entsprechende Anwendung zum Schutz des Mieters (STAUDINGER/<br />

EMMERICH, a.a.O., § 536 Rn 108 m.w.N.).<br />

V. Zusammenfassung und Ratschläge für die Praxis<br />

Aus Sicht des Vermieters, der aufgrund von Mietrückständen eine fristlose und hilfsweise ordentliche<br />

Kündigung ausgesprochen hat, welche er klageweise verfolgt ist, zu berücksichtigen, dass der sich Mietmängel<br />

berufene Wohnungsmieter durch eine kombinierte Anwendung des Mietminderungsrechts<br />

nach § 536 Abs. 1 BGB und der auf Mängelbeseitigung gestützten Zurückbehaltungsrechte aus § 3<strong>20</strong><br />

BGB und § 273 BGB u.U. zur Zurückhaltung eines erheblichen Teil des Mietzinses berechtigt ist, so dass<br />

sowohl die fristlose als auch die ordentlich Kündigung unwirksam sein kann.<br />

Auf der anderen Seite ist aus Mietersicht zu berücksichtigen, dass er das Prozessrisiko für den Bestand<br />

und die Höhe eines geltend gemachten Zurückbehaltungsrechtes trägt und sich im Regelfall nicht auf<br />

einen schuldlosen Rechtsirrtum berufen kann. Weiter ist aus Mietersicht zu berücksichtigen, dass die<br />

zurückbehaltene Miete spätestens mit Beendigung des Mietverhältnisses oder mit der Behebung der<br />

vorliegenden Mietmängel nach Zubilligung einer angemessenen Zahlungsfrist sofort in voller Höhe<br />

(wenn auch unverzinst) zurück zu zahlen ist. Der Mieter kann daher insbesondere nach beendetem<br />

Mietverhältnis nicht die Rückgabe der Räume oder des Grundstücks unter dem Gesichtspunkt verweigern,<br />

er habe noch Ansprüche z.B. aus einer Kautionszahlung gegen den Vermieter. Das ergibt sich<br />

sowohl für den Bereich der Wohnraummiete als auch für gewerbliche Mietverhältnisse unmittelbar<br />

aus dem Gesetz (§§ 570, 578 Abs. 1 BGB).<br />

Abschließend ist zu berücksichtigen, dass dem Mieter u.U. auch noch die Möglichkeit einer Aufrechnung<br />

mit überzahlten Mieten für die Vergangenheit zur Seite stehen kann, welche – sofern ein aufrechenbarer<br />

Gegenanspruch nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB tatsächlich besteht und nicht an § 814 BGB scheitert<br />

– aufgrund von deren Rückwirkung gem. § 389 BGB dazu führt, dass die im Wege der Aufrechnung<br />

verknüpften Forderungen, soweit sie sich höhenmäßig decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in<br />

welchem sie erstmals zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergestanden sind.<br />

Praxistipp:<br />

Eine solche Möglichkeit zur Aufrechnung für den Mieter kann sich regelmäßig dann ergeben, wenn ein<br />

Mietmangel besteht, der über einen längeren Zeitraum andauert. In einem solchen Fall wird der beratene<br />

Mieter die Miete nur unter dem Vorbehalt der Rückforderung bezahlen und kann gegen eine auf Zahlungsverzug<br />

gestützte Vermieterkündigung neben § 536 Abs. 1 BGB und §§ 3<strong>20</strong>, 273 BGB auch einwenden,<br />

dass er für weitere Monate zu viel Miete gezahlt habe, so dass er nunmehr mit seinem Gegenanspruch aus<br />

§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB aufrechne.<br />

1068 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Rechtsprechung Fach 18, Seite 1679<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Rechtsprechung<br />

Rechtsprechungs- und Literaturübersicht zum Sozialrecht –<br />

1. Halbjahr <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht und für Arbeitsrecht Dr. ULRICH SARTORIUS, Breisach<br />

und Prof. Dr. JÜRGEN WINKLER, Katholische Hochschule Freiburg<br />

Inhalt<br />

I. Existenzsicherungsrecht<br />

1. Angemessenheit der Aufwendungen für<br />

Unterkunft und Heizung<br />

2. Bestimmtheitsanforderungen an einen<br />

Eingliederungsverwaltungsakt<br />

3. Keine Verteilung der Anschaffungskosten<br />

für Brennmaterialien auf mehrere Monate<br />

4. Anrechnung einer Erbschaft bei Unterbrechung<br />

des Leistungsbezugs<br />

5. Übernahme der Kosten für Schulbücher<br />

6. Keine Verteilung der Bestattungskosten<br />

auf mehrere Monate<br />

7. Aufstockung der Unterkunftskosten durch<br />

Leistungen der Eingliederungshilfe<br />

II. Arbeitsförderungsrecht<br />

1. Sperrzeit bei Arbeitsablehnung; Voraussetzungen<br />

des Eintritts einer zweiten oder<br />

dritten Sperrzeit<br />

2. Insolvenzgeld und Betriebsübergang<br />

III. Krankenversicherung<br />

1. Grenze der Beitragspflicht von Versorgungsbezügen<br />

(betriebliche Direktversicherung)<br />

2. Fiktive Genehmigung von Leistungsanträgen<br />

nach § 13 Abs. 3a SGB V<br />

IV. Rentenversicherung<br />

1. Rückforderung von überzahlter Rente<br />

nach dem Tod des Berechtigten und der<br />

Auflösung des Kontos<br />

2. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben<br />

V. Verfahrensrecht<br />

1. Nichtzulassungsbeschwerde wegen Verfahrensmangel;<br />

besondere Wertigkeit der<br />

mündlichen Verhandlung<br />

2. Grenzen der konsentierten Einzelrichterentscheidung<br />

im Berufungsverfahren<br />

3. Wiedereinsetzung nach PKH-Antrag<br />

4. Effektiver Rechtsschutz für die vorläufige<br />

Bewilligung eines persönlichen Budgets<br />

I. Existenzsicherungsrecht<br />

1. Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung<br />

Nach § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II sind die tatsächlichen angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und<br />

Heizung der Unterkunft, in der die leistungsberechtigte Person tatsächlich lebt, zu übernehmen. Die<br />

Angemessenheit der Aufwendungen für die Unterkunft wird nach der Rechtsprechung des BSG in zwei<br />

Schritten geprüft: Zunächst wird die abstrakte und danach die konkrete Angemessenheit der Aufwendungen<br />

festgestellt (KNICKREHM in KNICKREHM/KREIKEBOHM/WALTERMANN (Hrsg.), Kommentar zum Sozialrecht,<br />

6. Aufl. <strong><strong>20</strong>19</strong>, § 22 SGB II Rn 11 f.). Die abstrakte Angemessenheit richtet sich nach der sog.<br />

Produkttheorie, nach der das Produkt aus angemessener Wohnfläche und angemessenem Quadratmeterzins<br />

im Vergleichsraum maßgeblich ist. Die konkrete Angemessenheit wird im Rahmen der<br />

Obliegenheit zur Kostensenkung nach § 22 Abs. 1 S. 3 SGB II geprüft. Im konkreten Einzelfall wird<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1069


Fach 18, Seite 1680<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Rechtsprechung<br />

geprüft, ob eine Kostensenkung aus subjektiven oder objektiven Gründen unzumutbar oder unmöglich<br />

ist (KNICKREHM in KNICKREHM/KREIKEBOHM/WALTERMANN (Hrsg.), a.a.O., § 22 SGB II Rn 11). Nach § 22 Abs. 1 S. 2<br />

SGB II werden die angemessenen Unterkunftskosten bei einem nicht erforderlichen Umzug im Vergleichsraum<br />

(BSG, Urt. v. 1.10.<strong>20</strong>10 – B 4 AS 60/09 R, BSGE 106, 147) auf die Höhe der Unterkunftskosten<br />

vor dem Umzug begrenzt, selbst wenn Unterkunftskosten nach dem Umzug zwar höher, aber dennoch<br />

angemessen sind.<br />

Das BSG hatte am 30.1.<strong><strong>20</strong>19</strong> in fünf Verfahren vor allem über die Anforderungen an den Vergleichsraum<br />

und das weitere Verfahren im Falle einer fehlerhaften Vergleichsraumbildung zu entscheiden.<br />

Die Klägerin des ersten Verfahrens (Urt. v. 30.1.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 14 AS 41/18 R) wohnte allein in einer Zweizimmerwohnung<br />

in Bad Segeberg (Landkreis Segeberg) in einer Wohnung, für die sie monatlich eine<br />

Nettokaltmiete i.H.v. 340 €, eine Betriebskostenvorauszahlung i.H.v. 47,50 € und eine Heizkostenvorauszahlung<br />

i.H.v. 62,50 € zahlte. Der Beklagte wies sie auf die Unangemessenheit der Unterkunftsund<br />

Heizungskosten hin und bewilligte ihr von März bis August <strong>20</strong>13 nur noch 339 € Bruttokaltmiete<br />

und die tatsächlichen Heizungskosten. Während die Klage hiergegen Erfolg hatte, führte die Berufung<br />

des Beklagten vor dem LSG zur Aufhebung des Urteils des SG und zur Abweisung der Klage. Die Klägerin<br />

rügte mit ihrer Revision eine Verletzung von § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II.<br />

Im zweiten Verfahren (Urt. v. 30.1.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 14 AS 12/18 R) zahlten die Klägerin zu 1 und die Klägerin zu 2<br />

(Tochter der Klägerin zu 1) für eine in Blankenburg (Landkreis Harz) gelegene Wohnung monatlich 370 €<br />

Nettokaltmiete, 100 € Betriebskostenvorauszahlung und 121 € Heizkostenvorauszahlung. Der Beklagte<br />

bewilligte, nachdem er auf die Unangemessenheit der Unterkunfts- und Heizungskosten hingewiesen<br />

hatte, von März bis August <strong>20</strong>13 und von März bis August <strong>20</strong>14 322,80 € für die Unterkunfts- und 68,38 €<br />

für die Heizungskosten. Der Betrag für die Heizungskosten wurde in den Widerspruchsverfahren geringfügig<br />

angehoben.<br />

Die Klagen hiergegen wurden vom SG abgewiesen. Im Berufungsverfahren sprach das LSG höhere<br />

Leistungen für die Bruttokaltmiete, allerdings nicht in Höhe der tatsächlich hierfür anfallenden Kosten<br />

zu. Sowohl die Klägerinnen als auch der Beklagte rügten mit ihrer Revision eine Verletzung von § 22<br />

Abs. 1 S. 1 SGB II.<br />

Im dritten Verfahren (Urt. v. 30.1.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 14 AS 10/18 R) zahlten die Klägerin zu 1 und die Klägerin zu 2<br />

(Tochter der Klägerin zu 1) für eine in Halberstadt (Landkreis Harz) liegende Wohnung monatlich eine<br />

Bruttowarmmiete i.H.v. 325 €. Den Antrag der Klägerin zu 1, die Übernahme der Aufwendungen für eine<br />

andere Unterkunft in Blankenburg (Landkreis Harz) zuzusichern, lehnte der Beklagte ab. Ab dem Umzug<br />

am 1.5.<strong>20</strong>11 bewilligte der Beklagte monatlich statt der tatsächlich anfallenden 370,04 € nur 325 €<br />

Bruttowarmmiete.<br />

Klage und Berufung hatten Erfolg. Mit seiner Revision rügte der Beklagte, dass das LSG die Vergleichsräume<br />

festgelegt hat, was aber ihm vorbehalten sei.<br />

Im vierten Verfahren (Urt. v. 30.1.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 14 AS 11/18 R) zahlten der Kläger zu 1 und der Kläger zu 2 (Sohn<br />

des Klägers zu 1), für eine Wohnung in Schönebeck (Salzlandkreis) monatlich 299 € Nettokaltmiete,<br />

98,98 € Betriebskostenvorauszahlung und 113 € Heizkostenvorauszahlung. Der Beklagte wies im August<br />

<strong>20</strong>10 auf die Unangemessenheit der Unterkunfts- und Heizungskosten hin. Danach bewilligte er für den<br />

streitigen Zeitraum von Februar <strong>20</strong>11 bis Juli <strong>20</strong>11 monatlich 240 € für die Nettokaltmiete und 66 € für die<br />

Betriebskosten. Außerdem wurden die tatsächlichen Heizungskosten übernommen. Klage und Berufung<br />

hatten Erfolg. Mit der Revision rügt der Beklagte die Festsetzung der Vergleichsräume durch das LSG,<br />

was ihm vorbehalten sei.<br />

Im fünften Verfahren (Urt. v. 30.1.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 14 AS 24/18 R) zahlte der allein lebende Kläger für seine<br />

Wohnung in der Gemeinde Hermannsdorf (Landkreis Börde) monatlich 318 € Nettokaltmiete, 55 €<br />

1070 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Rechtsprechung Fach 18, Seite 1681<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Betriebskostenvorauszahlung und 15 € Heizkostenvorauszahlung. Der Beklagte wies im März <strong>20</strong>13 auf<br />

die angemessene Bruttokaltmiete hin. Ab Oktober <strong>20</strong>13 bewilligte er für die Bruttokaltmiete monatlich<br />

271,50 € und die tatsächlich anfallenden Heizungskosten. Die Klage hiergegen hatte Erfolg. Die Berufung<br />

des Beklagten führte zur Aufhebung der Entscheidung des SG. Mit der Revision rügt er eine Verletzung<br />

von § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II.<br />

Das BSG knüpfte an seine bisherige Rechtsprechung zur Angemessenheit der Unterkunftskosten an,<br />

fasste diese zusammen und konkretisierte sie wie folgt:<br />

Bei dem Tatbestandsmerkmal „Angemessenheit“ handle es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff,<br />

dessen Konkretisierung voller gerichtlicher Kontrolle unterliege. Eine nicht justiziable Einschätzungsprärogative<br />

der Jobcenter bestehe nicht. Bei der Auslegung der „Angemessenheit“ müssten auch die<br />

§§ 22a-22c SGB II berücksichtigt werden.<br />

Hinweis:<br />

Diese (praktisch bisher kaum umgesetzten) Vorschriften sehen vor, dass die Länder ihre Kommunen ermächtigen<br />

können, die Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung durch kommunale<br />

Satzung zu regeln, geben hierfür Mindestinhalte an und regeln die Datengrundlage sowie die Fortschreibung<br />

der Werte (s. hierzu näher BERLIT in BERLIT/CONRADIS/PATTAR, Existenzsicherungsrecht, 3. Aufl.<br />

<strong><strong>20</strong>19</strong>, § 28 Rn 62 f.). Nach Maßgabe von § 35a SGB XII gelten die Bestimmungen auch für die Leistungsgewährung<br />

im SGB XII.<br />

Bei der Ermittlung der Angemessenheit seien zunächst die abstrakt angemessenen aus der Nettokaltmiete<br />

und den kalten Betriebskosten bestehenden Unterkunftskosten und in einem zweiten Schritt<br />

die subjektiv angemessenen Unterkunftskosten zu ermitteln. Die abstrakt angemessenen Unterkunftskosten<br />

müssten in folgenden Schritten festgestellt werden: (1) Feststellung der angemessenen<br />

Wohnungsgröße, (2) Bestimmung des angemessenen Wohnungsstandards, (3) Ermittlung der<br />

aufzuwendenden Nettokaltmiete für eine nach Größe und Wohnungsstandard angemessenen Wohnung<br />

nach einem schlüssigen Konzept im maßgeblichen örtlichen Vergleichsraum, (4) Berücksichtigung<br />

der angemessenen kalten Betriebskosten. Der Vergleichsraum sei der Raum, in dem grds. ein<br />

einheitlicher Angemessenheitswert gelte und in dem ein Umzug zur Kostensenkung zumutbar sei. In<br />

dem Raum müsse aufgrund räumlicher Nähe, Infrastruktur und Verkehrsverbindungen ein homogener<br />

Lebens- und Wohnbereich bestehen. Für einen Landkreis können mehrere Vergleichsräume<br />

gebildet werden (vgl. insoweit § 22b Abs. 1 S. 4 SGB II). Mit dem schlüssigen Konzept müsse<br />

gewährleistet werden, dass bei der Festlegung der Angemessenheitsgrenze die aktuellen Verhältnisse<br />

des Mietwohnungsmarkts im Vergleichsraum zugrunde liegen. Das Gericht selbst dürfe den Vergleichsraum<br />

nicht festlegen.<br />

Für die Schlüssigkeit des Konzepts sei erforderlich, dass bestimmte methodische Voraussetzungen<br />

berücksichtigt würden und das Konzept nachvollziehbar sei. Folgende Anforderungen müssten erfüllt<br />

werden: Die untersuchten Wohnungen müssten nach Größe und Standard definiert werden. Es seien<br />

Angaben über die Art und Weise der Datenerhebung erforderlich. Außerdem müsse angegeben werden,<br />

auf welchen Zeitraum sich die Datenerhebung beziehe. Die Datenerhebung selbst müsse repräsentativ<br />

und valide sein. Die Auswertung der Daten müsse anerkannten mathematisch-statistischen Grundsätzen<br />

entsprechen. Die Ermittlung der Angemessenheit aus den Daten müsse begründet werden. Eine<br />

bestimmte Methode sei allerdings nicht vorgeschrieben.<br />

Gelange das Gericht bei der Überprüfung des als unbestimmter Rechtsbegriff gerichtlich voll überprüfbaren<br />

Tatbestandsmerkmals „Angemessenheit“ einschließlich der Festlegung des Vergleichsraums<br />

und des schlüssigen Konzepts zu rechtlichen Beanstandungen, müsse dem Jobcenter zunächst Gelegenheit<br />

gegeben werden, Stellung zu nehmen. Das Gericht selbst dürfe weder den Vergleichsraum<br />

festlegen noch ein schlüssiges Konzept entwickeln.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1071


Fach 18, Seite 1682<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Rechtsprechung<br />

Lege das Jobcenter kein schlüssiges Konzept vor, müsse auf einen qualifizierten Mietspiegel (§ 558d<br />

BGB) oder auf eine Mietdatenbank (§ 558e BGB) zurückgegriffen werden. Fehle ein solcher, müssen die<br />

nach Gemeindeklassen und Zahl der Haushaltsmitglieder differenzierenden Werte der Tabelle zu § 12<br />

WoGG mit einem Zuschlag von 10 % angewandt werden.<br />

Hinweis:<br />

Die Heranziehung der Tabellenwerte als „prozessualer Notbehelf“ eröffnet den Gerichten lediglich die<br />

Möglichkeit zu einzelfallbezogenen Entscheidungen; die Grundsicherungsträger bleiben gehalten, den<br />

Gerichten eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage zu verschaffen und ggf. eine unterbliebene<br />

Datenerhebung und -aufbereitung nachzuholen (s. BERLIT, a.a.O., § 28, Rn 56 m.w.N.).<br />

In Anwendung dieser Leitlinien gelangte das BSG in den geschilderten Verfahren zu folgenden Ergebnissen:<br />

Im ersten Verfahren hat es das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen.<br />

Das LSG sei unzutreffenderweise von der Rechtmäßigkeit eines einheitlichen Vergleichsraums für den<br />

gesamten Landkreis und der Unterscheidung von fünf Wohnungsmarkttypen bei der Festlegung der<br />

angemessenen Bruttokaltmiete ausgegangen.<br />

Im zweiten Verfahren hat das BSG die Klage der Klägerin zu 2 als unzulässig zurückgewiesen. Die<br />

Klageschrift sei nur im Namen der Klägerin zu 1 verfasst worden. Ein Hinweis auf die Klägerin zu 2 ergebe<br />

sich aus der Klageschrift nicht. Das LSG durfte die Vergleichsräume nicht selbst festlegen, sondern<br />

musste dem Beklagten Gelegenheit geben, Ermittlungen zur Vergleichsraumbildung durchzuführen und<br />

ein schlüssiges Konzept vorzulegen. Dieser Mangel der Vergleichsraumbildung wirke sich auf den<br />

anzuerkennenden Bedarf für die Heizung aus.<br />

Im dritten Verfahren hat das BSG die Entscheidung aufgehoben und an das LSG zurückverwiesen.<br />

Wegen der Begründung verwies es auf das zweite Verfahren. In dem Verfahren müsse auch die<br />

Angemessenheit im Umzugszeitpunkt geprüft werden. Insoweit verwies das BSG auf sein Urt. v.<br />

29.4.<strong>20</strong>15 – B 14 AS 6/14 R, BSGE 119, 1.<br />

Im vierten Verfahren hat das BSG die Revision zurückgewiesen. Eine Rückschreibung eines im Jahr <strong>20</strong>12<br />

aufgestellten Konzepts auf das Jahr <strong>20</strong>11 sei nicht gerechtfertigt.<br />

Im fünften Verfahren hat das BSG das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Das<br />

LSG sei nicht befugt gewesen, den Vergleichsraum selbst zu bilden. Eine Vergleichsraumbildung für den<br />

gesamten Landkreis und die Unterscheidung von Wohnungsmarkttypen für die Angemessenheitsgrenze<br />

sei nicht rechtmäßig. Das LSG müsse dem Beklagten Gelegenheit geben, die Vergleichsraumbildung<br />

nachzuermitteln und ein schlüssiges Konzept vorzulegen.<br />

2. Bestimmtheitsanforderungen an einen Eingliederungsverwaltungsakt<br />

Nach § 15 Abs. 2 S. 1 SGB II soll, also im Regelfall muss, die Agentur für Arbeit mit der erwerbsfähigen<br />

leistungsberechtigten Person eine Eingliederungsvereinbarung schließen, in der u.a. die Leistungen<br />

der Agentur für Arbeit für die leistungsberechtigte Person zur Eingliederung in Arbeit und die<br />

Bemühungen der leistungsberechtigten Person zur Eingliederung in Arbeit – Anzahl der Bewerbungen,<br />

Art des Nachweises dieser Bemühungen – bestimmt werden. Kommt die Eingliederungsvereinbarung<br />

nicht zustande – etwa wegen Weigerung des Leistungsberechtigten –, sollen entsprechende<br />

Regelungen in einem Verwaltungsakt, dem sog. Eingliederungsverwaltungsakt festgelegt werden<br />

(§ 15 Abs. 3 S. 3 SGB II).<br />

Das BSG (Urt. v. 21.3.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 14 AS 28/18 R) hatte zu entscheiden, ob der Eingliederungsverwaltungsakt<br />

unbefristet erlassen werden darf.<br />

1072 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Rechtsprechung Fach 18, Seite 1683<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Die Klägerin stand seit Jahren im Leistungsbezug des beklagten Jobcenters. Nachdem es wiederholt<br />

nicht zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung gekommen war, erließ es einen Eingliederungsverwaltungsakt,<br />

in dem geregelt wurde, dass die Klägerin an einem Projekt teilnehmen solle und welche<br />

Bewerbungsbemühungen sie zu erbringen habe. Außerdem wurde die Übernahme von Bewerbungskosten<br />

festgelegt. Der Verwaltungsakt sollte bis auf Weiteres gelten.<br />

Auf die Klage der Klägerin wurde der Eingliederungsverwaltungsakt vom SG aufgehoben. Das LSG hat<br />

die Berufung des Beklagten im Wesentlichen zurückgewiesen. Mit der Revision rügt der Beklagte die<br />

Verletzung von § 15 Abs. 3 SGB II.<br />

Das BSG hat die Revision des Beklagten zurückgewiesen. Die Regelungen in einem Eingliederungsverwaltungsakt<br />

folgten denselben Regeln wie die in einer Eingliederungsvereinbarung. Seit dem<br />

1.8.<strong>20</strong>16 bestünde keine starre Laufzeit für die Eingliederungsvereinbarung. Den Verwaltungsakt bis<br />

auf Weiteres gelten zu lassen, sei deshalb nicht zu beanstanden. Er müsse allerdings konkrete<br />

Regelungen zur Überprüfung und Fortschreibung sowie zum spätesten Zeitpunkt hierfür enthalten.<br />

Dies leitet das BSG einmal aus dem Umstand her, dass der Verwaltungsakt sanktionsbedingte<br />

Obliegenheiten des Leistungsberechtigten begründet (s. §§ 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 31a SGB II), weshalb über<br />

deren zeitlichen Geltungsanspruch und den Gründen hierfür dem Leistungsberechtigten Kenntnis zu<br />

verschaffen sei. Ferner verweist das Gericht auf § 15 Abs. 3 S. 1 und 3 SGB II, wonach auch der eine<br />

Eingliederungsvereinbarung ersetzende Verwaltungsakt regelmäßig, spätestens jedoch nach Ablauf<br />

von sechs Monaten gemeinsam überprüft und fortgeschritten werden soll.<br />

Der angefochtene Verwaltungsakt erfüllte diese Anforderungen nicht.<br />

3. Keine Verteilung der Anschaffungskosten für Brennmaterialien auf mehrere Monate<br />

Das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld umfassen u.a. Leistungen für die angemessenen Aufwendungen<br />

für die Heizung (§ 22 Abs. 1 S. 1 SGB II). Unerheblich ist, ob es sich um laufende oder einmalige<br />

Aufwendungen (z.B. Heizöl und Kohle) handelt (BSG, Urt. v. 16.5.<strong>20</strong>07 – B 7b AS 79/09 R, SozR 4-4<strong>20</strong>0<br />

§ 22 Nr. 4; BSG, Urt. v. 17.6.<strong>20</strong>10 – B 14 AS 79/09 R, SozR 4-4<strong>20</strong>0 § 22 Nr. 39). Eine Pauschalierung der<br />

hierfür anfallenden Kosten ist nicht zulässig (BSG, Urt. v. 16.5.<strong>20</strong>07 – B 7b AS 40/12 R, SozR 4-4<strong>20</strong>0 § 22<br />

Nr. 4).<br />

Das BSG (Urt. v. 8.5.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 14 AS <strong>20</strong>/18 R) musste entscheiden, ob die Anschaffungskosten für<br />

Brennmaterialien auf mehrere Monate verteilt werden dürfen. In diesem Fall hätte das beklagte<br />

Jobcenter keine Leistungen erbringen müssen, weil dann über dem Bedarf nach dem SGB II liegende<br />

Einkünfte der Bedarfsgemeinschaft ausgereicht hätten, um die Brennkosten zu finanzieren.<br />

Die Kläger (Eltern mit drei Kindern) leben in einem Eigenheim. Beide Elternteile üben eine Berufstätigkeit<br />

aus. Außerdem bezogen sie Kindergeld. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II<br />

erhielten sie nicht. Im September <strong>20</strong>13 kauften sie für knapp 1.400 € Briketts und Heizöl. Sie beantragten<br />

hierfür einen „jährlichen Heizkostenzuschuss“. Der Beklagte lehnte den Antrag ab, weil die Kläger den<br />

beantragten Zuschuss selbst aufbringen könnten, wenn die Aufwendungen für die Heizkosten auf das<br />

Jahr verteilt würden.<br />

Die hiergegen eingelegte Klage hatte Erfolg. Das Urteil des SG wurde im Berufungsverfahren vom LSG<br />

bestätigt.<br />

Die Revision des Beklagten wurde vom BSG zurückgewiesen. Der Bedarf sei wegen des die Grundsicherung<br />

für Arbeitsuchende prägenden Monatsprinzips im September <strong>20</strong>13 anzuerkennen. Unerheblich<br />

sei, dass die Brennmaterialien nicht nur für diesen Monat verwendet werden sollten. Eine Abweichung<br />

vom Monatsprinzip des Inhalts, dass der Bedarf auf mehrere Monate zu verteilen sei, enthalte<br />

das SGB II nicht. Vorschriften, die eine Abweichung vom Monatsprinzip beinhalten, könnten nicht<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1073


Fach 18, Seite 1684<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Rechtsprechung<br />

analog angewandt werden. Ferner sei der Einkauf der Brennmaterialien nicht sozialwidrig. Schließlich<br />

könne aus § 2 Abs. 2 SGB II nichts Gegenteiliges abgeleitet werden.<br />

4. Anrechnung einer Erbschaft bei Unterbrechung des Leistungsbezugs<br />

Während des Leistungsbezugs anfallende Erbschaften sind nach der Rechtsprechung des BSG grds. als<br />

(einmaliges) Einkommen zu berücksichtigen, das nach Maßgabe des § 11 Abs. 3 SGB II anzurechnen ist.<br />

Das BSG hatte zu klären, ob dies auch dann gilt, wenn der Erbfall vor dem Leistungsbezug lag, die<br />

Erbschaft aber erst während des Leistungsbezugs zufließt (Urt. v. 8.5.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 14 AS 15/18 R).<br />

Die alleinerziehende Klägerin und ihr am 26.10.<strong>20</strong>07 geborenes Kind bezogen bis Oktober <strong>20</strong>09<br />

Leistungen nach dem SGB II. Am 25.6.<strong>20</strong>09 verstarb der Großvater der Klägerin. Sie wurde Miterbin<br />

eines Grundstücks. Vom 26.10.<strong>20</strong>09 bis 24.10.<strong>20</strong>10 bezog die Klägerin Arbeitslosengeld nach dem SGB III<br />

und Wohngeld. Für das Kind wurde Kindergeld und Unterhalt gezahlt. Ab November <strong>20</strong>10 bezogen die<br />

Klägerin und ihr Kind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Für die Zeit ab<br />

Februar <strong>20</strong>12 stellten sie einen Weiterbewilligungsantrag. In diesem gab die Klägerin an, dass das<br />

geerbte Grundstück verkauft, der Kaufpreis aber noch nicht gezahlt sei. Am 2.2.<strong>20</strong>12 flossen der Klägerin<br />

aus der Erbschaft 5.330 € zu, die das beklagte Jobcenter als einmalige Einnahme qualifizierte, die<br />

gemeinsam mit dem weiteren Einkommen die Hilfebedürftigkeit entfallen ließ.<br />

Während die Klage vor dem SG erfolglos blieb, hatte die Berufung Erfolg.<br />

Die Revision des Beklagten wurde vom BSG zurückgewiesen. Den Klägern seien Leistungen ohne<br />

Anrechnung der 5.330 € zu gewähren. Nach der modifizierten Zuflusstheorie handle es sich um<br />

Einkommen, was wertmäßig nach der Antragstellung tatsächlich dazukomme. Vermögen sei, was bei<br />

Antragstellung bereits vorhanden sei. Etwas anderes gelte nur, wenn dies rechtlich bestimmt werde.<br />

Dies sei bei einer Erbschaft der Fall. Bei dieser ist der Zeitpunkt des Todes maßgeblich, weil in diesem<br />

Zeitpunkt das Erbe nach § 1922 Abs. 1 BGB auf die Erben übergehe. Stehe das Erbe zunächst nicht als<br />

bereites Mittel zur Verfügung, werde es nach der Rechtsprechung des BSG erst im Zeitpunkt des<br />

Zuflusses angerechnet (BSG, Urt v. 25.1.<strong>20</strong>12 – B 14 AS 101/11 R, SozR 4-4<strong>20</strong>0 § 11 Nr. 47). War der<br />

Leistungsbezug zwischenzeitlich unterbrochen, handle es sich aber um Vermögen. Unerheblich sei, aus<br />

welchem Grund der Leistungsbezug unterbrochen war (s. zu der Entscheidung auch HENGELHAUPT,<br />

jurisPR-SozR 18/<strong><strong>20</strong>19</strong> Anm. 1).<br />

5. Übernahme der Kosten für Schulbücher<br />

Die Bedarfe für Bildung und Teilhabe – in einigen Punkten zugunsten der Leistungsberechtigten seit<br />

dem 1.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> geändert im Rahmen des „Starke-Familien-Gesetzes“ (s. SARTORIUS <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1647, 1651 f.)<br />

– beinhalten nach § 28 Abs. 3 SGB II u.a. eine Leistung für den persönlichen Schulbedarf, z.B. für die<br />

persönliche Ausstattung (Schulranzen etc.) und Schreibmaterialien (BT-Drs. 16/10809, 16) Die<br />

Aufwendungen für die Anschaffung von Schulbüchern sind dagegen beim Regelsatz eingerechnet und<br />

damit nicht Bestandteil der Pauschale nach § 28 Abs. 3 SGB II (G. BECKER in KNICKREHM/KREIKEBOHM/<br />

WALTERMANN (Hrsg.), a.a.O., § 28 SGB II Rn 35). Bis zum 31.7.<strong><strong>20</strong>19</strong> betrug die Leistung nach § 28 Abs. 3<br />

SGB II 70 € zum 1. August und 30 € zum 1. Februar. Ab dem 1.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> beträgt die Leistung 100 € zum<br />

1. August und 50 € zum 1. Februar.<br />

Das BSG hatte am 8.5.<strong><strong>20</strong>19</strong> in zwei Verfahren zu entscheiden, ob in Bundesländern ohne Lernmittelfreiheit<br />

nach dem SGB II zusätzliche Leistungen für die Anschaffung von Schulbüchern gewährt werden<br />

müssen.<br />

Im ersten Verfahren (Urt. v. 8.5.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 14 AS 13/18 R) bezogen die Klägerin und ihre Mutter Leistungen<br />

zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die Klägerin erhielt außerdem Leistungen für den<br />

Schulbedarf nach § 28 Abs. 3 SGB II. Sie besuchte ab dem Schuljahr <strong>20</strong>13/<strong>20</strong>14 die 11. Klasse des<br />

Gymnasiums. Sie beantragte beim Beklagten ca. <strong>20</strong>0 € für Schulbücher, die sie selbst kaufen müsse. Der<br />

1074 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Rechtsprechung Fach 18, Seite 1685<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Beklagte lehnte den Antrag ab. Zur Begründung führte er aus, dass der Betrag hätte angespart werden<br />

müssen. Ein Antrag aus § 24 Abs. 1 SGB II sei nicht gestellt worden. Das SG hat den Beklagten verurteilt,<br />

214, 40 € für die Schulbücher zu zahlen. Das LSG hat das Urteil abgeändert und die Berufung des<br />

Beklagten gegen seine Verurteilung zur Zahlung von <strong>20</strong>2,90 € für Schulbücher für September <strong>20</strong>13<br />

zurückgewiesen.<br />

Im zweiten Verfahren (Urt. v. 8.5.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 14 AS 6/18 R) bezogen die Klägerin und ihre Familie<br />

Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die Klägerin erhielt außerdem<br />

Leistungen für den Schulbedarf nach § 28 Abs. 3 SGB II. Sie besuchte ab dem Schuljahr <strong>20</strong>16/<strong>20</strong>17 die 11.<br />

Klasse des Gymnasiums. Sie beantragte beim Beklagten ca. 180 € für Schulbücher, die sie selbst kaufen<br />

müsse. Eine entsprechende Aufstellung legte sie dem Jobcenter vor. Der Beklagte lehnte den Antrag ab.<br />

Zur Begründung führte er aus, dass der Betrag hätte angespart werden müssen. Außerdem sei der<br />

Klägerin der Kauf gebrauchter Bücher zumutbar. Während die Klage der Klägerin vom SG abgewiesen<br />

wurde, verurteilte das LSG den Beklagten im Berufungsverfahren, der Klägerin ca. 135 € für die Schulbücher<br />

zu zahlen.<br />

In beiden Verfahren wird mit der Revision die Verletzung von § 21 Abs. 6 SGB II gerügt. Es läge keine<br />

planwidrige Lücke vor, so dass diese Vorschrift nicht analog angewandt werden könne. Das Darlehen<br />

nach § 24 Abs. 1 SGB II habe Vorrang.<br />

In beiden Verfahren bejahte das BSG einen Anspruch aus § 21 Abs. 6 SGB II auf Übernahme der Kosten<br />

der Schulbücher. Der im Regelsatz eingeflossene Betrag für Schulbücher sei in Bundesländern zu<br />

niedrig, in denen keine Lernmittelfreiheit bestehe und die Schüler die Schulbücher selbst bezahlen<br />

müssten. Die Kultushoheit der Länder stehe dem nicht entgegen. Der Bund habe die Gesetzgebungskompetenz<br />

für die Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums. § 24 Abs. 1 SGB II sei<br />

nicht anzuwenden, weil die Vorschrift vom Regelbedarf erfasste Bedarfe betrifft. Bei einer zu niedrigen<br />

Bedarfsbemessung wie bei den Schulbüchern sei die Vorschrift nicht anwendbar.<br />

Im ersten Verfahren hat das BSG die Berufung gegen das Urteil des LSG zurückgewiesen.<br />

Im zweiten Verfahren hat das BSG das Urteil des LSG aufgehoben, soweit es der Klage stattgegeben hat<br />

und an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen, weil seine Feststellungen<br />

zur Höhe des Anspruchs nicht ausreichten.<br />

Hinweis:<br />

Entsprechend den Entscheidungen des BSG dürfte auch ein Anspruch auf Übernahme der nach landesgesetzlichen<br />

Bestimmungen festgelegten Eigenanteile/Selbstbehalte für Schulbücher (wie dies etwa in<br />

Nordrhein-Westfalen der Fall ist) gegeben sein, so SG Köln Urt. v. 29.5.<strong><strong>20</strong>19</strong> – S 40 AS 352/19 und SG<br />

Düsseldorf, Beschl. v. 5.8.<strong><strong>20</strong>19</strong> – S 35 AS 3046/19 ER.<br />

6. Keine Verteilung der Bestattungskosten auf mehrere Monate<br />

Nach § 19 Abs. 3 SGB XII i.V.m. § 74 SGB XII besteht gegen das Sozialamt ein Anspruch auf Übernahme<br />

der Bestattungskosten, wenn diese durch das Erbe nicht abgedeckt sind und den Verpflichteten,<br />

insbesondere den Erben, nicht zuzumuten ist, die Kosten selbst zu tragen. Nicht zuzumuten ist dies<br />

den Erben i.d.R., wenn ihr Einkommen die Einkommensgrenze nach § 85 SGB XII nicht übersteigt.<br />

Das BSG (Urt. v. 5.4.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 8 SO 10/18 R) hatte zu entscheiden, ob die Bestattungskosten nach § 87<br />

SGB XII auf mehrere Monate verteilt werden. Dies hätte dazu geführt, dass kein Anspruch gegen das<br />

Sozialamt auf Übernahme der Bestattungskosten bestanden hätte.<br />

Der Kläger, Alleinerbe seiner im Januar <strong>20</strong>14 verstorbenen Mutter, beantragte beim Sozialamt die Übernahme<br />

der Kosten für die Bestattung seiner Mutter. Diese betrugen nach Abzug des Nachlasses<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1075


Fach 18, Seite 1686<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Rechtsprechung<br />

2.765,22 €. Sein monatliches Einkommen überstieg die Einkommensgrenze nach § 85 SGB XII um<br />

693,73 €. Das Sozialamt lehnte den Antrag ab, weil der Kläger nicht bedürftig sei. Klage und Berufung<br />

hiergegen blieben ohne Erfolg.<br />

Die Revision des Klägers führte zur Aufhebung des Urteils des LSG und Zurückverweisung der Sache an<br />

das LSG, weil es nicht abschließend entscheiden konnte, ob es dem Kläger nach § 74 SGB XII zumutbar<br />

ist, die Bestattungskosten zu tragen. Anders als die Vorinstanzen gelangte das BSG zum Ergebnis, dass<br />

die Kosten der Bestattung weder in unmittelbarer noch in mittelbarer Anwendung von § 87 Abs. 3<br />

SGB XII auf vier Monate verteilt werden könnten. Vor einer abschließenden Entscheidung müsse<br />

allerdings geklärt werden, ob es dem Kläger auf andere Weise möglich sei, die Belastung auf mehrere<br />

Monate zu verteilen, z.B. durch einen Ratenzahlungsvertrag, durch einen Verbraucherkredit oder durch<br />

Stundung.<br />

7. Aufstockung der Unterkunftskosten durch Leistungen der Eingliederungshilfe<br />

Bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II und dem SGB XII werden in<br />

aller Regel nur die angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft (§ 22 SGB II, §§ 35, 42a SGB XII),<br />

nicht dagegen behinderungsbedingte zusätzliche Aufwendungen berücksichtigt. Demgemäß werden<br />

in § 77 Abs. 2 SGB IX bei den Leistungen zur sozialen Teilhabe die Übernahme über die Angemessenheitsgrenze<br />

hinaus gehenden Aufwendungen für zusätzlichen Wohnraum für eine Assistenzkraft<br />

vorgesehen.<br />

Das BSG (Urt. v. 5.4.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 8 SO 12/17 R) hatte zu entscheiden, ob bei Auszubildenden mit Behinderungen<br />

die behinderungsbedingten Kosten der Unterkunft, die über die Unterkunftspauschale nach<br />

dem BAföG hinausgehen, im Rahmen der Eingliederungshilfe zu übernehmen sind.<br />

Die körperlich wesentlich behinderte und auf einen Rollstuhl angewiesene Klägerin lebte in einer<br />

behindertengerecht ausgestatteten Wohnung außerhalb der elterlichen Wohnung. Während ihres<br />

Studiums erhielt sie Ausbildungsförderung nach dem BAföG. Der Unterkunftskostenanteil dieser<br />

Leistung i.H.v. 224 € deckte die Unterkunftskosten nicht in vollem Umfang ab. Sie beantragte beim<br />

Jobcenter die zuschussweise Übernahme des Differenzbetrags. Diesem Antrag gab das Jobcenter<br />

nicht statt. Für die Folgezeiträume stellte sie einen entsprechenden Antrag beim Sozialhilfeträger.<br />

Auch dieser lehnte die Anträge ab. Klage und Berufung blieben ohne Erfolg.<br />

Die Revision führte zur Aufhebung der Entscheidung des LSG und zur Zurückverweisung. Zunächst<br />

wies das BSG darauf hin, dass die Bundesagentur für Arbeit nach § 75 Abs. 2 Alt. 1 SGG zu dem<br />

Verfahren notwendig hätte beigeladen werden müssen. Inhaltlich führte das BSG aus, dass die<br />

Unterkunft nicht nur dem Grundbedürfnis des Wohnens, sondern auch der sozialen Teilhabe diene,<br />

weil mit der Wohnung der gesellschaftlichen Ausgrenzung entgegengewirkt werde. Die Unterkunftskosten<br />

seien i.R.d. Eingliederungshilfe zu übernehmen, soweit der Bedarf der Unterkunft nicht durch<br />

andere Anspruchsleistungen gedeckt sei. Unterkunftskosten, die behinderungsbedingt die abstrakt<br />

angemessenen Aufwendungen für eine Unterkunft übersteigen, seien i.R.d. Eingliederungshilfe zu<br />

übernehmen.<br />

II.<br />

Arbeitsförderungsrecht<br />

1. Sperrzeit bei Arbeitsablehnung; Vorrausetzungen des Eintritts einer zweiten oder dritten<br />

Sperrzeit<br />

Nach § 159 Abs. 1 S. 1, 2 Nr. 2 SGB III ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn Arbeitsuchende<br />

oder Arbeitslose ohne wichtigen Grund trotz Belehrung über die Rechtsfolgen eine von der Agentur<br />

für Arbeit angebotene Beschäftigung nicht annehmen oder nicht antreten oder die Anbahnung eines<br />

Beschäftigungsverhältnisses vereiteln (Sperrzeit wegen Arbeitsablehnung). Dieselbe Rechtsfolge tritt<br />

ein, wenn eine Maßnahme zur Aktivierung oder beruflichen Eingliederung, eine Maßnahme zur beruflichen<br />

Ausbildung oder Weiterbildung oder eine Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben ab-<br />

1076 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Rechtsprechung Fach 18, Seite 1687<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

gelehnt wird (Sperrzeit wegen Ablehnung einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme). Die Sperrzeit<br />

dauert beim ersten Verstoß drei Wochen, beim zweiten Verstoß sechs Wochen und beim dritten<br />

Verstoß zwölf Wochen (§ 159 Abs. 4 S. 1 SGB III). Während dieser Zeit wird kein Arbeitslosengeld<br />

gezahlt. Außerdem wird die Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld um die Tage der Sperrzeit<br />

gekürzt (§ 148 Abs. 1 Nr. 3 SGB III). Der Anspruch auf Arbeitslosengeld erlischt ganz, wenn die<br />

Sperrzeiten mindestens 21 Wochen betragen (§ 161 Abs. 1 Nr. 2 SGB III).<br />

Das BSG hatte am 27.6.<strong><strong>20</strong>19</strong> in zwei Entscheidungen über die Voraussetzungen einer zweiten und<br />

dritten Sperrzeit zu befinden.<br />

Im ersten Verfahren (Urt. v. 27.6.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 11 AL 14/18 R) bezog der Kläger Arbeitslosengeld. Die<br />

Agentur für Arbeit übersandte ihm zwischen Mai und Juli <strong>20</strong>13 drei Vermittlungsvorschläge mit der<br />

Aufforderung, sich umgehend zu bewerben. Der Kläger bewarb sich nicht. Hierfür gab er unterschiedliche<br />

Gründe an. Die Arbeitsangebote enthielten gleichlautende Rechtsfolgenbelehrungen, in<br />

denen darauf hingewiesen wurde, dass eine Sperrzeit eintrete, wenn die Annahme einer angebotenen<br />

Beschäftigung ohne wichtigen Grund abgelehnt werde. Die Dauer der Sperrzeit wurde mit längstens<br />

zwölf Wochen, bei erstmaligem versicherungswidrigem Verhalten mit drei Wochen und beim zweiten<br />

versicherungswidrigen Verhalten mit 6 Wochen angegeben. Die Agentur für Arbeit hob die Bewilligung<br />

des Arbeitslosengeldes auf, allerdings nicht unmittelbar im Anschluss an die jeweilige Pflichtverletzung.<br />

Vielmehr wurden mehrere Bescheide über Sperrzeiten mit unterschiedlicher Dauer zeitgleich<br />

erlassen. Widerspruch und Klage hiergegen blieben ohne Erfolg. Im Berufungsverfahren hat das<br />

LSG die Urteile des SG und beide Bescheide aufgehoben.<br />

Im zweiten Verfahren (Urt. v. 27.6.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 11 AL 17/18 R) bezog der Kläger Arbeitslosengeld. Die<br />

Agentur für Arbeit bot ihm eine am 17.8.<strong>20</strong>16 beginnende Maßnahme zur Aktivierung und beruflichen<br />

Eingliederung an. In der in dem Angebot enthaltenen Rechtsfolgenbelehrung wurde darüber belehrt,<br />

dass eine Sperrzeit eintrete, wenn die Maßnahme ohne wichtigen Grund nicht angetreten werde.<br />

Der weitere Text entsprach der Rechtsfolgenbelehrung des ersten Verfahrens. Der Kläger trat die<br />

Maßnahme nicht an. Ihm wurde eine weitere am 19.10.<strong>20</strong>16 beginnende Maßnahme angeboten. Das<br />

Angebot enthielt eine Rechtsfolgenbelehrung, die mit der des ersten Angebots gleichlautend war.<br />

Auch diese Maßnahme trat der Kläger nicht an. Der Widerspruch, Klage und Berufung blieben ohne<br />

Erfolg.<br />

Die Revision blieb ohne Erfolg. Das BSG sah bei Sperrzeiten für die Dauer von sechs oder zwölf Wochen<br />

eine Rechtsfolgenbelehrung, die lediglich den Gesetzeswortlaut wiedergebe, nicht als ausreichend an.<br />

Es müsse im konkreten Fall über die leistungsrechtlichen Folgen belehrt werden. Weiter folge aus der<br />

Regelungsstruktur der Sperrzeitvorschriften und der verfahrensrechtlichen Umsetzung, dass nach einem<br />

ersten Pflichtenverstoß zunächst der Eintritt einer Sperrzeit festgestellt werden müsse, bevor eine<br />

Sperrzeit wegen eines zweiten Verstoßes festgestellt werde. Entsprechendes gilt für einen dritten<br />

Verstoß.<br />

Im ersten Verfahren wurde das Urteil des LSG aufgehoben und an dieses zurückverwiesen, weil weitere<br />

Sachverhaltsermittlungen erforderlich sind.<br />

Im zweiten Verfahren war die Revision des Klägers erfolgreich.<br />

Hinweis:<br />

Aufgrund der Rechtsprechung des BSG besteht nicht nur Anlass, in noch laufenden Verfahren darauf zu<br />

achten, ob die gerichtlichen Anforderungen beachtet werden. Bereits bestandskräftig abgeschlossene<br />

Bescheide für die Jahre ab <strong>20</strong>15 können zudem durch Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X wieder<br />

aufgegriffen werden.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1077


Fach 18, Seite 1688<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Rechtsprechung<br />

2. Insolvenzgeld und Betriebsübergang<br />

Nach § 165 Abs. 1 S. 1 SGB III haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Anspruch auf Insolvenzgeld<br />

(Insg), wenn sie im Inland beschäftigt waren und bei einem Insolvenzereignis (s. § 165 Abs. 1 S. 2 SGB<br />

III) für die vorausgegangenen 3 Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt<br />

haben.<br />

Vorliegend kam in Betracht, dass während des Insolvenzgeldzeitraums ein Betriebsübergang nach<br />

§ 613a BGB erfolgt war. Das LSG hielt diesen Umstand für unerheblich und ließ ihn offen. Es widerspreche<br />

dem Zweck des Insg, wenn Arbeitnehmer nach einer durch ein gesetzliches Insolvenzereignis<br />

eingetretenen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers auf das Ergebnis des Insolvenzverfahrens<br />

bzw. die Geltendmachung von ausstehenden Arbeitsentgeltansprüchen gegen Dritte verwiesen<br />

werden.<br />

Das BSG folgt dem nicht, hob das Berufungsurteil auf, verwies den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung<br />

und Entscheidung zurück (BSG, Urt. v. 26.2.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 11 AL 3/18 R).<br />

Das Gericht führt aus: Wegen eines Insolvenzereignisses bei dem (bisherigen) Arbeitgeber steht Insg<br />

nur bis zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs zu. Dies folgt aus § 613a BGB. Geht ein Betrieb oder<br />

Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber über, so tritt dieser nach § 613a Abs. 1 S. 1<br />

BGB in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen<br />

ein, soweit Arbeitnehmer dem Übergang nicht widersprechen (s. insoweit § 613a Abs. 6 BGB). Nur für<br />

Verpflichtungen, die vor dem Zeitpunkt des Übergangs entstanden sind, haften bisheriger Arbeitgeber<br />

und neuer Inhaber als Gesamtschuldner (§ 613 a Abs. 2 BGB). Gesichert wird durch InsG nicht jegliches<br />

ausgefallene Arbeitsentgelt im Zusammenhang mit einer Insolvenz, sondern nur arbeitsrechtliche<br />

Ansprüche der Arbeitnehmer gegen konkrete Arbeitgeber. Ansprüche bestehen aber für die Zeit nach<br />

dem Betriebsübergang nur noch gegenüber dem neuen Arbeitgeber.<br />

Hinweise:<br />

1. Im Falle gesamtschuldnerische Haftung nach § 613a Abs. 2 BGB besteht, wie das BSG früher entschieden<br />

hat, ein Anspruch: Das Gesetz sieht nicht vor, dass der Anspruch auf InsG nicht oder erst entsteht, wenn<br />

auch der Dritte zahlungsunfähig geworden ist, BSG 2.11.<strong>20</strong>00 – B 11 AL 23/00 R.<br />

2. InsG ist innerhalb der (materiellrechtlichen) Ausschlussfrist des § 324 Abs. 3 S. 1 SGB III von zwei Monaten<br />

nach dem Insolvenzereignis zu beantragen. Die Frist verlängert sich bei unverschuldeter Fristversäumnis<br />

um weitere zwei Monate nach Wegfall des Hinderungsgrundes (§ 324 Abs. 3 S. 2 SGB III). Den<br />

maßgeblichen Sorgfaltsmaßstab regelt § 324 Abs. 3 S. 3 SGB III.<br />

3. Für das Vorliegen eines Betriebsübergangs trägt die Agentur für Arbeit die objektive Beweislast.<br />

III.<br />

Krankenversicherung<br />

1. Grenze der Beitragspflicht von Versorgungsbezügen (betriebliche Direktversicherung)<br />

Leistungen aus der betrieblichen Direktversicherung i.S.v. § 1b Abs. 2 BetrAVG sind grds. Versorgungsbezüge<br />

nach § 229 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 SGB V und damit beitragspflichtig. Ausgenommen hiervon bleiben<br />

nach Halbs. 2 der Norm Leistungen aus Altersvorsorgevermögen i.S.d. § 92 EStG. Privilegiert werden<br />

damit die sog. Riesterrenten – die insoweit bestehende beitragsrechtliche Ungleichbehandlung ist<br />

nach Auffassung des BSG gerechtfertigt (BSG, Urt. v. 26.2.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 12 KR 17/18 R) – sowie Leistungen, die<br />

Versicherte nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses als alleinige Versicherungsnehmer aus nicht durch<br />

den Arbeitgeber finanzierten Beiträgen erworben haben.<br />

Vorliegend war entscheidungserheblich, ob diese Versorgungsbezüge „zur Hinterbliebenenversorgung“<br />

(als eine der drei in § 229 Abs. 1 S. 1 SGB V für die Beitragspflicht vorausgesetzten Versorgungszwecke)<br />

erzielt wurden.<br />

1078 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Rechtsprechung Fach 18, Seite 1689<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Die Klägerin erhielt im Alter von 34 Jahren nach dem Tod ihres Vaters eine Kapitalleistung ausbezahlt, der<br />

ein Lebensversicherungsvertrag (Direktversicherung) zugrunde lag, den der ehemalige Arbeitgeber des<br />

Vaters als Versicherungsnehmer zugunsten des Vaters der Klägerin als versicherte Person abgeschlossen<br />

hatte. Sie wandte sich gegen die Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen zur gesetzlichen Kranken- und<br />

sozialen Pflegeversicherung. Ihre Revision gegen das zu ihren Ungunsten ergangene Urteil des LSG war<br />

erfolgreich (BSG, Urt. v. 26.2.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 12 KR 12/18 R).<br />

Ausgehend von dem Zweck des § 229 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 SGB V, Bezieher gesetzlicher und betrieblicher<br />

Renten gleichzustellen, liegt, so das BSG, ein Versorgungszweck bei Leistungen an ein Kind der Versicherten<br />

jedenfalls dann nicht vor, wenn die Leistung zu einem Zeitpunkt zufließt, in dem typischerweise<br />

kein Anspruch auf eine Waisenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 48 SGB VI<br />

mehr in Betracht kommt. Mit der Zielsetzung der Gleichbehandlung von Beziehern gesetzlicher und<br />

betrieblicher Renten hinsichtlich der Beitragspflicht von Versorgungsbezügen wäre es nicht vereinbar,<br />

Leistungen der betrieblichen Altersversorgung an Waisen der Beitragspflicht zu unterwerfen, die diesen<br />

zu einem Zeitpunkt zufließen, zu dem ein Anspruch auf Waisenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung<br />

von vorneherein ausscheidet. Die Grenze ist bei typisierender Betrachtung entsprechend<br />

der Regelung in § 48 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SGB VI – und bei Außerachtlassung einer weiteren Verschiebung<br />

der Altersgrenze unter der Voraussetzung der Regelung in § 48 Abs. 5 S. 1 SGB VI – mit 27 Jahren<br />

festzulegen.<br />

Das BSG lässt offen, wie zu verfahren ist, wenn ein Kind das 27. Lebensjahr erst während des Bezugs<br />

einer Rente aus der betrieblichen Altersversorgung bzw. bei Einmalzahlungen während des Zeitraums<br />

von zehn Jahren nach der Auszahlung einer Kapitalleistung (s. § 229 Abs. 1 S. 3 SGB V) vollendet, ob sich<br />

also der Versorgungscharakter während des Bezugs ändern kann. Schließlich führt der Senat aus, seine<br />

Entscheidung stehe nicht im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung zur Beitragspflicht von<br />

Leistungen betrieblicher Altersvorsorge an Hinterbliebene, soweit er darin den Versorgungszweck daraus<br />

abgeleitet hat, dass die Versicherungsleistung auch im Todesfall fällig war und damit eine unterhaltssichernde<br />

Funktion erfüllte. In diesen Fällen flossen die jeweiligen Kapitalleistungen den hinterbliebenen<br />

Ehepartnern (Witwen) der jeweiligen Arbeitnehmer zu. Der Versorgungszweck i.S. einer<br />

Unterhaltsersatzfunktion war bei typisierender Betrachtungsweise nicht zweifelhaft, da in den entschiedenen<br />

Fällen die betroffenen Witwen das 47. Lebensjahr vollendet hatten und damit eine grundsätzliche<br />

Voraussetzung für die große Witwen- und Witwerrente (§ 46 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB VI) erfüllen,<br />

die zeitlich unbefristet ist.<br />

2. Fiktive Genehmigung von Leistungsanträgen nach § 13 Abs. 3a SGB V<br />

Die Rechtsprechung des BSG zur Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V – anwendbar für Anträge<br />

auf künftig zu erbringenden Leistungen ab dem 26.2.<strong>20</strong>13 – war wiederholt Gegenstand dieser Rechtsprechungsübersicht<br />

(s. <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1483 ff., 1597 ff., 1635 ff.). Hiernach ist unter folgenden Voraussetzungen<br />

bei Verletzung der in der Bestimmung vorgesehenen Entscheidungsfristen und Informationspflichten<br />

durch die Krankenkasse von einer Genehmigungsfiktion und hieraus folgend einem Kostenerstattungsanspruch<br />

der Versicherten (ohne Bindung an zugelassene Leistungsträger, auch bei Behandlung im<br />

Ausland), wahlweise von einem Sachleistungsanspruch auszugehen:<br />

• Es bedarf eines ausreichend konkretisierten Leistungsantrags, der sich auf Leistungen bezieht, die der<br />

Antragsteller für erforderlich halten darf und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung liegen.<br />

• Über den Antrag entscheidet die Krankenkasse nicht schriftlich bis zum Ablauf von drei Wochen<br />

(Eingang beim Antragsteller) nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachterliche Stellungnahme,<br />

insbesondere des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung, eingeholt wird, innerhalb<br />

von fünf Wochen nach Antragseingang, wobei diese längere Frist nur dann eingreift, wenn die<br />

Krankenkasse den Antragsteller unverzüglich und innerhalb der dreiwöchigen Frist über die Einholung<br />

einer gutachterlichen Stellungnahme unterrichtet.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1079


Fach 18, Seite 1690<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Rechtsprechung<br />

In zwei Entscheidungen vom 26.2.<strong><strong>20</strong>19</strong> hat der 1. Senat des BSG diese Rechtsprechung auf die Versorgung<br />

mit Arzneimitteln ohne Begrenzung auf einen Festbetrag erstreckt (B 1 KR 24/18 R und B 1 KR<br />

23/18 R). Für ein Arzneimittel, für das ein Festbetrag nach § 35 SGB V festgesetzt ist, trägt die Krankenkasse<br />

die Kosten bis zur Höhe dieses Betrags. Die Kläger hatten befundgestützt beantragt, sie ohne<br />

Begrenzung auf den Festbetrag auf vertragsärztliche Verordnung mit Arzneimitteln zu versorgen, weil<br />

dies nur mit dem gewählten Medikament geschehen könne. Die Krankenkassen lehnten jeweils die<br />

Anträge ab, jedoch außerhalb der durch § 13 Abs. 3a SGB V vorgesehenen Fristenregelung.<br />

Das BSG stellt klar, der Anspruch der Kläger bestehe, aber nicht zeitlich unbegrenzt, sondern sei von<br />

vorneherein durch verschiedene Tatbestandsvoraussetzungen, wie u.a. die vertragsärztliche Verordnung,<br />

begrenzt. Das Erfordernis vertragsärztlicher Verordnung ermöglicht dem behandelnden Vertragsarzt,<br />

das Arzneimittel bei gleichbleibender Erforderlichkeit zu verordnen, ohne deshalb einen<br />

Regress befürchten zu müssen. Es ist zugleich inhaltlich dafür offen, dass der Vertragsarzt die Verordnung<br />

pflichtgemäß verweigert, wenn z.B. die Indikation fehlt oder die Verordnung eines neu zugelassenen<br />

kostengünstigeren Festbetragsarzneimittels in Betracht kommt, welches der Versicherte zumutbar<br />

für das gleiche Therapieziel erhalten kann.<br />

Hinweis:<br />

Zwei weitere Entscheidungen vom gleichen Tag betrafen die Frage der Rücknahme einer fiktiven Genehmigung<br />

nach §§ 44 ff. SGB X (BSG, Urt. v. 26.2.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 1 KR 33/17 R und B 1 KR 18/18 R). In Betracht kommt<br />

vor allem ein Vorgehen nach § 45 SGB X, wonach unter den dort genannten Voraussetzungen ursprünglich<br />

rechtswidrige Verwaltungsakte zurückgenommen werden können. Der 1. Senat des BSG hält an seiner<br />

Auffassung fest, wonach es bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit lediglich auf die Voraussetzungen des § 13<br />

Abs. 3a SGB V ankommt und nicht darauf, ob den Versicherten materiell die beantragte Leistung zusteht,<br />

was oft nicht der Fall sein dürfte. Anderer Auffassung ist insoweit offenbar der 3. Senat des BSG (Urt. v.<br />

11.5.<strong>20</strong>17 – B 3 KR 30/15 R, Rn 50, hierzu HARICH, juris PR-SozR 2/<strong>20</strong>18 Anm. 3), der darauf hinweist, einer (nur)<br />

fingierten Genehmigung könne keine stärkere Bestandskraft zukommen, als einer ausdrücklich mittels<br />

eines formellen Verwaltungsakts erteilten Genehmigung. Die Frage war aber dort nicht entscheidungserheblich.<br />

IV.<br />

Rentenversicherung<br />

1. Rückforderung von überzahlter Rente nach dem Tod des Berechtigten und der Auflösung des<br />

Kontos<br />

Die Vorschrift des § 118 SGB VI regelt die Fälligkeit und Auszahlung von laufenden Geldleistungen. Absatz 3<br />

S. 2 der Norm begründet als eigenständige Verpflichtung der Bank einen Anspruch des Rentenversicherungsträgers<br />

bzw. der überweisenden Stelle auf Rücküberweisung durch das Geldinstitut, wenn<br />

Geldleistungen nach dem Tod des Berechtigten zu Unrecht auf ein Konto überwiesen werden. Dies gilt<br />

unabhängig davon, ob die Erben der Zahlung zustimmen oder ob noch ein Guthaben auf dem Konto<br />

vorhanden ist. Allerdings bestimmt § 118 Abs. 3 S. 3 SGB VI, dass eine Verpflichtung zur Rücküberweisung<br />

nicht besteht, soweit über den entsprechenden Betrag bei Eingang der Rückforderung bereits anderweitig<br />

verfügt wurde, es sei denn, dass die Rücküberweisung aus einem Guthaben erfolgen kann.<br />

Nach § 102 Abs. 5 SGB VI wird die Rente bis zum Ende des Kalendermonats geleistet, in dem die<br />

Berechtigten gestorben sind und endet danach. Der Bescheid über die Rentenbewilligung erledigt sich<br />

nach § 39 Abs. 2 SGB X mit dem Tode, er bedarf keiner Aufhebung (BSG 10.7.<strong>20</strong>12 – B 13 R 105/11 R).<br />

Zahlungen, die für die Zeit nach dem Tode des Berechtigten auf dessen Konto überwiesen wurden,<br />

gelten zudem als unter Vorbehalt erbracht (§ 118 Abs. 3 S. 1 SGB VI).<br />

Die hier darzustellende Entscheidung hatte zu klären, ob der Anspruch auf Rücküberweisung die<br />

weitere Existenz des Kontos des Rentenempfängers voraussetzt (BSG, Urt. v. <strong>20</strong>.2.<strong><strong>20</strong>19</strong> – Gs 1/18, hierzu<br />

PALSHERM jM <strong><strong>20</strong>19</strong>, 198 und WENNER SoSi plus 4/<strong><strong>20</strong>19</strong>, 1).<br />

1080 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Rechtsprechung Fach 18, Seite 1691<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Der klagende Rentenversicherungsträger verlangte im März <strong>20</strong>10 von der beklagten Bank Rente zurück,<br />

die er auf das dort geführte Konto der Rentnerin, die bereits am 19.11.<strong>20</strong>09 verstorben war, für die<br />

Monate Dezember <strong>20</strong>09 und Januar <strong>20</strong>10 überwiesen hatte. Der Todesfall war der Beklagten seit dem<br />

24. 11. <strong>20</strong>09 bekannt. Auf den anspruchsvernichtenden Einwand nach § 118 Abs. 3 S. 3 SGB VI konnte sich<br />

die Beklagte nicht berufen, weil diese Vorschrift neben den beiden geschriebenen Tatbestandsmerkmalen<br />

als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal weiter voraussetzt, dass das Geldinstitut bei einer<br />

anderweitigen Verfügung keine Kenntnis vom Tod des Rentenberechtigten hatte (s. obige Entscheidung<br />

des BSG, Rn 6 m.w.N.). Diese bestand aber vorliegend bereits seit Ende November <strong>20</strong>09. Die<br />

Beklagte hatte jedoch das Guthaben, das höher war, als der Rückzahlungsanspruch, bereits Ende Januar<br />

<strong>20</strong>10 an die Erbinnen der Verstorbenen ausgezahlt und das Konto danach gelöscht. Entscheidungserheblich<br />

war demnach, ob hierdurch der Rücküberweisungsanspruch erloschen war.<br />

Der im Revisionsverfahren der Parteien zuständige 5. Senat des BSG vertrat unter Hinweis auf den<br />

Wortlaut der Vorschrift des § 118 Abs. 2 S. 2 SGB VI („zurückzuüberweisen“) die Auffassung, der gegen die<br />

Bank gerichtete Anspruch setze das weitere Bestehen des Kontos des verstorbenen Rentners voraus<br />

(BSG, Vorlagebeschluss v. 17.8.<strong>20</strong>17 – B 5 R 26/14 R, zustimmend MUSHOFF, NZS <strong>20</strong>18, 194). Der 13. Senat<br />

des BSG vertrat hingegen die Auffassung, die Auflösung des Kontos führe nicht zum Untergang des<br />

Anspruchs des Rentenversicherungsträgers auf Rücküberweisung und hielt auf Anfrage an dieser<br />

Auffassung fest. Demnach war die Entscheidung des beim BSG gebildeten Großen Senats einzuholen<br />

(§ 41 Abs. 2, Abs. 3 S. 1 SGG).<br />

Dieser entschied, dass der Anspruch eines Rentenversicherungsträgers gegen das Geldinstitut nach § 118<br />

Abs. 3 S. 2 SGB VI auf Rücküberweisung von Geldleistungen, die für die Zeit nach dem Tod des Berechtigten<br />

überwiesen worden sind, nicht durch die Auflösung des Kontos des Rentenversicherungsempfängers<br />

erlischt und folgt somit der Auffassung des 13. Senats. Begründet wird dies zunächst damit,<br />

der Wortlaut der Vorschrift mit dem Begriff „Rücküberweisung“ setze nicht zwingend den Fortbestand<br />

des Empfängerkontos beim Geldinstitut voraus. Ferner führt er systematische Gründe für seine Auffassung<br />

an. Schließlich hebt er auf den Regelungszweck des Gesetzes ab: Der Anspruch diene dazu,<br />

nach dem Tod des Berechtigten zu Unrecht weiter gezahlte Geldleistungen schnell, effektiv und<br />

vollständig dem Rentenversicherungsträger zurückzuerstatten, um die Solidargemeinschaft der Versicherten<br />

vor finanziellen Verlusten zu bewahren. Dieses Ziel, eine effektive Rückführung überzahlter<br />

Leistungen zu gewähren, würde verfehlt, wenn das Geldinstitut als in § 118 Abs. 3 S. 2 SGB VI ausdrücklich<br />

benannter Schuldner den Anspruch des Rentenversicherungsträgers zum Erlöschen bringen<br />

könnte, indem es das Konto etwa im Auftrag des Berechtigten auflöst. Dies wäre widersprüchlich und<br />

mit § 242 BGB unvereinbar.<br />

Hinweise:<br />

1. Die Entscheidung des Großen Senats vereinfacht bei Überzahlungen nach dem Tod des Berechtigten die<br />

Position des Rentenversicherungsträgers, weil er sich in vielen Fällen an das Geldinstitut halten kann und<br />

den u.U. mühsameren Weg vermeidet, den Rückforderungsanspruch gegen Empfänger von Geldleistungen<br />

und darüber Verfügende nach § 118 Abs. 4 SGB VI zu verfolgen.<br />

2. Das Urteil wird auch Auswirkungen auf die Rechtsbeziehungen zwischen der Bank und den Erben<br />

eines Rentenempfängers haben. Das BSG weist darauf hin, dass sich die Geldinstitute auf einfachem<br />

Wege davor schützen können, den Anspruch auf Rückforderung zu Unrecht gezahlter Geldleistungen<br />

befriedigen zu müssen, ohne dass ihnen der Rückgriff auf eine realisierbare Sicherheit offensteht. Sie<br />

haben die Möglichkeit, sich entweder mittels eines Guthabens auf dem Empfängerkonto oder – falls das<br />

Konto im Soll ist – mittels Verweigerung einer Verringerung des Solls zu sichern. Einmal regelt dies § 118<br />

Abs. 3 S. 1 SGB VI mit dem Normbefehl, dass Geldleistungen, die für die Zeit nach dem Tod des Berechtigten<br />

auf ein Konto bei einem Geldinstitut im Inland überwiesen wurden, als „unter Vorbehalt<br />

erbracht“ gelten. Die Geldinstitute können, so das BSG, die Sicherung mittels Zurückbehaltungsrechts<br />

und Kontobelastung den ihm erteilten Anweisungen der Kontoführungsberechtigten, insbesondere der<br />

Kontoauflösung, entgegenhalten. Die Berechtigung hierzu folge aus § 675o Abs. 2 BGB.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1081


Fach 18, Seite 1692<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Rechtsprechung<br />

3. Die Entscheidung hat über das Rentenrecht hinaus Bedeutung: In der gesetzlichen Unfallversicherung<br />

besteht mit § 96 Abs. 3 SGB VII eine Vorschrift, die der Norm des § 118 Abs. 3 SGB VI entspricht. Für die<br />

Auszahlung der Renten der gesetzlichen Alterssicherung für Landwirte gilt § 118 SGB VI entsprechend,<br />

§ 40 Abs. 1 ALG. Schließlich regelt § 6 Abs. 2 S. 4 BVG die entsprechende Anwendung von § 118 Abs. 3-4 a<br />

SGB VI. Entsprechend anzuwenden ist § 118 Abs. 3-4a SGB VI ferner in der Grundsicherung für Arbeitsuchende<br />

(§ 40 Abs. 5 S. 2 SGB II). Eine eigenständige, inhaltlich aber entsprechende Regelung enthält für<br />

das Wohngeldrecht § 30 WoGG.<br />

2. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben<br />

Gesetzlich Rentenversicherte haben Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach §§ 9,<br />

10, 11, 12, 16 – dort mit Verweis auf §§ 49-54 SGB IX – SGB VI. Die persönlichen Voraussetzungen<br />

haben die Versicherten erfüllt, wenn ihre Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher,<br />

geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist (§ 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI)<br />

und Erfolgsaussichten einer Teilhabeleistung i.S.v. Abs. 1 Nr. 2 der Vorschrift bestehen. Der Begriff der<br />

„geminderten Erwerbsfähigkeit“ entspricht nicht dem der Erwerbsminderung i.S.v. § § 43, 240 Abs. 2<br />

SGB VI, vielmehr ist hierunter die Fähigkeit zur möglichst dauernden Ausübung der bisherigen<br />

beruflichen Tätigkeit im normalen Umfang zu verstehen (s. Kasseler Kommentar/KATER, § 10 SGB VI<br />

Rn 15 m.w.N.). Auf eine etwaige Einsetzbarkeit des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt<br />

kommt es grds. nicht an.<br />

Abzustellen ist demnach auf den zuletzt innegehabten Arbeitsplatz. In die Betrachtung können ggf.<br />

auch alle weiteren beruflichen Tätigkeiten der letzten Jahre einbezogen werden, sofern sie nicht allzu<br />

lange zurückliegen und nicht nur verhältnismäßig kurze Zeit verrichtet wurden. Feste zeitliche Grenzen<br />

hinsichtlich der Rückanknüpfung bei der Bestimmung des bisherigen Berufs bestehen nicht. So hat das<br />

BSG durch Urt. v. 12.3.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 13 R 27/17 R den Teilhabeanspruch einer 1961 geborenen Klägerin bejaht,<br />

die zunächst 1984 und 1989 als Kontoristin tätig war, dann eine Ausbildung zur Physiotherapeutin<br />

absolvierte und zwischen 1992-<strong>20</strong>03 in der Hälfte der Zeit in diesem Beruf tätig war. Anschließend war<br />

sie arbeitslos, arbeitsunfähig und geringfügig in der Gastronomie beschäftigt. Im Mai beantragte sie<br />

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und wies darauf hin, sie könne wegen ausgeprägter Gesundheitsstörungen<br />

an Händen und Knien nicht mehr als Physiotherapeutin tätig sein und sie stelle sich eine<br />

Qualifizierung zur Kauffrau im Gesundheitswesen oder in der Immobilienbranche vor. Die nach Ablehnung<br />

des Antrags erhobene Klage, die Deutsche Rentenversicherung zu verpflichten, den Antrag der<br />

Klägerin auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben unter Beachtung der Rechtsauffassung des<br />

Gerichts erneut zu bescheiden, war in allen drei Instanzen erfolgreich.<br />

Das BSG stellt bei der Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen auf den zuletzt von der Klägerin ausgeübten<br />

Beruf als Physiotherapeutin ab. Unerheblich im Hinblick auf den Berufsbezug seien zunächst die<br />

von der Klägerin seit <strong>20</strong>07 ausgeübten nicht versicherungspflichtigen Tätigkeiten, die immer außer<br />

Betracht zu bleiben haben (s. Rn 34 der Entscheidungsgründe). Den Umstand, dass im Falle erst lange<br />

Zeit nach der letzten tatsächlichen Ausübung des bisherigen Berufs bzw. der bisherigen Tätigkeit<br />

auftretender Krankheiten/Behinderungen auch andere Ursachen dafür infrage kommen können, dass<br />

Versicherte diesen Beruf nicht mehr ausüben können, prüft das Gericht im Rahmen der Vorschrift des<br />

§ 10 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI, die voraussetzt, dass die Erwerbsfähigkeit „wegen“ einer Behinderung gefährdet<br />

ist und nicht aus anderen Gründen. Maßstab der insoweit anzustellenden Kausalitätsprüfung ist auch im<br />

Recht der gesetzlichen Rentenversicherung die Lehre von der wesentlich mitwirkenden Bedingung.<br />

Nach dieser sind kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen, die wegen ihrer besonderen Beziehung<br />

zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Ist eine Ursache gegenüber einer<br />

anderen von überragender Bedeutung, so ist nur diese als „wesentliche“ Ursache im Sinne des Sozialrechts<br />

zu qualifizieren. Die andere, damit nicht wesentliche Ursache, kann zwar gleichwohl „Auslöser“<br />

für den Ursachenzusammenhang sein, jedoch ohne dass ihr insoweit rechtlich entscheidende Bedeutung<br />

zukäme. Das BSG prüft, ob überragende Ursache im vorstehenden Sinne im Kontext des § 10 Abs. 1<br />

1082 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Rechtsprechung Fach 18, Seite 1693<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Nr. 1 SGB VI auch der Verlust verwertbarer Fähigkeiten im bisherigen Beruf ist, sei es durch arbeitsmarktbedingte<br />

Berufs- bzw. Tätigkeitsentfremdung infolge eines grundlegenden Wandels der<br />

fachlichen Anforderungen oder durch individuelle Berufs- bzw. Tätigkeitsentfremdung aufgrund des<br />

Verlusts der notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten durch langfristige Nichtausübung. Das Berufungsgericht<br />

hatte vorliegend ausdrücklich festgestellt, dass keine Anhaltspunkte für eine arbeitsmarktbedingte<br />

oder individuelle Berufsentfremdung der Klägerin bestehen. Hieran war das BSG nach<br />

§ 163 SGG gebunden.<br />

V. Verfahrensrecht<br />

1. Nichtzulassungsbeschwerde wegen Verfahrensmangel; besondere Wertigkeit der mündlichen<br />

Verhandlung<br />

Die nicht anwaltlich vertretene Klägerin begehrte von der beklagten Krankenkasse Leistungen nach<br />

dem SGB V ohne Nutzung einer elektronischen Gesundheitskarte (eGK). Das SG hat die Klage durch<br />

Gerichtsbescheid abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das LSG unter Hinweis auf die Entscheidung<br />

des BSG vom 18.11.<strong>20</strong>14 (B 1 KR 35/13 R), wonach die Bestimmungen zur Verwendung einer<br />

eGK rechtlich nicht zu beanstanden sei, ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen.<br />

Hinweis:<br />

Entscheidet das SG erstinstanzlich durch Gerichtsbescheid, so kann das LSG – außer im Fall der Unzulässigkeit<br />

der Berufung (s. § 158 SGG) – über das Rechtsmittel grds. nur nach mündlicher Verhandlung<br />

entscheiden. Die Möglichkeit, die Berufung durch Beschluss zurückzuweisen, wenn sie einstimmig für<br />

unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich angesehen wird, besteht nach einer<br />

Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht (s. § 153 Abs. 4 S. 1 SGG), was sich zudem zwingend aus Art. 6<br />

Abs. 1 EMRK ergibt.<br />

Das LSG entschied gleichwohl ohne mündliche Verhandlung, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden<br />

erklärt hätten, s. § 124 Abs. 2 SGG. Dies bestritt die Klägerin. Ihre Nichtzulassungsbeschwerde war<br />

insoweit erfolgreich, als das BSG das angefochtene Urteil aufhob und den Vorgang zur erneuten<br />

Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwies (§ 160a Abs. 5 SGG, BSG 9.4.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 1 KR 81/18 B,<br />

hierzu SCHÜTZ, jurisPR-SozR 11/<strong><strong>20</strong>19</strong> Anm. 6).<br />

Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde, wie hier, auf einen Verfahrensmangel stützt, auf dem die angefochtene<br />

Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG), muss zur Bezeichnung des Verfahrensmangels<br />

die diesen begründende Tatsachen substantiiert dartun und zudem darlegen, dass und<br />

warum die Entscheidung des LSG auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer<br />

Beeinflussung des Urteils besteht.<br />

Die Klägerin trug diesen Anforderungen, so das BSG, hinreichend Rechnung. Sie war vom LSG mehrfach<br />

gefragt worden, ob sie einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG zustimme,<br />

hat dann ausdrücklich am 17.9.<strong>20</strong>18 die Zustimmung abgelehnt und gleichzeitig wegen Verhinderung<br />

um Verlegung des für den 25.9.<strong>20</strong>18 angesetzten Termins gebeten. Ergänzend teilte sie am<br />

21.9.<strong>20</strong>18 dem LSG mit, am Vortag sei bei ihr eine Krebserkrankung festgestellt worden, sie sehe sich<br />

nicht in der Lage, sich auf eine Gerichtsverhandlung zu konzentrieren. Ob aus diesem Grund eine<br />

Terminverschiebung möglich sei, könne sie nicht beurteilen. Sie sei auf die Beratung des LSG angewiesen.<br />

Weiter heißt es dann: „Nur wenn das keinen Grund darstellt, sehe ich mich gezwungen, der Verhandlung<br />

im schriftlichen Verfahren zuzustimmen. Ich bitte daher um Aufhebung des Termins am 25.9.<strong>20</strong>18“. Das Gericht<br />

forderte die Klägerin daraufhin mit Telefax vom 21.9.<strong>20</strong>18 auf, eine ärztliche Bescheinigung zu übersenden,<br />

damit ein Verlegungsgrund geprüft werden könne, die Bescheinigung solle Aussagen zur<br />

momentanen körperlichen/psychischen Belastbarkeit/Reisefähigkeit der Klägerin enthalten. Die Klägerin<br />

legte sodann einen Befund des Radiologen vor und verwies darauf, dass sie bei einem Psychiater erst<br />

Anfang Dezember <strong>20</strong>18 einen Termin erhalten habe. Das Gericht teilte der Klägerin am 24. September<br />

mit, sie habe bisher keinen Grund für eine Terminverlegung glaubhaft gemacht, der morgige Termin<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1083


Fach 18, Seite 1694<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Rechtsprechung<br />

finde statt, sie könne aber einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach wie vor zustimmen.<br />

Am gleichen Tag antwortete die Klägerin: „habe ich bereits zugestimmt! Bitte lesen, Arzttermine bekommt<br />

man nicht innerhalb von einem Tag!!!“<br />

Die Klägerin hat damit, so das BSG, keine Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche<br />

Verhandlung erteilt, sondern auf die zuvor mit Schreiben vom 21.9.<strong>20</strong>18 lediglich bedingte erteilte<br />

Zustimmung Bezug genommen. Aus dem gesamten Vortrag der Klägerin ergebe sich, dass sie auf eine<br />

mündliche Verhandlung nicht verzichten wollte. Nur für den Fall, dass das LSG ihren Vortrag nicht als<br />

erheblichen Grund für eine Terminverlegung ansehen würde, hat sie einer „Verhandlung im schriftlichen<br />

Verfahren“ zugestimmt. Dabei nahm die Klägerin auch für das LSG erkennbar irrtümlich an, sie müsse,<br />

um einen Verlegungsgrund glaubhaft zu machen, hinsichtlich ihrer „psychischen Belastbarkeit“ das<br />

Attest eines Psychiaters vorlegen.<br />

Vor diesem Hintergrund durfte das LSG kein Einverständnis i.S.d. § 124 Abs. 2 SGG annehmen, sondern<br />

hätte die Klägerin über ihren Irrtum aufklären und den Termin vertagen müssen. Wirksam kann Einverständnis<br />

mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nur klar, eindeutig und<br />

grds. vorbehaltlos erklärt werden (so bereits BSG, Urt. v. 22.9.1977 – 10 RV 79/76 Rn 10).<br />

Das BSG entscheidet weiter, dass die Klägerin einen Verfahrensmangel geltend macht, auf dem die<br />

angefochtene Entscheidung beruhen kann. Wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung<br />

als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens (§ 124 Abs. 1 SGG) bedürfe es keines weiteren<br />

Vortrags zum „Beruhen-Können“ der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler. Es sei<br />

nicht auszuschließen, dass das LSG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn die Klägerin<br />

Gelegenheit gehabt hätte, sich in einer mündlichen Verhandlung zu den rechtlichen und tatsächlichen<br />

Aspekten des Rechtsstreits zu äußern. Dies gelte in besonderem Maße, da in der ersten Instanz eine<br />

mündliche Verhandlung nicht stattgefunden hat.<br />

Hinweise:<br />

1. SCHÜTZ weist in der Urteilsanmerkung darauf hin, dass die mündliche Verhandlung zugleich ein zentraler<br />

Ausdruck des Grundrechts auf rechtliches Gehör – das ja in der mündlichen Verhandlung besonders<br />

wirksam gewährt werden kann – ist (Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 47 Abs. 2 GRCh und Art. 6 Abs. 1 EMRK).<br />

2. Das BSG hat durch Urt. v. 3.6.<strong>20</strong>09 – B 5 R 306/07 B Rn 10 entschieden, dass gleiche Anforderungen,<br />

wie an einen Verzicht auf die mündliche Verhandlung, an die Erklärung nach § 155 Abs. 3 SGG zu stellen<br />

sind, wonach das Einverständnis mit einer Entscheidung allein durch den Vorsitzenden oder den bestellten<br />

Berichterstatter erklärt wird. Auch eine solche Erklärung habe weitreichende Folgen, da eine<br />

Entscheidung in voller Senatsbesetzung eine höhere Richtigkeitsgewähr als diejenige eines einzelnen<br />

Richters bietet.<br />

3. Aufgrund der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung hat deren prozessrechtswidrige<br />

Vorenthaltung praktisch die Wirkung eines absoluten Revisionsgrunds (vgl. auch LEITHERER in MEYER-<br />

LADEWIG/KELLER/LEITHERER/SCHMIDT, SGG 12. Aufl. § 160a Rn 16d m.w.N.). Gleiches gilt, wenn keine wirksame<br />

Einverständniserklärung nach § 155 Abs. 3 SGG vorliegt (BSG, Beschl. v. 3.6.<strong>20</strong>09 – B 5 R 306/07 B Rn 13)<br />

und bei anderen Verletzungen des Grundsatzes auf rechtliches Gehör, wie die unberechtigte Ablehnung<br />

eines Antrags auf Aufhebung/Verlegung eines Verhandlungstermins oder auf Vertagung einer<br />

bereits begonnenen mündlichen Verhandlung nach § 227 Abs. 1 S. 1 ZPO i.V.m. § <strong>20</strong>2 S. 1 SGG (BSG, Urt.<br />

v. 27.11.<strong>20</strong>18 – B 2 U 17/18 B Rn 10 ff.).<br />

2. Grenzen der konsentierten Einzelrichterentscheidung im Berufungsverfahren<br />

Im Rahmen eines Rechtsstreits darüber, ob die Klägerin einen nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII versicherten<br />

Wegeunfall erlitten hat, hatte im Berufungsverfahren der Berichterstatter des LSG im Einverständnis<br />

mit den Beteiligten anstelle des Senats als Einzelrichter gem. § 155 Abs. 3 und 4 SGG durch Urteil<br />

entschieden und das der Klage stattgebende Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das<br />

BSG hat nach Zulassung der Revision das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das LSG zur<br />

1084 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Rechtsprechung Fach 18, Seite 1695<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

erneuten Verhandlung und Entscheidung mit der Begründung zurückverwiesen, das Berufungsgericht<br />

sei bei seiner Entscheidung nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen.<br />

Nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGG hat ein Senat des LSG, wenn er durch Urteil entscheidet, grds. in der<br />

Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern<br />

tätig zu werden. Abweichend hiervon gestattet § 155 Abs. 3 und Abs. 4 SGG dem Vorsitzenden oder –<br />

soweit bestellt – dem Einzelrichter im Einverständnis der Beteiligten anstelle des Senats zu entscheiden<br />

(sog. konsentierter Einzelrichter). Auch wenn das Einverständnis der Beteiligten vorliegt,<br />

muss der Vorsitzende/Berichterstatter im Rahmen des ihm eröffneten Ermessens pflichtgemäß darüber<br />

befinden, ob er von dieser besonderen Verfahrensweise Gebrauch macht oder ob es aus<br />

sachlichen Gründen bei einer Entscheidung durch den gesamten Senat zu verbleiben hat. Durch Urt. v.<br />

29.1.<strong><strong>20</strong>19</strong> (B 2 U 5/18 R, hierzu WESTERMANN, jurisPR-SozR 13/<strong><strong>20</strong>19</strong> Anm. 5) hat das BSG entschieden:<br />

Eine Entscheidung nach § 155 Abs. 3 und Abs. 4 SGG ist im Hinblick darauf, dass die Sozialgerichte<br />

grds. als Kollegialgerichte ausgestaltet sind und den Entscheidungen eines Kollegiums eine höhere<br />

Richtigkeitsgewähr beizumessen ist, grds. dann unzulässig, wenn über eine Rechtssache zu befinden<br />

ist, die objektiv betrachtet besondere rechtliche Schwierigkeiten aufweist, weil eine Entscheidung in<br />

Abweichung von einem Judikate eines der in § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte getroffen wird<br />

(Divergenz) oder weil sie nach den zu § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG entwickelten Kriterien eine bislang<br />

höchstrichterlich noch nicht hinreichend geklärte, entscheidungserhebliche Rechtsfrage aufwirft und<br />

deshalb grundsätzliche Bedeutung hat. Keine der Fallgruppen, bei der nach der bisherigen Rechtsprechung<br />

des BSG trotz Divergenz bzw. grundsätzlicher Bedeutung der Vorsitzende/Berichterstatter<br />

anstelle des Senats entscheiden könne, liege vor (hierbei handelt es sich um folgende Gestaltungen:<br />

ein Verfahren weist keine rechtlichen Schwierigkeiten auf; es wird der ständigen Rechtsprechung<br />

gefolgt; das Einverständnis mit der Einzelrichterentscheidung erstreckt sich gerade auch auf den<br />

Fall der Zulassung der Revision; das Urteil bezieht sich auf eine bereits vorhandene, in vollständiger<br />

Senatsbesetzung getroffene Leitentscheidung des LSG oder auf bereits beim BSG anhängige<br />

Parallelfälle).<br />

Das BSG führt dann weiter aus, warum im vorliegenden Fall die entscheidungserhebliche Rechtsfrage<br />

höchstrichterlich noch nicht hinreichend geklärt ist und deshalb grundsätzliche Bedeutung hat.<br />

3. Wiedereinsetzung nach PKH-Antrag<br />

Während die Beteiligten vor dem SG und dem LSG den Rechtsstreit selber führen können (§ 73 Abs. 1<br />

SGG), müssen sich die Beteiligten vor dem BSG, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte<br />

vertreten lassen (§ 73 Abs. 4 S. 1 SGG).<br />

Der Kläger hatte gegen ein seine Klage abweisendes LSG-Urteil wenige Tage vor Ablauf der Monatsfrist<br />

des § 160a Abs. 1 S. 2 SGG wegen Nichtzulassung der Revision Beschwerde beim BSG eingelegt und<br />

gleichzeitig Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt, ohne jedoch die Erklärung über die persönlichen und<br />

wirtschaftlichen Verhältnisse auf dem vorgeschriebenen Formular einzureichen. Diese Erklärung legte<br />

er erst einen Tag nach Ablauf der Monatsfrist vor und beantragte insofern Wiedereinsetzung in den<br />

vorigen Stand nach § 67 SGG, weil er aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen sei, die<br />

Erklärung fristgerecht vorzulegen, wie sich aus den Attesten seines Hausarztes und dem Entlassungsbericht<br />

einer Klinik ergebe.<br />

Der Wiedereinsetzungsantrag blieb erfolglos (BSG, Beschl. v. 3.4.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 1 KR 84/18 B).<br />

Für die Bewilligung von PKH ist nach der Rechtsprechung des BSG und der anderen obersten<br />

Gerichtshöfe des Bundes grds. Voraussetzung, dass sowohl der Antrag auf PKH als auch die Erklärung in<br />

der für diese gesetzlich vorgeschriebenen Form (§ 73a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 117 Abs. 2 und 4 ZPO) bis<br />

zum Ablauf der Beschwerdefrist beim BSG eingehen. Darauf hat das LSG den Kläger bereits in den<br />

Erläuterungen zur PKH, die dem angefochtenen LSG-Urteil beigefügt waren, hingewiesen.<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1085


Fach 18, Seite 1696<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Rechtsprechung<br />

Dem Kläger kann keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, weil der Kläger nicht<br />

i.S.d. § 67 Abs. 1 SGG „ohne Verschulden“ gehindert war, innerhalb der Monatsfrist die entsprechende<br />

Erklärung beim BSG einzureichen. Insbesondere war der Kläger, so das BSG, hieran nicht wegen<br />

Krankheit gehindert, was nur der Fall gewesen wäre, wenn er krankheitsbedingt weder in der Lage<br />

gewesen wäre, selbst zu handeln noch einen Dritten hiermit zu beauftragen. Den vorgelegten<br />

Unterlagen war nicht zu entnehmen, dass die attestierte Erkrankung so schwer war, dass sie jegliches<br />

eigenständiges Handeln des Klägers bis zum Ablauf der Frist ausschloss. Auch stand dem bereits entgegen,<br />

dass der Kläger unbeachtet der bescheinigten Erkrankungen zwei Tage vor dem Fristablauf in<br />

der Lage war, mittels Telefax Nichtzulassungsbeschwerde einzulegen und PKH zu beantragen sowie<br />

einen Tag später die Erklärung zu unterschreiben, die dann einen Tag nach Fristablauf einging.<br />

Da die vom Kläger selbst eingelegte Beschwerde nicht den zwingenden gesetzlichen Vorschriften<br />

entsprach, weil sie nicht durch einen vor dem BSG zugelassenen Bevollmächtigten eingelegt worden ist,<br />

war sie durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs. 4 S. 1 Hs. 2 i.V.m. § 169 S. 3 SGG).<br />

Hinweise:<br />

1. Anwaltlich nicht vertretene Beteiligte, die gegen ein LSG-Urteil, das die Revision nicht zulässt, Revision<br />

bzw. zunächst Nichtzulassungsbeschwerde einlegen wollen, jedoch hierfür PKH beanspruchen wollen,<br />

müssen innerhalb der Monatsfrist zur Einlegung des Rechtsmittels (Revision: § 164 Abs. 1 S. 1 SGG, Nichtzulassungsbeschwerde<br />

§ 160a Abs. 1 S. 2 SGG) einen PKH Antrag nebst Erklärung beim BSG einreichen<br />

und Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten beantragen. Wird PKH bewilligt, ist durch den Bevollmächtigten<br />

innerhalb der Monatsfrist des § 67 Abs. 2 S. 1 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu<br />

beantragen und gleichzeitig die Einlegung des Rechtsmittels nachzuholen (§ 67 Abs. 2 S. 3 SGG). Für die<br />

Begründung des Rechtsmittels steht nach der Rechtsprechung des BSG dann ab Zustellung der PKH-<br />

Bewilligung eine Frist von zwei Monaten zur Verfügung, wobei die Frist zur Revisionsbegründung mehrfach,<br />

diejenige zur Nichtzulassungsbeschwerde aber nur einmal bis zu einem Monat (§ 160a Abs. 2 S. 2 SGG)<br />

verlängert werden kann.<br />

2. § 67 SGG findet gem. § 84 Abs. 2 S. 3 SGG auch im Widerspruchsverfahren Anwendung, für Verfahrensfristen<br />

im Verwaltungsverfahren gilt § 27 SGB X (zu den inhaltlichen Unterschieden zwischen den<br />

beiden Vorschriften s. SARTORIUS <strong>ZAP</strong> F. 18, 1618). Ein Wiedereinsetzungsantrag braucht nicht ausdrücklich<br />

gestellt zu werden; er kann auch stillschweigend in einem Schriftsatz enthalten sein, wobei es ausreicht,<br />

dass in dort konkludent zum Ausdruck gebracht wird, das Verfahren trotz verspäteter Einreichung der<br />

Rechtsmitteleinlegungs- oder Rechtsmittelbegründungsschrift fortsetzen zu wollen (BGH 12.6.<strong><strong>20</strong>19</strong> –<br />

XII ZB 432/18). Der BGH leitet seiner Auffassung aus dem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen<br />

Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) her, welches es den Gerichten<br />

verbietet, den Beteiligten den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz<br />

in unzumutbarer, auf Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren, Rn 6 des Beschlusses.<br />

3. PKH ist generell nur zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Erfolgsaussicht<br />

bietet. Dabei ist nicht nur auf die Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG, sondern auch auf den<br />

möglichen Erfolg in der Hauptsache abzustellen (BSG v. 4.2.<strong><strong>20</strong>19</strong> – B 8 SO 21/18 BH, s. Anm. SCHMIDT,<br />

NZS <strong><strong>20</strong>19</strong>, 438).<br />

4. Effektiver Rechtsschutz für die vorläufige Bewilligung eines persönlichen Budgets<br />

Auf Antrag der Leistungsberechtigten werden Leistungen zur Teilhabe (s. § 4 SGB IX, die in Betracht<br />

kommenden Leistungsgruppen finden sich in § 5 SGB IX) durch die Leistungsform eines Persönlichen<br />

Budgets ausgeführt, um den Leistungsberechtigten in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes<br />

Leben zu ermöglichen, § 29 Abs. 1 S. 1 SGB IX. Entsprechendes gilt bei Leistungen der<br />

Eingliederungshilfe nach §§ 53, 57 SGB XII. Die Leistung wird als individuell bedarfsgerecht gemessener<br />

Geldbetrag zur Verfügung gestellt, mit ihnen können die benötigten Dienstleistungen und Waren in<br />

eigener Regie beschafft werden. Auch insofern kommt die Gewährung von Eilrechtsschutz nach § 86b<br />

Abs. 2 SGG in Betracht.<br />

1086 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Rechtsprechung Fach 18, Seite 1697<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

a) Einfach gesetzlicher Prüfungsmaßstab gem. § 86 b Abs. 2 S. 2 u. 4, SGG, § 103 SGG,<br />

§ 9<strong>20</strong> Abs. 2 ZPO<br />

Durch Beschl. v. 28.1.<strong><strong>20</strong>19</strong> – L 18 SO 3<strong>20</strong>/18 B ER hat das LSG Bayern unter Aufhebung der Entscheidung<br />

der Vorinstanz einem Kind, das von Geburt an beidseitig hörgemindert ist und bei dem Sprachentwicklungsstörungen<br />

aufgetreten sind, einen Hausunterricht in Gebärdensprache als persönliches<br />

Budget für vier Stunden pro Woche zu jeweils 50 € zugesprochen.<br />

Das Gericht prüft zunächst den einfachgesetzlichen Prüfungsmaßstab: dieser ergibt sich aus den<br />

Bestimmungen der § 86b Abs. 2 S. 2 SGG, § 103 SGG (Untersuchungsgrundsatz) und § 86b Abs. 2 S. 4<br />

SGG, § 9<strong>20</strong> Abs. 2 ZPO (Glaubhaftmachung). Diese regeln im Zusammenspiel: Ein Eilantrag ist erfolgreich,<br />

wenn der zu sichernde Hauptsacheanspruch den Antragstellern mit überwiegender Wahrscheinlichkeit<br />

zusteht (sog. Anordnungsanspruch) und ihnen im Zeitraum bis zum Ergehen der<br />

Hauptsacheentscheidung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine nicht unerhebliche Rechtsverletzung,<br />

also ein wesentlicher Nachteil, droht (sog. Anordnungsgrund).<br />

Ergibt sich nach diesem Maßstab kein Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Anordnung – aber nur<br />

dann –, ist aufgrund des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) eine Güter- und<br />

Folgenabwägung vorzunehmen (s. hierzu etwa bereits BVerfG v. 6. 8. <strong>20</strong>14 – 1 BvR 1453/12 und v.<br />

14.9.<strong>20</strong>16 – 1 BvR 1335/13, ferner die nachfolgend unter b) dargestellte Entscheidung). Hierbei sind die in<br />

die Eilentscheidung einzubeziehenden Abwägungselemente des (jedenfalls möglichen) prospektiven<br />

Hauptsacheerfolgs und der (jedenfalls möglicherweise) ohne Eilrechtsschutz drohenden Beeinträchtigungen<br />

nach Beeinträchtigungs- und Wahrscheinlichkeitsgraden im Rahmen einer offenen Abwägung<br />

von den Gerichten zu gewichten. Um dem Eilantrag stattzugeben, kann so bei entsprechender Schwere<br />

der ohne Eilrechtsschutz drohenden Beeinträchtigungen bereits die Möglichkeit des Bestehens eines<br />

Hauptsacheanspruchs ausreichen. Um den Eilantrag unter Orientierung an der Hauptsache abzulehnen,<br />

ist bei entsprechender Schwere der ohne Eilrechtsschutz möglichen Beeinträchtigung ggf. schon im<br />

Eilverfahren eine abschließende Prüfung der Hauptsache durchzuführen.<br />

Vorliegend hatte der Eilantrag bereits nach einfachgesetzlichen Maßstäben Erfolg, da nach den getroffenen<br />

Feststellungen eine Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der beantragte Kurs geeignet und<br />

erforderlich ist, die Fähigkeiten des Antragstellers, an der Gesellschaft teilzuhaben und damit die Aufgabe<br />

der Eingliederungshilfe zu erfüllen (§ 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII), maßgeblich zu verbessern.<br />

Das LSG führt hilfsweise aus, dass auch eine Güter- und Folgeabwägung zugunsten des Antragstellers<br />

ausfiele. Es hält den Eintritt von schweren Beeinträchtigungen bei Nichtgewährung des beantragten<br />

Eilrechtsschutzes jedenfalls für denkbar, weil Gefährdungssituationen vorliegen, in denen eine Verständigung<br />

mit dem Antragsteller nur durch Gebärdensprache möglich ist, um Gefahren zu vermeiden.<br />

Auch wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit entsprechender Situationen nicht allzu hoch sein<br />

möge, wäre es schwerwiegend, wenn sich die entsprechenden Gefahren realisieren. Auch die Folgenabwägung<br />

im Sinne der sog. Doppelhypothese (Folgen bei Unterliegen im Eilverfahren/Obsiegen in<br />

der Hauptsache einerseits und bei Obsiegen im Eilverfahren/Unterliegen in der Hauptsache andererseits)<br />

spreche für die vorläufige Kostenverpflichtung des Antragsgegners. Im erstgenannten Fall ist<br />

der Eintritt der oben genannten Beeinträchtigungen möglich. Im letztgenannten Fall kommt es lediglich<br />

zur Rückzahlungsverpflichtung des Antragstellers, wobei der Senat das Risiko eines Anspruchsverlustes<br />

des Antragsgegners für gering erachtet.<br />

Hinweis:<br />

Die LSG entscheiden im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes letztinstanzlich, ihre Entscheidungen<br />

sind nicht reversibel. Bei Verletzung von Grundrechten und anderer in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten<br />

Rechte ist aber Verfassungsbeschwerde möglich. Einschlägig ist im vorliegenden Zusammenhang das aus<br />

Art. 19 Abs. 4 GG folgende Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (s. hierzu nachfolgend).<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1087


Fach 18, Seite 1698<br />

Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />

Rechtsprechung<br />

b) Stattgebender Kammerbeschluss, BVerfG v.14.3.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 1 BvR 169/19<br />

Der 1987 geborene schwerbehinderte Beschwerdeführer ist aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung<br />

auf eine 24-Stunden-Betreuung angewiesen und erhält seit Jahren vom zuständigen Leistungsträger<br />

ein persönliches Budget, mit welchem er seine Versorgung im Rahmen eines sog. Arbeitgebermodells<br />

selbst organisiert. Die Höhe des Budgets war Gegenstand mehrerer sozialgerichtlicher<br />

Eilverfahren sowie eines Verfahrens vor dem BVerfG (Kammerbeschluss v. 12.9.<strong>20</strong>16 – 1BvR 1630/16).<br />

Nachdem das BVerfG der Verfassungsbeschwerde stattgegeben hatte, verpflichtete das LSG den Leistungsträger,<br />

dem Beschwerdeführer bis zum Abschluss einer Bedarfsfeststellung, längstens bis zum<br />

Abschluss des Hauptsacheverfahrens, ein persönliches Budget von monatlich ca. 12.800 € zu gewähren.<br />

Die Hauptsacheverfahren sind weiterhin anhängig. Nach der Bedarfsfeststellung bewilligte der Leistungsträger<br />

lediglich ein persönliches Budget im Umfang von rd. 7.221 €. Das Begehren nach höherer<br />

Leistung blieb beim SG und LSG erfolglos.<br />

Die Kammer nahm die vom Beschwerdeführer eingelegte Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung<br />

an und gibt ihr statt. Sie verweist auf ihre bisherige Rechtsprechung, die oben unter a) skizziert ist.<br />

Diesen Anforderungen genüge die Entscheidung des LSG nicht. Zum einen drohe dem Beschwerdeführer<br />

eine offensichtlich über Randbereiche hinausgehende Verletzung in eigenen Rechten. Er habe<br />

durch Vorlage von Kontoauszügen nachgewiesen, dass er sein Assistenzmodell mit dem derzeit<br />

gewährten persönlichen Budget von monatlich 7.221 € bei nachgewiesenen monatlichen Ausgaben<br />

i.H.v. durchschnittlich rd. 11.000 € für seine Assistenzkräfte zzgl. der Kosten für ein Case-Management<br />

i.H.v. monatlich 1.800 € nur noch ungefähr drei Monate aufrechterhalten könne. Es sei unwahrscheinlich,<br />

dass das sozialgerichtliche Hauptsacheverfahren innerhalb von drei Monaten beendet sein<br />

wird. Unter diesen Umständen habe das LSG einmal die Anforderungen an die Glaubhaftmachung<br />

eines Anordnungsanspruchs überspannt, indem es die diesen betreffenden umfangreichen Ausführungen<br />

des Beschwerdeführers pauschal als „nicht nachvollziehbar“ bezeichnete und zum andern<br />

die Sache angesichts der drohenden Rechtsverletzungen tatsächlich und rechtlich nicht hinreichend<br />

durchdrungen hat, da es sich ausdrücklich auf eine summarische Prüfung beschränkte. Ferner habe<br />

das LSG dem Leistungsträger eine nachvollziehbare Bedarfs- und Kostenermittlung für die Organisation<br />

der begehrten 24-Stunden-Assistenz attestiert, obwohl der Beschwerdeführer mehrere beachtliche<br />

Einwände gegen die Stimmigkeit dieses Konzepts geltend gemacht habe. Damit, so das<br />

BVerfG, beruht die Entscheidung des LSG auf der unzureichenden Beachtung der sich aus Art. 19<br />

Abs. 4 S. 1 GG ergebenden Anforderungen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass das LSG bei einer verfassungsrechtlich<br />

gebotenen Befassung mit dem Begehren des Beschwerdeführers zu einem für diesen<br />

günstigeren Ergebnis gelangt wäre.<br />

Hinweise:<br />

In einem weiteren stattgebenden Kammerbeschluss v. 16.4.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 1 BvR 2111/17 (s. hierzu VOELZKE, jurisPR-<br />

SozR 18/<strong><strong>20</strong>19</strong> Anm. 3) hat das BVerfG zur Reichweite einer verfassungsrechtlichen Überprüfung fachgerichtlicher<br />

Entscheidungen im PKH-Verfahren (vorliegend waren Leistungen nach dem SGB II betroffen)<br />

entschieden:<br />

Der Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit (hier für das sozialgerichtliche Verfahren: aus Art. 3 Abs. 1 GG<br />

i.V.m. Art. <strong>20</strong> Abs. 3 GG) ist verletzt, wenn das Fachgericht einen PKH-Anspruch unter Hinweis auf die<br />

zwischenzeitliche Erledigung der Sache verneint, obschon das Rechtsschutzbegehren zum Zeitpunkt der<br />

Bewilligungsreife des PKH-Antrags Aussicht auf Erfolg hatte (s. bereits BVerfG, Beschl. v, 5.12.<strong>20</strong>18 –<br />

2 BvR 2257/17 Rn. 15).<br />

Der Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit ist zudem auch dann verletzt, wenn das Fachgericht hinsichtlich<br />

der Beurteilung der Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung auf einen zutreffenden Zeitpunkt abstellt, jedoch<br />

die Anforderungen an ebenjenes Tatbestandsmerkmal hinreichender Erfolgsaussichten überspannt,<br />

etwa in dem es eine bislang ungeklärte, schwierige Rechtsfrage bereits im PKH Verfahren “durchentscheidet“<br />

(s. bereits BVerfG, Beschl. v. 13.3.1990 – 2 BvR 94/88). PKH ist aus verfassungsrechtlichen Gründen<br />

bereits dann zu bewilligen, wenn eine Rechtsauffassung vertretbar erscheint, auch wenn das Fachgericht<br />

die Auffassung nicht teilt (BVerfG, Beschl. v. 14.2.<strong>20</strong>17 – 1BvR 2507/16).<br />

1088 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>


Gebührenrecht Fach 24, Seite 1721<br />

Gebührentipps<br />

Anwaltsgebühren<br />

Gebührentipps für Rechtsanwälte (II/<strong><strong>20</strong>19</strong>)<br />

Arbeitsgerichtliches Verfahren bei überlanger Verfahrensdauer; Kostenerstattung<br />

Von VorsRiLG a.D. HEINZ HANSENS, Berlin<br />

Hinweis:<br />

Der erste Teil ist abgedruckt in <strong>ZAP</strong> Heft 12, F. 24, S. 1695 ff. („Gebührentipps für Rechtsanwälte – II/<strong><strong>20</strong>19</strong>“).<br />

Inhalt<br />

IV. Arbeitsgerichtliches Verfahren bei überlanger<br />

Verfahrensdauer – Kostenerstattung<br />

1. Verfahrensrecht<br />

2. Kostenfestsetzung<br />

3. Kostenerstattung<br />

IV. Arbeitsgerichtliches Verfahren bei überlanger Verfahrensdauer – Kostenerstattung<br />

Angesichts der Belastung der Gerichte spielen Verfahren auf Entschädigung wegen unangemessener<br />

Dauer eines Gerichtsverfahrens eine zunehmende Rolle. Vielfach haben diese Verfahren auch Erfolg. Für<br />

den obsiegenden Kläger stellt sich dann die Frage, ob ihm im Falle seines Obsiegens auch die angefallenen<br />

Kosten zu erstatten sind. Dies ist in Verfahren auf Entschädigung bei unangemessener Verfahrensdauer<br />

in Zivilsachen recht unproblematisch. In arbeitsgerichtlichen Verfahren stellt sich jedoch<br />

die Frage, ob dort der Ausschluss der Kostenerstattung gem. § 12a Abs. 1 S. 1 ArbGG gilt.<br />

1. Verfahrensrecht<br />

Für Verfahren wegen einer Entschädigung bei unangemessener Verfahrensdauer, die sich gegen ein<br />

Bundesland richten, ist gem. § <strong>20</strong>1 Abs. 1 S. 1 GVG das OLG zuständig, in dessen Bezirk das streitgegenständliche<br />

Verfahren durchgeführt wurde. In arbeitsrechtlichen Streitigkeiten sind gem. § 9 Abs. 2<br />

ArbGG die Vorschriften des 17. Titels des GVG, also die §§ 198 bis <strong>20</strong>1 GVG, entsprechend anwendbar. Dies<br />

hat zur Folge, dass an die Stelle des OLG das LAG tritt. Somit ist in Verfahren wegen einer Entschädigung<br />

infolge unangemessener Verfahrensdauer in der Arbeitsgerichtsbarkeit das LAG als erstinstanzliches<br />

Gericht zuständig.<br />

2. Kostenfestsetzung<br />

Für das Kostenfestsetzungsverfahren in arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten sind die Vorschriften über<br />

die Kostenfestsetzung in den §§ 103 ff. ZPO entsprechend anwendbar. Somit entscheidet über den<br />

Kostenfestsetzungsantrag auch in einem Verfahren wegen einer Entschädigung bei unangemessener<br />

Verfahrensdauer das Gericht des ersten Rechtszugs. Da das Kostenfestsetzungsverfahren gem. § 21<br />

Nr. 1 RPflG dem Rechtspfleger übertragen ist, ist für die Kostenfestsetzung der Rechtspfleger des LAG,<br />

das ja in solchen Verfahren erstinstanzliches Gericht ist, zuständig.<br />

Gegen die Entscheidung des Rechtspflegers im Kostenfestsetzungsverfahren findet nicht gem. § 11<br />

Abs. 1 RPflG i.V.m. § 104 Abs. 3 S. 1 ZPO die sofortige Beschwerde statt. Diese ist nämlich nur gegen<br />

<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1089


Fach 24, Seite 1722<br />

Gebührentipps<br />

Gebührenrecht<br />

Entscheidungen des Arbeitsgerichts im ersten Rechtszug statthaft (s. BAG RVGreport <strong>20</strong>06, 395<br />

[HANSENS] = NJW <strong>20</strong>06, 2718). Dies hat nach den allgemeinen verfahrensrechtlichen Vorschriften zur<br />

Folge, dass gem. § 78 ArbGG i.V.m. § 567 Abs. 1 Hs. 1 ZPO gegen die Entscheidung des Rechtspflegers des<br />

LAG im Kostenfestsetzungsverfahren grds. kein Rechtsmittel gegeben ist. Für einen solchen Fall greift<br />

die Regelung in § 11 Abs. 2 RPflG ein, so dass gegen dessen Entscheidung im Kostenfestsetzungsverfahren<br />

die befristete Erinnerung statthaft ist (ARNOLD/MEYER-STOLTE/HINTZEN, RPflG, 8. Aufl., § 11 Rn 54;<br />

OLG Koblenz zfs <strong>20</strong>10, 401 m. Anm. HANSENS = AGS <strong>20</strong>10, 323 für die Anfechtbarkeit des Kostenfestsetzungsbeschlusses<br />

des Rechtspflegers beim OLG).<br />

3. Kostenerstattung<br />

a) Grundsatz<br />

In Urteilsverfahren des ersten Rechtszuges in der Arbeitsgerichtsbarkeit besteht gem. § 12a Abs. 1 S. 1<br />

ArbGG kein Anspruch der obsiegenden Partei auf Entschädigung wegen Zeitversäumnis und auf Erstattung<br />

der Kosten für die Zuziehung eines Prozessbevollmächtigten oder eines Beistands (s. hierzu<br />

HANSENS <strong>ZAP</strong> <strong>20</strong>17, 375 ff.; DERS. RVGreport <strong>20</strong>15, 401 ff.; s. auch BAG RVGreport <strong>20</strong>15, 426 [HANSENS] =<br />

AGS <strong>20</strong>15, 483 für Ausnahmen).<br />

b) Besonderheiten im Entschädigungsverfahren<br />

Wie vorstehend (s. IV. 1.) erörtert, handelt es sich bei dem Verfahren auf Entschädigung wegen unangemessener<br />

Dauer eines Gerichtsverfahrens vor dem LAG um ein Verfahren erster Instanz. Dies<br />

spricht dem ersten Anschein nach dafür, dass auch für ein solches Entschädigungsverfahren der in § 12a<br />

Abs. 1 S. 1 ArbGG geregelte Ausschluss der Kostenerstattung von Parteikosten gilt.<br />

Das LAG Sachsen-Anhalt (vgl. RVGreport <strong><strong>20</strong>19</strong>, 186 [HANSENS]) hat sich jedoch gegen die Anwendung des<br />

§ 12a Abs. 1 S. 1 ArbGG ausgesprochen. Nach Auffassung des LAG ist nämlich Sinn und Zweck dieser<br />

Vorschrift, dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, den Rechtsweg vor dem Gericht erster Instanz ohne das<br />

Risiko zu beschreiten, die Kosten des Prozessbevollmächtigten des Arbeitgebers zu tragen. Auch eigene<br />

Anwaltskosten würden dem Arbeitnehmer nicht zwingend anfallen, da in arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren<br />

erster Instanz kein Anwaltszwang besteht. Bei Klagen auf Entschädigung wegen unangemessener<br />

Dauer eines Gerichtsverfahrens vor dem LAG besteht jedoch gem. § 11 Abs. 4 ArbGG Vertretungszwang.<br />

Nach Auffassung des LAG Sachsen-Anhalt (a.a.O.) sprechen auch sozialpolitische Gründe gegen einen<br />

Ausschluss der Kostenerstattung. Bei einem erfolgreichen Verfahren hat nämlich i.d.R. das beklagte<br />

Land als unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Deshalb sei es – so das LAG – im<br />

Regelfall unangemessen, das beklagte Land gem. § 12a Abs. 1 S. 1 ArbGG von der Kostenerstattung zu<br />

befreien, obwohl sich die Parteien in einem solchen Verfahren gem. § 11 Abs. 4 ArbGG durch Prozessbevollmächtigte<br />

vertreten lassen müssen.<br />

Gebührentipp:<br />

Die Entscheidung des LAG Sachsen-Anhalt ist – soweit ersichtlich – die erste bekannt gewordene<br />

Entscheidung eines LAG, die sich zur Anwendbarkeit des § 12a Abs. 1 S. 1 ArbGG in Verfahren wegen<br />

einer Entschädigung bei unangemessener Verfahrensdauer befasst. Eine Entscheidung des BAG hierzu<br />

ist aus Gründen des Verfahrensrechts nicht zu erreichen. Die richterliche Entscheidung – hier also die<br />

Entscheidung des LAG – auf die Rechtspflegererinnerung nach § 11 Abs. 2 RPflG ist nämlich nicht anfechtbar<br />

(s. BGH RVGreport <strong>20</strong>16, 30 [HANSENS]; BGH ZIP <strong>20</strong>11, 1170).<br />

Der Prozessbevollmächtigte der in einem Entschädigungsverfahren obsiegenden Partei sollte deshalb<br />

auch in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren die Anwaltskosten des Mandanten im Kostenfestsetzungsverfahren<br />

geltend machen. In seinem Kostenfestsetzungsantrag sollte er dabei ausdrücklich auf<br />

die hier erörterte Entscheidung des LAG Sachsen-Anhalt Bezug nehmen. Die Auffassung des LAG<br />

Sachsen-Anhalt liegt übrigens auch auf der Linie meiner Äußerungen in RVGreport <strong>20</strong>15, 401, 402 und<br />

der Auffassung von GERMELMANN/MATTHES/PRÜTTING, 9.Aufl. <strong>20</strong>17, § 12a ArbGG, Rn 2a).<br />

1090 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>

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