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Siegfried Hillner - Flucht und Vertreibung

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Vortrag am 26.01.2015 im Kath. Pfarrzentrum Laer<br />

über meine Heimat Steinau in Schlesien<br />

Mein Name ist <strong>Siegfried</strong> <strong>Hillner</strong>, ich bin am 09.10.1940 in Steinau Kreis Waldenburg<br />

Schlesien geboren.<br />

Landkarte der Region Waldenburg /Schlesien<br />

Bei meinen Überlegungen was ich hier heute berichten soll, kamen mir folgende Worte in<br />

den Sinn, die auch heute noch nach über 70 Jahren aktuell sind:<br />

-Todesangst<br />

-Gefallen<br />

-Gestorben<br />

-Bombenhagel<br />

-Ausgeplündert<br />

-Ausgemergelt<br />

-Vergewaltigt<br />

-Verwitwet<br />

-Vertrieben<br />

-Geflüchtet<br />

-Heimatlos<br />

-Mittellos<br />

-Traumatisiert<br />

-Überlebt


Mit diesen Worten können Millionen von Menschen ihre Erlebnisse im Zusammenhang mit<br />

dem 2. Weltkrieg beschreiben. Auch in meinem Bericht über Erlebnisse meiner Familie<br />

werden sie einige dieser Worte wiederfinden.<br />

Mein Elternhaus<br />

Unser Ort lag an einem kleinen Berghang.<br />

Rechts <strong>und</strong> links von der Dorfstraße lagen die<br />

kleinen Bauernhöfe. Hinter den Häusern<br />

waren die Ländereien. Meine Eltern haben<br />

1938 geheiratet. Sie hatten eine kleine eigene<br />

Landwirtschaft von 18 Morgen. Mein Vater<br />

arbeitete nebenbei in einer Bleicherei <strong>und</strong><br />

auch teilweise in der Zeche, je nachdem wie<br />

der Arbeitsmarkt war. In Waldenburg gab es<br />

auch Kohleproduktion. Am 6.2.1943 kam mein<br />

Bruder Martin zur Welt. Noch im gleichen Jahr<br />

wurde mein Vater zur Wehrmacht eingezogen.<br />

Ein Lebenszeichen meines Vaters<br />

Anfang 1945 erhielten wir eine Postkarte von meinem Vater aus französischer<br />

Gefangenschaft (Channes la Valbon in der Nähe von Lyon), mit der Bitte, ihm haltbare<br />

Lebensmittel zu schicken. Die Karte war datiert auf den 13.12.1944. Zu dem Zeitpunkt war es<br />

in Schlesien noch friedlich.


Der Kampf um Schlesien.<br />

Eines Tages konnte man aus der Ferne Kanonendonner hören, der dann immer näher kam.<br />

Und dann flogen die Granaten über unser Haus. Wir sind einige Tage im Keller geblieben.<br />

Dann musste man heraus, um sich zu versorgen. Zu dem Zeitpunkt hatten wir ein<br />

Pflichtjahrmädchen, das uns zugeteilt worden ist, ein junges Mädchen aus der<br />

Nachbarschaft. Sie ist dann mal, soweit meine Mutter mir erzählt hat, über den Hof gelaufen<br />

<strong>und</strong> wollte irgendetwas holen <strong>und</strong> hat sich dabei einen Granatsplitter am Oberschenkel<br />

eingefangen. Nach einigen Tagen war das Gefecht beendet <strong>und</strong> dann kam eine deutsche<br />

Panzerkolonne unsere Dorfstraße heruntergefahren. Es schien so, als ob sie auf der <strong>Flucht</strong><br />

vor den Russen war.<br />

Ich kann mich daran erinnern, dass wir mit einigen Nachbarn an der Straße gestanden haben<br />

<strong>und</strong> die Erwachsenen haben beratschlagt, was wir machen könnten, wenn die Russen<br />

kommen. Und da jetzt keine deutschen Panzer mehr kamen, wurden weiße Fahnen an den<br />

Häusern befestigt. Die Fahnen waren gerade angebracht, da kam doch noch ein deutscher<br />

Panzer. Mehrere Soldaten saßen auf dem Panzer <strong>und</strong> haben, als sie die weißen Fahnen<br />

sahen, angehalten <strong>und</strong> die Erwachsen zurecht gewiesen <strong>und</strong> gedroht, dass sie wegen<br />

Sabotage erschossen würden, wenn die weißen Fahnen nicht sofort entfernt würden. Dann<br />

wurden die weißen Fahnen wieder abgenommen <strong>und</strong> der deutsche Panzer fuhr weiter.<br />

Danach gab es eine Pause <strong>und</strong> man sah über der Bergkuppe wieder eine Panzerkolonne<br />

kommen. Das waren die Russen. Die Erwachsenen haben die weißen Fahnen sofort wieder<br />

angebracht. Die russische Kolonne zog vorbei <strong>und</strong> wir waren von dem Zeitpunkt an besetzt.<br />

Drangsalierung der Zivilbevölkerung durch die Besatzungstruppen<br />

Danach fingen Plünderungen, Mord <strong>und</strong> Totschlag an. Ich weiß, die haben einen älteren<br />

Mann aus unserem Dorf erschlagen. Warum weiß ich nicht. Man hat mal gesagt, er sei<br />

Kommunist gewesen <strong>und</strong> hat sich bei den Russen oder Polen anbiedern wollen. Ich weiß aus


der Verwandtschaft, dass ein Soldat eine Uhr haben wollte. Meine Cousine wollte die Uhr<br />

holen <strong>und</strong> ist weggelaufen. Ihr wurde in den Rücken geschossen, sie starb. Eines Tages kam<br />

ein Mann in Zivil zu uns <strong>und</strong> gab sich als Deutscher aus <strong>und</strong> hat sich bei uns alles angeguckt<br />

<strong>und</strong> ist nach einiger Zeit wieder gegangen. Abends, als es dunkel war, ist er wieder<br />

gekommen <strong>und</strong> hat gesagt, ich will das haben <strong>und</strong> das haben, usw. Meine Mutter musste für<br />

ihn die letzte Gans schlachten <strong>und</strong> die hat er dann mitgenommen. Ich weiß nicht genau, was<br />

er noch alles mitgenommen hat. Jedenfalls waren wir sehr enttäuscht, dass<br />

sich jemand als Deutscher ausgibt <strong>und</strong> dann abends in polnischer Uniform wiederkommt.<br />

Deutschem Soldat Unterschlupf gewährt, vielleicht vor Sibirien bewahrt<br />

Eines Tages kam ein deutscher Soldat zu uns. Der hatte sich bis zu uns durchgeschlagen. Er<br />

war von seiner Einheit getrennt worden, die aufgerieben worden war <strong>und</strong> er bat um<br />

Zivilkleidung, damit er untertauchen konnte. Da hat meine Mutter ihn aufgenommen <strong>und</strong><br />

hat ihm Kleidung von meinem Vater gegeben <strong>und</strong> er hat vor den Besatzungsmächten den<br />

Bauern gespielt. Es war ja schon mal gut, dass ein erwachsener Mann im Hause war. Denn<br />

meine Mutter war mit uns beiden Kindern ja alleine. Dann hatten die ein bisschen mehr<br />

Respekt <strong>und</strong> haben sich nicht alles erlaubt. Der Soldat kam aus Delbrück bei Paderborn. Er<br />

hat sich auch um unsere Landwirtschaft gekümmert. Um uns ein bisschen vor Plünderern zu<br />

schützen, hat er unsere Haustür verbarrikadiert. Er hat mit einem sogenannten Wiesbaum<br />

die Tür verrammelt. Ein Wiesbaum ist eine Tanne, die geschält worden ist, <strong>und</strong> bei der<br />

Heuernte auf einem Heuwagen oben befestigt wird, damit das Heu nicht herunter fällt oder<br />

verrutscht.<br />

Die brutalste Plünderung<br />

Eines Abends pochte es wieder an der Haustür <strong>und</strong> der deutsche Soldat Schröder sagte, wir<br />

sollten mucksmäuschenstill sein <strong>und</strong> das Licht ausmachen. Das Klopfen wurde immer<br />

heftiger, man hörte Personen ums Haus laufen, die nach einer anderen Möglichkeit suchten,<br />

um ins Haus zu gelangen. Und dann ging das Gepoche an den Fensterläden los. Unser<br />

deutscher Soldat kriegte auch ein bisschen Angst <strong>und</strong> wollte denen die Haustür öffnen. Da<br />

die so verkeilt war, dauerte das eine Zeit, in der Zwischenzeit hatten die Soldaten die<br />

Fensterläden aufgebrochen <strong>und</strong> das Fensterkreuz mit den Scheiben zerdeppert. Drei oder<br />

vier Soldaten kamen dann durchs Fenster gesprungen <strong>und</strong> hatten Maschinenpistolen im<br />

Anschlag <strong>und</strong> wir mussten uns mit erhobenen Händen an die Wand stellen, ich als<br />

Fünfjähriger, das werde ich nie vergessen. Herr Schröder wurde von anderen Soldaten, die<br />

jetzt Zugang durch die von ihm geöffnete Haustür hatten, in die Wohnküche gebracht. Auch<br />

er musste sich mit erhobenen Händen zu uns an die Wand stellen. Wenn ich heute Kinder<br />

spielen sehe, die Revolver oder Schießeisen in der Hand haben <strong>und</strong> auf einen zukommen,<br />

dann werde ich an diese Situation wieder erinnert. Das habe ich auch unseren französischen<br />

Enkelkindern immer wieder gesagt.


Jetzt haben die Eindringlinge gedacht, hier ist was zu holen, weil wir die Haustür so<br />

verbarrikadiert hatten. Und dann haben sie das Haus von oben bis unten umgekrempelt. Wir<br />

hatten einen Kamin mit einer Verkleidung drum herum <strong>und</strong> da hatte meine Mutter ihr<br />

Bargeld immer versteckt. Das haben sie gef<strong>und</strong>en. Das waren 800 Mark. Da war das Geld<br />

weg. Ich habe das als Kind beobachtet, was die da so gemacht haben. Einer hatte die<br />

Taschenuhr von meinem Vater gef<strong>und</strong>en. Da war er happy. „Uri, Uri!“ rief er. Ich hab‘ das bei<br />

einem gesehen, der hatte fünf oder sechs Armbanduhren am Arm. Die kannten sowas gar<br />

nicht. Dann haben sie Schnaps gesucht, haben eine Spiritusflasche gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> den reinen<br />

Spiritus getrunken, bis die Flasche leer war. Dann hat einer ein Foto vom meinem Vater in<br />

Uniform gef<strong>und</strong>en. Das haben sie auf den Tisch gelegt <strong>und</strong> haben mit dem Messer darauf<br />

herum gespickt, bis das Bild kaputt war. Sie haben meine Mutter gefragt: „Wo ist der<br />

Soldat?“ Sie hat gesagt: „In Frankreich!“ Ich hätte nicht wissen wollen, was passiert wäre,<br />

wenn sie gesagt hätte „in Russland oder in Polen“. Dann ging‘s in unser Schlafzimmer. Da<br />

haben sie die Inletts aufgeschlitzt, die Federn in die Küche geschüttet <strong>und</strong> die Inletts<br />

mitgenommen. Der Stoff war für sie wahrscheinlich wertvoll. Zu dem Zeitpunkt konnte ich<br />

beobachten, wie der Soldat, der die Taschenuhr von meinem Vater gef<strong>und</strong>en hatte,<br />

weitergesucht hat <strong>und</strong> die Uhr in der Hand hatte, die behinderte ihn. Und weil er betrunken<br />

war, hat er sie auf ein Sims gelegt. Als sie dann wieder abgezogen sind, hat er die Uhr<br />

vergessen. Nachdem sie weg waren, war meine Mutter froh, dass sie wenigstens die Uhr von<br />

meinem Vater noch hatte. Diese Uhr habe ich heute noch hier. Die Soldaten waren alles<br />

junge Bürschchen von 20 – 25 Jahren.<br />

Vor Hunger frisch gepflanzte Kartoffel ausgegraben<br />

Jetzt möchte ich noch auf ein Erlebnis zurückkommen vom Frühjahr 1945. Wir hatten gerade<br />

unsere Kartoffeln gepflanzt. Da kam unsere Nachbarin aufgeregt zu uns <strong>und</strong> fragte: „Was ist<br />

denn bei euch auf dem Feld los? Da sind ja so viele Leute!“ Da sind meine Mutter <strong>und</strong> unser<br />

Soldat da hingelaufen <strong>und</strong> haben eine ältere Frau erwischt. Die anderen konnten schnell im<br />

Wald verschwinden. Die haben die gepflanzten Kartoffeln ausgegraben. Die Leute kamen aus<br />

Waldenburg aus der Stadt <strong>und</strong> hatten wohl nichts zu essen. Der alten Frau mussten wir<br />

natürlich die Kartoffeln abnehmen <strong>und</strong> wieder einpflanzen. Diese Frau haben wir in Laer<br />

nach der <strong>Vertreibung</strong> wieder getroffen. Wir haben da nichts weiter draus gemacht <strong>und</strong><br />

waren sogar mit ihr noch etwas befre<strong>und</strong>et.<br />

Menschliche Geste eines polnischen Soldaten<br />

Ich kann mich erinnern, wir hatten nachher einen polnischen Soldaten einquartiert. Der<br />

bekam seine Ration von seiner Einheit <strong>und</strong> er hat dann auch gesehen, dass wir nichts mehr<br />

hatten <strong>und</strong> hat uns Kindern auch einen Teil seiner Ration abgegeben. Das war eine Geste von<br />

ihm, die ich auch nicht vergessen werde.


Eines Tages, als sich die Lage etwas beruhigt hatte, inzwischen war die Kapitulation erfolgt,<br />

hat sich der Soldat aus Paderborn aufgemacht <strong>und</strong> wollte wieder nach Hause. Er hat mit<br />

meiner Mutter vereinbart, dass sie, wenn ihm etwas passieren sollte, seine Familie<br />

informiert. Wir haben dann auch weiter nichts mehr von ihm gehört.<br />

Beginn der <strong>Vertreibung</strong><br />

Dann kam die Situation der <strong>Vertreibung</strong>. ich kann mich erinnern, da kam eine Gruppe von<br />

Soldaten, die gaben uns zu verstehen, dass wir ein bisschen für die Kinder zusammenpacken<br />

sollten <strong>und</strong> dann zum Bahnhof. Da sind wir dann am Bahnhof angekommen <strong>und</strong> meine<br />

Mutter hat einen Offizier verlangt, mit dem sie sprechen wollte <strong>und</strong> hat ihm gesagt: „Ich mit<br />

meinen zwei kleinen Kindern gehe hier nicht weg. Entweder gehe ich wieder nach Hause<br />

oder sie können mich gleich erschießen!“ Dann ist sie tatsächlich wieder mit uns<br />

zurückgegangen. Und ich weiß nicht, wie lange es dauerte, ein paar Tage oder Wochen.<br />

Dann war es wirklich soweit, dass wir raus mussten. Dann das gleiche Thema nochmal. Alle<br />

Wertgegenstände mussten wir da lassen. Nur ein bisschen Kleidung <strong>und</strong> dann den<br />

Haustürschlüssel von außen stecken lassen <strong>und</strong> umschließen. Inventar, Vieh, alles da lassen.<br />

Und dann ab. Ob dann schon Polen aus dem Osten gekommen waren, daran kann ich mich<br />

nicht erinnern. Das hat ja auch wahrscheinlich ein paar Tage gedauert. Die Häuser mussten<br />

ja erst mal leer sein <strong>und</strong> dann konnten sie sagen, da haben wir Häuser frei, da können jetzt<br />

Polen hin. Wie die Abläufe da gewesen sind, da kann ich nichts zu sagen. Dann wurden wir in<br />

einem offenen Wagen mit Pferd von der Sammelstelle aus zum Bahnhof gekarrt. Bei den<br />

Menschen, die auf dem Wagen waren, da waren von uns direkte Nachbarn dabei. Sie haben<br />

Heimatlieder gesungen, z.B. das Schlesierlied, „Oh mein liebes Riesengebirge, deutsches<br />

Gebirge, du meine liebe Heimat du“. Am Bahnhof angekommen wurden wir in Viehwaggons<br />

verladen. Wir waren wie die Heringe in den Waggons. Dann ging der Transport ab.<br />

Unterwegs wurde manchmal an irgendwelchen Bahnhöfen gehalten. Dann stiegen die Leute<br />

aus, um ihre Notdurft zu verrichten. Sie krochen dabei unter den Waggon. An größeren<br />

Bahnhöfen kam manchmal das Rote Kreuz <strong>und</strong> dann gab es etwas zu trinken. Als es dann auf<br />

dem Transport regnete, da tropfte es mir auf den Körper. Das war zu Pfingsten 1946. Das<br />

weiß ich ganz genau. Wir waren mehrere Tage unterwegs.<br />

Ankunft in Rheine <strong>und</strong> in Laer<br />

In Rheine angekommen, wurden wir erst mal entlaust. Die hatten so einen Apparat mit<br />

Schlauch. Da wurde in den rechten Ärmel eine Dosis reingepumpt, in den linken Ärmel, an<br />

die Brust <strong>und</strong> dann in die Hose. Dann kriegte man so eine Tusche Chemikalien reingeblasen.<br />

Von Rheine aus wurden die Leute dann auf die umliegenden Orte verteilt <strong>und</strong> wir sind dann<br />

nach Laer gekommen. Ich habe noch die Anmeldung vom 18. Juni 1946.


Beginn eines neuen Lebensabschnittes in Laer mit “ 0“<br />

Wir sind dann Gaußelmanns zugeteilt worden. Das war am Bach 1, glaube ich. Damals gab es<br />

ja noch Bauernhöfe, die mitten im Ort lagen. Da haben wir ein Zimmer bekommen mit dem<br />

Zugang von der Tenne aus. Das war wohl mal so ein Knechtezimmer. Jedenfalls sind wir da<br />

im Hauptgebäude einquartiert worden. Meine Mutter hat als Melkerin mitgearbeitet. Wir<br />

haben dann zunächst<br />

Kost <strong>und</strong> Logis da<br />

bekommen, weil<br />

meine Mutter da<br />

gearbeitet hat. Wir<br />

sind entsprechend<br />

gut aufgenommen<br />

worden. Die Familie<br />

Gaußelmann war eine<br />

sehr christliche<br />

Familie. Von 1946 bis<br />

1959 haben wir bei<br />

Gaußelmanns<br />

gewohnt.<br />

Abmeldung in Steinau/Anmeldung in Laer<br />

Ich bin mit meiner Mutter mal nach Münster gefahren. Was man da an Ruinen gesehen hat,<br />

das war enorm. Da konnte man gar nicht glauben, dass da noch Leute gewohnt haben.<br />

Bei Gaußelmann waren auch schon andere Vertriebene untergebracht. Wir waren also nicht<br />

die einzigen. Wir waren ja zunächst mal froh, dass wir die Strapazen der eigentlichen<br />

<strong>Vertreibung</strong> überstanden <strong>und</strong> jetzt endlich mal wieder ein Dach über dem Kopf hatten, dass<br />

die Kriegshandlungen vorbei waren <strong>und</strong> wir ohne Angst leben konnten. Wir haben mit der<br />

Familie Gaußelmann immer die Mahlzeiten eingenommen. Das war Tradition, dass das<br />

Personal gemeinsam mit der Bauersfamilie gegessen hat. Hier gab es ein spezielles<br />

westfälisches Gericht, das hieß Himmel <strong>und</strong> Erde. Das waren Kartoffeln mit Äpfeln. Wir<br />

kannten das ja überhaupt nicht <strong>und</strong> jedes Mal, wenn es Himmel <strong>und</strong> Erde gab, das war<br />

einmal in der Woche, dann zogen wir als Kinder schon ein schiefes Gesicht, aber wir haben<br />

tapfer mitgegessen. Es gab ja nichts anderes. Das schönste war, wenn es im Sommer<br />

Erdbeeren in kalter Milch gegeben hat.<br />

1947 bekam meine Mutter die Nachricht, dass mein Vater in der französischen<br />

Gefangenschaft verstorben ist. Da waren wir natürlich alle sehr traurig.


Er wurde auf dem Deutschen Soldatenfriedhof in Dagneux (Frankreich in der Nähe von<br />

Lyon) beigesetzt.<br />

Todesnachricht Wilhelm <strong>Hillner</strong><br />

Foto vom Soldatenfriedhof


1947 bin ich eingeschult worden, zunächst in einem Raum in der Werner-Rolevinck-Schule.<br />

Später sind wir dann in die Zentrale umgezogen.<br />

1948 Währungsreform<br />

Am 21. Juni 1948 war die Währungsreform, die DM wurde eingeführt. Jeder<br />

Bürger bekam 40,00 DM <strong>und</strong> 1 Monat später nochmal 20,00 DM.<br />

Als ich etwas älter war, so ungefähr 12, kamen die Bauern zur Schule <strong>und</strong> haben unseren<br />

Lehrer gefragt, ob er nicht Kinder abstellen könnte für die Arbeit auf dem Felde. Natürlich<br />

habe ich mich da auch gemeldet. Dann sind wir nach der Schule zu den Bauern gegangen<br />

<strong>und</strong> haben da z.B. Rüben vereinzelt, Kartoffeln gesucht. Bis in den Herbst hinein haben wir<br />

Rüben gezogen, Stoppelrüben sogar bis Mitte November. Das war dann manchmal schon<br />

sehr kalt. So haben wir uns weiter durchgeschlagen. Ich glaub, die St<strong>und</strong>e gab es 50 Pfennig<br />

<strong>und</strong> dann hat man da so 2,00DM oder 2,50DM verdient, mit Essen natürlich. Bei manchen<br />

Bauern gab es nachmittags noch ein Kaffeebrot, Weißbrot mit Schinken drauf <strong>und</strong><br />

Schwarzbrot oben drauf. Lecker! Abends, wenn man zum Essen eingeladen war, dann gab es<br />

oft Reibeplätzchen mit Apfelmus! Das hab ich auch immer gerne gegessen. Bei uns gab es<br />

meistens Knödel als Hauptgericht zu Hause. Kartoffeln, Mehl <strong>und</strong> Eier, das waren die<br />

Hauptzutaten.<br />

Wir hatten ja in der Nähe den alten Sportplatz in Laer. Da haben wir uns nach der Schule,<br />

wenn man Freizeit hatte, auf dem Sportplatz getroffen. Das war ein zentraler Punkt, wo die<br />

Jugend hinkam. Wir kannten auch Nachbarskinder. Wir haben immer zusammen gespielt. Ob<br />

die katholisch oder evangelisch waren, das war uns egal. Manchmal hat man sich in die<br />

Haare gekriegt. Manchmal auch beschimpft. Ich weiß nicht mehr, wer da angefangen hat.<br />

manchmal hieß es „katholische Ratten“ oder auch „evangelische Ratten“ <strong>und</strong> einen Tag<br />

später war das wieder vergessen. Wir waren, weil wir evangelisch waren, eben anders. Und<br />

für uns waren die Katholiken auch anders. Wir kannten ja nicht diese Marienverehrung <strong>und</strong><br />

die Katholischen haben gedacht, die wollen mit Maria nichts zu tun haben. Wenn man die<br />

andere Religion nicht kennt, ist man da sehr skeptisch. Heutzutage ist das ja total anders. Ich<br />

möchte nicht wissen, wie das gewesen wäre, wenn die Bevölkerung aus dem Westen in den<br />

Osten vertrieben worden wäre. Dann hätten wir im Osten ja auch Katholiken aufnehmen<br />

müssen <strong>und</strong> dann wären wahrscheinlich die gleichen Probleme aufgetreten. Wenn ich mir<br />

vorstelle, da kommt eine Kommission ins Haus <strong>und</strong> sagt, wieviel Personen seid ihr? Wie viel<br />

Räume habt ihr? Ihr müsst zwei oder drei Räume abgeben. Das kann keine gute Reaktion<br />

erzeugen. Erst mal Abwehr. Das wäre bei uns genauso gewesen, wenn wir Zimmer hätten<br />

abgeben müssen. Und trotz alledem muss ich sagen, wir sind bei der Familie Gaußelmann<br />

sehr gut aufgenommen worden. Zu meiner Konfirmation haben sie uns ihr Wohnzimmer zur<br />

Verfügung gestellt <strong>und</strong> meine Mutter durfte dann in der Küche kochen. Und das ist wirklich<br />

anerkennenswert.


Meine Mutter erhielt später eine kleine<br />

Witwenrente. Der Bauer Gaußelmann<br />

hat dann für uns an der Scheune einen<br />

Anbau gemacht. Da ist heute der<br />

Heimatverein drin. Da hatten wir zwei<br />

Zimmer <strong>und</strong> einen Abstellraum <strong>und</strong> da<br />

waren wir für uns. Wir hatten aber<br />

keinen Wasseranschluss. Wir mussten<br />

das Wasser vom Bauernhof holen.<br />

Ich hatte schon erwähnt, dass meine<br />

Mutter damals eine kleine Witwenrente<br />

bekam. Die Lebensverhältnisse waren<br />

damals sehr schwierig. Wenn man mal<br />

eine Neuanschaffung machen wollte,<br />

musste man monatelang sparen. Ich<br />

Meine Konfirmation<br />

kann mich an den Lebensmittelladen<br />

Nolte erinnern. Da konnte man<br />

anschreiben lassen. Davon haben viele Gebrauch gemacht. Auch wir. Es war damals aber<br />

auch eine Ehrensache, dass man seine Schulden bezahlte. Denn am Monatsende war es<br />

immer wieder knapp. Und dann wurde eben angeschrieben <strong>und</strong> wenn die Rente kam, wurde<br />

das bezahlt. Ich hab‘ mal einen neuen Mantel bekommen. Der sollte 200,00 DM kosten. Das<br />

war viel Geld. Das war das gesamte Monatseinkommen. Meine Mutter konnte das nicht<br />

aufbringen. Da sind wir zum Textilgeschäft Julius Lengers gegangen. 50,00 DM wurden<br />

angezahlt <strong>und</strong> das andere wurde monatlich abgestottert. Eine andere Möglichkeit gab es<br />

nicht.<br />

Meine Mutter besucht deutschen Soldaten in Delbrück<br />

Ich hatte ja den deutschen Soldaten aus Delbrück erwähnt. Meine Mutter <strong>und</strong> er hatten die<br />

Adressen ausgetauscht <strong>und</strong> sich abgesprochen, dass wenn die Möglichkeit besteht, dass man<br />

sich mal gegenseitig besucht. Meine Mutter hat eines Tages gesagt: „Ich hab‘ ihm<br />

versprochen, dass ich seine Familie informieren will. Ich fahre nach Delbrück.“ Und da ist sie<br />

auch hingefahren <strong>und</strong> hat ihn dort mit seiner Familie angetroffen. Das war ein freudiges<br />

Zusammentreffen <strong>und</strong> ein Glück, dass er unbeschadet zu Hause angekommen war.<br />

Hausbau in Sellen auf dem Esch, Vollendung der Eingliederung<br />

1955 bin ich aus der Schule entlassen worden. Zu dem Zeitpunkt kamen auch viele<br />

Kriegsgefangene aus Russland wieder nach Hause. Dann bauten manche Familien ein Haus.<br />

Da habe ich zu meiner Mutter gesagt: Das können wir doch auch. Dann ist meine Mutter zur<br />

Gemeinde Laer gegangen. Da hat man ihr geraten, sie sollte mal nach Horstmar gehen. Sie


hat sich dann in Horstmar erk<strong>und</strong>igt. In Horstmar war auch alles weg. Aber der Beamte<br />

wusste, in Burgsteinfurt war jemand abgesprungen. Und dann haben wir uns dafür<br />

interessiert. Dann ist meine Mutter mit uns Kindern nach Sellen, Burgsteinfurt, gefahren. Wir<br />

haben uns den Platz angeguckt. Das war im Sommer. Das Land war voll mit blühenden<br />

Mohnblumen <strong>und</strong> Kornblumen. Rot <strong>und</strong> blau <strong>und</strong> das war so schön. Da habe ich zu ihr<br />

gesagt: „Das nehmen wir!“ So ist es dann auch gekommen, dass wir da gebaut haben <strong>und</strong><br />

das war nicht einfach. Ich hatte zu dem Zeitpunkt gerade die Lehre aus <strong>und</strong> mein Bruder war<br />

noch in der Lehre. Ich machte die Elektroinstallation <strong>und</strong> mein Bruder hat die Malerarbeiten<br />

gemacht. Die Baugrube haben wir auch selber ausgehoben. Bauer Schulte in Laer, der hatte<br />

so einen kleinen Bagger mit einer Schaufel. Ich hatte für Blömer bei dem Bauern gearbeitet<br />

<strong>und</strong> Herr Blömer hat dann mit dem Bauern gesprochen <strong>und</strong> der hat dieses Gerät mit einem<br />

Fahrer zur Verfügung gestellt. Da haben wir das ausgebaggert <strong>und</strong> so konnten wir mit<br />

Eigenleistung einiges sparen. Meine Mutter hat sich einen Teil der Rente kapitalisieren<br />

lassen, um die Finanzierung damit klarzubekommen. Lastenausgleichsdarlehn hat sie auch<br />

bekommen. Aber als nachher die Regelung des Lastenausgleichs korrekt gemacht worden<br />

ist, da musste sie das Darlehn sofort wieder zurückzahlen. Wir waren heilfroh, dass wir<br />

wieder unsere eigenen vier Wände hatten. Damit war für mich die Eingliederung<br />

abgeschlossen.<br />

Das war ein sehr tolles Programm, was da aufgelegt worden ist, dass die Vertriebenen<br />

wieder zu Eigentum kommen konnten. Die, die nichts verloren hatten, mussten etwas<br />

abgeben als Entschädigung für die anderen, die mehr oder weniger alles verloren hatten. Es<br />

kam auch schon mal die Meinung der einheimischen Bevölkerung auf, dass sie die Häuser<br />

der Vertriebenen finanzieren sollten. Später haben sie dann gesagt, ist ja doch nicht so viel.<br />

Es gab auch Betrügereien. Es mussten aber auch Zeugen mit eidesstattlicher Erklärung<br />

aussagen, was man wirklich verloren hatte. Die meisten Fälle sind sicher auch ehrlich<br />

abgewickelt worden.<br />

Luftaufnahme Siedlung Sellner Esch


Unser Haus in Sellen gehörte zu einer landwirtschaftlichen Kleinsiedlung. Wir hatten 2.500<br />

m2 <strong>und</strong> ein Schweinestall musste sein <strong>und</strong> die Auflagen waren Kleinviehhaltung <strong>und</strong> Garten.<br />

Wir haben jedes Jahr ein Schwein gefüttert. Wir haben auch Weizen angebaut, hatten<br />

Hühner, Gänse <strong>und</strong> Enten <strong>und</strong> einige Jahre hatten wir auch Erdbeeren, die meine Mutter<br />

dann in Burgsteinfurt verkauft hat. Ich habe dann noch zwei Jahre bei Blömer gearbeitet. Die<br />

Fahrerei war aber so umständlich. Ich hatte ein Motorrad, mit dem bin ich hin <strong>und</strong><br />

hergefahren. Ich war die Fahrerei nach zwei Jahren leid <strong>und</strong> habe mich bei der Post<br />

beworben. Ich bin dann am 01.08.1960 hier beim Fernmeldebaubezirk in Burgsteinfurt<br />

angefangen <strong>und</strong> habe mich von unten bis weiter nach oben in den gehobenen Dienst<br />

durchgearbeitet.<br />

Besuch meines Heimatortes Steinau / Schlesien<br />

Im Juli 1995 haben wir zum ersten Mal meinen<br />

Heimatort Steinau besucht. Steinau wurde<br />

umbenannt, in polnisch heißt es jetzt „Kamionka“.<br />

Ortseingang Kamionka im Juli 1995<br />

Viele Häuser <strong>und</strong> Gehöfte sind abgerissen<br />

worden, auch mein Elternhaus. Aber das<br />

Haus meiner Großeltern haben wir<br />

vorgef<strong>und</strong>en. Leider waren die jetzigen<br />

Bewohner nicht anwesend. Der bauliche<br />

Zustand vieler Häuser war zu diesem<br />

Zeitpunkt sehr schlecht. Man sah, dass nur<br />

geflickt <strong>und</strong> notdürftig ausgebessert wurde.<br />

Die Schönheit der Landschaft ist<br />

beeindruckend erhalten geblieben. Auch<br />

nach über 70 Jahren schmerzt es immer<br />

noch ein wenig, dass man seine Heimat<br />

durch die gewaltsame <strong>Vertreibung</strong> verloren hat.<br />

Blick auf Steinau - jetzt Kamionka

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