ZAP-2019-20
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Rechtsprechung Fach 18, Seite 1697<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />
a) Einfach gesetzlicher Prüfungsmaßstab gem. § 86 b Abs. 2 S. 2 u. 4, SGG, § 103 SGG,<br />
§ 9<strong>20</strong> Abs. 2 ZPO<br />
Durch Beschl. v. 28.1.<strong><strong>20</strong>19</strong> – L 18 SO 3<strong>20</strong>/18 B ER hat das LSG Bayern unter Aufhebung der Entscheidung<br />
der Vorinstanz einem Kind, das von Geburt an beidseitig hörgemindert ist und bei dem Sprachentwicklungsstörungen<br />
aufgetreten sind, einen Hausunterricht in Gebärdensprache als persönliches<br />
Budget für vier Stunden pro Woche zu jeweils 50 € zugesprochen.<br />
Das Gericht prüft zunächst den einfachgesetzlichen Prüfungsmaßstab: dieser ergibt sich aus den<br />
Bestimmungen der § 86b Abs. 2 S. 2 SGG, § 103 SGG (Untersuchungsgrundsatz) und § 86b Abs. 2 S. 4<br />
SGG, § 9<strong>20</strong> Abs. 2 ZPO (Glaubhaftmachung). Diese regeln im Zusammenspiel: Ein Eilantrag ist erfolgreich,<br />
wenn der zu sichernde Hauptsacheanspruch den Antragstellern mit überwiegender Wahrscheinlichkeit<br />
zusteht (sog. Anordnungsanspruch) und ihnen im Zeitraum bis zum Ergehen der<br />
Hauptsacheentscheidung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine nicht unerhebliche Rechtsverletzung,<br />
also ein wesentlicher Nachteil, droht (sog. Anordnungsgrund).<br />
Ergibt sich nach diesem Maßstab kein Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Anordnung – aber nur<br />
dann –, ist aufgrund des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) eine Güter- und<br />
Folgenabwägung vorzunehmen (s. hierzu etwa bereits BVerfG v. 6. 8. <strong>20</strong>14 – 1 BvR 1453/12 und v.<br />
14.9.<strong>20</strong>16 – 1 BvR 1335/13, ferner die nachfolgend unter b) dargestellte Entscheidung). Hierbei sind die in<br />
die Eilentscheidung einzubeziehenden Abwägungselemente des (jedenfalls möglichen) prospektiven<br />
Hauptsacheerfolgs und der (jedenfalls möglicherweise) ohne Eilrechtsschutz drohenden Beeinträchtigungen<br />
nach Beeinträchtigungs- und Wahrscheinlichkeitsgraden im Rahmen einer offenen Abwägung<br />
von den Gerichten zu gewichten. Um dem Eilantrag stattzugeben, kann so bei entsprechender Schwere<br />
der ohne Eilrechtsschutz drohenden Beeinträchtigungen bereits die Möglichkeit des Bestehens eines<br />
Hauptsacheanspruchs ausreichen. Um den Eilantrag unter Orientierung an der Hauptsache abzulehnen,<br />
ist bei entsprechender Schwere der ohne Eilrechtsschutz möglichen Beeinträchtigung ggf. schon im<br />
Eilverfahren eine abschließende Prüfung der Hauptsache durchzuführen.<br />
Vorliegend hatte der Eilantrag bereits nach einfachgesetzlichen Maßstäben Erfolg, da nach den getroffenen<br />
Feststellungen eine Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der beantragte Kurs geeignet und<br />
erforderlich ist, die Fähigkeiten des Antragstellers, an der Gesellschaft teilzuhaben und damit die Aufgabe<br />
der Eingliederungshilfe zu erfüllen (§ 53 Abs. 1 S. 1 SGB XII), maßgeblich zu verbessern.<br />
Das LSG führt hilfsweise aus, dass auch eine Güter- und Folgeabwägung zugunsten des Antragstellers<br />
ausfiele. Es hält den Eintritt von schweren Beeinträchtigungen bei Nichtgewährung des beantragten<br />
Eilrechtsschutzes jedenfalls für denkbar, weil Gefährdungssituationen vorliegen, in denen eine Verständigung<br />
mit dem Antragsteller nur durch Gebärdensprache möglich ist, um Gefahren zu vermeiden.<br />
Auch wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit entsprechender Situationen nicht allzu hoch sein<br />
möge, wäre es schwerwiegend, wenn sich die entsprechenden Gefahren realisieren. Auch die Folgenabwägung<br />
im Sinne der sog. Doppelhypothese (Folgen bei Unterliegen im Eilverfahren/Obsiegen in<br />
der Hauptsache einerseits und bei Obsiegen im Eilverfahren/Unterliegen in der Hauptsache andererseits)<br />
spreche für die vorläufige Kostenverpflichtung des Antragsgegners. Im erstgenannten Fall ist<br />
der Eintritt der oben genannten Beeinträchtigungen möglich. Im letztgenannten Fall kommt es lediglich<br />
zur Rückzahlungsverpflichtung des Antragstellers, wobei der Senat das Risiko eines Anspruchsverlustes<br />
des Antragsgegners für gering erachtet.<br />
Hinweis:<br />
Die LSG entscheiden im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes letztinstanzlich, ihre Entscheidungen<br />
sind nicht reversibel. Bei Verletzung von Grundrechten und anderer in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten<br />
Rechte ist aber Verfassungsbeschwerde möglich. Einschlägig ist im vorliegenden Zusammenhang das aus<br />
Art. 19 Abs. 4 GG folgende Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (s. hierzu nachfolgend).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong> 1087