Ikonen der Kriegs- und Krisenfotografie - Mediaculture online
Ikonen der Kriegs- und Krisenfotografie - Mediaculture online
Ikonen der Kriegs- und Krisenfotografie - Mediaculture online
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
http://www.mediaculture-<strong>online</strong>.de<br />
Diese Begriffsprägung scheint sich nicht zufällig an Gotthold Ephraim Lessings Definition<br />
des „fruchtbaren Augenblicks“ anzulehnen, wie er ihn in seiner Schrift über die Laokoon-<br />
Statuengruppe von 1766 formuliert hat (vgl. LESSING 2003). 17 Die Statuengruppe zeigt<br />
den Kampf des trojanischen Priesters Laokoon mit seinen Söhnen gegen die Schlangen,<br />
die ihn schließlich töteten. Im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t hatte sich an <strong>der</strong> Statue die Diskussion<br />
entzündet, warum nicht <strong>der</strong> eigentliche Schrei, also <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Literatur dramatischste<br />
Moment zu sehen war, son<strong>der</strong>n eine, wie Winckelmann dies bezeichnet hatte, „edle<br />
Einfalt <strong>und</strong> stille Größe“ (Winckelmann zit. n. LESSING 2003: 6). Lessing hat dagegen die<br />
These entwickelt, dass die Meisterschaft <strong>der</strong> Skulptur darin liege, dass sie jenen Moment<br />
darstelle, <strong>der</strong> sowohl das Vorherige als auch das Zukünftige bündele, d.h. sie verweist auf<br />
den vorherigen Kampf als auch den nahenden Tod. Diese Darstellung des Wendepunktes<br />
einer Handlung bezeichnete Lessing als den fruchtbaren Augenblick (LESSING 2003:<br />
22ff.). Dieser Moment setzt die Kenntnis des Zusammenhangs, die Erzählung, auf die sich<br />
die Darstellung bezieht, voraus. Die Übernahme von Darstellungskonventionen <strong>der</strong><br />
Historienmalerei des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, die unter dem Einfluss von Lessings normativer<br />
Ästhetik stand, lässt sich in die Pressefotografie schon historisch verfolgen.<br />
Der Hamburger Medienwissenschaftler Knut Hickethier (1997) hat dargelegt, dass auch<br />
<strong>der</strong> Journalismus in <strong>der</strong> längerfristigen Thematisierung eines Ereignisses Erzählstrukturen<br />
entwickelt. Gerade in <strong>der</strong> <strong>Kriegs</strong>berichterstattung sind diese Strukturen evident: Die<br />
Hauptberichterstattung setzt mit dem Beginn <strong>der</strong> offiziellen Kampfhandlungen ein, danach<br />
folgt die tägliche Berichterstattung zum Verlauf <strong>der</strong> einzelnen Kämpfe, in die sich<br />
zahlreiche Nebenstränge einweben. Diese Berichterstattung folgt einem klaren Ziel, <strong>der</strong><br />
Frage nach Sieg o<strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage.<br />
Analysiert man Bildikonen daraufhin, welcher Moment im Verlauf einer solchen<br />
Erzählstruktur erfasst wird, dann lässt sich Lessings fruchtbarer Augenblick deutlich<br />
erkennen. je<strong>der</strong> kennt die Fotos aus dem eigenen Familienalbum, wenn ein kleiner Sieg<br />
errungen, beispielsweise <strong>der</strong> Baum gepflanzt ist, <strong>und</strong> sich die Helden zur Aufnahme<br />
darum gruppieren. Eine Reihe von Bildikonen kennzeichnet, dass sie jenen Moment<br />
erfassen, <strong>der</strong> kurz vor dem Sieg o<strong>der</strong> <strong>der</strong> zentralen Wende im <strong>Kriegs</strong>verlauf<br />
aufgenommen wurden: Die Flagge auf Iwo Jima o<strong>der</strong> auf den Trümmern des World Trade<br />
17 Shaftesburys Punctum-temporis-Theorie war für Lessing zentrales Vorbild (vgl. VARGA 1990).<br />
22