ZAP-2019-20
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Fach 18, Seite 1698<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. <strong><strong>20</strong>19</strong><br />
Rechtsprechung<br />
b) Stattgebender Kammerbeschluss, BVerfG v.14.3.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 1 BvR 169/19<br />
Der 1987 geborene schwerbehinderte Beschwerdeführer ist aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung<br />
auf eine 24-Stunden-Betreuung angewiesen und erhält seit Jahren vom zuständigen Leistungsträger<br />
ein persönliches Budget, mit welchem er seine Versorgung im Rahmen eines sog. Arbeitgebermodells<br />
selbst organisiert. Die Höhe des Budgets war Gegenstand mehrerer sozialgerichtlicher<br />
Eilverfahren sowie eines Verfahrens vor dem BVerfG (Kammerbeschluss v. 12.9.<strong>20</strong>16 – 1BvR 1630/16).<br />
Nachdem das BVerfG der Verfassungsbeschwerde stattgegeben hatte, verpflichtete das LSG den Leistungsträger,<br />
dem Beschwerdeführer bis zum Abschluss einer Bedarfsfeststellung, längstens bis zum<br />
Abschluss des Hauptsacheverfahrens, ein persönliches Budget von monatlich ca. 12.800 € zu gewähren.<br />
Die Hauptsacheverfahren sind weiterhin anhängig. Nach der Bedarfsfeststellung bewilligte der Leistungsträger<br />
lediglich ein persönliches Budget im Umfang von rd. 7.221 €. Das Begehren nach höherer<br />
Leistung blieb beim SG und LSG erfolglos.<br />
Die Kammer nahm die vom Beschwerdeführer eingelegte Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung<br />
an und gibt ihr statt. Sie verweist auf ihre bisherige Rechtsprechung, die oben unter a) skizziert ist.<br />
Diesen Anforderungen genüge die Entscheidung des LSG nicht. Zum einen drohe dem Beschwerdeführer<br />
eine offensichtlich über Randbereiche hinausgehende Verletzung in eigenen Rechten. Er habe<br />
durch Vorlage von Kontoauszügen nachgewiesen, dass er sein Assistenzmodell mit dem derzeit<br />
gewährten persönlichen Budget von monatlich 7.221 € bei nachgewiesenen monatlichen Ausgaben<br />
i.H.v. durchschnittlich rd. 11.000 € für seine Assistenzkräfte zzgl. der Kosten für ein Case-Management<br />
i.H.v. monatlich 1.800 € nur noch ungefähr drei Monate aufrechterhalten könne. Es sei unwahrscheinlich,<br />
dass das sozialgerichtliche Hauptsacheverfahren innerhalb von drei Monaten beendet sein<br />
wird. Unter diesen Umständen habe das LSG einmal die Anforderungen an die Glaubhaftmachung<br />
eines Anordnungsanspruchs überspannt, indem es die diesen betreffenden umfangreichen Ausführungen<br />
des Beschwerdeführers pauschal als „nicht nachvollziehbar“ bezeichnete und zum andern<br />
die Sache angesichts der drohenden Rechtsverletzungen tatsächlich und rechtlich nicht hinreichend<br />
durchdrungen hat, da es sich ausdrücklich auf eine summarische Prüfung beschränkte. Ferner habe<br />
das LSG dem Leistungsträger eine nachvollziehbare Bedarfs- und Kostenermittlung für die Organisation<br />
der begehrten 24-Stunden-Assistenz attestiert, obwohl der Beschwerdeführer mehrere beachtliche<br />
Einwände gegen die Stimmigkeit dieses Konzepts geltend gemacht habe. Damit, so das<br />
BVerfG, beruht die Entscheidung des LSG auf der unzureichenden Beachtung der sich aus Art. 19<br />
Abs. 4 S. 1 GG ergebenden Anforderungen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass das LSG bei einer verfassungsrechtlich<br />
gebotenen Befassung mit dem Begehren des Beschwerdeführers zu einem für diesen<br />
günstigeren Ergebnis gelangt wäre.<br />
Hinweise:<br />
In einem weiteren stattgebenden Kammerbeschluss v. 16.4.<strong><strong>20</strong>19</strong> – 1 BvR 2111/17 (s. hierzu VOELZKE, jurisPR-<br />
SozR 18/<strong><strong>20</strong>19</strong> Anm. 3) hat das BVerfG zur Reichweite einer verfassungsrechtlichen Überprüfung fachgerichtlicher<br />
Entscheidungen im PKH-Verfahren (vorliegend waren Leistungen nach dem SGB II betroffen)<br />
entschieden:<br />
Der Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit (hier für das sozialgerichtliche Verfahren: aus Art. 3 Abs. 1 GG<br />
i.V.m. Art. <strong>20</strong> Abs. 3 GG) ist verletzt, wenn das Fachgericht einen PKH-Anspruch unter Hinweis auf die<br />
zwischenzeitliche Erledigung der Sache verneint, obschon das Rechtsschutzbegehren zum Zeitpunkt der<br />
Bewilligungsreife des PKH-Antrags Aussicht auf Erfolg hatte (s. bereits BVerfG, Beschl. v, 5.12.<strong>20</strong>18 –<br />
2 BvR 2257/17 Rn. 15).<br />
Der Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit ist zudem auch dann verletzt, wenn das Fachgericht hinsichtlich<br />
der Beurteilung der Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung auf einen zutreffenden Zeitpunkt abstellt, jedoch<br />
die Anforderungen an ebenjenes Tatbestandsmerkmal hinreichender Erfolgsaussichten überspannt,<br />
etwa in dem es eine bislang ungeklärte, schwierige Rechtsfrage bereits im PKH Verfahren “durchentscheidet“<br />
(s. bereits BVerfG, Beschl. v. 13.3.1990 – 2 BvR 94/88). PKH ist aus verfassungsrechtlichen Gründen<br />
bereits dann zu bewilligen, wenn eine Rechtsauffassung vertretbar erscheint, auch wenn das Fachgericht<br />
die Auffassung nicht teilt (BVerfG, Beschl. v. 14.2.<strong>20</strong>17 – 1BvR 2507/16).<br />
1088 <strong>ZAP</strong> Nr. <strong>20</strong> 23.10.<strong><strong>20</strong>19</strong>