Taschenbuch-Magazin Winter 2017/2018
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Kolumne von Dietmar Bittrich<br />
Glanz und Elend<br />
beim Klassentreffen<br />
Ist es etwa schon so weit? Offensichtlich. Die Mail lässt keinen Zweifel.<br />
Es ist jetzt 20 Jahre her, dass wir ...“ Abitur gemacht, die Prüfung bestanden,<br />
”<br />
das Examen absolviert haben.<br />
Zeichnung: Heike Gerkrath,<br />
nach einem Bild von Dorothee Pauly<br />
Oder ist es noch länger her? Jedenfalls haben Aktivisten<br />
ein Treffen anberaumt. Womöglich in der alten Schule.<br />
Wunderbar und schauderhaft. Wegbleiben wäre feige.<br />
Obwohl klar ist, dass so eine Zusammenkunft kein<br />
purer Genuss werden kann. Wir haben uns weiterentwickelt. Doch<br />
reich und berühmt geworden sind wir nicht. Vielleicht jedoch<br />
andere aus der Klasse? Es gab ein paar nette Leute. Doch auch<br />
ein paar Widerlinge, die jetzt vermutlich Villen, Yachten,<br />
Inseln besitzen.<br />
Ein Blick in den Spiegel. Immerhin,<br />
wir leben noch. Damit haben wir<br />
mindes tens einem Klassenkameraden<br />
schon was voraus.<br />
Jemand anderes hat vermutlich<br />
Meniskusprobleme<br />
oder zuckt mit dem<br />
Augenlid. Viele haben<br />
einen Bauch angesetzt,<br />
sogar unsere<br />
unerfüllte Liebe von<br />
damals. Bei den einen<br />
schwächelt das Bindegewebe,<br />
bei anderen<br />
der Haarwuchs. Einige<br />
erkennen wir nicht mal<br />
nach Namensnennung.<br />
Erstaunlich: Außer uns<br />
sind alle deutlich älter<br />
geworden. Uns hat die achtsame<br />
Lebensweise jung erhalten.<br />
Sonderbar, niemand würdigt den Unterschied.<br />
Niemandem fällt unsere verblüffende<br />
Jugend lichkeit auf, unsere erfri schende Ausstrahlung. Ein<br />
paar Unbelehrbare lächeln sogar nachsichtig bei unserem Anblick.<br />
Und egal, wie viel Charisma wir gewonnen, welche schmerzhaften<br />
Reifeprozesse wir durchlaufen haben: Beim Treffen mit<br />
den Gefährten von einst fallen wir sofort in die alte Rolle zurück.<br />
Kasper, Stiesel, Außenseiter ... Ein paar Überraschungen gibt<br />
es trotzdem. Das Puttelchen von einst ist nach New York gezogen<br />
und hat da gemodelt. Uns hat man nie darum gebeten. Die<br />
Frechste von ehedem ist jetzt treusorgende Mutter von vier<br />
Kindern. Ausgerechnet das Mauerblümchen ist per Heirat in die<br />
Aristokratie aufgestiegen.<br />
Und es gibt auch Tröstliches: Der ehemals Klassenbeste sitzt<br />
einen Behördenstuhl platt. Der rebellische Aufrührer hat es lediglich<br />
zum Polizisten gebracht. Und das bewunderte Musikgenie<br />
ist nie über die Grundsicherung hinausgekommen. Diesen<br />
Bedauernswerten prosten wir besonders großmütig zu.<br />
Es wird verblüffend viel getrunken.<br />
Der Lärmpegel steigt. Nun zeigt sich,<br />
dass wir den Hörsturz doch nicht<br />
unbeschadet überstanden<br />
haben. Wir halten unserem<br />
Gesprächspartner lieber<br />
das rechte Ohr hin; auf<br />
dem linken verstehen wir<br />
ihn kaum. Bei ihm ist es<br />
umgekehrt. So etwas<br />
stimmt versöhnlich.<br />
Unterschiede ebnen<br />
sich ein. Die meisten<br />
wirken bald wieder<br />
vertraut. Viele sind<br />
sogar netter geworden.<br />
Streitigkeiten<br />
haben sich zu lustigen<br />
Erinnerungen gewandelt.<br />
Aus Schandtaten sind<br />
Heldenstücke geworden.<br />
Geblieben sind Freundlichkeit<br />
und Wehmut. Längst ist alles vergeben<br />
und verziehen.<br />
Nein, doch nicht alles! Der Typ, der sich damals<br />
die CD von den Backstreet Boys geliehen und nie zurückgegeben<br />
hat, der soll sie endlich wieder rausrücken!<br />
Dietmar Bittrich lebt in Hamburg. Er gewann den Hamburger<br />
Satirikerpreis und den Preis des Hamburger Senats. Bei dtv<br />
hat er vor Kurzem Die größten Weisheiten der Welt und ihr<br />
”<br />
noch weiseres Gegenteil“ veröffentlicht.<br />
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