ZAP-2019-20
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Fach 18, Seite 1694<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />
Rechtsprechung<br />
finde statt, sie könne aber einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach wie vor zustimmen.<br />
Am gleichen Tag antwortete die Klägerin: „habe ich bereits zugestimmt! Bitte lesen, Arzttermine bekommt<br />
man nicht innerhalb von einem Tag!!!“<br />
Die Klägerin hat damit, so das BSG, keine Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche<br />
Verhandlung erteilt, sondern auf die zuvor mit Schreiben vom 21.9.<strong>20</strong>18 lediglich bedingte erteilte<br />
Zustimmung Bezug genommen. Aus dem gesamten Vortrag der Klägerin ergebe sich, dass sie auf eine<br />
mündliche Verhandlung nicht verzichten wollte. Nur für den Fall, dass das LSG ihren Vortrag nicht als<br />
erheblichen Grund für eine Terminverlegung ansehen würde, hat sie einer „Verhandlung im schriftlichen<br />
Verfahren“ zugestimmt. Dabei nahm die Klägerin auch für das LSG erkennbar irrtümlich an, sie müsse,<br />
um einen Verlegungsgrund glaubhaft zu machen, hinsichtlich ihrer „psychischen Belastbarkeit“ das<br />
Attest eines Psychiaters vorlegen.<br />
Vor diesem Hintergrund durfte das LSG kein Einverständnis i.S.d. § 124 Abs. 2 SGG annehmen, sondern<br />
hätte die Klägerin über ihren Irrtum aufklären und den Termin vertagen müssen. Wirksam kann Einverständnis<br />
mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nur klar, eindeutig und<br />
grds. vorbehaltlos erklärt werden (so bereits BSG, Urt. v. 22.9.1977 – 10 RV 79/76 Rn 10).<br />
Das BSG entscheidet weiter, dass die Klägerin einen Verfahrensmangel geltend macht, auf dem die<br />
angefochtene Entscheidung beruhen kann. Wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung<br />
als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens (§ 124 Abs. 1 SGG) bedürfe es keines weiteren<br />
Vortrags zum „Beruhen-Können“ der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler. Es sei<br />
nicht auszuschließen, dass das LSG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn die Klägerin<br />
Gelegenheit gehabt hätte, sich in einer mündlichen Verhandlung zu den rechtlichen und tatsächlichen<br />
Aspekten des Rechtsstreits zu äußern. Dies gelte in besonderem Maße, da in der ersten Instanz eine<br />
mündliche Verhandlung nicht stattgefunden hat.<br />
Hinweise:<br />
1. SCHÜTZ weist in der Urteilsanmerkung darauf hin, dass die mündliche Verhandlung zugleich ein zentraler<br />
Ausdruck des Grundrechts auf rechtliches Gehör – das ja in der mündlichen Verhandlung besonders<br />
wirksam gewährt werden kann – ist (Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 47 Abs. 2 GRCh und Art. 6 Abs. 1 EMRK).<br />
2. Das BSG hat durch Urt. v. 3.6.<strong>20</strong>09 – B 5 R 306/07 B Rn 10 entschieden, dass gleiche Anforderungen,<br />
wie an einen Verzicht auf die mündliche Verhandlung, an die Erklärung nach § 155 Abs. 3 SGG zu stellen<br />
sind, wonach das Einverständnis mit einer Entscheidung allein durch den Vorsitzenden oder den bestellten<br />
Berichterstatter erklärt wird. Auch eine solche Erklärung habe weitreichende Folgen, da eine<br />
Entscheidung in voller Senatsbesetzung eine höhere Richtigkeitsgewähr als diejenige eines einzelnen<br />
Richters bietet.<br />
3. Aufgrund der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung hat deren prozessrechtswidrige<br />
Vorenthaltung praktisch die Wirkung eines absoluten Revisionsgrunds (vgl. auch LEITHERER in MEYER-<br />
LADEWIG/KELLER/LEITHERER/SCHMIDT, SGG 12. Aufl. § 160a Rn 16d m.w.N.). Gleiches gilt, wenn keine wirksame<br />
Einverständniserklärung nach § 155 Abs. 3 SGG vorliegt (BSG, Beschl. v. 3.6.<strong>20</strong>09 – B 5 R 306/07 B Rn 13)<br />
und bei anderen Verletzungen des Grundsatzes auf rechtliches Gehör, wie die unberechtigte Ablehnung<br />
eines Antrags auf Aufhebung/Verlegung eines Verhandlungstermins oder auf Vertagung einer<br />
bereits begonnenen mündlichen Verhandlung nach § 227 Abs. 1 S. 1 ZPO i.V.m. § <strong>20</strong>2 S. 1 SGG (BSG, Urt.<br />
v. 27.11.<strong>20</strong>18 – B 2 U 17/18 B Rn 10 ff.).<br />
2. Grenzen der konsentierten Einzelrichterentscheidung im Berufungsverfahren<br />
Im Rahmen eines Rechtsstreits darüber, ob die Klägerin einen nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII versicherten<br />
Wegeunfall erlitten hat, hatte im Berufungsverfahren der Berichterstatter des LSG im Einverständnis<br />
mit den Beteiligten anstelle des Senats als Einzelrichter gem. § 155 Abs. 3 und 4 SGG durch Urteil<br />
entschieden und das der Klage stattgebende Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das<br />
BSG hat nach Zulassung der Revision das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das LSG zur<br />
1084 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>