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Unterwasser-Canyons

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14.5.2018 <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong><br />

www.scinexx.de<br />

Das Wissensmagazin<br />

Bathym etrische Karte des Nazaré-<strong>Canyons</strong> vor der Küste Portugals<br />

© HERMES<br />

<strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong><br />

Riesen-Schluchten am Kontinentalrand Europas<br />

Er ist tiefer als der Grand Canyon, unzugänglicher als der Mount Everest und noch<br />

immer kaum erforscht: Der Nazaré-Canyon ist Europas tiefste und längste<br />

Schlucht. Doch er liegt nicht in einem Gebirge, sondern im Ozean: Vor der Küste<br />

Portugals schneidet er eine 210 Kilometer lange und bis in 4.300 Meter Tiefe<br />

reichende Kerbe in den Meeresboden. Er ist aber nur einer von vielen<br />

<strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong> am Sockel unseres Kontinents.<br />

Rund um die Schelfgebiete Europas haben sich <strong>Unterwasser</strong>-Schluchten tief in die<br />

Ozeanhänge eingegraben, auch entlang der Sockel der anderen Kontinente finden<br />

sie sich. Einige scheinen die Betten großer Flüsse wie des Amazonas oder des Nils ins<br />

Meer hinein zu verlängern, andere schneiden scheinbar aus dem Nichts kommend<br />

den Kontinenthang ein. Wie aber sind diese <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong> entstanden? Und<br />

welche Rolle spielen sie heute für die Dynamik aber auch Ökologie der<br />

<strong>Unterwasser</strong>welt rund um unsere Kontinente? Antworten auf diese Fragen haben<br />

Forscher erst in den letzten Jahren begonnen zusammenzutragen. Die Welt dieser<br />

und anderer <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong> ist bisher alles andere als gut erforscht.<br />

Giganten unter dem Meer<br />

Was macht die <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong> so besonders?<br />

Lägen sie an Land, würden sie auch die eindrucksvollsten Landschaften noch an<br />

Dramatik überbieten: Denn die Tiefsee-<strong>Canyons</strong> gehören mit zu den größten<br />

Einschnitten in der Kruste unseres Planeten. Sie sind hunderte von Kilometern lang<br />

und bis zu 2.600 Meter tief in den Meeresboden eingegraben. In ihnen stürzen<br />

Sediment und Wasser teilweise mit rasender Geschwindigkeit vom flachen<br />

Schelfsockel bis in die Tiefsee hinab. Die Wände der gigantischen Schluchten sind<br />

dabei hochaufragend und steil, oft sogar überhängend.<br />

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14.5.2018 <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong><br />

Zerklüftete Landschaft im<br />

Mittelteil des Nazaré-<br />

<strong>Canyons</strong> vor Portugal<br />

© HERMES<br />

Kontinentalabhänge gezielt zu erkunden.<br />

Obwohl sie mit diesen Dimensionen eigentlich kaum zu<br />

übersehen sein sollten, blieben die <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong><br />

dank ihrer Lage unter hunderten von Metern Wasser<br />

lange Zeit unentdeckt und unerforscht. Seeleute hatten<br />

bei Tiefenmessungen mit dem Senkblei zwar erste<br />

Hinweise auf Einschnitte im europäischen und<br />

nordamerikanischen Schelf gefunden. Aber erst das Sonar<br />

und andere moderne Vermessungstechnologien haben<br />

enthüllt, wie zahlreich, vielfältig und vielgestaltig die<br />

Tiefsee-<strong>Canyons</strong> tatsächlich sind. Ferngesteuerte oder<br />

autonome Tauchroboter ermöglichen es Forschern heute<br />

erstmals, die <strong>Unterwasser</strong>landschaften entlang der<br />

Entdeckung vor Mauretanien<br />

Obwohl der Meeresgrund vor allem in Küstennähe<br />

inzwischen eigentlich ausgiebig kartiert sein müsste,<br />

werden auch heute noch immer wieder neue <strong>Canyons</strong><br />

entdeckt. So erst im Jahr 2003 vor der Küste<br />

Mauretaniens: Damals waren Wissenschaftler des marum<br />

- Zentrum für marine Umweltwissenschaften in Bremen auf<br />

einer Expedition mit dem Forschungsschiff "Meteor"<br />

unterwegs, um den Meeresboden vor der mauretanischen<br />

Atlantikküste zu vermessen. Vor dem Cap Timiris meldete<br />

ihr Sonar etwas, das auf keiner ihrer Karten verzeichnet<br />

war, eine gewaltige, mäandrierende Schlucht im<br />

Meeresgrund. "Selbst auf neuesten Karten war dort, wo<br />

wir auf den Canyon stießen, bislang nur großflächig<br />

ebener Meeresboden verzeichnet", berichtete<br />

Expeditionsleiter Horst Schulz vom marum.<br />

Der Cap Tim iris Canyon<br />

besitzt Uferwälle und<br />

Altarm e<br />

© marum - Zentrum für<br />

marine<br />

Umweltwissenschaften<br />

In unzähligen Windungen schlängelte sich der Canyon von der flachen Küste aus 200<br />

Kilometer weit hinaus in Richtung atlantische Tiefsee. Noch in Wassertiefen von mehr<br />

als 3.000 Metern konnten die Wissenschaftler die tiefe Schlucht im Meeresboden<br />

verfolgen. "Der Cap Timiris Canyon erinnert in vieler Beziehung an den Rhein", sagt<br />

Schulz. Ähnlich wie ein Fluss beginne der Canyon im Oberlauf schmal und tief<br />

eingeschnitten und weite sich nach unten hin immer mehr. Am Fuß des<br />

Kontinentalhangs sei der Canyon etwa zwei bis drei Kilometer breit und schneide<br />

sich noch immer etwa 300 Meter tief in seine Umgebung ein.<br />

Mäander wie der Rhein<br />

zeichnen den Cap Tim iris<br />

Canyon vor Mauretanien<br />

aus<br />

© marum - Zentrum für<br />

marine<br />

Umweltwissenschaften<br />

Mäander, Altarme und Uferwälle<br />

Und auch in anderen Aspekten gleicht die unterseeische<br />

Schlucht verblüffend den Formationen, die man von<br />

Flüssen her kennt: Neben den Mäandern fanden die<br />

Forscher auch abgeschnittene Altarme, vielfältige<br />

Verzweigungen, einen Wechsel von steileren zu flacheren<br />

Canyonbereichen, aber auch Uferwälle am Canyonrand.<br />

Auch die gesamte Länge ist durchaus mit dem Rhein<br />

vergleichbar, denn zu den bisher kartierten untersuchten<br />

gut 200 Kilometern kommen noch mindestens 500 bis 600<br />

noch nicht erforschte Kilometer auf dem Weg bis in die<br />

Tiefsee hinzu, wie die Forscher berichten.<br />

"Eigentlich ist es kaum zu glauben, dass auf unserem<br />

Planeten noch so große, bislang unentdeckte Objekte zu<br />

finden sind", resümiert Schulz. Doch genau dies ist<br />

offensichtlich der Fall. Und von den <strong>Canyons</strong>, die bereits<br />

auf Karten verzeichnet sind, kennt man heute oft nur wenig mehr als ihre Lage und<br />

Form.<br />

Killerwellen an der <strong>Unterwasser</strong>-Schlucht<br />

Das Geheimnis des Nazaré-<strong>Canyons</strong><br />

Der bisher größte bekannte <strong>Unterwasser</strong>-Canyon Europas ist ein echter Geheimtipp -<br />

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14.5.2018 <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong><br />

für Wellenreiter. Denn die besondere Topografie des Nazaré-<strong>Canyons</strong> produziert,<br />

wenn Wind und See günstig sind, echte "Killerwellen". Knapp 30 Meter hoch türmt<br />

sich das Wasser vor der Küste von Praia do Norte dann auf. Wie diese Giganten<br />

zustande kommen, hat der Wellenreiter Garrett McNamara gemeinsam mit Forschern<br />

des portugiesischen Hydrografischen Instituts erst in den letzten Jahren genauer<br />

untersucht.<br />

Der Nazaré-Canyon zieht<br />

sich wie ein Trichter vom<br />

Schelf in die Tiefsee<br />

© Instituto Hidrografico<br />

Trichter im Schelf<br />

Der Nazaré-Canyon beginnt weniger als einen Kilometer<br />

vom Strand entfernt, in einer Bucht nahe dem kleinen Ort<br />

Nazaré, und läuft dann 210 Kilometer weit ins Meer<br />

hinaus. Dort, in der Tiefsee, am unteren Ende des<br />

Kontinentalhangs, liegt er unter 4.300 Metern Wasser und<br />

schneidet noch einmal bis in 5.000 Meter Tiefe in den<br />

Untergrund. Im oberen, auf dem Schelf liegenden Bereich<br />

ist die Schlucht V-förmig eingekerbt und weniger als 100<br />

Meter breit. Weiter unten ändert sich dies jedoch: Ihr<br />

Querschnitt wird jetzt u-förmig und weiter sich bis auf 7,5<br />

Kilometer Breite. Damit gleicht der Nazaré-Canyon einer<br />

Art Trichter, von der Tiefsee bis fast unmittelbar an die<br />

Küste führt.<br />

Und genau diese Form ist auch der Schlüssel für die<br />

"Killerwellen", wie die Ozeanografen mit Hilfe von<br />

Radaranalysen der Wellenfronten feststellten: Wird das<br />

Wasser von Wind und Gezeiten vom Meer in Richtung<br />

Land gedrückt, prallen die Wassermassen in der Nähe der<br />

Küste an den nördlichen Rand der <strong>Unterwasser</strong>schlucht.<br />

"Die sich plötzlich veränderte Topografie in der Kopfregion<br />

des <strong>Canyons</strong> bewirkt eine Verformung der Wellenfront<br />

und bricht sie", erklärt Louis Quaresma vom<br />

Hydrografischen Institut. Die Wellen werden gebrochen<br />

und dabei fokussiert und türmen sich so höher auf als<br />

zuvor. Der Canyon wirkt quasi wie ein gewaltiger<br />

Verstärker.<br />

Die steilen Wände des<br />

oberen Canyonteils<br />

brechen die Wellen<br />

© HERMES<br />

Topografie im untern<br />

Bereich des Nazaré-<br />

<strong>Canyons</strong><br />

© HERMES<br />

Absturz in die Tiefe<br />

Aber nicht nur an der Wasseroberfläche, auch weit<br />

darunter setzt die besondere Topografie des <strong>Canyons</strong><br />

gewaltige Energien frei. Denn die in den <strong>Unterwasser</strong>-<br />

Schluchten bergab stürzenden Sedimente können<br />

Geschwindigkeiten von bis zu 100 Stundenkilometern<br />

erreichen, wie Forscher errechneten. Wie eine Art großer<br />

Staubsauger reißen diese Ströme alle Hindernisse und<br />

jede Menge Material mit sich in die Tiefe. Im Nazaré-<br />

Canyon zeugen große Gesteinsbrocken in dessen<br />

Mittellauf von der Kraft des stürzenden Wassers. Selbst<br />

120 Kilometer von der Küste entfernt, im flacher<br />

auslaufenden Teil des <strong>Canyons</strong> finde man noch Brocken von bis zu einem Meter<br />

Größe, berichten Wissenschaftler des HERMES-Projekts (Hot Ecosystem Research on<br />

the Margins of the European Seas), die im Jahr 2007 den Canyon mittels<br />

Tauchrobotern näher erforschten.<br />

Aber wie ist diese gewaltige <strong>Unterwasser</strong>-Schlucht entstanden?<br />

Eiszeit, Flüsse, Kontinentsprünge<br />

Wie entstanden die <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong>?<br />

Beim Grand Canyon und anderen Schluchten an Land ist klar, was sie schuf: Die<br />

erodierende Kraft des Wassers, das über Tausende oder sogar Millionen von Jahren<br />

ein Flussbett immer tiefer in den Untergrund einkerbte. Aber wie ist das mit den<br />

<strong>Canyons</strong> unter Wasser?<br />

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14.5.2018 <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong><br />

Der Canyon vor der<br />

Mündung des Congo setzt<br />

das Bett des Flusses fort<br />

© NASA, Mikenorton/ccby-sa<br />

3.0<br />

War die Eiszeit schuld?<br />

Zumindest einige von ihnen scheinen tatsächlich dem Lauf<br />

großer Flüsse bis ins Meer hinein fortzusetzen. So gibt es<br />

vor der Mündung von Amazonas, Kongo, Ganges oder<br />

Hudson jeweils eine <strong>Unterwasser</strong>schlucht, die sich bis<br />

weit ins Meer hinaus erstreckt. Unter anderem wegen<br />

dieser Beobachtung sahen Geoforscher in den 1930er<br />

Jahren hier einen ursächlichen Zusammenhang. Damals<br />

wusste man bereits, dass die Meeresspiegel während der<br />

letzten Eiszeit vor rund 15.000 Jahren mehr als 100 Meter<br />

niedriger lagen als heute. Als Folge lagen weite Bereiche<br />

der heute überfluteten Kontinentalschelfe trocken. Um das<br />

Meer zu erreichen, mussten daher auch die Flüsse einen<br />

weiteren Weg zurücklegen, naheliegend also, dass ihr<br />

damals verlängertes Bett Spuren im Schelfuntergrund hinterlassen hatte.<br />

Allerdings hatte diese Theorie einen Haken: Zum einen kannte man auch damals<br />

schon einige <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong>, die nicht in der Nähe einer Flussmündung lagen.<br />

An einigen Stellen bildeten die Schluchten gleich mehrere parallele, senkrecht zum<br />

Kontinenthang verlaufende Schnitte im Untergrund. Zum anderen aber reichten die<br />

<strong>Canyons</strong> teilweise bis in mehrere tausend Meter Tiefe - und damit in einen Bereich,<br />

der auch bei der stärksten Eiszeit noch überschwemmt gewesen muss. Wie also<br />

waren die Schluchten dahin gekommen?<br />

Erst hoch dann runter<br />

Die Geoforscher der 1930er Jahre suchten verzweifelt<br />

nach einer Erklärung. Einige von ihnen fanden auch eine -<br />

wenngleich reichlich weit hergeholt, wie auch der Geologe<br />

Reginald Daily 1936 in einer Veröffentlichung<br />

kommentierte: "Die vorherrschende Lehrmeinung<br />

erfordert es, dass die Schelfgebiete in allen drei großen<br />

Meeren gegen Ende ihrer Entstehung um fast 3.000 Meter<br />

angehoben wurden, dann für eine kurze Zeit stabil<br />

bleiben, um dann erneut fast 3.000 Meter auf den<br />

heutigen Stand abzusinken. Wie unwahrscheinlich eine<br />

solche alle fünf Kontinente und ihre umgebenden<br />

Meeresböden umfassende Oszillation ist, wird auf den<br />

ersten Blick deutlich."<br />

Um die <strong>Canyons</strong> durch<br />

Schwankungen des<br />

Meeresspiegels zu<br />

erklären, m üssten sich die<br />

Schelfgebiete m ehrere<br />

tausend Meter gehoben<br />

haben.<br />

© ORNL<br />

Denn eine so gewaltige Hebung hätte, so argumentiert der Geologe, auch in anderen<br />

Stellen der Erdkruste deutliche Spuren hinterlassen müssen. Was aber schuf dann<br />

die Schluchten, wenn weder Flüsse noch Hebung die Ursache waren?<br />

Schlamm als Schlüssel<br />

Die Rolle des Sediments bei der Canyonbildung<br />

Auf der Suche nach einer Erklärung für die <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong> ist Reginald Daily<br />

seinen Zeitgenossen weit voraus: Während diese noch tausende Meter umfassende<br />

Hebungen der Kontinente als Entstehungsursache postulieren, sucht Daily nach<br />

naheliegenderen Mechanismen.<br />

Fündig wird er in der Dynamik des Wassers. Daily<br />

vermutet, dass vom Kontinentalhang herabströmendes<br />

Wasser die gewaltigen Kerben ins Gestein gegraben hat.<br />

Und dazu, wie solche Abwärtsströme entstehen, hat der<br />

Geologe auch bereits eine Theorie: Wenn turbulente<br />

Strömungen besonders viel Sediment aufwühlen, kann<br />

sich eine Art dichter, aber noch sehr flüssiger Schlamm<br />

bilden. "Solange das Sediment in der Schwebe bleibt, ist<br />

das solcherart getrübte Wasser dichter als das saubere<br />

Wasser im offenen Meer, aber auch unterhalb dieser<br />

Durchmischungszone", erklärt Daily. Daher müsse dieses<br />

schwerere Wasser eine Tendenz besitzen, nach unten zu<br />

sinken.<br />

Rutschungen und<br />

Sedim entström e gruben<br />

diese Furchen in den<br />

Kontinentrand vor der US-<br />

Ostküste<br />

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14.5.2018 <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong><br />

© Duke University /EOS<br />

Schlammiges Wasser gräbt Furchen in den Hang<br />

An den Kontinentalhängen bedeutet dies, dass das mit Sediment beladene Wasser<br />

unmittelbar über dem Meeresboden den Hang hinuntergleitet. Je steiler der Hang,<br />

desto schneller strömt dabei auch diese Wasser-Schlamm-Mischung. Und je schneller<br />

das Wasser über einen festen Untergrund strömt, desto stärker ist auch seine<br />

erodierende Kraft. "Könnte dies nicht der Mechanismus sein, der die unterseeischen<br />

Schluchten schuf?", fragt Daily in seinem 1936 erschienen Artikel.<br />

Heute weiß man, dass Daily damals goldrichtig lag. Tatsächlich gelten solche<br />

sogenannten Turbidit-Ströme neben Rutschungen am Kontinenthang heute als<br />

Hauptursache für <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong>. Am Nazaré-Canyon vor Portugal fanden<br />

Forscher des HERMES-Projekts heraus, dass auch die lokalen Windverhältnisse dabei<br />

eine wichtige Rolle spielen. "Unter ruhigen Bedingungen enthält das Wasser im<br />

Canyon nur wenig Sediment, aber nach einem Sturm verändert sich die<br />

Wassertemperatur und damit auch Strömung und Sedimentfracht", erklären die<br />

Forscher. Das Wasser enthalte dann sehr viel mehr Sediment und ströme schneller<br />

den Canyon hinab.<br />

Bathym etrische Karte des<br />

Cap de Creus Canyon im<br />

Mittelm eer<br />

© University of Barcelona<br />

/ AOA Geophysics<br />

Kaskaden bei kaltem Nordwind<br />

Einen anderen Canyon, den Cap de Creus Canyon im Golf<br />

von Lyon vor der französischen Mittelmeerküste, könnten<br />

sogar Unterschiede der Wassertemperaturen allein<br />

geschaffen haben - ohne große Mithilfe von Sedimenten.<br />

"In den Wintermonaten bläst oft ein extrem kalter Mistral<br />

das Rhonetal hinab", erklären die HERMES-Forscher.<br />

Dieser kalte Nordwind kühle das Wasser über den flachen<br />

Meeresgebieten des Golf von Lyon stark ab. Kaltes<br />

Wasser aber ist dichter als wärmeres und sinkt daher<br />

nach unten - es fließt über den flachen Schelfboden und<br />

fällt dann in Kaskaden den Hang zur Tiefsee hinunter.<br />

Dieser auch als Dense Shelf<br />

Water Cascading bezeichnete<br />

Prozess kann mehrere Wochen anhalten und dabei große<br />

Mengen Sediment und Material vom Meeresgrund der<br />

Schelfgebiete in die Tiefsee hinabreißen. Wie ein<br />

Hochdruckreiniger schiebt das Wasser dabei auch jede<br />

Menge Müll und Schmutz von Schelf bis in die Tiefsee. So<br />

fanden Forscher im Cap de Creus Canyon, aber auch in<br />

andere durch solche Kaskaden gebildeten Schluchten an<br />

der Nordseite des Mittelmeeres, Plastiktüten, Flaschen,<br />

Reste von Fischernetzen und andere Zeugnisse der<br />

menschlichen Zivilisation noch in mehr als tausend Metern<br />

Wassertiefe.<br />

Urzeit-Krise im Mittelmeer<br />

Ein ausgetrockneter Ozean als Schluchtenbauer<br />

Dense Shelf Water<br />

Cascading im Cap de<br />

Creus Canyon<br />

© HERMES / UB/CEFREM<br />

Einen Sonderfall stellen einige <strong>Canyons</strong> im Mittelmeer dar, die vor den Mündungen<br />

großer Flüsse wie dem Nil oder der Rhone liegen. Denn bei ihnen könnte tatsächlich<br />

die alte Theorie der "Hebung" und des trockenfallenden Schelfs zumindest teilweise<br />

zutreffen.<br />

Abgeschnitten vom Wassernachschub<br />

Vor rund 5,6 Millionen Jahren führten Bewegungen der<br />

Kontinentplatten und im Erdmantel dazu, dass die<br />

Meeresverbindung zwischen Atlantik und Mittelmeer<br />

verschlossen wurde. Als Folge strömte kein frisches<br />

Meerwasser mehr in das Becken nach. Weil der<br />

Wassernachschub über die Flüsse nicht ausreichte, um die<br />

Verdunstung auszugleichen, sank der Wasserspiegel des<br />

Mittelmeeres immer mehr. Das trockene, heiße Klima<br />

sorgte dafür, dass das Mittelmeerbecken innerhalb<br />

Das nahezu<br />

ausgetrocknete Mittelm eer<br />

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14.5.2018 <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong><br />

weniger tausend Jahre nahezu vollkommen austrocknete.<br />

während der m essinischen<br />

Salinitätskrise<br />

Anstelle des Meeres fand sich hier nun eine weite, an © Paubahi/CC-by-sa 3.0<br />

einigen bis zu 5.000 Meter unter dem Meeresspiegel<br />

liegende Senke, in der nur noch einige extrem salzige Tümpel vom einstigen<br />

Wasserreichtum zeugten. Erst vor 5,33 Millionen Jahren endete diese auch als<br />

messinische Salinitätskrise bezeichnete Epoche und die Straße von Gibraltar öffnete<br />

sich wieder.<br />

Bis sich Gibraltar wieder<br />

öffnete, hatte sich der<br />

Untergrund der<br />

Mittelm eer-Ränder<br />

gehoben.<br />

© Roger Pibernat / CC-bysa<br />

3.0<br />

Weiter Weg in die Tiefe<br />

Spuren dieser Trockenphase finden sich noch heute in<br />

gewaltigen Salzablagerungen, aber auch in den tief<br />

eingekerbten Flusscanyons rund um das Mittelmeer. Denn<br />

die großen Ströme, die von Europa und Afrika aus in das<br />

urzeitliche Mittelmeerbecken flossen, mussten mit<br />

zunehmender Austrocknung einen immer weiteren Weg<br />

bis zu ihrer Mündung zurücklegen. Gleichzeitig hob sich -<br />

vom gewaltigen Gewicht des Wassers entlastet - der<br />

Untergrund vor allem in den Randgebieten des<br />

Mittelmeeres. Das verstärkte das Gefälle der Flüsse noch,<br />

die von den relativ steilen Schelfhänge bis in die heutigen<br />

Tiefseegebiete hinabstürzten. Im Laufe der Jahrtausende<br />

gruben sie sich so tief in den Untergrund ein.<br />

Der Geologe Julien Gargani von der Universität Paris ermittelte für den Nil<br />

Erosionsraten, nach denen der Fluss damals 2,5 Meter pro Jahr von seinem Bett<br />

abtrug. Als Folge lag sein Flussbett damals in Assuan noch mehrere hundert Meter<br />

unter dem heutigen Meeresspiegel, seine Mündung sogar 2,400 Meter tief. Als sich<br />

vor 5,33 Millionen Jahren das Mittelmeer wieder füllte, versank ein Teil dieser<br />

ehemaligen Flussbetten in den Fluten und wurde zu <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong>.<br />

Viele kleine Nischen<br />

<strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong> als Lebensraum<br />

Die <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong> sind nicht nur geologisch eine Besonderheit, auch für die<br />

Lebenswelt der Ozeane spielen diese Kerben im Schelf eine wichtige Rolle. Denn in<br />

den <strong>Canyons</strong> fließt mit Nährstoffen und Sediment angereichertes Wasser in die eher<br />

karge Umgebung der Tiefsee. Zudem bieten die vielfältigen, verwinkelten und stark<br />

unterschiedlichen Canyonbereiche den Organismen viele verschiedene Lebensräume.<br />

Neben der Meerestiefe entscheidet dabei vor allem die Beschaffenheit des<br />

Untergrunds, welche und wie viele Organismen dort leben.<br />

Der Untergrund entscheidet<br />

So leben auf den Sediment-beladenen Terrassen und am<br />

flachen Grund des unteren und mittleren Nazaré-<strong>Canyons</strong><br />

zahlreiche Wurmarten, aber auch Seegurken und andere<br />

Tiere, die organisches Material aus dem Schlick<br />

herausfressen. An solchen Stellen haben Forscher des<br />

HERMES-Projekts auch Riesen-Einzeller entdeckt. Die<br />

sogenannten Xenophyophoren werden bis zu 25<br />

Zentimeter groß und umgeben sich mit einer Hülle aus<br />

Aufnahm e eines<br />

angeklebten Sandkörnchen und Steinchen. Wie kleine<br />

Xenophyophoren im<br />

Korallen sitzen sie auf dem Untergrund und bieten<br />

Atlantik<br />

ihrerseits wieder zahlreichen kleineren Lebewesen<br />

© NOAA/ Ocean Explorer<br />

Schutz. Auch sie zehren von den Resten organischen<br />

Materials, die mit Sediment und Wasser vom Schelf in die Tiefsee gespült werden.<br />

An den steinernen Wänden und an den vom herabströmenden Wasser freigefegten<br />

Flächen im oberen Canyonbereich siedeln vor allem festsitzende Tiere wie<br />

Seeanemonen, Armfüßer und Kaltwasserkorallen. "Aber auch die Ausrichtung und<br />

Neigung des Untergrund spielt hier eine wichtige Rolle", erklären die HERMES-<br />

Forscher. An Stellen mit Überhängen bilde sich oft eine wieder andere, typische<br />

Gemeinschaft von Filtrierern, darunter Muscheln, Seelilien, Haarsterne und Armfüßer.<br />

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14.5.2018 <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong><br />

"Zwar mag die Artenvielfalt an einer einzelnen Stelle nicht<br />

sehr hoch erscheinen, aber die Heterogenität des<br />

Habitats sorgt dafür, dass in verschiedenen Bereichen des<br />

<strong>Canyons</strong> ganz unterschiedliche Tiere siedeln", erklären<br />

Forscher des HERMES-Projekts. Dadurch sei die<br />

Artenvielfalt des <strong>Unterwasser</strong>-<strong>Canyons</strong> als Ganzem sehr<br />

hoch. "Die <strong>Unterwasser</strong>schluchten entlang der<br />

europäischen Kontinentränder tragen daher zur<br />

Biodiversität dieser Ozeangebiete bei."<br />

Plastiktüten und PCBs in der Tiefsee<br />

Allerdings ist selbst dieser unter hunderten und<br />

tausenden Metern Wasser liegende Lebensraum<br />

inzwischen nicht mehr unberührt. Während des HERMES-<br />

An Überhängen bilden sich<br />

typische Filtrierer-<br />

Gem einschaften<br />

© NOCS /ROV Isis<br />

Projekts fanden die Forscher Hinweise auf erhöhte Blei, Zink, und Kupfergehalte im<br />

Sediment einiger <strong>Canyons</strong>. Sowohl vor Portugal als auch im nordwestlichen<br />

Mittelmeer sind die Canyonböden zudem mit organischen Schadstoffen wie<br />

polychlorierten Biphenylen (PCB) verseucht. Das vom Schelf durch die <strong>Canyons</strong><br />

herabströmende Wasser transportiert diese Schadstoffe von den verschmutzten<br />

Küstengebieten bis weit in die Tiefsee. Sogar Plastiktüten, Kunststoffflaschen und<br />

Fischernetze habe man schon in den unteren Canyonbereichen gefunden, berichten<br />

die Forscher.<br />

(Nadja Podbregar,20.09.2012)<br />

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