E_1939_Zeitung_Nr.002
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BERN, Freitag, 6. Januar <strong>1939</strong><br />
Automobil-Revue - II. Blatt, Nr.<br />
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Auf der Strasse<br />
geht etwas vor<br />
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Im Gras kann man Fuss fassen, aber hier? >,. da strengte ich mich mächtig an 1 und gab mir einen Ruck. (Photos Eideabenz.)<br />
Also erzählt das Pferd<br />
Es tut zwar immer noch scheusslich weh,<br />
dort wo die Haut weggerissen ist im rechten<br />
Vorderbein, und der Fuss links hinten scheint<br />
richtig verstaucht — aber es war ein Tag!<br />
Gott, war das ein Tag heute!<br />
Wie jeder andere fing er an, ganz harmlos<br />
und eintönig. Die übliche Runde im gemütlichen<br />
Schritt. Da und dort hielten wir an, wie<br />
immer. Ich kenne die Haustüren nachgerade<br />
auswendig und ich weiss auch gut, wo etwa<br />
ein kleiner Bissen für mich herausschaut. Die<br />
junge blonde Frau streichelt immer mit ihrer<br />
zarten Hand meine Stirn, aber ich glaube, ich<br />
bin es weniger, den sie meint. Also, wie gesagt,<br />
alles war wie immer, nur dass es heute<br />
Segnete. Das habe ich nicht so gern. Abgesehen<br />
von der Nässe — ich bin auch nicht mehr der<br />
Jüngste — ist es immer so eklig glatt auf dem<br />
Von Fridolin.<br />
Asphalt. Ganz behutsam muss man seine<br />
Füsse setzen, dass man nicht rutscht.<br />
So weit war alles gut gegangen, bis wir<br />
einem Auto ausweichen mussten, das da am<br />
Strassenrand hielt, und dann kreuzte auch<br />
noch gerade ein Milchwagen mit einer schmukken<br />
Stute davor. Ich passte einen Augenblick<br />
zu wenig auf meinen Weg auf, glitt aus, versuchte<br />
mich aufrecht zu erhalten und verhaspelte<br />
mich erst recht. Was will man, mit<br />
den verflixten Deichseln ist das so eine Sache<br />
— machen wir's kurz: Ich schlug lang hin,<br />
mitten auf der Strasse. Ausgerutscht auf den<br />
nassen Tramschienen. Dass der Tram auch<br />
Schienen braucht zum Fahren! Und das will<br />
modern sein! Ich brauche doch auch keine.<br />
Da lag ich nun, und es tat mir an allen<br />
Ecken und Enden weh. Ganz gemein. Mit dem<br />
Geschirr und dem Wagen und den Deichseln<br />
war ich zuerst gänzlich hilflos und konnte auf<br />
dem glatten Boden einfach nicht hochkommen.<br />
Widerlich ist das. Ich liege sowieso höchst<br />
ungern. Ich bin das nicht gewohnt. Früher, als<br />
ich noch jünger war, wälzte ich mich etwa einmal<br />
im frischen Gras, aber hier ist das denn doch<br />
etwas ganz anderes. Im Gras kann man Fuss<br />
fassen, aber hier? Es könnte ebensogut Glatteis<br />
sein, was mich anbelangt.<br />
Mein Kutscher schirrte mich sofort los und<br />
schob den Wagen fort — aus dem Weg. Dann<br />
versuchte er mir aufzuhelfen. Aber das war<br />
nicht so einfach, wie er glaubte. Er sah, dass<br />
ich Schmerzen hatte. Und am Vorderbein —<br />
es brennt noch jetzt gehörig — blutete ich. Er<br />
legte mir seine Decke unter die Vorderbeine<br />
und suchte Hilfe.<br />
Da wurde ich auf meine Umgebung aufmerksam.<br />
Unangenehm, dachte ich zuerst. So<br />
vor allen Leuten hinzufallen. Aber bald ging<br />
das Gefühl in ein anderes über. Ich war richtig<br />
ein wenig stolz und fing an, die Situation<br />
zu gemessen, trotzdem es mir so weh tat. Ich<br />
konnte mich nicht erinnern, je im Lauf der<br />
Jahre ein so grosses Publikum gehabt zu<br />
haben. Muss einem denn immer erst etwas<br />
passieren, bis die Leute aufmerksam werden?<br />
Jahrelang trottet man da sorgsam seines Weges,<br />
scheut nicht, schlägt nicht aus, brennt<br />
nicht durch, und kein Mensch schaut her.<br />
Aber kaum liegt man einmal richtig auf der<br />
Nase, so stehen sie schon, wie lästige Fliegen,<br />
um einen herum und gaffen, dass man sich<br />
für sie schämen müsste, wenn es nicht so interessant<br />
wäre, auch einmal im Mittelpunkt<br />
zu stehen — oder besser gesagt: zu liegen!<br />
Ich kann mir schon denken, das wird wieder<br />
in der <strong>Zeitung</strong> stehen. Keine Seele beachtet<br />
den veralteten Einpferder, der da täglich seine<br />
Pflicht tut. Jedermann findet uns gerade gut<br />
genug, um seine Schuhe sozusagen an uns abzuputzen.<br />
Wir könnten "das Rad des Fortschrittes<br />
nicht zurückdrehen. Der Siegeszug<br />
der Technik könne von uns nicht aufgehalten<br />
werden.<br />
Ihr hättet das mitansehen sollen, wie ich<br />
es fertiggebracht habe. Ich stand einfach nicht<br />
auf. Klingelnd hielten die Tramzüge, mitten<br />
in der Stadt, im grössten Verkehr. Ich hätte<br />
mir den Platz nicht besser aussuchen können,<br />
hätte ich diesen dummen Sturz — au, mein<br />
Bein! — vorgehabt. Die Leute blieben alle einfach<br />
mitten auf der Fahrbahn stehen und bildeten<br />
einen immer dichter werdenden Kreis<br />
um mich herum. Jetzt kam sogar der Ueberiallwagen<br />
mit der Polizei und der grosse, rote<br />
Wagen der Feuerwehr brauste hieran, glänzend,<br />
wie eine ziehende Flamme.' Mit ihren<br />
Helmen eilten die Feuerswehrmannen heran<br />
und legten Hand an. Ein Filmheld hätte sich<br />
keine schönere Reklame ausdenken können.<br />
Na, warum soll ich es nicht auskosten?<br />
Schliesslich, einmal will ich auch Rampenlicht<br />
um mich haben, wenn ich auch nur darin<br />
liege!<br />
Herrlich, wie sie die Hälse recken und sich<br />
stossen. Attraktion. Alle wollen es sehen. Tatsächlich:<br />
Mitten auf der Strasse liegt ein<br />
Pferd. Eine gemeine Bemerkung dringt zu mir:<br />
«Der macht nicht mehr läng!» Da überfällt<br />
mich zum erstenmal eine schleichende Angst.<br />
Nun verstehe ich auch plötzlich das teilnehmende<br />
Mitleid einiger Umstehender. In meinem<br />
Stolz und Uebermut über die unerwartete<br />
Ehre und Aufmerksamkeit so vieler Menschen<br />
hatte ich noch gar nicht bedacht, was für Folgen<br />
dieser Sturz haben könnte. Und richtig,<br />
da entsicherte doch ein Polizist bereits seinen<br />
Revolver. Mir lief es kalt über den Rücken<br />
und ich machte runde Augen. Wenn nun das<br />
eine Bein gebrochen wäre, dachte ich?<br />
Und als sie mir nun von allen Seiten mit<br />
vereinten Kräften halfen und mir Tücher unter<br />
die Füsse legten, damit ich nicht mehr<br />
rutschen sollte, da strengte ich mich mächtig<br />
an, gab mir einen Ruck und einen Schwung<br />
und stand wieder auf allen Vieren. Es tat<br />
weh, aber — oh — es war doch schön! Die<br />
Angst ist vergessen, nun da ich weiss, dass<br />
alle Glieder heil sind. Ich werde noch lange<br />
an diesen Tag denken, und wenn mich jemand<br />
danach fragen sollte, so werde ich wohl ohne<br />
Zögern, sagen können: das war eigentlich der<br />
schönste Tag meines Lebens! So viel AufmerV<br />
samkeit ist mir noch nie zuteil geworden, s^<br />
lange ich zurückdenken kann. Und ich ha'<br />
ein ausgezeichnetes Gedächtnis.