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E_1939_Zeitung_Nr.073

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Die schweizerische Neutralität<br />

In dem bekannten Leipziger Verlag Wilhelm<br />

Goldmann erschien vor kurzem ein<br />

Büchlein, das unter dem Titel «Der neutrale<br />

Westen» die politische Stellung der Länder<br />

Holland, Belgien, Luxemburg und der<br />

Schweiz darstellt. Das kleine Buch hat durch<br />

den neu entflammten Krieg gerade für uns<br />

Schweizer besondere Aktualität. Es ist zudem<br />

nicht uninteressant, einmal zu hören, wie man<br />

ennet dem Rhein über unsere Neutralität<br />

denkt und wie man sich dieselbe vorstellt.<br />

Wir lassen den Verfasser sprechen:<br />

«Die Schweiz muss wie in der Vergangenheit<br />

so auch fernerhin die treue Hüterin der<br />

Alpenländer bleiben...» So schrieb in einem<br />

Memorandum vom 29. April 1938 die sohweizerische<br />

Regierung an den Völkerbund, als<br />

es darum ging, ihre alte uneingeschränkte<br />

Neutralität zurückzugewinnen. Darin sieht die<br />

Schweiz heute wie von altersher ihre Bestimmung:<br />

Wache zu halten über die Alpenpässe.<br />

Sie sieht in der Hut der Quellen von<br />

Rhein, Rhone, Tessin und Inn, den Flüssen,<br />

die nach allen europäischen Himmelsrichtungen<br />

das frische Gletsoherwasser der<br />

schweizerischen Berge tragen, ein Symbol.<br />

Die Schweiz will eben eine europäische<br />

«Mitte», ein Ausgleich zwischen den an ihr<br />

Gebiet angrenzenden Grossmäohten sein.<br />

Freilich dient die Neutralität nicht nur als<br />

Brücke und Ausgleich nach aussen, sie ist<br />

auch die Klammer nach innen. Die Zusammenfassung<br />

der verschiedenen Stämme des<br />

schweizerischen Landes, «das Sammelsurium<br />

von Fragmenten dreier Nationen», wie der<br />

junge Jakob Burckhardt einmal missgelaunt<br />

schrieb, ist nur möglich durch eine gleichmässige<br />

Zurückhaltung und Freundschaft zu allen<br />

Nachbarn. Der innere Landesfriede zwischen<br />

den Deutschschweizern, Welschen und<br />

Tessinern erfordert die aussenpolitische Unparteilichkeit,<br />

denn mit der einseitigen Anlehnung<br />

an einen Nachbar würde immer nur<br />

ein Teil des Volkes zufrieden sein.<br />

Ursprünglich waren die Eidgenossen recht<br />

kriegerische und streitbare Männer. Der Unabhängigkeitskampf<br />

gegen Habsburg, die berühmten<br />

Siege der schweizerischen Bauern<br />

bei Morgarten (1315) und bei Sempach (1386)<br />

und erst recht die furchtbaren und vernichtenden<br />

Schläge, die das Heer der Burgunder<br />

1476 bei Grandson und Murten durch die<br />

Spiessknechte und Hellebardiere der Schweizer<br />

einstecken musste, begründeten den<br />

Kriegsruhm der Schweizer. Die Wehrkraft<br />

dieses Gebirgsvolkes wurde sogar zu einem<br />

Ausfuhrartikel. Auf allen europäischen Kriegsschauplätzen<br />

kämpften Eidgenossen in fremdem<br />

Sold. Von allen Seiten kamen die Gesandten<br />

der fremden Länder nach der<br />

Schweiz und wollten Bündnisse und Truppen.<br />

Mit klingendem Gold wurden die Männer auf<br />

fremde Schlachtfelder gelockt. Aus der<br />

Schweiz war, wie Jakob Schaffner einmal<br />

schrieb, «ein Seelen- und Söldnermarkt der<br />

europäischen Despotien» geworden. Nach<br />

schweizerischen Angaben soll das Land im<br />

Laufe der Jahrhunderte den europäischen<br />

Staaten 2 Millionen Krieger, 66 000 Offiziere<br />

und 700 Generale gestellt haben. Mit der<br />

Tragödie vor den Pariser Tuilerien, als 800<br />

Schweizer Gardisten in der Französischen<br />

Revolution niedergemacht wurden, brach<br />

schliesslich das alte eidgenössische Söldnerwesen<br />

zusammen.<br />

Das wirtschaftliche Polen<br />

EUTSCHLAND ^<br />

ALLEMAGNE f<br />

Aber schon gegen Ende des 15. Jahrhunderts,<br />

etwa gleichzeitig mit der tatsächlichen<br />

Lösung der Schweiz vom Deutschen Reich,<br />

war gegen die Verdingung bei fremden<br />

Herren gesprochen worden. Man besann sich<br />

auf eine innere Reform gegen Söldnerei und<br />

dem damit zusammenhängenden Bestechungswesen<br />

durch auswärtige Agenten. So wurde<br />

bald der Beformator Zwingli zu einem entschiedenen<br />

Vorkämpfer der Fernhaltung von<br />

ausländischen Händeln. Aber erst durch den<br />

Dreissigjährigen Krieg, von dem die Schweiz,<br />

ausser Graubünden, ziemlich verschont blieb,<br />

LITAUEN<br />

LITHUANIE<br />

AUTOMOBIL-REVUE DIENSTAG, 12. SEPTEMBER <strong>1939</strong> — N" 73<br />

Das deutsch-französische Grenzgebiet<br />

begann sich die Ueberzeugung zu festigen,<br />

dass man sich nur durch eine dauernde Neutralität<br />

eine friedliche Ausnahmestellung sichern<br />

könne. 1647 entschloss man sich, durch<br />

die Aufstellung eines eidgenössischen Heeres<br />

von etwa 36000 Mann weiteren Verletzungen<br />

des Gebietes, wie sie bis dahin vorgekommen<br />

waren, einen Riegel vorzuschieben. Von da<br />

an kann man den Grundsatz der bewaffneten<br />

Neutralität datieren. Es war ein Jahr vor dem<br />

Westfälischen Frieden, bei dem der geschickte<br />

Basler Bürgermeister Wettstein nun auch die<br />

formelle Loslösung der Eidgenossenschaft<br />

vom Reich und die europäische Anerkennung<br />

ihrer staatlichen Souveränität erwirkte.<br />

Von nun an wurden die Durchmärsche<br />

fremder Truppen, von einigen Ausnahmen abgesehen,<br />

verhindert Auch das Ausland begann<br />

sich der Ueberzeugung anzuschliessen,<br />

dass die Neutralität «die Grundfeste der eidgenössischen<br />

Republik» bilde. Die Aussicht,<br />

bei einem Durohmarsch durch schweizerisches<br />

Gebiet durch Widerstand an der Grenze<br />

aufgehalten zu werden und damit einen wichtigen<br />

Zweck des Durchmarsches, nämlich die<br />

Ueberraschung des Gegners, nicht zu erreichen,<br />

verhinderte Gebietsverletz>ungen. Es<br />

begann sich die Einsicht durchzusetzen, dass<br />

die Unverletzlichkeit der Schweiz im Interesse<br />

der Kriegführenden selbst liege.<br />

Die Neutralität der Schweiz ist bewaffnet.<br />

So entspricht es dem wehrhaften Charakter<br />

des Gebirgsvolkes. Jeder Schweizer hat zu<br />

Hause sein Gewehr im Schrank. In den<br />

Schützenvereinen werden vorgeschriebene<br />

Schiessübungen durchgeführt, so dass also<br />

diese Vereine eine wichtige staatliche Funktion<br />

ausüben. Die schweizerische Miliz stellt<br />

so etwas wie ein Volk in Waffen dar. Die<br />

Aufrüstung der letzten Jahre hat die Zustimmung<br />

der ganzen Bevölkerung gefunden. Der<br />

Sinn der schweizerischen Armee, für die das<br />

nur vier Millionen Einwohner umfassende<br />

Land grosse Opfer bringt, liegt nicht in der<br />

Eroberung, sondern in der Verteidigung. Die<br />

Unverletzlichkeit des Heimatbodens soll geschützt<br />

sein nach dem Grundsatz: «Der erste,<br />

der unsere Grenze angreift, ist unser Feind.»<br />

Nicht uninteressant ist die Beurteilung der<br />

militärischen Bereitschaft unseres Landes,<br />

worüber sich der Verfasser u. a. wie folgt<br />

äussert:<br />

« Zwei Jahre nach der Heeresreform von<br />

10 Millionen Flugblätter<br />

haben englische Flieger in den letzten Tagen<br />

über westdeutschen Siedlungsgebieten abgeworfen.<br />

Der Krieg ohne Pulver hat ja schon<br />

in manchem Konflikt zur englischen Strategie<br />

gehört Die englischen Flugblätter enthalten<br />

folgenden Text:<br />

Warnung Grossbritanniens an das deutsche<br />

Volk.<br />

«Deutsche,<br />

Die Reichsregierung hat mit kalter Rücksichtslosigkeit<br />

Grossbritannien den Krieg aufgezwungen.<br />

Sie war sich dabei vollständig<br />

im klaren, dass die Folgen ihrer Handlungsweise<br />

die Welt in ein noch grösseres Unglück<br />

stürzen würde, als dies 1914 der Fall war.<br />

Im April dieses Jahres hat der Reichskanzler<br />

Euch und der Welt die Versicherung<br />

seiner friedlichen Absichten gegeben. Sie<br />

waren genau so verlogen wie die Worte, die<br />

er im Laufe des letzten September ausgesprochen<br />

hat: „Wir haben in Europa keine<br />

territorialen Forderungen mehr."<br />

Man hat Euch nicht bedroht.<br />

Noch nie hat eine Regierung ihre Untertanen<br />

unter gleich leichtfertigen Vorwänden<br />

in den Tod geschickt. Der gegenwärtige Krieg<br />

ist vollständig nutzlos. Der Boden und die<br />

Rechte Deutschlands sind von keiner Seite<br />

bedroht worden. Niemand hat die Wiederbesetzung<br />

des Rheinlandes, den Vollzug des Anschlusses<br />

und die unblutige Einverleibung des<br />

Sudetenlandes in das Reich verhindert. Weder<br />

unser noch irgend ein anderes Land hat versucht,<br />

den Wiederaufbau des Reiches zu beeinträchtigen,<br />

solange es nicht die Unabhängigkeit<br />

der nichtdeutschen Völker verletzte.<br />

Alle deutschen Forderungen hätten so lange<br />

befriedigt werden können, als sie gerecht<br />

waren. Präsident Roosevelt hat Euch einen<br />

ehrenvollen Frieden wie auch die Aassichten<br />

auf wirtschaftlichen Wohlstand offeriert.<br />

Eure Regierung dagegen hat Euch zu einem<br />

Blutbad, zur Not und zu den Entbehrungen<br />

eines Krieges verurteilt, den Ihr unmöglicherweise<br />

gewinnen könnt.<br />

Ihr seid betrogen worden.<br />

Nicht wir sind betrogen worden, sondern<br />

Ihr. Während langen Jahren hat Euch eine<br />

spinnetzartige enge Zensur jene Wahrheiten<br />

vorenthalten, die selbst den nichtzivilisierten<br />

Völkern bekannt sind. Diese Zensur hat den<br />

Geist des deutschen Volkes in ein Konzentrationslager<br />

eingeschlossen. Wie hätte sie<br />

es anders wagen dürfen, die Zusammenarbeit<br />

der friedfertigen Völker im Interesse der<br />

Friedenserhaltung als Einkreisung darzustellen?<br />

Wir hegen keinerlei feindseligen Gefühle<br />

gegen Euch, gegen das deutsche Volk. Die<br />

Zensur hat Euch verborgen, dass Ihr nicht<br />

die Mittel besitzt, die für einen langen Krieg<br />

notwendig sind.<br />

Wir verfügen über unermessliche Reserven.<br />

Trotz den drückenden Steuerlasten steht<br />

Ihr vor dem Zusammenbruch. Die moralische<br />

Widerstandskraft, das Kriegsmaterial und<br />

die Rohstoffe, über die wir und unsere Verbündeten<br />

verfügen, sind unermesslich. Wir<br />

sind zu stark, als dass wir durch Schläge zerbrochen<br />

werden könnten; wir sind in der<br />

Lage, Euch unerbittlich bis zu Eurer vollständigen<br />

Erschöpfung zu bekämpfen.<br />

Deutsches Volk, du hast das Recht, heute<br />

und immer wieder den Frieden zu verlangen.<br />

Auch wir wünschen den Frieden und sind bereit,<br />

ihn mit jeder deutschen Regierung zu<br />

schliessen, die ihn ehrlich wünscht.»<br />

1907 bekannte sich der britische Militärattache<br />

zu einem sehr günstigen Urteil über die<br />

Kraft der schweizerischen Armee: sie sei<br />

fähig, einem fremden Einmarsch einen solchen<br />

Widerstand entgegenzusetzen, dass bei<br />

der angreifenden Macht der Verlust an Zeit,<br />

Geld und Menschen den Vorteil, den sie durch<br />

die Neutralitätsverletzung erhoffen könne,<br />

aufwiegen würde. Weitere drei Jahre später<br />

wurde das Heer durch einen organisatorischen<br />

Umbau noch mehr verbessert, und als<br />

im September 1912 der deutsche Kaiser zu<br />

militärischen Informationszwecken den Manövern<br />

in der Ostschweiz beiwohnte, gelangten<br />

er und seine Generäle zu einer durchaus<br />

günstigen Auffassung. Die deutschen Besucher<br />

überzeugten sich davon, dass im Ernstfall<br />

die linke Flanke Deutschlands durch die<br />

eidgenössischen Soldaten geschützt würde.»

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