Anteil/Anzahl Mitarbeiter - Roland Berger
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ROLAND BERGER STRATEGY CONSULTANTS<br />
Ausgabe 7 Das globale Entscheider-Magazin<br />
WOJCIECH HEYDEL<br />
will mit PKN Orlen weiter<br />
expandieren<br />
TAICHI OHNO<br />
schrieb als Kaizen-Pate<br />
Wirtschaftsgeschichte<br />
Warum Unternehmen auf die Alten setzen müssen<br />
(Dossier ab Seite 15)<br />
REM KOOLHAAS<br />
sucht die Stadt der Zukunft<br />
und findet Lagos<br />
GREGORY ROBERT SMITH<br />
gründete mit zehn eine<br />
politische Organisation
BÜRO LONDON, ROLAND BERGER STRATEGY CONSULTANTS LTD.<br />
Lansdowne House, Berkeley Square, London W1J 6RB, Großbritannien,<br />
Telefon: +44 20 7290-4800, Fax: +44 20 7499-9938, E-Mail: office_london@rolandberger.com
think: act das globale entscheider-magazin von roland berger strategy consultants ausgabe 7 first views f<br />
Viele Industriegesellschaften altern. In der Politik<br />
wird der demografische Wandel oft als Problem behandelt. Doch<br />
die Veränderung bietet Gesellschaften und Unternehmen auch<br />
Chancen, wenn sie den Wandel aktiv gestalten. Dazu gehören<br />
neue Märkte, beispielsweise für Gesundheit und Pflege, Aus- und<br />
vor allem Weiterbildung, aber auch neue Absatzchancen durch<br />
neue Formen der (altersgerechten) Produktion. Und der Zwang,<br />
die demografische Lücke durch höheres Produktivitätswachstum<br />
zu schließen, kann und wird einen neuen Innovationsschub auslösen.<br />
Lesen Sie unser Dossier ab Seite 15.<br />
Chancen bietet der demografische Wandel nicht zuletzt europäischen<br />
Unternehmen – ein weiterer Bereich, in dem Europa besser<br />
dasteht als oft angenommen. Zu diesem Ergebnis war im vergangenen<br />
Jahr auch unser „Best of European Business“-Wettbewerb<br />
gelangt. Dieser hatte dem Kontinent den Spiegel vorgehalten<br />
– und ein Bild erzeugt, das positiver war als von vielen<br />
erwartet. Jetzt geht der Wettbewerb in die nächste Runde. Ein<br />
Schwerpunkt diesmal: der Nutzen der Vielfalt Europas.<br />
Mit der Öffnung des Kontinentes nach Mittel- und Osteuropa hat<br />
sich diese Vielfalt noch einmal deutlich erhöht. Ein Unternehmen,<br />
das vom Zusammenwachsen Europas profitiert, ist der polnische<br />
Konzern PKN Orlen. Konsequent mauserte sich der frühere<br />
Staatsmonopolist in den letzten Jahren zu einem schlagkräftigen<br />
Player. Und das Unternehmen setzt weiter auf Wachstum.<br />
Woher dieses kommen soll, beschreibt Vorstandsmitglied<br />
Wojciech Heydel im Interview ab Seite 44.<br />
Wachstumsideen liefert Ihnen hoffentlich diese Ausgabe von<br />
think:act. Viele neue Einsichten bei der Lektüre wünscht Ihnen<br />
Dr. Burkhard Schwenker<br />
CEO <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> Strategy Consultants<br />
3
p inhalt<br />
4<br />
Die Schulbank drückten Topmanager bisher nur ungern. Doch<br />
das ändert sich zunehmend. Die Business-Schools stricken an immer individuelleren<br />
Konzepten für eine sehr alte Idee: die Weiterbildung. Seite 52<br />
Sie sind wohlhabend und konsumfreudig: Verbraucher jenseits<br />
der 50. Unternehmen müssen ihre Produkt- und Marketingpolitik stärker als<br />
bisher an ihnen ausrichten. Doch wie geht das? Seite 20<br />
Früher hatte PKN Orlen 100 Prozent Marktanteil in Polen. Jetzt<br />
sieht sich der Ölkonzern harter Konkurrenz gegenüber – und setzt auf Angriff<br />
als beste Verteidigung. Ein Interview mit Vizechef Heydel. Seite 44<br />
Auf den Straßen von Lagos herrscht das Chaos. Doch es hat<br />
seine ganz eigene Ordnung, so der Architekt Rem Koolhaas. Er glaubt:<br />
Unordnung und Komplexität setzen Kreativität frei. Seite 56
food for thought<br />
6 Optimale Headquarters gesucht<br />
Dezentrale Firmensitze sind im<br />
Kommen. Immer mehr Firmen<br />
setzen auf Shared Service Units.<br />
8 Geld verdienen mit guten Taten<br />
So können Unternehmen Corporate<br />
Social Responsibility zum Geschäft<br />
machen.<br />
11 Die neuen Think-Tanks<br />
Zunehmend blickt die Wirtschaft<br />
über den eigenen Tellerrand<br />
hinaus.<br />
12 Firmenchefs, macht Politik!<br />
Essay: Weltbankmanager fordert<br />
Unternehmen auf: Verlasst euch<br />
nicht auf die Politik!<br />
�<br />
Dossier<br />
Demografischer Wandel als Chance.<br />
Ab Seite 15<br />
dossier<br />
15 Demografischer Wandel als Chance<br />
Warum ältere <strong>Mitarbeiter</strong> die<br />
Flexibilität von Unternehmen<br />
erhöhen können.<br />
20 Born to remain wild<br />
Ältere Menschen bilden eine<br />
attraktive Zielgruppe. Doch die Firmen<br />
tun sich schwer mit ihnen.<br />
24 Innovationen<br />
Von WGs für Alt und Jung bis<br />
zu Universitäten für Senioren: Wie<br />
Länder den Wandel gestalten.<br />
28 Langweilig wird gut<br />
Mit der Demografie ändert<br />
sich die Aktienkultur, prophezeit<br />
Börsenpapst Jeremy Siegel.<br />
30 Erfolgskonzepte<br />
Junge Unternehmer reüssieren<br />
anders als alte – aber beide<br />
haben auch vieles gemeinsam.<br />
38 Rückkehr des Patriarchats<br />
Der Wissenschaftler Phil Longman<br />
erklärt, warum wir wieder konservativ<br />
werden.<br />
industry-report<br />
40 Indien wird schneller<br />
Der Subkontinent will moderne<br />
Motorräder, die Firma Bajaj liefert<br />
sie. Eine Erfolgsgeschichte.<br />
44 Die Expandeure<br />
PKN Orlen betreibt deutsche Tankstellen.<br />
Vorstand Wojciech Heydel<br />
erläutert, was als Nächstes kommt.<br />
48 Kontinent der Vielfalt<br />
Schafft es Europa, seine Heterogenität<br />
zum Erfolgsfaktor zu<br />
machen?<br />
business-culture<br />
52 Man lernt niemals aus<br />
Das Ende eines Tabus: Mehr<br />
und mehr Entscheider drücken<br />
die Schulbank.<br />
regulars<br />
3 First Views<br />
50 Zukunftsmärkte im Check<br />
62 Service | Impressum<br />
inhalt f<br />
56 Von Lagos lernen<br />
Kapitalismus ist chaotisch, sagt der<br />
Architekt Rem Koolhaas – ebenso<br />
wie die Stadt der Zukunft.<br />
59 Die Kleinen gewinnen<br />
Stadtforscher Joel Kotkin<br />
prophezeit vielen Metropolen<br />
Probleme.<br />
60 Twenty years after<br />
Kaizen hat sich durchgesetzt –<br />
doch sein Vordenker Masaaki Imai<br />
ist immer noch nicht zufrieden.<br />
5
p food for thought studie<br />
6<br />
Suche nach den perfekten Headquarters<br />
Wer sein Unternehmen effizient aufstellen will, kommt an der Frage nach der Struktur der<br />
Firmenzentrale nicht vorbei. Dennoch ist das Thema bisher nur wenig erforscht. Eine aktuelle<br />
Untersuchung von <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> zeigt: Während viele Unternehmen in der Vergangenheit<br />
die Zentralisierung forcierten, geht der Trend momentan wieder in Richtung dezentralerer<br />
Strukturen. Immer mehr Firmen arbeiten außerdem mit Shared Service Units.<br />
Unternehmen setzen auf strategische Holdings<br />
39 Prozent der 2005 untersuchten Unternehmen führten ihre Zentralen<br />
als strategische Holdings. Die Zunahme zeigt: Immer mehr Unternehmen<br />
gliedern operative Aufgaben aus. Die Holdings konzentrieren sich auf<br />
rein strategische Themen und Governance-Fragen.<br />
Integrierte Headquarters<br />
Operative Holding Strategische Holding<br />
40 % 42 % 31 % 19 % 29 % 39 %<br />
Verteilung Studienteilnehmer 2002/2005<br />
38 17<br />
Prozent aller Unternehmen setzten<br />
2005 auf Shared Service Units<br />
Trend zu Shared Service Units<br />
Prozent im<br />
Jahr 2002<br />
38 Prozent aller Unternehmen organisieren Teile ihrer Unternehmensfunktionen<br />
in Shared Service Units. Noch 2002 ließen nur<br />
17 Prozent aller Firmen Teile ihrer Arbeit von Shared Service<br />
Units erledigen. Einerseits deutet sich darin ein neuer Trend zur<br />
Dezentralisierung an, weil damit die einzelnen Geschäftsbereiche<br />
entlastet werden. Andererseits zeigt die Zahl auch eine Unzufriedenheit<br />
mit dem kompletten Outsourcing. Viele Unternehmen<br />
haben nämlich in der Vergangenheit gemerkt, dass das Auslagern<br />
von Funktionen zusätzliche Prozess- und Kontrollkosten<br />
verursacht und daher nicht in jedem Fall die kostengünstigere<br />
Variante ist.<br />
Japans Firmen haben größere Zentralen als westliche Unternehmen<br />
in einer Untersuchung des<br />
500<br />
Ashridge Strategic Management<br />
467<br />
Japans Firmenzentralen sind vergleichs-<br />
Center die Korrelation zwischen<br />
weise größer als europäische oder amerika-<br />
der Größe der beobachteten Fir-<br />
400<br />
nische. Das zeigt die Studie des Ashridge<br />
menzentralen und der Effizienz der<br />
Strategic Management Center. So arbeiten<br />
Zentralen nach Ansicht des Ma-<br />
310<br />
bei Firmen mit 20 000 <strong>Mitarbeiter</strong>n in<br />
nagements. Dies deutet darauf hin, 300<br />
467<br />
dass kleinere Zentralen womöglich<br />
Japan durchschnittlich 467 Menschen in<br />
255<br />
effektiver sind, zumal die befragten<br />
der Zentrale, in den USA 255, in Europa<br />
206<br />
Manager kleinere Zentralen auch 200<br />
nur 124. Die Forscher erklären dies mit der<br />
für leicht kosteneffizienter hielten.<br />
157<br />
typischen Struktur japanischer Firmen.<br />
Andererseits weisen in der Untersu-<br />
124 Allerdings zeigen die Daten von <strong>Roland</strong><br />
chung größere Zentralen höhere<br />
100<br />
Kapitalrenditen auf (zum Beispiel<br />
96<br />
<strong>Berger</strong> auch, dass „kleine Firmenzentrale“<br />
ROCE, Shareholder Return). Das<br />
76 124<br />
46<br />
nicht automatisch „mehr Effizienz“ oder<br />
heißt: Eine eindeutige Empfehlung<br />
0<br />
„mehr Erfolg“ bedeutet.<br />
kleinerer Zentralen leitet sich aus<br />
5 10 15 20<br />
–0,67betrug<br />
dieser Untersuchung nicht ab. <strong>Mitarbeiter</strong> in 1000<br />
Quelle: Ashridge Strategic Management Center, 2000<br />
<strong>Mitarbeiter</strong> in Headquarters
servicefirmen haben grösste zentralen food for thought f<br />
Serviceanbieter mit größten Headquarters<br />
Unternehmen im Servicebereich haben, im Verhältnis zur gesamten <strong>Mitarbeiter</strong>zahl, die größten Firmenzentralen. Durchschnittlich<br />
1,6 Prozent all ihrer Beschäftigten arbeiten in der Zentrale (Medianwert), verglichen mit 1,5 Prozent im Produktionssektor<br />
und nur 0,4 Prozent im Handel. Da die betrachteten Serviceunternehmen insgesamt durchschnittlich knapp 40 000 <strong>Mitarbeiter</strong><br />
haben, bedeutet dies, dass sie im Schnitt rund 640 <strong>Mitarbeiter</strong> in der Zentrale beschäftigen.<br />
<strong>Mitarbeiter</strong> im Headquarter nach Industriesektor (<strong>Anteil</strong>/<strong>Anzahl</strong> <strong>Mitarbeiter</strong>)<br />
Producing &<br />
Manufacturing Service Trade<br />
1,5 %<br />
von Ø 34 509<br />
<strong>Mitarbeiter</strong> nach Organisationsform (<strong>Anteil</strong>/<strong>Anzahl</strong> <strong>Mitarbeiter</strong>)<br />
Integrierte<br />
Headquarters<br />
7,4 %<br />
von Ø 9842<br />
1,6 %<br />
von Ø 39 626<br />
Operative Holding<br />
3,6 % von<br />
Ø 24 833<br />
Große Firmen bevorzugen strategische Holdings<br />
Die Durchschnittsgröße eines Unternehmens mit strategischer Holding liegt bei fast 80 000 <strong>Mitarbeiter</strong>n.<br />
Integrierte Headquarters eignen sich offenbar vor allem bei kleineren Unternehmen – hier<br />
liegt die Durchschnittsgröße bei unter 10 000 <strong>Mitarbeiter</strong>n. Interessant: Von der <strong>Anzahl</strong> der operativen<br />
Geschäftseinheiten ist die Wahl der Organisationsform hingegen offenbar relativ unabhängig.<br />
Integrierte Headquarters (9842)<br />
19 % 47 % 34 %<br />
Operative Holding (24 833)<br />
27 % 53 % 20 %<br />
Strategische Holding (78111)<br />
13 % 52 % 35 %<br />
<strong>Anzahl</strong> Geschäftseinheiten 1–3 4–7 über 7<br />
0,4 %<br />
von Ø 139155<br />
Strategische Holding<br />
0,7 %<br />
von Ø 78111<br />
0<strong>Mitarbeiter</strong><br />
beschäftigt ein großer europäischer Automobilzulieferer<br />
mit über 17 000 <strong>Mitarbeiter</strong>n in der zentralen IT – der<br />
Bereich wurde komplett outgesourct. 150 Fulltime-<br />
Beschäftigte arbeiten hingegen in der Headquarter-IT<br />
einer Schweizer Großbank. Ein führender Mineralölkonzern<br />
hat gerade mal vier <strong>Mitarbeiter</strong> in der zentralen<br />
IT-Abteilung angestellt – aber weitere 1400 in Shared-<br />
Service-Einheiten.
p food for thought gutes tun kann sich rechnen
Gut Geld verdienen<br />
: Die Platingruben des Bergbaukonzerns<br />
Anglo-American in Südafrika gelten<br />
Experten als Vorbild in Sachen Corporate<br />
Social Responsibility (CSR). Das britische<br />
Unternehmen bezahlt aidskranken <strong>Mitarbeiter</strong>n<br />
seit 1999 teure Medikamente, die das<br />
öffentliche Gesundheitssystem in Südafrika<br />
nicht finanziert. In firmeneigenen Kliniken<br />
können sich Angestellte kostenlos auf das<br />
Virus testen lassen – genauso aber auch<br />
andere Südafrikaner.<br />
Keine Frage: Unternehmenschef Edward<br />
Bickham tut mit seiner Aidshilfe seinen<br />
Angestellten etwas Gutes. Entsprechend<br />
wird sein Engagement gefeiert. Bemerkenswert<br />
aber ist die Aidshilfe aus einem anderen<br />
Grund: Für Bickham war diese von<br />
Anfang an ein „Business-Case“. Ungefähr<br />
30 000 <strong>Mitarbeiter</strong> des Konzerns sind nach<br />
Expertenschätzungen HIV-positiv. Sie<br />
können keine schwere Arbeit mehr unter<br />
Tage leisten, und kleine Verletzungen führen<br />
häufig zu tödlichen Infektionen. Anglo-<br />
American schützt mit dem Engagement also<br />
schlicht sein Personal – und differenziert<br />
sich von der Konkurrenz.<br />
Bisher wurde CSR meist anders diskutiert:<br />
als Kontrapunkt zum nackten Gewinnstreben.<br />
Unternehmen „geben der Gesellschaft<br />
etwas zurück“. Doch zunehmend nutzen die<br />
Firmen ihr Engagement dazu, ihre internen<br />
Prozesse zu verbessern oder sich neue<br />
Märkte zu erschließen.<br />
Auf der ersten Stufe verringert CSR lediglich<br />
das Risiko von Imageschäden oder Konflikten<br />
mit den Behörden. Einen Schritt<br />
weiter gehen Unternehmen, die den systematischen<br />
Auftritt als „Corporate Citizen“<br />
fujitsu siemens computers verkauft ökocomputer food for thought f<br />
Das Konzept „Corporate Social Responsibility“ (CSR) entwickelt sich von der Philantropie zum Business.<br />
Heute eröffnen CSR-Projekte den Unternehmen profitable Geschäftsfelder. Auch für die Vermeidung<br />
von Umweltschäden oder Krankheiten und die Bekämpfung der Armut lässt sich ein Markt finden.<br />
nutzen, um proaktiv ihren Markenkern zu<br />
stärken und ihr Image bei Angestellten und<br />
potenziellen <strong>Mitarbeiter</strong>n zu verbessern.<br />
Auf der dritten Stufe schließlich verdienen<br />
Firmen mit CSR direkt Geld und betrachten<br />
ihr Engagement als normales Geschäft. Aus<br />
Corporate Social Responsibility werden so<br />
Corporate Social Opportunities.<br />
GESELLSCHAFTLICHER NUTZEN UND<br />
GEWINNSTREBEN WAREN NIE EIN WIDERSPRUCH.<br />
DAS SEHEN UNTERNEHMEN JETZT AUCH.<br />
Die bisherige Trennung von Philantropie<br />
und Markt basiert für viele Beobachter auf<br />
einem Denkfehler. „Gesellschaftlicher Nutzen<br />
und Gewinnstreben waren noch nie<br />
ein Widerspruch“, sagt Christian Seelos,<br />
der an der IESE Business School der Universität<br />
Barcelona erforscht, wie sich mit<br />
sozialen und ökologischen Projekten neue<br />
Märkte erschließen lassen. „Die erste Frage<br />
könnte ja auch lauten: Wo gibt es gesellschaftliche<br />
Probleme, für deren Lösung<br />
jemand bereit sein könnte zu bezahlen –<br />
oder für die es sich lohnt, selbst zu investieren?“<br />
Damit wird CSR zu einem Teil<br />
des Geschäftsmodells.<br />
Wie bei Fujitsu Siemens Computers. Der<br />
IT-Hersteller verkauft seit 2004 umweltverträglichere<br />
„Green PCs“. Das Unternehmen<br />
produziert jedoch nicht nur Öko-PCs und<br />
Workstations, sondern hat die gesamte Produktion<br />
bis hin zur Wiederverwertung im<br />
eigenen Recyclingcenter nach Umweltgesichtspunkten<br />
ausgerichtet. Durch kleinere<br />
Verpackungen spart Fujitsu Siemens<br />
Computers etwa eine Million Euro pro Jahr<br />
beim Transport. Die Umweltorganisation<br />
WWF Deutschland arbeitet mit dem Unternehmen<br />
zusammen, um die Entwicklung<br />
„grüner“ IT-Geräte zu fördern, und hat<br />
inzwischen sämtliche 120 Arbeitsplätze der<br />
Büros in Deutschland mit Green PCs ausgestattet.<br />
Stefanie Schusser, die für den<br />
öffentlichen Auftritt des Produktes verantwortlich<br />
zeichnet: „Mit der Reihe haben wir<br />
nicht nur unseren Absatz gesteigert, sondern<br />
auch neue Kundensegmente erschlossen.<br />
So haben wir in Schweden etliche<br />
umweltbewusste Unternehmen und Institutionen<br />
wie Krankenhäuser durch den Green<br />
PC als neue Kunden gewinnen können.“<br />
Saubere Produkte sind bei den Konsumenten<br />
sehr begehrt. Der amerikanische<br />
„GUTE“ GELDVERDIENER<br />
Ein Kommunikationssystem für indische<br />
Bauern entwickelten BRITISH TELECOM und<br />
CISCO SYSTEMS.<br />
Günstige Implantate für Augenoperationen produziert<br />
Unternehmer DAVID GREEN mit seinem<br />
Unternehmen AUROLAB. Der Preis richtet sich<br />
nach dem Einkommen der Kranken.<br />
Ein Finanzierungsprogramm für arme Häuslebauer<br />
startete Mexikos Zementgigant CEMEX.<br />
Familien können durch niedrige wöchentliche<br />
Raten schrittweise ihr Baumaterial kaufen.<br />
Das INSTITUTE FOR ONEWORLD HEALTH liefert<br />
Medizin in Entwicklungsländer.<br />
Einfache Problemlösungen für die lokale Wirtschaft<br />
in Afrika entwickelt in Kenia das Unternehmen<br />
KICKSTART, etwa Wasserpumpen für<br />
Kleinbauern.<br />
9
p food for thought csr-projekte erschließen neue märkte<br />
10<br />
„Die Armen müssen zu aktiven, informierten und involvierten<br />
Kunden werden. Wenn wir Märkte für ihre Bedürfnisse schaffen,<br />
kann dies die Armut reduzieren.“<br />
C. K. Prahalad, Wirtschaftsprofessor, University of Michigan<br />
Früchteproduzent Chiquita verkauft beispielsweise<br />
mit großem Erfolg Bananen,<br />
die von der Umweltschutzorganisation<br />
Rainforest Alliance nach strengen Kriterien<br />
wie Mindestlöhnen und <strong>Mitarbeiter</strong>rechten<br />
zertifiziert wurden. Nachdem sich das gute<br />
Ansinnen zunächst weder beim Umsatz<br />
noch Börsenkurs positiv niedergeschlagen<br />
hatte und Chiquita im Jahr 2001 sogar<br />
Insolvenz anmelden musste, trägt der CSR-<br />
Ansatz inzwischen Früchte: Das Unternehmen<br />
steigerte den Absatz kontinuierlich seit<br />
2003, von 2004 auf 2005 hat er um 26 Prozent<br />
auf 3,9 Milliarden US-Dollar zugelegt.<br />
LONDONER TAXIS FAHREN MIT ÖKOKRAFTSTOFF.<br />
DAS SORGT BEI DER TAXIFIRMA<br />
FÜR VOLLE AUFTRAGSBÜCHER.<br />
Die Londoner Funktaxifirma Radio Taxis<br />
hat ihre Fahrzeugflotte komplett auf CO 2 -<br />
neutrale Biokraftstoffe umgestellt und ihr<br />
Image dadurch klar verbessert. Viele Londoner<br />
Unternehmen lassen ihre <strong>Mitarbeiter</strong><br />
seitdem nur noch mit Radio Taxis fahren.<br />
Denn wer seine Kohlendioxid-Emissionen<br />
insgesamt senkt, erhält in Großbritannien<br />
einen Steuernachlass. Radio-Taxis-Chef<br />
Andrew Herbert besteht deshalb darauf,<br />
dass es auch „geschäftlich Sinn hat, sich<br />
mit dem Klimawandel zu beschäftigen“.<br />
Im vergangenen Jahr hat das Unternehmen<br />
als direkte Folge der Umrüstung auf CO 2 -<br />
neutrale Kraftstoffe mehr als 1,2 Millionen<br />
Pfund an neuen Aufträgen gewonnen. Der<br />
Umsatz legte um 15,7 Prozent zu.<br />
Oftmals entwickeln sich CSR-Projekte im<br />
Nachhinein zum Geschäftsmodell. Der Chemiekonzern<br />
BASF hat 1996 zunächst nur die<br />
eigenen Produkte auf ihre „Ökoeffizienz“<br />
hin untersucht. Es war Bestandteil der<br />
Nachhaltigkeitsinitiative, dass die Entwickler<br />
des Konzerns die Produktion so lange<br />
verbesserten, bis sie die geringste Umweltbelastung<br />
zu den niedrigsten möglichen<br />
Kosten erreicht hatten.<br />
Mittlerweile vermarktet BASF die Ökoeffizienzanalyse<br />
auch nach außen: Schon 15<br />
Prozent der Projekte sind heute Auftragsarbeiten<br />
für externe Kunden. Die Spezialisten<br />
des Konzerns nehmen dazu die Entstehung<br />
von Getränkeverpackungen unter die Lupe<br />
und analysieren die Wirkung von Düngern.<br />
„Die Ökoeffizienzanalyse verbindet wirtschaftlichen<br />
und ökologischen Erfolg“, heißt<br />
es bei BASF.<br />
Der Prozess einer CSR-Initiative von der<br />
guten Tat zur Marktchance ist laut IESE-Forscher<br />
Christian Seelos kennzeichnend für<br />
die meisten richtungsweisenden Initiativen.<br />
Bei profitablen CSR-Projekten gehe es um<br />
das Erschließen neuer Märkte, auf denen es<br />
noch keine Preise für den Bedarf gibt – und<br />
die deshalb keine Marktsignale aussenden.<br />
Im ersten Schritt kümmern sich folgerichtig<br />
nur politische Aktivisten um die Probleme<br />
dort, später kommen Unternehmen hinzu<br />
und bauen gemeinsam mit den „Social<br />
Entrepreneurs“ die notwendigen Produktions-<br />
und Absatzstrukturen auf. Gerade der<br />
Umweltschutz ist auf diese Weise allmählich<br />
vom politischen Thema zum Geschäftsfeld<br />
geworden.<br />
Ein künftiges Betätigungsgebiet dieser Art<br />
ist die Armut. Die Vorlage lieferte der indische<br />
Ökonom C. K. Prahalad. Er nennt die<br />
ärmsten vier Milliarden Menschen „Bottom<br />
of the Pyramid“. Aus seiner Sicht beschreibt<br />
der Begriff nicht Opfer, sondern eine gigan-<br />
tische Menge potenzieller Kunden. Jedes<br />
Unternehmen, das sich diesem Markt widmet,<br />
fördert fast automatisch die gesellschaftliche<br />
Entwicklung.<br />
EIN TELEKOMANBIETER VERSORGT<br />
BANGLADESCHS FRAUEN MIT HANDYS –<br />
UND NUTZT DIESE ALS VERTRIEBSNETZ<br />
Entscheidend dabei ist, dass die Unternehmen<br />
mit lokalen Partnern zusammenarbeiten.<br />
Als Erfolgsbeispiel zieht Christian Seelos<br />
den Mobilfunkanbieter Grameen Telecom<br />
in Bangladesch heran. Er ist ein Joint<br />
Venture des norwegischen Telefonkonzerns<br />
Telenor mit der Grameen Bank, die sich seit<br />
1976 mit Mikrodarlehen um die Landbevölkerung<br />
am Golf von Bengalen kümmert.<br />
Gemeinsam entwickelten der lokale „Social<br />
Entrepreneur“ und der kommerzielle Mobilfunker<br />
das Konzept der „Village Phone<br />
Ladies“: Sie haben Frauen auf den Dörfern<br />
des Landes beigebracht, wie man ein Mobiltelefon<br />
bedient – und nutzen sie nun als Vertriebsnetz.<br />
Eine Tochter der Grameen Bank<br />
vergibt Minikredite dafür und bringt die<br />
Frauen auf diese Art in Lohn und Brot. Dorfbewohner<br />
können Kontakt zu ihren Verwandten<br />
halten und sparen sich kostspielige<br />
Reisen in die Provinzhauptstädte, weil sie<br />
nun auch viele Behördendinge per Telefon<br />
regeln können.<br />
Das Engagement hat auch für 100 000 Jobs<br />
im Land gesorgt und schlagartig eine veritable<br />
Kommunikationsinfrastruktur geschaffen.<br />
Als Nebeneffekt ist Bangladesch,<br />
immerhin eines der ärmsten Länder der<br />
Welt, mit sechs Millionen Kunden inzwischen<br />
einer der weltweit profitabelsten<br />
Märkte für Telenor.
PAULO COELHO<br />
(rechts) im Stift Melk.<br />
Der Schriftsteller ist<br />
auch beim nächsten<br />
Waldzell-Meeting vom<br />
8. bis 10. September mit<br />
dabei. Außer ihm suchen<br />
dort unter anderem<br />
Managementvordenker<br />
Warren Bennis, die Chefanklägerin<br />
des UN-<br />
Kriegsverbrechertribunals,<br />
Carla Del Ponte,<br />
und der Entdecker des<br />
HI-Virus, Robert C. Gallo,<br />
nach Lösungen für die<br />
drängendsten Probleme<br />
der Welt.<br />
Craig Venter liefert auf die Frage nach dem<br />
Sinn des Lebens eine einfache Definition: „Life<br />
happens“, sagt der Genforscher. Der Quantenphysiker<br />
Anton Zeilinger hofft, dass Wissenschaft<br />
und Religion zusammenarbeiten, um für<br />
Orientierung bei gesellschaftlichen Aktivitäten<br />
zu sorgen. Und der Schriftsteller Paulo Coelho<br />
wirft ein: „Wir sollten gar nicht versuchen, die<br />
Antwort zu finden. Wir sollten besser die richtigen<br />
Fragen stellen.“ Wie diese Fragen lauten,<br />
dazu hatten auch die 150 Zuhörer der Diskussion<br />
auf dem letzten Waldzell-Meeting im österreichischen<br />
Stift Melk dezidierte Meinungen.<br />
Seit 2004 lädt das Waldzell-Institut jedes Jahr<br />
leitende Manager, Unternehmer, Wissenschaftler,<br />
Künstler und Geistliche für drei Tage in die<br />
barocke Benediktinerabtei. „Wir wollen einen<br />
der spannendsten Orte der Welt schaffen, an<br />
dem Entscheidungsträger Inspiration für sich<br />
und ihre Arbeit finden“, sagt Andreas Salcher,<br />
Leiter des Instituts und Initiator des Meetings.<br />
Das heißt: Die Lösung der Weltprobleme wird in<br />
Melk nicht nur diskutiert. Die Ergebnisse fließen<br />
auch in die tägliche Praxis ein.<br />
von davos bis aspen und melk – unternehmen werden in think-tanks aktiv food for thought f<br />
THINK-TANKS MIT WIRTSCHAFTSKOMPETENZ<br />
Nicht nur im Bereich CSR sind Unternehmen und ihre Topentscheider zunehmend tätig. Sie nehmen auch auf Konferenzen und Kongressen Stellung zu<br />
drängenden Fragen der Zeit. Den Anfang machte das Weltwirtschaftsforum in Davos. Kongresse wie Davos oder das 2004 ins Leben gerufene Waldzell-<br />
Meeting im österreichischen Stift Melk werden zu Think-Tanks für eine bessere Welt.<br />
Unabhängige Think-Tanks, in denen Topentscheider<br />
den Blick über die engen Firmenziele<br />
hinaus wagen, die ihnen aber auch<br />
als Reservoir für neue Lösungsansätze dienen,<br />
haben Konjunktur. Neben Waldzell verfolgt<br />
das World Economic Forum in Davos diesen<br />
Ansatz, ebenso das US-amerikanische<br />
Aspen Institute. „Wir nutzen die Inhalte von<br />
Waldzell, um unsere Beratungsansätze weiterzuentwickeln“,<br />
sagt <strong>Roland</strong> Falb, Partner<br />
von <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> in Österreich, der das<br />
Meeting unterstützt. „Wir möchten so<br />
beispielsweise die Bedeutung von Soft Facts<br />
für eine gute Unternehmenskultur weiter<br />
herausarbeiten.“<br />
In ihren Themen unterscheiden sich die Think-<br />
Tanks deutlich. Aspen hat sich der Entwicklung<br />
neuer Führungs- und Managementtechniken<br />
verschrieben. In Davos diskutierten Wirtschaftslenker<br />
und Politiker im Januar 2006<br />
unter der Überschrift „The Creative Imperative“<br />
die Zukunft der Weltwirtschaft. Am philosophischsten<br />
kommen die Waldzell-Themen<br />
daher. Das Motto des 2005er-Treffens, an dem<br />
auch Managementautor Peter Senge, der Dirigent<br />
Franz Welser-Möst und die tibetische<br />
Nonne Tenzin Palmo teilnahmen, lautete „Entwürfe<br />
für eine Zukunft mit Sinn“. Ein Thema,<br />
das zwar esoterisch klingt, aber auch Firmenlenker<br />
in ihrem Handeln konkret beeinflusst,<br />
wie das Interesse der Entscheider zeigt.<br />
Das Bedürfnis nach Orientierung wird auch<br />
an den zunehmenden Aktivitäten der einzelnen<br />
Think-Tanks deutlich. So begann das World<br />
Economic Forum 1971 als kleiner Kreis ohne<br />
viel öffentliches Interesse. Heute ist das<br />
Forum die größte Versammlung der Mächtigen<br />
dieser Welt. Die Konferenz selbst bildet nur<br />
noch den Kern, um den herum sich weitere<br />
Aktivitäten entwickeln. Die Stiftung, die<br />
Davos veranstaltet, organisiert mittlerweile<br />
Forschungsprogramme und Seminare,<br />
Aspen ebenso. Auch das Waldzell-Institut<br />
wird von weiteren Initiativen flankiert. So<br />
erhalten junge Menschen aus aller Welt, die<br />
„Architects of the Future“, ein Stipendium für<br />
die Konferenz – und nehmen deren Ergebnisse<br />
mit in ihre Heimatländer.<br />
11
p food for thought exklusiv-essay<br />
12<br />
Firmen, macht Politik!<br />
Weltweit nehmen die Krisen zu. Immer sind auch Unternehmen<br />
gefährdet. Auf die Politik können sie sich dabei nicht verlassen, so<br />
Weltbankdirektor Eckhard Deutscher in diesem Essay.<br />
: Die internationale Ordnung zerfällt.<br />
Globale geopolitische Risiken haben ein<br />
Ausmaß erreicht, das auch von Unternehmen<br />
zwingend fordert, auf der politischen<br />
Weltbühne ihre Interessen stärker wahrzunehmen.<br />
Der Politik können sie die globalen<br />
Risikoentwicklungen nicht mehr allein<br />
überlassen. Die Politik ist vielmehr auf ihre<br />
Mitwirkung angewiesen. Die Firmenlenker<br />
müssen selbst aktiv werden, CEOs müssen<br />
Politik machen.<br />
Welches aber sind die wichtigsten Faktoren<br />
globaler Unsicherheit? Neben den wunden<br />
Punkten der Weltwirtschaft (internationaler<br />
politischer Terror, Öl, US-Währung, regionale<br />
Gegenmodelle zum Kapitalismus, zu<br />
schnelles Wirtschaftswachstum in China,<br />
Protektionismus, globale Seuchen) sind hier<br />
die globalpolitischen und sozialen Umwälzungen<br />
zu nennen. Sorgen bereiten sollten<br />
den Unternehmen heute vor allem die folgenden<br />
Punkte:<br />
ECKHARD<br />
DEUTSCHER<br />
ist seit 2003 Exekutivdirektor bei der Weltbank<br />
in Washington. Für die Organisation arbeitet er<br />
bereits seit 2001. Zuvor war er von 1991 bis<br />
2000 Abteilungsleiter bei der Deutschen Stiftung<br />
für internationale Entwicklung. Deutscher<br />
habilitierte über ein Thema der mexikanischen<br />
Revolution.<br />
Die Zukunft der neuen Verteilungskämpfe<br />
um Rohstoffe hat längst begonnen.<br />
Zugleich werden die Staaten in der politischen<br />
Gestaltung von stabilen Neuordnungen<br />
immer hilfloser. Dies trifft auch auf die<br />
internationalen Organisationen zu. Das<br />
krasseste Beispiel: Die Kriegsfolgen im Irak<br />
belegen, dass die weltweit stärkste Militärmacht<br />
gegen den Widerstand in der Bevölkerung<br />
nichts auszurichten vermag.<br />
Die Weltwirtschaft wird ihr Gesicht in den<br />
kommenden Dekaden nachhaltig verändern.<br />
Europa wird in diesem Prozess weniger<br />
Motor sein als eine Region, die sich an<br />
Veränderungen anpassen muss. Die Zukunftsmotoren<br />
der Weltwirtschaft laufen in<br />
Asien und im asiatisch-pazifischen Raum.<br />
Japan und China verhandeln seit zwei Jahren<br />
über eine Währungsunion, um die<br />
Märkte in Asien mit mehr als 2,5 Milliarden<br />
Menschen weiter zu dynamisieren. Indiens<br />
Erwerbsbevölkerung wird in den nächsten<br />
35 Jahren um 335 Millionen Menschen<br />
wachsen – dies entspricht der arbeitenden<br />
Bevölkerung der EU und der USA zusammengenommen.<br />
China und Indien könnten<br />
sich in den kommenden Jahrzehnten zum<br />
Zentrum der globalen Industrie entwickeln.<br />
Kurz: Der asiatisch-pazifische Raum wird<br />
zum wirtschaftlichen Kraftzentrum der<br />
Zukunft werden, die USA werden bei anhaltenden<br />
Trends ihr wirtschaftliches Interesse<br />
an Europa immer mehr verlieren.<br />
Trotz der so genannten Wissensgesellschaft<br />
und der weltumspannenden Informationstechnologien<br />
sind die Staaten heute nicht<br />
in der Lage, die weltweite Armut abzubauen<br />
und die Bevölkerungsentwicklung zu<br />
kontrollieren. Das Bevölkerungswachstum<br />
unter den Armutsbedingungen in weiten<br />
Teilen insbesondere der südlichen Halbkugel<br />
verursacht weiterhin dramatische soziale<br />
Destabilisierungen – mit Auswirkungen<br />
für die reichen Länder. Solange diese Situation<br />
nicht umgekehrt wird, können Staatenzerfall,<br />
Bürgerkriege und Flüchtlingsströme<br />
sowie die mit ihnen verbundenen<br />
globalen Bumerangeffekte nicht eingedämmt<br />
werden.<br />
Bis 2040 wird die Weltbevölkerung von<br />
sechs auf etwa acht Milliarden Menschen<br />
ansteigen. Das Wachstum wird nahezu vollständig<br />
in den armen Ländern stattfinden.
Die Hälfte der Menschen, die heute leben,<br />
sind jünger als 25 Jahre. Und 1,5 Milliarden<br />
Menschen – ein Viertel der Weltbevölkerung<br />
– ist unter 14 Jahre alt. In Zukunft wird<br />
die Bevölkerung in den armen Weltregionen<br />
also noch jünger werden. Gelingt es<br />
nicht, in ausreichendem Maße für Beschäftigung<br />
und Entwicklungsperspektiven zu sorgen,<br />
sind Konflikte vorprogrammiert.<br />
Gewalttätige Auseinandersetzungen entstehen<br />
schon heute in vielen Entwicklungsländern<br />
vor allem aus den Heerscharen<br />
junger, perspektivloser Männer. Auch die<br />
steigende Zahl der Kindersoldaten in Afrika<br />
wird so lange nicht zu reduzieren sein,<br />
wie Gewalt und Krieg für viele verwahrloste<br />
Kinder und Jugendliche die einzige Grundlage<br />
sind, um sich ihren Lebensunterhalt<br />
zu verdienen.<br />
Beispiel Klimawandel: Eine Studie des<br />
amerikanischen Verteidigungsministeriums<br />
kommt zu dem Ergebnis: Wenn durch<br />
Klimaveränderungen Nahrungs-, Wasserund<br />
Energiereserven schwinden, drohen in<br />
vielen Weltregionen politische Instabilitäten<br />
und Konflikte. Millionen obdachlos<br />
gewordener hungernder Menschen könnten<br />
ihre Heimat verlassen. Rasche Klimaveränderungen<br />
könnten die Welt an den<br />
Rand der Anarchie bringen. Die Pentagon-<br />
SOLDATEN AN EINER TANKSTELLE in Boliviens<br />
Hauptstadt La Paz. Die Verstaatlichung der Ölförderung<br />
in Bolivien zeigt, wie schnell nationale politische<br />
Entwicklungen Unternehmen beeinträchtigen können.<br />
Momentan erlebt ganz Lateinamerika einen Linksruck.<br />
Studie warnt davor, dass Europa und die<br />
USA zu regelrechten Festungen werden<br />
könnten, um Millionen von Migranten abzuhalten,<br />
die aus ihren umweltzerstörten Heimatregionen<br />
flüchten. Der katastrophale<br />
Energie- und Wassermangel könnte die<br />
Welt ab etwa 2020 in neue Konflikte stürzen.<br />
Hinzu kommen die zahlreichen politischen<br />
„schwarzen Löcher“, die schleichend weltweit<br />
das bisherige Ordnungsgefüge aushöhlen.<br />
Beispiel organisierte Kriminalität: Organisiert<br />
in schwer durchschaubaren, flexiblen<br />
und mobilen Netzwerken, verstehen<br />
sich die globalen Guerillas in Nadelstreifen<br />
als überregional agierende Wirtschafts-<br />
13
p food for thought banken verpflichten sich auf ökostandards<br />
14<br />
mächte im Drogen-, Waffen- und Menschenhandel.<br />
Die Märkte Geldwäsche und<br />
Markenpiraterie existieren parallel zu den<br />
legalen Märkten, nicht irgendwo im Untergrund.<br />
Und das Vertrauen in die Staaten<br />
schwindet. Beispiel Korruption: Noch nie<br />
gab es so viele demokratische Staaten.<br />
Gleichzeitig jedoch ist die Auffassung noch<br />
nie so verbreitet gewesen, dass die Korruption<br />
überall höchste Blüten treibt. Und das<br />
schleichend: Wenn eine wirtschaftliche<br />
Medienmacht legitim aufgebaut, aber diese<br />
zur Erlangung und Erhaltung politischer<br />
Macht genutzt wird, unterspült diese Form<br />
von Korruption die Grundlagen des Verhältnisses<br />
von Staat und Gesellschaft.<br />
UNTERNEHMEN MÜSSEN SELBST<br />
AKTIVER WERDEN. TRADITIONELLES<br />
LOBBYING REICHT NICHT MEHR.<br />
Die entscheidende Frage für Wirtschaft, Kapital<br />
und Unternehmen ist: Welche Konsequenzen<br />
ziehen Manager, Wirtschaftsführer<br />
oder die Wirtschaftsverbände aus den<br />
Erkenntnissen, dass alte Rezepte nicht<br />
mehr wirken, um künftige Investitionssicherheiten<br />
herzustellen? Welche Folgen<br />
haben die globalpolitischen Veränderungen<br />
für die Unternehmen? Wie unabhängig können<br />
Unternehmen überhaupt noch agieren?<br />
Und wie kann eine solche Lobbyarbeit der<br />
internationalen Einmischung aussehen?<br />
Einiges geschieht bereits: So haben sich<br />
beispielsweise 39 amerikanische, britische,<br />
deutsche, französische, niederländische<br />
und Schweizer Geldhäuser zu „Äquator-<br />
Banken“ zusammengeschlossen und dazu<br />
verpflichtet, die so genannten Äquator-Prinzipien<br />
einzuhalten – das sind 15 Kriterien,<br />
die für alle Bankinvestitionen über 50 Millionen<br />
Euro gelten. Sie wurden zusammen<br />
mit der Weltbanktochter IFC entworfen<br />
und entsprechen im Wesentlichen den Ökound<br />
Sozialstandards der Weltbank. Oder: 55<br />
amerikanische, britische, deutsche, französische<br />
und niederländische Großbanken<br />
BRENNENDE Ölfelder<br />
in Kuwait: Kaum eine Industrie ist<br />
so sehr durch weltpolitische<br />
Krisen gefährdet wie die Ölbranche<br />
und Vermögensverwalter mit einem Gesamtkapital<br />
von vier Billionen Dollar haben<br />
sich jüngst den „Principles for Responsible<br />
Investment“ (PRI) der Vereinten Nationen<br />
(UN) verschrieben. Die Institute verpflichten<br />
sich, Aspekte der Unternehmensführung,<br />
Umwelt und Gesellschaft bei Investitionen<br />
oder im Dialog mit Firmen zu<br />
berücksichtigen. Sie erwarten von Umweltund<br />
Sozialfaktoren zunehmenden Einfluss<br />
auf Geldanlagen und verlangen, diese<br />
auf langfristige Wertschöpfung, Unternehmensstrategien<br />
und Geschäftsmodelle<br />
zu überprüfen.<br />
Das ganze geopolitische Panorama mit Auswirkungen<br />
auf Unternehmensstrategien ist<br />
kein übertriebener Pessimismus. Irgendwie<br />
haben wir alles schon so oft gehört, dass wir<br />
nicht mehr darüber erschrecken. Wir nehmen<br />
es hin wie der Raucher die Möglichkeit<br />
einer Herz-Kreislauf-Erkrankung. Und<br />
noch immer lassen uns Medien glauben,<br />
dass alles schon nicht so schlimm kommen<br />
wird. Aber Kassandra ist eine Nervensäge,<br />
die in der Aktion optimistisch wird. Unternehmer<br />
und Wirtschaftslenker müssen sich<br />
in die Politik einmischen – intensiver, konzeptioneller,<br />
fordernder. In die Innen- und<br />
Außenpolitik. In die Qualität der Politik,<br />
und zwar durch scharfe Analysen, die politisch<br />
Verantwortliche ins Schwitzen bringen.<br />
Adressiert an die Nationalstaaten,<br />
staatliche Zusammenschlüsse, Staatengemeinschaften<br />
und internationale Organisationen,<br />
müssen diese Analysen als anschlussfähige<br />
Konzepte fungieren, die den<br />
die Welt verändernden Herausforderungen<br />
gerecht werden.<br />
Die Staaten tun zu wenig, um globale Ordnungspolitiken<br />
zu schaffen und damit Zukunftsmärkte<br />
in den nächsten zehn, 20 oder<br />
30 Jahren zu sichern. Hier müssen Unternehmen<br />
den Druck erhöhen. Hier müssen<br />
Unternehmer und Wirtschaftslenker Lobby<br />
machen, aber nicht im einfältigen traditionellen<br />
Sinn, um das eigene Geschäft voran-<br />
zubringen. Vielmehr müssen sie die politischen<br />
Systeme dazu zwingen, bestimmte<br />
Rahmenbedingungen zu schaffen: Künftige<br />
Kapitalinvestitionen sollten in der Folge<br />
sicher und dauerhaft vorgenommen werden<br />
können.<br />
Unternehmen brauchen eine Abteilung mit<br />
„Globalisierungsberatern“, die die Politik<br />
unterstützen und einen Kampf gegen die<br />
Vereinsmeierei in den Wirtschaftsverbänden<br />
führen. Sie müssen die traditionellen<br />
Interessengrenzen überwinden und mit<br />
Gewerkschaften um politische Strategien<br />
ringen, um das „Soziale“ (der Gegensatz von<br />
Arbeit und Kapital hat heute eine neue<br />
Qualität bekommen) im globalen Kapitalismus<br />
zu verankern.<br />
Die Unternehmen müssen heute auf der<br />
Höhe der Diskussionen der Globalisierung<br />
sein und zum Beispiel mit den Sektor- und<br />
Länderkonzeptionen der internationalen<br />
Organisationen wie Weltbank, Internationaler<br />
Währungsfonds und den weltweiten<br />
Think-Tanks vertraut sein. Und sie müssen<br />
in der Lage sein, daraus auch konkrete<br />
Unternehmensinteressen abzuleiten.<br />
Denn so, wie die klassische Außenpolitik<br />
schon längst zur Weltinnenpolitik geworden<br />
ist – noch so fernste Ursachen haben<br />
überall unmittelbare lokale Auswirkungen<br />
–, so ist „Nationalökonomie“ heute längst<br />
Weltwirtschaftspolitik geworden. Konzertiertes<br />
Einmischen von Globalisierungsmanagern<br />
der Wirtschaft in die Weltpolitik –<br />
das ist die Aufgabe und Herausforderung.<br />
Und was für alle gilt, gilt auch für die Wirtschaft<br />
und ihre Manager: quer denken, in<br />
paradoxen Zusammenhängen, systemisch.<br />
Und zwar mit unlogischen Brüchen, um<br />
langweilige, stumpfe und holzschnittartige<br />
Politik zu konfrontieren. Große, weltweit<br />
agierende Energiekonzerne machen es<br />
schon vor – paradoxer- und richtigerweise<br />
mit zukunftsweisenden Konzepten alternativer<br />
Energiepolitik. Viele andere Unternehmenslenker<br />
sollten folgen.
Wer aufhört zu lernen, ist alt,<br />
ob mit 20 oder mit 80.<br />
Wer weiterlernt, bleibt jung.<br />
Henry Ford<br />
DOSSIER #06<br />
Viele Industriegesellschaften altern. Politische Gegenmittel wirken allenfalls<br />
langfristig. Die Unternehmen müssen jetzt reagieren – indem sie<br />
ältere <strong>Mitarbeiter</strong> bewusst einbinden und sich die neuen Seniorenmärkte<br />
erschließen. Dann wird die Demografie für sie zum Freund.
DOSSIER #06 Demografischer Wandel als Chance<br />
16<br />
nELI LILLY<br />
Das US-Pharmaunternehmen gehört zu<br />
den großen Playern der Branche. Es<br />
beschäftigt weltweit über 43 000 <strong>Mitarbeiter</strong>.<br />
Eli Lilly ist an der NYSE gelistet.<br />
76Millionen<br />
Babyboomer<br />
gehen in den USA<br />
bald in Rente. Ein<br />
Grund für Eli Lilly,<br />
auf erfahrene <strong>Mitarbeiter</strong><br />
zu setzen.<br />
»Wir Arbeitgeber<br />
müssen unseren gut<br />
ausgebildeten und<br />
erfahrenen älteren<br />
<strong>Mitarbeiter</strong>n attraktive<br />
Angebote machen,<br />
damit sie gern noch<br />
länger für ihr Unternehmen<br />
arbeiten.«<br />
SIDNEY TAUREL, CHAIRMAN UND CEO ELI LILLY<br />
NETTOUMSÄTZE<br />
15 000<br />
14 000<br />
13 000<br />
12 000<br />
11 000<br />
10 000<br />
Angaben in US-Dollar<br />
0<br />
11542,5<br />
Quelle: Eli Lilly<br />
11 077,5<br />
12 582,5<br />
13 857,9<br />
14 645,3<br />
2001 2002 2003 2004 2005<br />
Ihr Freund, die Demografie<br />
DIE INDUSTRIEGESELLSCHAFTEN WERDEN ÄLTER. DAS HAT DRASTISCHE FOLGEN FÜR DIE ARBEITS- UND<br />
KONSUMMÄRKTE. UND ZWAR DURCHAUS NICHT NUR NEGATIVE. DER DEMOGRAFISCHE WANDEL ERÖFFNET<br />
BETRÄCHTLICHE CHANCEN – FÜR JENE UNTERNEHMEN, DIE FRÜHZEITIG HANDELN.<br />
s<br />
UNTERNEHMEN WELTWEIT SIND auf der Suche<br />
nach gut ausgebildeten Fachkräften. Unternehmen<br />
wie die schwedische Stahlfirma Rapid. Doch gute<br />
Leute sind rar, und in vielen Gesellschaften droht<br />
sich die Situation durch den demografischen Wandel<br />
noch zu verschärfen. Die Personalmanager von<br />
Rapid haben eine ebenso einfache wie einleuchtende<br />
Lösung für den drohenden Know-how-Verlust gefunden:<br />
Sie starteten eine Kampagne, um gezielt ältere<br />
Metallarbeiter einzustellen.<br />
Rapid ist nicht das einzige schwedische Unternehmen,<br />
das auf das Wissen der Älteren setzt. Insgesamt<br />
gehört die schwedische Volkswirtschaft zu<br />
jenen, die ältere Arbeitnehmer relativ lange in den<br />
Unternehmen halten (siehe Seite 19). Und das ist<br />
auch sinnvoll. Der demografische Wandel bedeutet<br />
für Unternehmen, die ihn intern bewusst gestalten,<br />
die Qualitäten älterer <strong>Mitarbeiter</strong> nutzen, eine Chance.<br />
Bisher wird die Alterung der Gesellschaft weltweit<br />
vor allem als Risiko gesehen – für Pensionskassen,<br />
für Absatzmärkte. Doch wer <strong>Mitarbeiter</strong> länger hält,<br />
kann dem drohenden Mangel an Nachwuchskräften<br />
entgegenwirken und wertvolles Know-how im Unternehmen<br />
halten oder gewinnen. Und durch eine flexiblere<br />
Arbeitsorganisation gewinnen die Unternehmen<br />
Möglichkeiten, sich schneller und konsequenter<br />
an wandelnde Marktverhältnisse anzupassen.<br />
Die Dominanz älterer <strong>Mitarbeiter</strong> auf den<br />
Arbeitsmärkten dürfte demnächst steigen. Experten<br />
schätzen, dass die Zahl von Arbeitnehmern zwischen<br />
50 und 64 in der EU in den nächsten zwei<br />
Dekaden um ein Viertel wachsen wird; in den USA<br />
dürfte sie sich innerhalb der nächsten zehn Jahre<br />
sogar verdoppeln. Zugleich geht die Zahl jüngerer<br />
Arbeitnehmer zwischen 20 und 29 Jahren zurück, in<br />
der EU etwa um ein Fünftel. In den Vereinigten Staaten<br />
wird es im Jahr 2012 nach Schätzungen des<br />
Arbeitsministeriums 50 Prozent mehr Arbeitnehmer<br />
über 55 geben. Die Frage ist nur: Wie lange bleiben<br />
sie wirklich in den Unternehmen? Und, aus Sicht der<br />
CEOs: Welches Unternehmen bindet ältere <strong>Mitarbeiter</strong><br />
am intelligentesten ein?<br />
Bisher empfinden es viele Firmen noch als<br />
unattraktiv, ältere <strong>Mitarbeiter</strong> einzustellen oder zu<br />
halten. Für den Abbau von Einstellungshemmnissen<br />
setzt sich daher die EU-Initiative „Proage – Facing<br />
the Challenge of Demographic Change“ ein. Arbeitgeberverbände<br />
aus Deutschland, Dänemark, den<br />
Niederlanden und Irland gehören ihr bereits an.<br />
Gemeinsam setzen sie sich für eine Neuorientierung<br />
von Tarifpartnern und betrieblicher Personalpolitik<br />
ein. „Kündigungsschutzbestimmungen, Besitzstandssicherungen<br />
für Ältere durch das Senioritätsprinzip<br />
in der Entlohnung und Entgeltsicherungsklauseln<br />
wirken beschäftigungsfeindlich“, heißt es<br />
auf Seiten der Initiative. Die Folge der marktfeindlichen<br />
Gesetzeslage: Noch trennen sich zahlreiche<br />
Unternehmen von <strong>Mitarbeiter</strong>n jenseits der 50 und<br />
stellen keine neuen ein. Ein Fehler, denn die Altgedienten<br />
haben eine Menge Wissen angehäuft, das<br />
dort verloren geht.<br />
Die jungen Alten sind heute fitter als je zuvor.<br />
Sie länger an die Unternehmen zu binden ist die wirkungsvollste<br />
und kostengünstigste Methode, den<br />
demografischen Wandel abzufedern und Wissensverluste<br />
zu verhindern. Peter Cappelli, Direktor des<br />
Center for Human Resources an der Wharton School<br />
der University of Pennsylvania: „Das Problem ist<br />
nicht dadurch entstanden, dass man nicht genug<br />
<strong>Mitarbeiter</strong> findet, sondern dadurch, dass die Unternehmen<br />
im gleichen Tempo Personal durch die<br />
Hintertür entlassen haben, wie sie neue <strong>Mitarbeiter</strong><br />
zur Vordertür hereingeholt haben.“ Jetzt spüren viele<br />
Firmen die drohende Knappheit. Einer Untersuchung<br />
der Investmentbank Merrill Lynch zufolge haben<br />
sich bereits 69 Prozent aller Unternehmen mit dem
künftigen Fehlen von Arbeitnehmern auseinander<br />
gesetzt – meist jedoch nur, indem sie verstärkt<br />
junge <strong>Mitarbeiter</strong> anheuerten.<br />
Die besten Unternehmen der Studie gingen<br />
jedoch anders vor. Cynthia Hayes, Chefin der Abteilung<br />
Employer Plan Solutions bei Merrill Lynch:<br />
„Diese Unternehmen erlauben Telearbeit, bieten flexible<br />
Arbeitszeitmodelle an, entwickeln Coaching- und<br />
Mentoring-Konzepte und stellen eine verbesserte<br />
Krankenversicherung zur Verfügung.“ So demonstrieren<br />
sie, dass sie die Belange älterer <strong>Mitarbeiter</strong><br />
ernst nehmen – und sichern sich damit einen Vorteil<br />
auf dem Arbeitsmarkt.<br />
Zur gemeinsamen Entwicklung von Best Practices<br />
haben sich auf Initiative des weltweit vernetzten<br />
Seniorenverbandes AARP über 20 Industrieverbände<br />
und andere Interessenvertreter zur Alliance<br />
for an Experienced Workforce zusammengeschlossen.<br />
„Wenn Amerika seine internationale Wettbewerbsfähigkeit<br />
behalten will“, so Red Cavaney, Chairman<br />
der Allianz sowie Präsident und CEO des American<br />
Petroleum Institute, „müssen seine Unternehmen<br />
Strategien und Praktiken entwickeln, die ihre<br />
Interessen mit denen der älteren <strong>Mitarbeiter</strong> in Einklang<br />
bringen.“ Dazu gehören, so William Novelli, CEO<br />
der AARP, auf Ältere zugeschnittene Trainingsprogramme<br />
sowie Arbeitszeitmodelle, die es den Älteren<br />
erlauben, sich auf Wunsch immer wieder längere<br />
Auszeiten zu nehmen. „Die Arbeitgeber müssen kreativer<br />
werden“, fordert Novelli.<br />
Unternehmen, die an der Beschäftigung älterer<br />
<strong>Mitarbeiter</strong> interessiert sind, bietet die AARP eine<br />
Plattform zur Stellenvermittlung. Zu den Vorbildunternehmen<br />
der Organisation gehören etwa das<br />
Telekommunikationsunternehmen Verizon, die Sun<br />
Trust Bank oder die Baumarktkette The Home Depot.<br />
Bob Nardelli, Chairman, Präsident und CEO von Home<br />
Depot: „Die Beschäftigungspartnerschaft mit der<br />
AARP eröffnet uns den Zugang zu einem breit gefächerten<br />
Reservoir leistungsstarker Arbeitskräfte, die<br />
eine hohe Arbeitsmoral mit persönlicher Reife verbinden.“<br />
Der Personalbedarf ist enorm: Vor zwei Jahren<br />
suchte The Home Depot gleich 35 000 zusätzliche<br />
<strong>Mitarbeiter</strong> für 175 neu eröffnete Baumärkte.<br />
Die 36 Millionen Mitglieder umfassende AARP<br />
veröffentlicht jährlich eine Liste mit den Unterneh-<br />
Ältere Arbeitnehmer wollen ein Leben mit „Portfolioqualität“ DOSSIER #06<br />
men, die sich um ältere <strong>Mitarbeiter</strong> besonders verdient<br />
gemacht haben – Unternehmen wie die Traditionsfirma<br />
Deere & Company. Der <strong>Anteil</strong> der über 50-<br />
Jährigen ist bei dem Hersteller von Land-, Bau- und<br />
Gartenmaschinen mit gut 35 Prozent überdurchschnittlich<br />
hoch. Die Einstellungspolitik ist auf langfristige<br />
Arbeitsverhältnisse angelegt, die Fluktuation<br />
wegen guter Arbeitsbedingungen mit unter einem<br />
Prozent außerordentlich niedrig. „Unsere älteren <strong>Mitarbeiter</strong><br />
sind sehr wertvoll für uns, denn sie verfügen<br />
über einen reichen Wissens- und Erfahrungsschatz,<br />
der sich kaum schriftlich dokumentieren lässt und<br />
mit dem Ausscheiden des <strong>Mitarbeiter</strong>s unwiederbringlich<br />
verloren geht“, erklärt Personaldirektor<br />
Ingolf Pruefer. Die Unfallquote von Älteren in der Produktion<br />
ist beispielsweise signifikant niedrig. Und<br />
durch ihre größere Loyalität sind Ältere gerade in Krisenzeiten<br />
oft die treibenden Kräfte.<br />
Die Frage ist jedoch: In welcher Form beschäftigt<br />
man ältere <strong>Mitarbeiter</strong> am besten? Vielen Unternehmen<br />
erscheint hier eine Organisation in Projektform<br />
am sinnvollsten. So können die Arbeitnehmer<br />
sich ihre Zeit freier einteilen und sind nur in die internen<br />
Prozesse einbezogen, die für sie wichtig sind.<br />
Umgekehrt erhöhen ältere Arbeitnehmer so die Flexibilität<br />
der Unternehmen. Die projektbezogene Teilzeitarbeit<br />
entspricht den Erwartungen vieler Senioren.<br />
Das zeigt die Untersuchung „Living Longer, Working<br />
Longer“ der US-Versicherungsgesellschaft Met-<br />
Life. Immerhin 37 Prozent der befragten 66- bis 70-<br />
Jährigen arbeiten oder wollen arbeiten. Doch ihnen<br />
schwebt nur selten ein starrer Acht- oder Zehnstundentag<br />
vor. Verschiedene Studienteilnehmer gaben<br />
an, sie wünschten sich ein Leben mit „Portfolioqualität“<br />
– eine Mischung aus bezahlter Arbeit, Freizeit<br />
und Hobbys sowie Reisen.<br />
Interessant: 19 Prozent der von MetLife untersuchten<br />
55- bis 64-Jährigen beziehen bereits Pensionszahlungen<br />
eines alten Arbeitgebers. Sie haben<br />
sich also aus der Pensionärsposition heraus um eine<br />
neue Aufgabe bemüht. Speziell diesen „arbeitenden<br />
Rentnern“ geht es nicht nur darum, ihre Rente aufzubessern.<br />
Ihre Hauptmotivation für den Schritt<br />
zurück ins Arbeitsleben war es vielmehr, „etwas<br />
Neues und anderes auszuprobieren“. Viele „finden es<br />
besonders wichtig, sich eingebunden zu fühlen und<br />
Hirnforscher als<br />
Produktentwickler<br />
DIE ZUSAMMENARBEIT zwischen<br />
Wissenschaft und Praxis wird gern<br />
gefordert, aber nicht immer konsequent<br />
eingelöst. Ausgerechnet der<br />
demografische Wandel entpuppt<br />
sich zunehmend als Gebiet, in dem<br />
Forscher unterschiedlicher Disziplinen<br />
ebenso gut kooperieren wie Forschung<br />
und Industrie. Die Peking<br />
University und das Massachusetts<br />
Institute of Technology entwickeln<br />
schon seit Jahren technologische<br />
Konzepte für eine bessere Lebensqualität<br />
älterer Menschen. In Finnland<br />
bringt die Fördereinrichtung<br />
Tekes Technologieführer aus Wissenschaft<br />
und Wirtschaft zusammen.<br />
„Human Adequate Technologies“<br />
entwickelt auch das interdisziplinäre<br />
Humanwissenschaftliche Zentrum<br />
(HWZ) der Münchner Ludwig-<br />
Maximilians-Universität. Forscher<br />
aus verschiedensten Nationen und<br />
Fachbereichen untersuchen im<br />
Generation Research Program<br />
(GRP) die Lebensqualität des Menschen<br />
in unterschiedlichen Altersphasen.<br />
So arbeiten die Münchner<br />
an der altersgerechten Wohnung,<br />
die viele Tätigkeiten von selbst verrichtet<br />
und etwa automatisch Hilfe<br />
holt, wenn das Wasser seit Stunden<br />
läuft – ein Indiz für einen Unfall.<br />
Honda unterstützte das GRP bei der<br />
Entwicklung eines mühelos bedienbaren<br />
Autocockpits. „Solche komplexen<br />
Lösungen, die ein sehr genaues<br />
Wissen über den Aufbau und<br />
die Funktionsweise des menschlichen<br />
Gehirns erfordern, lassen<br />
sich nur interdisziplinär und in<br />
Kenntnis der internationalen Forschung<br />
entwickeln“, so der Hirnforscher<br />
Ernst Pöppel, Leiter des GRP.<br />
Eine zweite Voraussetzung: Die<br />
Bereitschaft zur langfristigen Zusammenarbeit.<br />
Nur so könne sich<br />
das erforderliche Vertrauen bilden.<br />
17
DOSSIER #06 Demografischer Wandel als Chance<br />
18<br />
nDEERE & COMPANY<br />
Werke in elf Ländern betreibt der Hersteller<br />
von Landmaschinen und Weltmarktführer<br />
im satellitengestützten<br />
Landbau. Weltweit sind über 46 000 <strong>Mitarbeiter</strong><br />
beschäftigt. Deere gehört zu<br />
den 50 Top-Performern des S&P 500.<br />
1,7 Millionen Dollar täglich investiert<br />
das Unternehmen allein in Forschung<br />
und Entwicklung.<br />
35 Prozent der<br />
Deere-<strong>Mitarbeiter</strong> in<br />
Amerika und über<br />
36 Prozent in Europa<br />
sind älter als 50.<br />
»Die Employability<br />
Älterer beginnt<br />
bereits in der Jugend<br />
und setzt eine<br />
lebenslange Lernbereitschaft<br />
voraus.«<br />
INGOLF PRUEFER, DIRECTOR HR (EUROPA,<br />
AFRIKA, SÜDAMERIKA) DEERE & COMPANY<br />
DEERE-AKTIEN STEIGEN<br />
Kursentwicklung seit 2003<br />
75<br />
70<br />
65<br />
60<br />
55<br />
50<br />
45<br />
40<br />
35<br />
J O 04 A J O 05 A J O 06 A<br />
Quelle: Onvista<br />
eine Tätigkeit zu verrichten, die wirklich etwas<br />
bedeutet“, erläutert Sandra Timmerman, Direktorin<br />
des MetLife Mature Market Institute. Folglich reicht<br />
es oft nicht, bestehende Tätigkeiten einfach zu verlängern.<br />
„Wer ältere <strong>Mitarbeiter</strong> rekrutieren und halten<br />
will, muss sich Gedanken über das Jobdesign<br />
und das Arbeitsumfeld machen – und neue, herausfordernde<br />
Gelegenheiten für sie schaffen.“<br />
Neben dem Job muss auch das Arbeitszeitmodell<br />
auf die älteren <strong>Mitarbeiter</strong> zugeschnitten sein.<br />
Hier ist wiederum Deere kreativ. Das Unternehmen<br />
setzt auf flexible Arbeitszeitmodelle und das Wechseln<br />
von der Mehr- in die Einschichtarbeit, Änderungen<br />
der Arbeitsgestaltung und des Arbeitseinsatzes<br />
sowie Gesundheitsförderung und Weiterbildung.<br />
Einer weiterer Baustein ist die Arbeit in altersgemischten<br />
Teams, in denen sich die Dynamik und<br />
das moderne Wissen der Jüngeren mit der Umsicht,<br />
Erfahrung und fachlichen Tiefe der Älteren verbinden.<br />
Die soziale Kompetenz hierfür wird in Konfliktlösungstrainings<br />
geschult und durch regelmäßige<br />
Gruppengespräche gefördert.<br />
All dies setzt jedoch eine hohe Flexibilität und<br />
Lernbereitschaft auch bei den älteren <strong>Mitarbeiter</strong>n<br />
voraus. Diese Grundlagen aber variieren – nicht nur<br />
individuell, sondern auch von Land zu Land. „Vor<br />
allem in Spanien, Italien und Frankreich lässt die<br />
Weiterbildungsmentalität Älterer teilweise zu wünschen<br />
übrig“, klagt Pruefer und fordert ein lernfreundliches<br />
gesellschaftliches Umfeld. Dazu gehöre<br />
auch ein Umdenken der Hochschulen. Durch<br />
auf über 50-Jährige zugeschnittene Weiterbildungsprogramme<br />
könnten diese sich einen riesigen<br />
Markt erschließen.<br />
Eine weitere Möglichkeit, die Fähigkeit und<br />
Bereitschaft zu lebenslangem Lernen zu fördern,<br />
besteht im Rotationsprinzip, wie es etwa IBM praktiziert:<br />
Alle zwei bis fünf Jahre wechseln die <strong>Mitarbeiter</strong><br />
ihre Arbeitsstelle und erweitern dadurch nicht<br />
nur ihr Wissen, sondern auch ihre Sicht- und Denkweisen.<br />
Durch die so erworbene Vielseitigkeit werden<br />
ältere <strong>Mitarbeiter</strong> zu wertvollen Mitgliedern<br />
altersheterogener Teams, die nicht nur besonders<br />
leistungsfähig sind, sondern auch, wie es im Diversity-Strategiepapier<br />
von IBM heißt, „bei den Kunden<br />
großen Anklang finden“: Während die Älteren<br />
„Sicherheit verkörpern“, symbolisieren die Jüngeren<br />
„frischen Ideenreichtum“. Das IBM-Beispiel zeigt:<br />
Alternde Märkte und alternde <strong>Mitarbeiter</strong> müssen<br />
zusammen betrachtet werden. Wer die Stärken der<br />
reiferen <strong>Mitarbeiter</strong> im Unternehmen hält und diese<br />
in Marketing- und Verkaufsprozessen aktiv nutzt,<br />
bringt sich in eine bessere Position im Wettbewerb<br />
um die ebenfalls alternde Kundschaft.<br />
Um ältere Kunden zielgerichtet anzusprechen,<br />
stellen Handelsunternehmen wie Ikea, The Home<br />
Depot oder die deutsche Metro Group verstärkt ältere<br />
<strong>Mitarbeiter</strong> ein. Jürgen Pfister, Bereichsleiter Personal<br />
und Soziales der Metro: „Gerade für Handel und<br />
Dienstleistungen ist es wichtig, dass sich die Altersvielfalt<br />
der Kundenstrukturen in den <strong>Mitarbeiter</strong>strukturen<br />
angemessen widerspiegelt.“ Die britische<br />
Kaufhauskette Asda besetzte wegen des hohen<br />
Alters der Kundschaft die Hälfte der Stellen in einem<br />
Kaufhaus in der Grafschaft Kent mit über 50-Jährigen<br />
– mit überraschendem Erfolg: Die Fehlzeiten<br />
sind auffällig niedrig, die Produktivität ist überdurchschnittlich<br />
hoch. Dies liegt auch an den außerordentlich<br />
flexiblen Arbeitszeiten: Ältere <strong>Mitarbeiter</strong><br />
können längere unbezahlte Großelternferien nehmen<br />
oder ihre Arbeitszeit auf die zehn Kerngeschäftswochen<br />
um Weihnachten, Ostern und in den<br />
Sommerferien konzentrieren.<br />
Der australische Finanzdienstleister Westpac wirbt<br />
gezielt ältere Fachkräfte an, weil ältere Kunden junge<br />
Anlageberater als zu unerfahren empfinden. Und<br />
Procter & Gamble hat gemeinsam mit dem Pharmakonzern<br />
Eli Lilly die Personalvermittlungsagentur für<br />
hoch qualifizierte Pensionisten gegründet. „YourEncore“<br />
sucht ehemalige Wissenschaftler, Ingenieure,<br />
Forscher und Produktentwickler, die projektbezogen<br />
für eines der Mitgliedsunternehmen arbeiten möchten.<br />
„Auf diese Weise erschließen wir uns den<br />
Zugang zu einem der wichtigsten und am schnellsten<br />
wachsenden Fachkräftemärkte – den Ruheständlern“,<br />
erläutert Mitgründer Alpheus Bingham.<br />
Das Engagement ist als Auftakt einer umfassenden<br />
Initiative zur längeren Beschäftigung älterer<br />
<strong>Mitarbeiter</strong> zu sehen, erläutert Sidney Taurel,<br />
Chairman und CEO von Eli Lilly. Mit Blick auf die 76<br />
Millionen Babyboomer, die allein in den USA in<br />
den nächsten Jahren in den Ruhestand treten, meint
der Konzernchef: „Wenn wir nicht auf einen absolut<br />
entscheidenden Faktor für wirtschaftliches<br />
Wachstum – eine wachsende Belegschaft – verzichten<br />
wollen, müssen wir verstärkt auf die große Zahl<br />
unserer fähigen, außerordentlich erfahrenen älteren<br />
<strong>Mitarbeiter</strong> zurückgreifen, die dank ihres guten<br />
Gesundheitszustandes sehr viel länger arbeiten<br />
BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG<br />
500<br />
450<br />
400<br />
350<br />
300<br />
250<br />
200<br />
150<br />
100<br />
50<br />
0<br />
VIELE SCHWEDISCHE UND<br />
US-SENIOREN ARBEITEN<br />
Die USA und Schweden machen<br />
es vor. In Schweden gehen noch<br />
13 Prozent der 65- bis 70-Jährigen<br />
einer Beschäftigung nach, in den<br />
USA sogar noch 26 Prozent, während<br />
in Deutschland nur gut fünf<br />
Prozent zwischen 65 und 70 Jahren<br />
zumindest noch geringfügig<br />
beschäftigt sind. Hier schlummert<br />
ein beträchtliches Potenzial für<br />
Unternehmen.<br />
Quelle: OECD<br />
Japan<br />
EU 25<br />
Deutschland<br />
Nordamerika<br />
1950 2005<br />
Bevölkerung (Mio.)<br />
2050<br />
0,9<br />
0,8<br />
0,7 0,7<br />
0,6<br />
0,5<br />
0,4<br />
0,3<br />
0,2<br />
0,1<br />
0<br />
Schwedische Senioren arbeiten häufiger als deutsche DOSSIER #06<br />
könnten als derzeit üblich.“ Dazu seien neben materiellen<br />
auch psychologische Anreize erforderlich –<br />
und ein flexiblerer Übergang vom Erwerbsleben in<br />
den Ruhestand mit einer schrittweisen Reduktion<br />
der Arbeitszeit. Womöglich müssten Arbeitgeber „das<br />
gesamte Paradigma eines Karriereverlaufs überdenken“<br />
und völlig neue Arbeitsmodelle entwickeln.<br />
NUR US-BEVÖLKERUNG WÄCHST – FIRMEN KÖNNEN DENNOCH PROFITIEREN<br />
Unter den führenden Industrieregionen weist einzig Nordamerika auf Grund<br />
von höheren Geburtenraten und Zuwanderung auch zukünftig ein positives<br />
Bevölkerungswachstum auf. Alle anderen werden bis zum Jahr 2050 einen<br />
Rückgang verzeichnen. Und die Menschen in diesen Staaten werden nicht nur<br />
weniger, sondern auch älter.<br />
Alterung und Rückgang der Bevölkerung wirken sich negativ auf den langfristigen<br />
Wachstumspfad aus. So geht man in Deutschland im Zuge der demografischen<br />
Entwicklung von einem Rückgang des Potenzialwachstums von<br />
1,3 Prozent auf nur noch 0,3 Prozent aus. Doch Unternehmen können die<br />
wachstumshemmenden Effekte der demografischen Entwicklung durch entschlossenes<br />
Handeln abfedern. Alterung und Rückgang der Bevölkerung können<br />
und müssen als Chancen gesehen werden. Zum einen entstehen im<br />
In- und Ausland bisher noch kaum erschlossene Wachstumsmärkte, denn die<br />
Generation 60+ ist bis ins hohe Alter äußerst konsumfreudig und verfügt über<br />
eine erhebliche Kaufkraft. Zum anderen können Unternehmen wegen der<br />
erheblich längeren Fitness der <strong>Mitarbeiter</strong> auf erfahrene Arbeitskräfte und<br />
wichtige Kulturträger zurückgreifen.<br />
BESCHÄFTIGUNGSQUOTEN NACH ALTER IN DEUTSCHLAND/SCHWEDEN/USA<br />
USA Deutschland<br />
Schweden<br />
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100<br />
19
DOSSIER #06 Demografischer Wandel als Chance<br />
Born to remain wild<br />
ÄLTERE KONSUMENTENGRUPPEN KÖNNEN ZUM WACHSTUMS- UND INNOVATIONSMOTOR GANZER WIRTSCHAFTSZWEIGE WERDEN. UM DIE CHANCEN<br />
DER DEMOGRAFIE ZU NUTZEN, MUSS DIE WIRTSCHAFT ALLERDINGS LERNEN: ALTER IST KEIN MAKEL, UND DEN TYPISCHEN ÄLTEREN KONSUMENTEN<br />
GIBT ES NICHT. DER SENIOR ALS ZIELKUNDE HAT VIELE GESICHTER. EIN ESSAY VON ROLAND-BERGER-PARTNER STEFAN SCHAIBLE.<br />
s<br />
DIE FAKTEN SIND KLAR: Die Gesellschaften<br />
der führenden Industrienationen altern im Eiltempo.<br />
Mit Ausnahme der USA werden diese Länder<br />
bis 2050 im Zuge der demografischen Entwicklung<br />
auch unter den optimistischen Annahmen<br />
der UNO einen Rückgang der Bevölkerung<br />
verzeichnen. Wir werden jedoch nicht nur weniger,<br />
sondern auch älter. Sinkende Geburtenraten<br />
und längere Lebenserwartungen verschieben die<br />
Altersstruktur. Das durchschnittliche Alter wird<br />
2050 mit 47,4 in Deutschland zwölf Jahre höher<br />
sein als 2005, in Japan und Italien wird es sogar<br />
bei über 52 Jahren liegen. Bereits 2050 wird laut<br />
Statistischem Bundesamt jeder dritte Deutsche<br />
über 60 Jahre sein.<br />
Allerdings wird der veränderte Altersaufbau<br />
in der Diskussion als Deformation und als Bedrohung<br />
(„demografische Zeitbombe“) empfunden.<br />
Richtig ist: Die Alterung und der Rückgang der<br />
Bevölkerung wirken sich – bei Fortschreibung der<br />
heutigen Rahmenbedingungen – negativ auf den<br />
Wachstumspfad aus. Die OECD schätzt, dass bis<br />
2025 das Schrumpfen der Bevölkerung den<br />
Zuwachs des Bruttosozialprodukts jährlich um<br />
0,7 Prozentpunkte in Japan und um 0,4 Prozentpunkte<br />
in den jetzigen Mitgliedsstaaten der EU<br />
sinken lassen wird.<br />
DIESER TREND HÄNGT mit dem rückläufigen<br />
Arbeitskräftepotenzial zusammen. Jedoch spielt<br />
auch der Konsum eine wesentliche Rolle. In allen<br />
EU-Ländern erreichen die mittleren Jahrgänge<br />
den Spitzenwert bei den Konsumausgaben. Bei<br />
den über 60-Jährigen gehen die Ausgaben hingegen<br />
im Schnitt um über 20 Prozent zurück.<br />
Wird diese Struktur bei einer immer älter werdenden<br />
Gesellschaft nicht verändert, ist mit<br />
20<br />
einer Stagnation oder sogar einem Rückgang des<br />
Konsums zu rechnen.<br />
Dabei sind die Potenziale eigentlich groß.<br />
Schon heute haben die über 50-Jährigen über die<br />
Hälfte der Nachfragemacht auf Güter- und Dienstleistungsmärkten.<br />
Noch ist nicht abzusehen, in<br />
welchem Ausmaß der Rückgang staatlicher Fürsorge<br />
– insbesondere in Europa – für Einkommenseinbußen<br />
bei den älteren Bevölkerungsschichten<br />
sorgen wird, beziehungsweise wie<br />
erfolgreich es gelingen wird, diesen mit den Renditen<br />
privater Vorsorge auszugleichen. Doch die<br />
Finanzvermögen der Älteren sind bislang nicht<br />
wirklich angetastet. Das heutige System ist<br />
immer noch geprägt von beträchtlichen Sparquoten<br />
bis ins hohe Alter – erst ab einem<br />
Lebensalter von über 80 Jahren geht zum Beispiel<br />
bei den Deutschen das Vermögen allmählich<br />
zurück. Noch liegt bei vermögenden Senioren<br />
also das Geld auf der hohen Kante.<br />
DESHALB STELLT SICH die drängende Frage:<br />
Mit welchen Strategien kann die Wirtschaft in den<br />
Industrieländern dieser Entwicklung beim Konsum<br />
entgegenwirken? Wie können die Chancen<br />
und großen Wachstumspotenziale der demografischen<br />
Veränderung gerade über eine Ansprache<br />
der Vermögen der Älteren genutzt werden?<br />
Das Grundproblem ist: In den westlichen<br />
Industriegesellschaften werden alte Menschen<br />
immer noch als defizitär, als homogene Masse<br />
und nur als wachsende Last für jüngere Beitragszahler<br />
angesehen. Unsere Kultur stigmatisiert<br />
das Alter als menschlichen Makel. Dies ist<br />
nicht nur angesichts der Tatsache absurd, dass<br />
die über 55-Jährigen bereits in wenigen Jahrzehnten<br />
die Mehrheit der Gesellschaft stellen<br />
werden. Mehr noch: Diese Sichtweise ignoriert<br />
auch, dass das längere Leben zu den größten<br />
Errungenschaften der Moderne gehört. Das Renteneintrittsalter<br />
unter Bismarck lag bei 70 Jahren.<br />
Seither hat die durchschnittliche Lebenserwartung<br />
um 30 Jahre zugenommen. Heute liegt das<br />
durchschnittliche Renteneintrittsalter bei 60 Jahren.<br />
Das bedeutet: Wir haben vier Jahrzehnte frei<br />
gestaltbare Lebenszeit gewonnen! James Vaupel,<br />
Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische<br />
Forschung in Rostock, glaubt, dass wir noch<br />
lange nicht an den Grenzen der Lebenserwartung<br />
angekommen sind. Es gebe keinen Grund, warum<br />
sich die Lebenserwartung nicht – wie schon in<br />
den letzten 160 Jahren – auch in Zukunft um 2,5<br />
Jahre pro Dekade erhöhen sollte.<br />
Diametral entgegengesetzt dazu verhalten<br />
sich die Eckpunkte unserer Arbeits- und Konsumkultur:<br />
Das faktische Renteneintrittsalter<br />
liegt bei 60, ab 45 etwa beginnt in Deutschland<br />
die altersbedingte Schwervermittelbarkeit bei der<br />
Bundesagentur für Arbeit. Mit 49 Jahren fällt man<br />
aus den Zielgruppen der Werbeindustrie. Die Wirtschaft<br />
nutzt damit das große Reservoir von 30<br />
Millionen aktiven Konsumenten und potenziellen<br />
Produzenten zu wenig.<br />
DOCH DIE ERSTEN TRENDS in Richtung mehr<br />
Konsumfreude zeichnen sich ab. Die DB Research<br />
kommt zu dem Schluss: „Die Alterung der Industriegesellschaften<br />
wird die aggregierte Kaufkraft<br />
des oberen Alterssegments beträchtlich vergrößern.<br />
Diese quantitativen Veränderungen werden<br />
zudem durch qualitative ergänzt, die das<br />
Konsumverhalten der Älteren nachhaltig beeinflussen.“<br />
Das Klischee vom sparsamen,<br />
anspruchslosen, markentreuen Alten kommt ins
Wanken. Die Vererbungsmentalität der Nachkriegszeit<br />
weicht zunehmend dem Wunsch,<br />
zumindest einen Teil der Ersparnisse selbst zu<br />
genießen. Viele ältere Konsumenten sind bereit,<br />
ihre Konsumzurückhaltung aufzugeben – Freizeitforscher<br />
sprechen inzwischen sogar von einer<br />
„hedonistischen Wende“. Dieser dramatische<br />
Wertewandel versteckt sich hinter nüchternen<br />
Zahlen: Eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung<br />
ergab, dass heute doppelt so viele<br />
Senioren wie vor einem Jahrzehnt bereit sind, ihr<br />
Geld auch auszugeben. Doch hier fängt das Problem<br />
an: für was eigentlich? Noch stehen Senioren<br />
viel zu selten im Fokus der Konsumgüter- und<br />
Dienstleistungsindustrie. Noch fehlen die passenden<br />
Angebote, um dieser potenziellen Nachfrage<br />
gerecht zu werden.<br />
DABEI SIND DIE ÄLTEREN Konsumenten<br />
keine homogene Masse, sondern differenzieren<br />
sich sehr stark nach ihren jeweiligen Alterskohorten.<br />
Niemand ändert seine Gewohnheiten und<br />
Einstellungen mit dem Eintritt in eine bestimmte<br />
Altersstufe plötzlich von Grund auf. Im Gegenteil:<br />
Wie das Institut für Arbeit und Technik herausgefunden<br />
hat, sind Konsumenten, die sich im Laufe<br />
ihres Lebens an eine große Angebotsvielfalt,<br />
kurze Produktzyklen, regelmäßige Reisen und<br />
intensive Werbung gewöhnt haben, auch im Alter<br />
neuen Produkten und Techniken gegenüber aufgeschlossen,<br />
sie können damit umgehen und<br />
haben zudem die Zeit, sich eingehend auf Kaufentscheidungen<br />
vorzubereiten.<br />
Es rücken künftig immer mehr Alterskohorten<br />
nach, die nicht mehr im klassischen Sinn<br />
unterhalten und betreut werden wollen, sondern<br />
die großen Wert auf Selbstbestimmung und<br />
Selbstorganisation legen. Eine große Bedeutung<br />
spielen dabei die jeweiligen Lebensumstände.<br />
Auch bei älteren Menschen haben sich Lebensstile<br />
und Formen des Zusammenlebens herausgebildet,<br />
deren Vielfalt mit dem Patchwork-Leben<br />
der jüngeren Generationen vergleichbar ist. Das<br />
Phänomen der späten Väter und Mütter, der<br />
Alten-WGs und des intergenerationalen Zusammenlebens<br />
stehen für ein Aufbrechen traditioneller<br />
Lebensweisen im Alter.<br />
DIE HETEROGENITÄT der älteren Zielgruppen<br />
nimmt also zu. Viele Ältere erleben das eigene<br />
Altern positiv. Gewachsene Mobilität, finanzielle<br />
Unabhängigkeit und medizinische Unterstützung<br />
erweitern den Freiraum für individuelle Lebensgestaltung.<br />
Die DB Research zieht den Vergleich:<br />
„Ähnlich wie junge Menschen nach ihren jeweiligen<br />
Möglichkeiten und Interessen ein breites<br />
Spektrum unterschiedlicher Jugendkulturen<br />
leben, so hat auch das Alter eine Vielzahl von<br />
Gesichtern.“<br />
Hier schließt sich ein intergenerationaler<br />
Kreis: Das Phänomen der Individualisierung, das<br />
der Wirtschaft in den Industrie- und Schwellenländern<br />
in den 80er und 90er Jahren außerordentliche<br />
Wachstumsraten und neue Märkte<br />
beschert hat, ist jetzt auch der Schlüssel zu den<br />
künftigen Wachstumsmärkten der Grey Economy.<br />
In den modernen Gesellschaften ist also die Individualisierung<br />
mit einhergehenden sinkenden<br />
Geburtenraten nicht nur die Ursache, sondern<br />
zugleich die Lösung des Problems.<br />
In den letzten Jahrzehnten entstanden für<br />
junge und jüngere Alterskohorten, die ihre<br />
Jugendphase immer weiter verlängerten, ausdifferenzierte<br />
Lebenswelten. Die daraus hervorge-<br />
Ältere Konsumenten machen Harley-Davidson zu Kult DOSSIER #06<br />
VERMÖGEND UND KONSUMFREUDIG:<br />
Heute sind zweimal so viele Senioren wie vor einem<br />
Jahrzehnt bereit, ihr Geld auszugeben, anstatt<br />
zu sparen. Ein Grund für Unternehmen, ihnen mehr<br />
Aufmerksamkeit zu schenken.<br />
gangenen Abgrenzungs- und Identitätsbedürfnisse<br />
werden vorwiegend mit Produkten und Marken<br />
befriedigt. Der Wunsch nach individueller<br />
Lebensgestaltung und Identitätsgewinnung<br />
machte Konsum zum sozialen Handeln. Der souveräne<br />
Umgang mit Mode, Marken und Produkten<br />
belegt, dass es den Menschen von heute um kalkulierte<br />
Eingriffe in ihre eigene Persönlichkeit<br />
geht, die zunehmend als eine aktiv zu gestaltende<br />
Identität verstanden wird.<br />
Warum soll dieses Instrumentarium der<br />
Warenwelt und Dienstleistungen nicht auch auf<br />
die Alterskohorten der über 50-Jährigen übertragen<br />
werden können? Liegt es daran, dass in den<br />
Forschungs- und Entwicklungslaboratorien, Marketingabteilungen<br />
und Werbeagenturen nur Menschen<br />
arbeiten, die keinen Bezug zur Lebenswelt<br />
von über 50-Jährigen haben?<br />
DIE BEDÜRFNISSE, Vorlieben und Konsumwünsche<br />
von älteren Menschen gestalten sich<br />
genauso differenziert wie die der jungen Konsumenten.<br />
Unternehmen, die von der Demografie<br />
profitieren wollen, müssen zunächst diese älteren<br />
Lebenswelten erforschen und für sie Produkte<br />
entwickeln. Dabei gilt es, den Kardinalfehler der<br />
Stigmatisierung zu vermeiden. Noch immer<br />
herrscht das Bild vom Alter als Allegorie der Defizite<br />
vor: gebrechliche, hilfsbedürftige und einsame<br />
Menschen mit schlechter Gesundheit und fehlender<br />
körperlicher und geistiger Beweglichkeit.<br />
21
DOSSIER #06 Demografischer Wandel als Chance<br />
22<br />
INVESTMENTS IN DAS SELBST: Ältere<br />
Menschen stecken immer mehr Geld in ihr eigenes<br />
Wohlbefinden. Um bis zu 30 Prozent sollen Antifaltenmittel,<br />
Fettreduzierer und Potenzförderer bis<br />
zum Jahr 2010 wachsen.<br />
Demzufolge gehört die Zukunft der Grey<br />
Economy den Produkten, die Bedürfnisse und<br />
Ansprüche der älteren Altersgruppen adressieren,<br />
ohne der Stigmatisierungstendenz zu verfallen.<br />
Wer sich mit den ergonomischen und altersspezifischen<br />
Bedürfnissen der über 50-Jährigen auseinander<br />
setzt, kann auch das Leben jüngerer<br />
Konsumenten erleichtern. Der Hirnforscher Ernst<br />
Pöppel (siehe Kasten auf Seite 17) sagte kürzlich<br />
dem Wirtschaftsmagazin „Wirtschaftswoche“:<br />
„Sich um diese Altersgruppe systematisch zu<br />
kümmern, kann zum Innovationsmotor für nahezu<br />
jeden Wirtschaftszweig werden. Ich bin überzeugt<br />
davon, dass Produkte, die für jung gebliebene<br />
Alte und deren Bedürfnisse konzipiert werden,<br />
für alle Menschen hilfreich sind. Und ich<br />
glaube, dass Produkte, die junge und alte Konsumenten<br />
ohne Anstrengung nutzen können, eine<br />
große Zukunft haben.“<br />
In der Realität sind ältere Konsumenten<br />
längst zu Treibern der großen Trends Wellness,<br />
Gesundheit und Convenience geworden. Ihre<br />
Kaufkraft hat einen Markt mitgeprägt, von dem<br />
auch die jungen Kundengruppen profitieren. Hier<br />
schließt sich der Kreis zwischen Jung und Alt:<br />
Self-Design richtet sich darauf, die Fähigkeit des<br />
Körpers zu erhalten oder zu verbessern. Darin<br />
liegt das Geheimnis des generationenübergreifenden<br />
(ageless) Geschäftserfolgs von Wellnessund<br />
Fitnessangeboten. Alle Menschen streben<br />
unabhängig von ihrem Alter nach Glück. Dafür<br />
suchen sie alle möglichen erfreulichen sinnlichen,<br />
emotionalen und intellektuellen Erfahrungen.<br />
Zu den angenehmsten aller Freuden zählt<br />
der Genuss der eigenen körperlichen und geistigen<br />
Leistung. Große Wachstumspotenziale liegen<br />
somit in Bereichen, wo es nicht um Reparatur,<br />
sondern um Lebensqualität, Wohlbefinden und<br />
schöneres Aussehen geht. Schönheitschirurgie<br />
und Lifestyle-Drugs sind mittlerweile selbst ein<br />
Milliardengeschäft. Bis 2010 werden Antifaltenmitteln,<br />
Fettreduzierern und Potenzmitteln<br />
Wachstumsraten bis zu 30 Prozent vorhergesagt.<br />
Die Älteren sind hier nicht ganz unbeteiligt.<br />
EIN WEITERES GUTES BEISPIEL für die These<br />
von Seniorenforscher Pöppel ist die A-Klasse von<br />
Mercedes: Sie wird nicht explizit für Ältere beworben,<br />
doch sind die höhere Ladekante der Heckklappe<br />
und komfortablere Einstiegshöhe nicht<br />
nur bei jungen Familien beliebt. Das Ergebnis ist:<br />
Über die Hälfte der Käufer sind älter als 50 Jahre.<br />
In diesem Alter setzt oft die hedonistische<br />
Wende ein. Sobald die Kinder aus dem Haus sind,<br />
ändert sich für die „empty nesters“ die eigene<br />
Bedürfnisstruktur fundamental: Bisher war das<br />
Konsumverhalten jahrzehntelang den Kindern<br />
untergeordnet und auf deren Wünsche, Markenpräferenzen<br />
und Lebensweisen ausgerichtet.<br />
Sind die Kinder aus dem Haus, wächst die Lust<br />
auf nachzuholenden Konsum und vor allem auf<br />
Zeit, sich selbst zu entdecken und lang aufgeschobene<br />
Träume zu verwirklichen. Neben Reisen<br />
und Kultur steht vor allem der Ausbau des oft vernachlässigten<br />
Freundeskreises und sozialen Kontaktnetzes<br />
auf der Agenda. Dieser erhöhte Bedarf<br />
an sozialer und räumlicher Mobilität kollidiert<br />
allerdings mit der bisherigen Lebensweise: Da<br />
gerät so manches Eigenheim im Grünen zur biografischen<br />
Falle mit Zinsfuß. Wenn die Eltern die<br />
„empty nests“ verlassen und in die belebten<br />
Innenstädte ziehen wollen, um ihre neu erwachten<br />
sozialen und kulturellen Bedürfnisse auszuleben,<br />
finden sie in den Metropolen einen Immobilienmarkt<br />
vor, der auf diesen neuen Bedarf<br />
zunächst einmal nicht vorbereitet ist.<br />
OFT DECKEN SICH allerdings die Bedürfnisse<br />
der älteren mit jenen der jüngeren Konsumenten.<br />
Das zeigt das Beispiel des Küchenherstellers Bulthaup.<br />
Das über Jahrzehnte erfolgreiche Küchendesign<br />
spricht alle Generationen an, aber unter<br />
Berücksichtigung der Interessen der Älteren. Auch<br />
jüngere Menschen finden es angenehm, den Herd<br />
in der Designküche auf bedienungsfreundlicher<br />
Höhe zu haben, für Ältere wird es teilweise zur
Nutzungsvoraussetzung. In ganz ähnlicher Weise<br />
kam auch das einfach zu bedienende PiPitPhone<br />
von Toyota und Kyocera nicht nur bei älteren Menschern<br />
an. Auch Geschäftsleute, Kinder und<br />
Jugendliche sprangen auf das Produkt mit seinen<br />
großen Schriftzeichen und den nur fünf Tasten an.<br />
DER KUNSTGRIFF BESTEHT also darin, bereits<br />
bei der Produktentwicklung die Bedürfnisse, welche<br />
sich aus dem Älterwerden ergeben, mitzudenken<br />
und sie als selbstverständlich zu befriedigen.<br />
In vielen Produktbereichen wird dies dazu<br />
führen, dass derart gestaltete Produkte für viele<br />
Altersgruppen attraktiv sein können – und zwar<br />
auch solche, die man bisher vor allem in den Händen<br />
Jugendlicher wähnte. Der Spielgerätehersteller<br />
Nintendo beispielsweise hat mit der Konsole<br />
Nintendo DS ein Produkt entwickelt, das auch<br />
ältere Menschen nutzen können. Das Gerät ist<br />
einfach zu bedienen, und parallel bietet Nintendo<br />
Anwendungen für ältere Kunden, etwa einen<br />
Gedächtnistrainer, den das Unternehmen zusammen<br />
mit dem japanischen Neurologen Ryuta<br />
Kawashima entwickelte. In Japan verkaufte sich<br />
das Produkt über 1,4 Millionen Mal; jetzt launcht<br />
Nintendo den Gehirnjogger auch in Europa und<br />
den Vereinigten Staaten.<br />
Mit Produkten, die die gesamte demografische<br />
Spannbreite abdecken, entgeht man auch<br />
betriebswirtschaftlich dem Dilemma, dass hochgradig<br />
spezialisierte Erzeugnisse auf die Kostenvorteile<br />
der Massenfertigung verzichten müssen.<br />
Wer hingegen Produkte oder Dienstleistungen<br />
entwickelt, die in ihrer Produktsprache ältere<br />
Menschen explizit als defizitär ansprechen, wird<br />
keinen nachhaltigen Erfolg haben. Dem Produktdesign<br />
kommt beim Aufbau einer Markenpersönlichkeit,<br />
die auch ältere Menschen anspricht, eine<br />
entscheidende Rolle zu. Das Design transportiert<br />
nicht nur Botschaften zum Benutzer, sondern<br />
macht diese auch physisch erfahrbar. In der<br />
Gestaltung wird eine Marke begreifbar. Design<br />
kann, wenn es richtig eingesetzt wird, zum kaufentscheidenden<br />
Faktor werden. Bei einem gut<br />
gestalteten Produkt weiß der Verwender instinktiv,<br />
wie er es handhaben muss, ohne vorher die<br />
Bedienungsanleitung gelesen zu haben. Durch<br />
eine schlüssige Produktsprache können sich<br />
Produkte und ihre Funktionen aus sich selbst<br />
heraus erklären. Die Botschaft „Dies ist ein auch<br />
für ältere Menschen besonders geeignetes Produkt“<br />
wird implizit mit positiver Konnotation<br />
transportiert.<br />
AUCH FÜR DIE KONSUMENTENANSPRACHE und<br />
die Werbung gilt: Zwar wollen ältere Konsumenten<br />
nicht direkt auf ihr Alter angesprochen werden,<br />
aber ihre Bedürfnisse und Lebenswelten<br />
sollten schon berücksichtigt werden. Doch fühlen<br />
sich ältere Konsumenten nach einer Untersuchung<br />
von <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> Strategy Consultants<br />
nur von sieben Prozent aller Marken überhaupt in<br />
ihrem Wertekanon ernst genommen. Das bedeutet:<br />
Die Zeit des „One size fits it all“ ist auch hier<br />
vorbei. Die großen Mediabudgets richten sich<br />
allerdings zu einem überwältigenden <strong>Anteil</strong><br />
immer noch nur an die Kernzielgruppe der 14- bis<br />
49-Jährigen. Einfach nur die Altersspanne nach<br />
oben zu erweitern, wird den älteren Konsumentengruppen<br />
sicher auch nicht gerecht – sie bilden<br />
genauso wenig homogene Altersblöcke wie<br />
die jüngeren Gruppen. Auch die Modelle der<br />
Sinus-Milieus und der zahlreichen weiteren differenzierenden<br />
Typologien werden auf der Jagd<br />
nach dem immer souveräner agierenden Kunden<br />
deutlich stumpfer. Konsumenten jeglichen Alters<br />
versammeln sich heutzutage lieber in inhaltlich<br />
strukturierten Communities, die ihren Präferenzprofilen<br />
entsprechen. Gleichzeitig wächst<br />
der <strong>Anteil</strong> der älteren Menschen, die bereits vernetzt<br />
und digital leben, unaufhaltsam.<br />
ANGESICHTS DER GROSSEN Marktpotenziale<br />
der demografischen Entwicklung und der zahlreichen<br />
möglichen Fehlerquellen im sensiblen<br />
Seniorenmarkt sollte jedes Unternehmen seine<br />
Entwicklungsmethoden, Produktangebote und<br />
Kundenkommunikation optimieren. Je früher die<br />
Bedürfnisse und Ansprüche älterer Konsumenten<br />
im Wertschöpfungsprozess eines Unternehmens<br />
involviert werden, desto mehr Erfolg wird<br />
man im Markt erzielen. Die älteren Konsumenten<br />
Unternehmen müssen alterslose Marken aufbauen DOSSIER #06<br />
müssen zum Prosumenten gemacht werden; die<br />
Instrumente wie Fokusgruppen und tiefenpsychologische<br />
Interviews stehen dazu bereit.<br />
Auch die in den letzten Jahren sehr verfeinerten<br />
Methoden der Kundenbindung müssen<br />
nur gleichberechtigt auf die älteren Kundengruppen<br />
angewandt werden. Die Instrumente des<br />
Customer Relationship Management, vom Dialogmarketing<br />
bis zum Datenbankmanagement, stehen<br />
allen Unternehmen zur Verfügung, um mehr<br />
über diese bislang relativ unbekannten Kunden<br />
zu erfahren. Das Alter hat viele Gesichter – lernen<br />
wir sie besser kennen!<br />
PRODUKTE UND MARKEN FÜR<br />
ÄLTERE ZIELGRUPPEN<br />
�„Raku-Raku“ ist japanisch und heißt „Einfach-<br />
Einfach“. Genau durch diese Einfachheit<br />
zeichnet sich das gleichnamige Mobiltelefon<br />
der japanischen Firma NTT DoCoMo aus,<br />
ebenso wie das PiPitPhone von Toyota und<br />
Kyocera. Die Handys haben große Schriftzeichen,<br />
wenige Tasten und oft Funktionen, die<br />
auf Knopfdruck Hilfe herbeiholen.<br />
�Mit seinem Gedächtnistrainer Brain Age will<br />
Nintendo nun westliche Märkte erobern. In<br />
Japan landeten die Spieleentwickler mit<br />
ihrem Gehirnjogger bereits einen Volltreffer.<br />
�Anfang der neunziger Jahre brachte Beiersdorf<br />
unter der Marke Nivea mit der „Vital“-<br />
Linie die erste Kosmetikserie für die „reife<br />
Haut“ auf den Markt. In der Werbung wurde<br />
reife Haut nicht als Makel, sondern als<br />
anspruchsvoll charakterisiert.<br />
�Nicht zuletzt über 50-Jährige haben die Marke<br />
Harley-Davidson zum Kult gemacht. Sie kaufen<br />
die teuren Motorräder, gründen Fanclubs<br />
und füllen so die Marke mit Leben. Das zeigt:<br />
Auch Ältere können Trendmarken generieren.<br />
�Die Zigarettenmarke Davidoff begann 2001<br />
mit dem Slogan „The more you know“ und mit<br />
Gesichtern reiferer Testimonials zu werben.<br />
Die Lebenserfahrung höheren Alters wurde so<br />
zu etwas Begehrenswertem.<br />
23
DOSSIER #06 Demografischer Wandel als Chance<br />
24<br />
Die Veränderung gestalten –<br />
EINE WOHNGEMEINSCHAFT AUS SENIOREN UND KINDERN, EINE UNIVERSITÄT FÜR BETAGTE STUDENTEN, EIN REGIERUNGSMANN FÜR KOMMENDE<br />
GENERATIONEN – IN VIELEN LÄNDERN GIBT ES INITIATIVEN, DIE DEMOGRAFISCHE VERÄNDERUNGEN ALS CHANCE BETRACHTEN. WIR STELLEN INNO-<br />
VATIVE ANSÄTZE VOR – UND LASSEN DIESE VOM EXPERTEN THOMAS LINDH BEURTEILEN.<br />
NIEDERLANDE: Stadtführer und Business-Angels<br />
Besucher des niederländischen Amsterdam können sich die Grachtenstadt von<br />
besonderen Stadtführern zeigen lassen: Der Verein Gilde Amsterdam vermittelt<br />
ältere Menschen, die Touristen zu ihren persönlichen Lieblingsplätzen oder an<br />
Orte aus dem Leben Rembrandts führen. Insgesamt mehr als 1000 Freiwillige,<br />
alle 50 oder mehr Jahre alt, arbeiten bei Gilde Amsterdam. Die Stadtführungen<br />
sind nur ein Bereich des Engagements. Daneben setzen sich etwa ehemalige<br />
Manager als Berater für junge Firmengründer ein.<br />
Inzwischen gibt es Gilden in allen größeren Städten des Landes. Und sie sind<br />
nicht die einzigen Freiwilligenorganisationen in den Niederlanden: Im europäischen<br />
Vergleich hat das Land die höchste Rate älterer Menschen, die ehrenamtlich<br />
in Gemeinden oder Vereinen arbeiten. Und der <strong>Anteil</strong> steigt: 1997 waren 27<br />
Prozent aller Menschen über 65 ehrenamtlich engagiert, 2004 lag dieser <strong>Anteil</strong><br />
schon bei 35 Prozent.<br />
FRANKREICH: Die Alt-Jung-WG<br />
Pascal Champvert bringt Generationen zusammen: Im 80 000-Einwohner-Städtchen<br />
Saint-Maur-des-Fossées, südöstlich von Paris<br />
in der Region Île-de-France gelegen, hat er eine Kombination aus<br />
Seniorenresidenz und Kindergarten gegründet, die Résidence de<br />
l’Abbaye. 110 ältere Frauen und Männer verbringen hier das „dritte<br />
Lebensalter“ – und einen Großteil ihres Tages mit Kindern, die<br />
zwischen 18 Monaten und drei Jahren alt sind. Sie singen und<br />
spielen mit den Kleinen, lesen ihnen Geschichten vor und essen<br />
gemeinsam mit ihnen. Beide Seiten scheinen von diesem generationenübergreifenden<br />
Projekt zu profitieren: Die Kinder seien ruhiger<br />
und ausgeglichener, berichten die Betreuer, die Älteren dagegen<br />
aktiver und selbständiger. Die Résidence de l’Abbaye ist eines<br />
von fünf Projekten dieser Art in Frankreich.<br />
»Ein wichtiges Beispiel: Die Übertragung sozialer<br />
Kompetenzen bei Menschen lief schon immer<br />
besonders stark über Großväter und Großmütter. Mit dem<br />
Wegfall der erweiterten Familie ist dieser Übertragungsweg<br />
oft verloren gegangen. Dies ist eine Möglichkeit, ihn<br />
wiederherzustellen.<br />
»Eine sinnvolle Beschäftigung, welche die<br />
aktive Zeitspanne des Lebens möglichst<br />
weit verlängert, nutzt nicht nur Senioren. Vor<br />
allem die Weitergabe von Wissen der Älteren an<br />
die Jüngeren, von Wissen also, das nur über<br />
Erfahrung erworben werden kann, wird in unseren<br />
Bildungssystemen unterschätzt. Gerade dieses<br />
Wissen schützt die Gesellschaft vor dem Wiederholen<br />
alter Fehler in neuen Kontexten.<br />
SPANIEN: Amnestie für sichere Renten<br />
Im Mai 2005 konnte sich der spanische Arbeitsminister Jesús Caldera über 700 000<br />
neue offizielle Arbeitsplätze freuen. Seit der Amnestie für illegale Immigranten gehören<br />
sie zur offiziellen Statistik des Landes. Es war die sechste Amnestie seit 1990.<br />
Caldera schätzt, dass damit 80 bis 90 Prozent aller Schwarzarbeitjobs aus diesem<br />
Bereich legalisiert wurden. Deren Inhaber zahlen damit nun auch in die Renten- und<br />
Sozialsysteme ein. So sollen dank der neuen Arbeitnehmer jährlich rund 1,5 Milliarden<br />
Euro mehr in Spaniens Kassen landen. Immerhin verschafft sich Spanien damit<br />
etwas Luft: Die ungefähr 2020 anstehende Krise des Rentensystems habe sich, sagt<br />
Caldera, jetzt um fünf bis zehn Jahre nach hinten verschoben.<br />
»Einwanderer helfen, den Übergang eines Industrielandes in die<br />
alternde Gesellschaft sanfter zu gestalten. Das Beispiel zeigt, dass<br />
Länder wie Spanien gut daran tun, die Migration zu nutzen. Allerdings<br />
muss das Land aufpassen, mit Amnestiewellen keine neuen Probleme zu<br />
schaffen – weil sie immer mehr illegale Zuwanderer anzieht.
neun Best Practices<br />
NORWEGEN: Ölgelder sichern den Ruhestand<br />
Kristin Halvorsen ist eine der emsigsten Sparerinnen der Welt. Die norwegische Finanzministerin verwaltet<br />
den Pensionsfonds der Regierung . In den Fonds fließen seit 1996 Einnahmen, die der norwegische Staat mit<br />
dem Verkauf von Erdöl erzielt. Willkommener Nebeneffekt: Der Staat vermeidet so, dass die heimische Wirtschaft<br />
durch zu viel einfließendes Kapital überhitzt. Norwegen ist nach Saudi-Arabien und Russland der<br />
drittgrößte Erdölexporteur der Welt. Der Fonds ist inzwischen auf 210 Milliarden US-Dollar angewachsen.<br />
Das ist besonders viel, wenn man bedenkt, dass in Norwegen gerade mal 4,6 Millionen Menschen leben.<br />
Jedem Norweger stehen also statistisch gesehen 43 000 US-Dollar Rente zu.<br />
»Regierungen können auf zwei Arten Geld für die Zukunft ihrer Bürger sparen. Zum einen,<br />
indem sie Geld mehr oder weniger riskant anlegen. Zum anderen, und das wird oft vergessen,<br />
indem sie in das so genannte Humankapital, also ihre Bürger, investieren. Denn so<br />
schaffen sie eine gute Basis für künftige Steuereinnahmen. Das bedeutet natürlich steigende<br />
Ausgaben für Bildung, aber auch generell gute Bedingungen für das Aufziehen von Kindern<br />
sowie für Investitionen der Bürger in die eigene Zukunft.<br />
NEUSEELAND: Privat sparen für die Rente<br />
Die Regierung Neuseelands will ihre Bürger zu mehr privater Altersvorsorge<br />
animieren. Als Teil ihrer „Saving your Future“-Kampagne startet<br />
sie darum im April kommenden Jahres das Rentenprogramm Kiwi-<br />
Saver. Die Neuseeländer müssen künftig mehr privat vorsorgen, denn<br />
Rentner erhalten vom Staat im Schnitt nur 37,6 Prozent ihres letzten<br />
Lohns oder Gehalts. Nach Angaben der OECD liegt Neuseeland damit<br />
weltweit auf dem viertletzten Platz, lediglich vor Großbritannien, Mexiko<br />
und Irland. KiwiSaver steht nun allen Arbeitern, Angestellten und<br />
Selbständigen über 18 Jahre offen. Sie können zwischen vier und acht<br />
Prozent ihres Bruttogehalts einzahlen. Der Staat unterstützt die Sparer<br />
unter anderem mit 1000 US-Dollar Startkapital sowie mit Beihilfen<br />
für Hauskäufer. Ab 65 Jahren wird die Rente ausgezahlt.<br />
ISRAEL: Mister Zukunft berät das Parlament<br />
Der pensionierte Richter Shlomo Shoham denkt permanent an Menschen, die noch gar nicht<br />
geboren sind. Er ist der Beauftragte für zukünftige Generationen des israelischen Parlaments.<br />
Shohams Kommission soll als weltweit einzige Einrichtung im Auftrag eines Parlaments die<br />
Rechte künftiger Generationen schützen. Die Position des Regierungsbeauftragten entstand<br />
2002 nach einer Initiative der liberalen Mittelklassepartei Shinui („Wandel“). Der Beauftragte<br />
ist Teil der Knesset; er wird vom Präsidenten ernannt. Bis auf Entwürfe aus den Bereichen<br />
Außenpolitik und Verteidigung überprüft er geplante Gesetze auf ihre Auswirkungen für zukünftige<br />
Generationen. Zudem berät er Knesset-Mitglieder zu den Themen demografische Entwicklung<br />
und Gesundheit. Der Beauftragte versteht sich selbst als Verbindung zwischen Wissenschaft<br />
und Regierung und ist in der israelischen Politik hoch angesehen.<br />
THOMAS LINDH ist Professor für<br />
Ökonomie an der Universität Uppsala<br />
und forscht am Stockholmer Institutet<br />
för Framtidsstudier, dem Institut für<br />
Zukunftsstudien. Dort leitet er den<br />
Forschungsbereich „Wirtschaftliche<br />
Entwicklung und Verteilung zwischen<br />
den Generationen in einer alternden<br />
Gesellschaft“.<br />
»Bei Rentenraten wie jenen in Neuseeland<br />
besteht ein erhebliches<br />
Armutsrisiko für Ältere. Man braucht also<br />
weitere Absicherungen wie KiwiSaver.<br />
Allerdings haben verpflichtende Rentensysteme<br />
im Vergleich zu privaten Absicherungen<br />
einige Vorteile: Sie verursachen<br />
niedrigere Verwaltungskosten und<br />
sind davor geschützt, dass arme Menschen<br />
aus kurzsichtigen Gründen aussteigen<br />
und später vom Sozialsystem<br />
aufgefangen werden müssen.<br />
»Der israelische Regierungsbeauftragte<br />
arbeitet wie ein<br />
Frühwarnsystem, um die Gesellschaft<br />
vor unvorhergesehenen Entwicklungen<br />
und Konsequenzen von<br />
Gesetzesbeschlüssen zu bewahren.<br />
Dabei ist es ein enormer Vorteil, dass<br />
sich Shlomo Shoham gut im Politikbetrieb<br />
zurechtfindet, weil er nicht<br />
von außen kommt.<br />
25
DOSSIER #06 Demografischer Wandel als Chance<br />
USA: 800 Millionen Dollar für Seniorenlobbying<br />
Bill Novelli hat schon zum zweiten Mal in seinem Leben die öffentliche Meinung<br />
der USA in seiner Hand. Bis 1990 führte er das PR-Unternehmen Porter Novelli.<br />
Heute ist er CEO der American Association of Retired Persons (AARP). Der Verband<br />
ist die weltweit größte und einflussreichste Nichtregierungsorganisation für ältere<br />
Menschen. Die AARP hat mehr als 35 Millionen Mitglieder, fast die Hälfte aller US-<br />
Bürger über 50. 2004 erwirtschaftete der Verband 878 Millionen US-Dollar Gewinn<br />
und gab 800 Millionen US-Dollar für Publikationen und Lobbyarbeit aus. Die Organisation<br />
veröffentlicht Stellungnahmen zu Gesetzen, berät das Parlament und<br />
kooperiert mit den UN. AARP unterhält einen eigenen Wohltätigkeitsverband, der<br />
ältere Arbeitnehmer fortbildet und Rechtsberatung anbietet. Die Tochterfirma AARP<br />
Services entwickelt und verkauft Produkte und Dienstleistungen für Senioren.<br />
26<br />
KANADA: Politikberatung<br />
Früher unterrichtete Robert Dobie Französisch, Mitte der Achtziger gründete er in Montreal<br />
eine Seniorenresidenz. Jetzt ist er Präsident des kanadischen National Advisory Council<br />
on Aging (NACA). Der 1980 geschaffene Rat ist ein Beratungsgremium, das direkt mit dem<br />
Gesundheitsminister Tony Clement zusammenarbeitet. So hat Dobie gerade den Minister<br />
getroffen, um ihn zu überzeugen, dass es den Staat billiger kommt, Senioren möglichst<br />
lange zu Hause wohnen zu lassen, als diese in ein Heim einzuweisen. Demnächst will NACA<br />
das Phänomen der obdachlosen Senioren dokumentieren.<br />
Der Rat besteht aus bis zu 18 Mitgliedern und wird vom kanadischen Staat mit einem Team<br />
von Beamten unterstützt. Seine Arbeit ist notwendig, weil Kanada mit besonders starken<br />
demografischen Umwälzungen zu tun hat. So soll die Zahl der Bürger über 65 bis 2011 auf<br />
fünf Millionen ansteigen. 1998 waren es noch 3,6 Millionen. Heute machen Senioren zwölf<br />
Prozent der kanadischen Bevölkerung aus, 2021 sollen es schon 20 Prozent sein.<br />
»Ein echter Best-Practice-<br />
Fall: Das NACA stellt sicher,<br />
dass der demografische Wandel bei<br />
sämtlichen politischen Entscheidungen<br />
berücksichtigt wird. Allzu<br />
leicht gehen Gesellschaften zwar<br />
einige Aspekte der Überalterung in<br />
Gesetzen an, vergessen dabei aber<br />
andere. Die zentrale Einrichtung<br />
hilft, dies zu vermeiden.<br />
»Eine Organisation wie diese ist wichtig<br />
und sinnvoll, um die Rechte von Älteren zu<br />
sichern sowie um diese zu beraten und zu unterstützen.<br />
Man könnte sie als eine Art Versicherung<br />
betrachten. Allerdings muss jede Gesellschaft die<br />
Ansprüche der Älteren und die Bedürfnisse Jüngerer<br />
ausbalancieren, um sich nachhaltig entwickeln<br />
zu können. Schließlich dürfen die Älteren<br />
wählen, Kinder aber nicht. Einige Experten schlagen<br />
darum erweiterte Wahlrechte für Eltern mit<br />
minderjährigen Kindern vor.
CHINA:<br />
Die Seniorenuni<br />
Zheng Lingde unterrichtet an der Universität ihrer Heimatstadt<br />
Schanghai – und zwar überwiegend Studenten,<br />
die älter sind als sie selbst. Lingde ist Präsidentin<br />
der dortigen Seniorenuniversität. An dieser<br />
Spezialuni können ältere Menschen nicht nur Musikoder<br />
Malkurse belegen, sondern auch Fremdsprachen<br />
lernen, digitale Fotografie oder sogar Computerprogrammieren.<br />
Die Seminare werden auch per Radio,<br />
Fernsehen und Internet landesweit übertragen.<br />
Mehr als 2,3 Millionen Chinesen belegen Kurse an<br />
speziellen Universitäten und Schulen, von denen es<br />
landesweit rund 26 000 gibt. Sie finanzieren sich über<br />
Spenden von Unternehmen und Stiftungen sowie über<br />
Kursbeiträge. In Schanghai, der chinesischen Stadt<br />
mit dem höchsten Altenanteil, belegen bereits 14 Prozent<br />
aller Senioren Kurse und Klassen. Lingde will den<br />
<strong>Anteil</strong> bis 2015 auf 22 Prozent steigern. Die Idee<br />
dahinter: Wenn die Alten weiterlernen, können sie länger<br />
zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen.<br />
»Bildung kann man einerseits als Konsumgut<br />
betrachten, welches das persönliche<br />
Wohlbefinden steigert. Auf der anderen<br />
Seite aber erhöhen Investitionen in die Bildung<br />
auch das Humankapital einer Gesellschaft.<br />
Die Annahme, solche Investitionen<br />
seien für ältere Menschen weniger bedeutend,<br />
ist falsch. Gerade in einem Land wie China, wo<br />
die Meinungen der Älteren sehr viel zählen, ist<br />
es wichtig, dass sie auch mit den neuesten<br />
Technologien vertraut sind. Verglichen mit<br />
China besteht hier in westlichen Gesellschaften<br />
noch deutlicher Nachholbedarf.<br />
Das Problem ist bekannt: Die Alterung von<br />
Japans Bevölkerung belastet seit den neunziger<br />
Jahren Familien, Unternehmen und Regierung.<br />
In den Familien wird es künftig weniger<br />
unbezahlte Pflegekräfte (innerhalb der Familie)<br />
geben, welche die wachsende <strong>Anzahl</strong> pflegebedürftiger<br />
alter Menschen betreuen können.<br />
Seit der Einführung der öffentlich-rechtlichen<br />
Pflegeversicherung im Jahr 2000 übersteigt<br />
die Nachfrage nach Pflege das Angebot<br />
bei weitem. Dieser Pflegebedarf wird auch in<br />
Zukunft kaum sinken.<br />
Für Unternehmen und Regierung erzeugt die<br />
Alterung potenzielle Arbeitsmarktprobleme.<br />
Die Arbeitskräfte altern, die Basis der Bevölkerung<br />
im erwerbsfähigen Alter schrumpft.<br />
Schätzungen des National Institute of Population<br />
and Social Security Research zufolge<br />
nimmt die japanische Bevölkerung im<br />
Erwerbsalter zwischen 2005 und 2010 um 0,5<br />
Prozent ab, bis 2015 um weitere 0,6 Prozent<br />
und bis 2020 um nochmals 0,6 Prozent. Dies<br />
schwächt die Konjunktur. Darüber hinaus steigen<br />
die zur Aufrechterhaltung von Renten- oder<br />
Krankenversicherungen notwendigen Sozialausgaben<br />
– gefährlich für eine nicht auf Sozialleistungen<br />
eingestellte Gesellschaft wie die<br />
japanische.<br />
Schließlich bedeutet die Alterung der Arbeitskräfte<br />
im Zusammenhang mit Japans System<br />
der Lebenszeitanstellung und der Senioritätsentlohnung,<br />
dass ältere Arbeitnehmer in vielen<br />
Unternehmen künftig die Mehrheit bilden.<br />
Dadurch können Karriereleitern blockiert werden.<br />
Es gibt Anzeichen dafür, dass Japans<br />
Unternehmen sich von den Prinzipien der<br />
Lebenszeitanstellung und der Senioritätsentlohnung<br />
entfernen und stärker Teilzeitarbeit<br />
und befristete Arbeitsverträge nutzen.<br />
Doch der demografische Wandel bringt auch<br />
Chancen mit sich. So entwickelt sich damit der<br />
Pflegesektor. Die Regierung förderte bereits in<br />
letzter Zeit verstärkt öffentliche Tagesstätten<br />
für Kinder und alte Menschen. Derartige Investitionen<br />
dürften sich künftig noch viel stärker<br />
lohnen. Hier wächst ein Markt.<br />
Auch der Arbeitskräftemangel ist nicht unabdingbar.<br />
Der demografische Wandel birgt sogar<br />
die Möglichkeit zu einem flexibleren und<br />
gerechteren Arbeitsmarkt. Dazu muss man<br />
allerdings die vorhandenen Arbeitskräfte<br />
(etwa Frauen und Einwanderer) effektiver ein-<br />
Flexibilität DOSSIER #02<br />
KRISENLAND ALS MOTOR DES WANDELS<br />
KAUM EINE GESELLSCHAFT ALTERT SO SCHNELL WIE DIE JAPANISCHE. DAS BRINGT PRO-<br />
BLEME FÜR FIRMEN UND STAAT MIT SICH. DOCH DIE VERÄNDERUNG KÖNNTE AUCH DIE<br />
GESELLSCHAFT MODERNISIEREN HELFEN, GLAUBT DIE WISSENSCHAFTLERIN ITO PENG.<br />
setzen. So sollte das Land mehr Frauen in<br />
Beschäftigungsverhältnisse führen. Japanische<br />
Frauen gehören zu den am besten ausgebildeten<br />
der Welt. Zugleich haben sie eine der<br />
niedrigsten Beschäftigungsraten: Nach Angaben<br />
der OECD arbeiten momentan nur 57 Prozent<br />
aller Japanerinnen, verglichen mit 65 Prozent<br />
der US-Amerikanerinnen. Hier geht der<br />
Volkswirtschaft viel Potenzial verloren.<br />
Schließlich kann die Alterung auch bedeuten,<br />
dass das Land den Arbeitsmarkt stärker für<br />
legale Einwanderer im arbeitsfähigen Alter öffnet.<br />
Dies kann auch den Zustrom illegaler Einwanderer<br />
nach Japan reduzieren.<br />
Außerdem ist die Alterung der Bevölkerung<br />
auch ein geeigneter Moment für Japan, sein<br />
Sozialversicherungssystem zu überdenken.<br />
Viel zu lange hat sich das Land auf die Familie<br />
als Pflegepersonal für ältere Menschen und auf<br />
die Arbeitgeber als Garanten für Beschäftigungssicherheit<br />
verlassen. Auch daher besitzt<br />
Japan unter den OECD-Ländern eines der<br />
dünnsten Wohlfahrtssysteme. Das muss sich<br />
jedoch ändern. Angesichts der immer stärkeren<br />
Diversifizierung der Familien und der<br />
zurückgehenden Zahl älterer Menschen, die bei<br />
ihren Kindern leben, sowie der sinkenden<br />
Beschäftigungssicherheit muss der Staat sich<br />
stärker bei der Gewährleistung von Sozialleistungen<br />
und sozialer Gleichheit engagieren. Hier<br />
muss und kann Japan von den Erfahrungen<br />
aus Ländern mit etablierten Sozialsystemen<br />
lernen.<br />
Fazit: Der demografische Wandel birgt für<br />
Japan die Chance, zum Marktführer zu werden<br />
– zum Marktführer im Umgang mit einer radikal<br />
veränderten Realität.<br />
Ito Peng ist Direktorin des<br />
Dr.-David-Chu-Programms<br />
in Asia Pacific Studies an<br />
der Universität Toronto.<br />
Dort lehrt sie auch als<br />
Associate Professor am<br />
Lehrstuhl für Soziologie.<br />
Ihre Schwerpunkte sind<br />
die komparative Sozialpolitik,<br />
ostasiatische<br />
Wohlfahrtssysteme<br />
und Vergleiche zwischen<br />
Ost und West.<br />
27
28<br />
Die Revolution der Aktienkultur<br />
WENN DIE BABYBOOMER IN RENTE GEHEN, DROHEN KURSSTÜRZE, PROGNOSTIZIERT DER FINANZWISSENSCHAFTLER JEREMY SIEGEL IM GESPRÄCH<br />
MIT THINK:ACT. DIE UNTERNEHMEN MÜSSEN DIE AKTIONÄRE MIT HOHEN DIVIDENDEN BEI LAUNE HALTEN. DAS ERZEUGT EINE NEUE AKTIENKULTUR.<br />
s<br />
EIGENTLICH KLINGT das Szenario ganz gut:<br />
In die Aktienmärkte könnte demnächst eine neue<br />
Solidität Einzug halten. Doch am Anfang der Vision<br />
des Finanzwissenschaftlers und Börsengurus<br />
Jeremy Siegel steht ein Schock. Die 77 Millionen<br />
Babyboomer, die ab den nächsten Jahren nach<br />
und nach in Pension gehen, müssen ihre Rente<br />
sichern – und werden daher bald so viele Aktien<br />
verkaufen, dass die Wertpapierkurse vor allem<br />
in Europa und den USA massiv unter Druck geraten.<br />
Denn für die vielen Wertpapiere werde es<br />
schlicht „nicht genügend Käufer geben“, so Siegel<br />
im Gespräch mit think:act. Die Verkaufswelle werde<br />
einen schleichenden Crash auslösen, prophezeit<br />
der Finanzguru.<br />
Eigentlich ist Jeremy Siegel der große Optimist<br />
der Börse. Sein Buch „Stocks for the Long<br />
Run“ bezeichnete der Economist als die „Bibel“
JEREMY SIEGEL ist Russell E. Palmer<br />
Professor of Finance an der Wharton School der<br />
Universität Pennsylvania. Dort erforscht er die<br />
Auswirkung der demografischen Entwicklung auf<br />
die Finanzmärkte. Zurzeit schreibt er an einem<br />
neuen Buch: „The Global Solution“ soll die Chancen<br />
beleuchten, die aufstrebende neue Volkswirtschaften<br />
für die globale Ökonomie bieten.<br />
des letzten Börsenbooms. Doch Siegels damaliger<br />
Optimismus ist ein Stück weit verflogen. „Die<br />
Börsenkurse können um 40 bis 50 Prozent einbrechen“,<br />
fürchtet er jetzt.<br />
VERSCHÄRFT WIRD die neue Schieflage am<br />
Aktienmarkt dadurch, dass auch Privatinvestoren,<br />
die sich nicht unmittelbar zu Konsumzwecken<br />
von Aktien trennen müssen, ihre Portfolios umbauen<br />
– von Aktien zu solideren und planbareren<br />
Anleihen. „Die Nachfrage nach Anleihen wird steigen“,<br />
so Siegel. Erste Anzeichen davon machen<br />
sich bereits bemerkbar. Nach Recherchen der US-<br />
Notenbank Fed haben Pensionsfonds zwischen<br />
2001 und 2005 fast 400 Milliarden Dollar aus den<br />
Aktienmärkten abgezogen und fast 140 Milliarden<br />
davon in Anleihen investiert.<br />
Wie aber können die Unternehmen den<br />
Kapitalabfluss stoppen? Nach Ansicht Siegels nur<br />
auf zweierlei Weise: Entweder sie lassen in großem<br />
Maßstab neue Aktionäre aus den schnell<br />
wachsenden Boommärkten in Asien ans Ruder.<br />
Oder sie setzen auf einheimische Anleger und<br />
versuchen, die Babyboomer doch noch zum Halten<br />
ihrer Aktien zu bewegen.<br />
Gangbar wären grundsätzlich beide Wege.<br />
In den beiden dynamischsten Volkswirtschaften<br />
Asiens bringt der Dauerboom expansive Firmen<br />
und einen rasant wachsenden Mittelstand, aber<br />
auch neue Großkonzerne hervor. Deren Kapital<br />
strömt zunehmend auch an die Börsen in Europa<br />
und den USA. Mit ihm würden künftig immer häufiger<br />
auch Mehrheiten an etablierten Konzernen<br />
erworben, sagt Siegel vorher. „Ich rechne damit,<br />
dass 2050 mehr als die Hälfte des Weltkapitals in<br />
den Händen der Schwellen- und Entwicklungsländer<br />
liegen wird.“<br />
WENN DIE WESTLICHEN Konzerne solche<br />
Übernahmen abwehren wollen, müssen sie ihren<br />
traditionellen Anlegern höhere Anreize bieten,<br />
damit diese ihre <strong>Anteil</strong>scheine nicht abstoßen. Im<br />
Klartext: Sie müssen die Dividenden deutlich<br />
erhöhen. Dividendenrenditen von fünf bis acht<br />
Prozent, wie sie bisher erst wenige europäische<br />
Konzerne bieten, werden dann keine Seltenheit<br />
mehr sein. „Wir werden eine neue Dividendenkultur<br />
erleben“, fasst Siegel zusammen.<br />
Hat er Recht, so bedeutet das für die Publikumsgesellschaften<br />
treuere Aktionäre, aber auch<br />
stetigere Kursentwicklungen. Kurzfristiges Quartalsdenken,<br />
das ein nachhaltiges, geduldiges<br />
Wachstum erschwert, weicht einer strategischen<br />
Ausrichtung, die eher langfristige Marktentwicklungen<br />
im Blick hat als lediglich auf schnelle<br />
Kursgewinne ausgerichtete Transaktionen. Mit<br />
anderen Worten, in Aussicht ist eine Rückkehr<br />
vom ausschließlichen Wachstumsfokus, der zu<br />
Hochzeiten der New Economy einen Schub erlebte,<br />
zur Dividendenkultur.<br />
AKTIEN MIT VERGLEICHSWEISE hohen Ausschüttungen<br />
gehörten 200 Jahre lang zu den<br />
populärsten Wertpapieren. Ende der Neunziger<br />
aber löste der Techboom eine Jagd auf junge<br />
Wachstumstitel aus. Viele Anleger kannten für<br />
Welche Aktien kaufen Senioren? DOSSIER #06<br />
Aktien nur noch eine Messlatte: schnelle Kursgewinne,<br />
auch wenn diese nur durch das Versprechen<br />
künftiger Profite hervorgerufen wurden.<br />
Firmen, die mit einer konservativen Wachstumsstrategie<br />
stetige und sichere, aber nicht gerade<br />
exorbitant hohe Zuwächse versprachen, waren<br />
nicht mehr sexy genug. Doch dann kamen<br />
die Bilanzskandale von Enron und WorldCom.<br />
Die Besessenheit der Börsianer von Kursgewinnen<br />
verschwand.<br />
KÜNFTIG ALSO ZÄHLT WIEDER der lange Atem.<br />
Für die Entscheider in den Unternehmen, vor<br />
allem die Investor-Relations-Strategen, ist dies<br />
zunächst einmal eine gute Nachricht. Die neue<br />
Dividendenkultur und die höheren Dividenden<br />
nämlich werden treuere und geduldigere Aktionäre<br />
anlocken. Das begrenzt mögliche Verluste in<br />
Abwärtszyklen und verschafft dem Management<br />
einen größeren Freiraum, ohne den Druck kurzer<br />
Erwartungshorizonte langfristiger für die Zukunft<br />
zu planen.<br />
GANZ UNPROBLEMATISCH ABER ist die neue<br />
Dividendenkultur für die Firmen nicht. Zu hohe<br />
Ausschüttungen zehren nämlich an der Substanz.<br />
Sie können die globale Wettbewerbssituation<br />
westlicher Firmen schwächen. Ausgeschüttete<br />
Gewinne können nicht reinvestiert werden, um<br />
Forschung und Entwicklung zu forcieren und so<br />
den neuen Konkurrenten aus Shanghai, Mumbai<br />
oder Hyderabad Paroli zu bieten. Ein Dilemma, mit<br />
dem die Unternehmen werden leben müssen.<br />
29
Junge Köpfe, alte Köpfe<br />
RISIKOBEREITSCHAFT VERSUS ERFAHRUNG, UNBEDINGTER WILLE VERSUS ETABLIERTE NETZWERKE –<br />
JUNGE FIRMENGRÜNDER VERFÜGEN ÜBER ANDERE STÄRKEN ALS IHRE COUNTERPARTS MIT LÄNGERER<br />
PRAXIS. ERFOLG KÖNNEN BEIDE HABEN. UND SIE BRAUCHEN EINANDER.<br />
s<br />
IKEA-GRÜNDER Ingvar Kamprad war schon als<br />
Kind geschäftstüchtig. Damals fuhr der heute viertreichste<br />
Mann der Welt mit dem Fahrrad von Tür zu Tür<br />
und verkaufte Zündhölzer. Diese Erfahrung machte er<br />
als 17-Jähriger zur Grundlage seines Erfolgs: Die<br />
Grundwerte Sparsamkeit und Effizienz wurden zur<br />
Philosophie von Ikea. Und Kamprad zu einem Vorbild<br />
für viele junge Firmengründer.<br />
Aber ist Kamprads Biografie typisch für erfolgreiche<br />
Unternehmen? Was zählt hier mehr – ein früher<br />
Start oder Erfahrung? Die Statistik ist nicht eindeutig:<br />
Sowohl 20- als auch 60-Jährige gründen Unternehmen.<br />
Immerhin knapp fünf Prozent aller 18- bis<br />
24-Jährigen leiten in reichen Ländern eigene Firmen,<br />
so der Global Entrepreneurship Report von Babson<br />
College und London Business School. Und an die vier<br />
Prozent aller über 54-Jährigen waren mit Start-ups<br />
unternehmerisch aktiv.<br />
Gute Nachricht für junge Gründer: Die Annahme,<br />
ohne 15 Jahre Managementerfahrung ginge<br />
nichts, ist falsch. Vom „Mythos Erfahrung“ spricht<br />
in diesem Zusammenhang der Direktor der Belmont<br />
University, Jeff Cornwall. Nur: Weil die Jungen nicht<br />
lange in Unternehmen Erfahrungen gesammelt haben<br />
können, müssen sie anderswo nach Input suchen.<br />
Beispiel Kamprad: Als Teenager lernte er vieles, was<br />
ihm als Unternehmer später nützte. Etwa, wie hilfreich<br />
gute Logistik ist. Schon bald fuhr er nicht mehr<br />
selbst, sondern gab dem Milchmann seine Fracht mit.<br />
Dem jungen Kamprad fehlte die „Betriebsblindheit“<br />
der Etablierten.<br />
Ganz ähnlich verlaufen andere junge Unternehmer-Storys.<br />
Dem Firmengründer Marco Boerries<br />
brachten schon mit 16 Beharrlichkeit und unverstellter<br />
Blick den Erfolg. Mit 2000 D-Mark Startkapital<br />
gründete er Star Division, erfand die Textverarbeitung<br />
Star Office. Später verkaufte er sein Unternehmen für<br />
70 Millionen Dollar an Sun.<br />
Doch auch wenn es diese Erfolgsgeschichten gibt –<br />
typisch sind sie nicht. Viele Youngster stoßen schnell<br />
an ihre Grenzen. Sie „brennen aus, überfordern sich<br />
physisch und psychisch“, weiß Gerhard Naegele, Direktor<br />
des Instituts für Gerontologie an der Universität<br />
Dortmund. „Zudem fehlt es oft am betriebswirtschaftlichen<br />
Know-how.“ Deshalb holen sich schlaue Jungmanager<br />
erfahrene Berater ins Boot. Und sie lassen sich<br />
von Mentoren helfen: 32 Prozent aller kanadischen<br />
Jungunternehmer halten nach einer Untersuchung der<br />
Atlantic Canada Opportunities Agency den Mentor für die<br />
hilfreichste Gründungshilfe. Von ihnen lernen sie, wie<br />
man Teams führt und echte Innovationen von fixen<br />
Ideen unterscheidet.<br />
Genau diese Unterscheidungsfähigkeit zeichnet<br />
ältere Firmengründer aus. Aus Erfahrung können sie<br />
Eingebungen nach ihrer Markttauglichkeit beurteilen.<br />
Außerdem teilen sie ihre Kräfte und die des Teams besser<br />
ein, schätzen genauer Zeit und Aufwand für Projekte<br />
ab. Und sie haben etablierte Netzwerke.<br />
Ein weiterer Vorteil der Erfahrenen: Sie können<br />
Informationen sicherer bewerten. „Die Fähigkeit zu<br />
entscheiden, welche Daten zu beachten und welche<br />
zu ignorieren sind, gehört zu den wichtigsten Eigenschaften<br />
der Manager“, betont Howard Gardner, Professor<br />
an der Harvard Graduate School of Education.<br />
Gerade die Fähigkeit, auch einmal Informationen zu<br />
ignorieren, ist eine Kerntugend Älterer.<br />
Doch es bestehen auch Gemeinsamkeiten zwischen<br />
jungen und alten Erfolgsgeschichten. Nach<br />
oben kommt, wer die Kraft des Teams nutzt und Aufgaben<br />
delegieren kann. Denn viele Gründer, egal ob<br />
jung oder alt, verlieben sich zu sehr in die eigenen<br />
Ideen. Aging-Forschern sehen deshalb die besten<br />
Erfolgschancen bei gemischten Teams. Auf das Topmanagement<br />
bezogen heißt das: Junge Gründer brauchen<br />
alte Hasen als Berater – und Veteranen tun gut<br />
daran, sich die Meinung von Neulingen anzuhören.<br />
Erfolg mit 20 oder 60 – beides geht DOSSIER #06<br />
31
DOSSIER #06 Stargeigerin mit zehn<br />
[Sexappeal an Geige]<br />
17<br />
VANESSA MAE<br />
Jahre ist es bereits her, dass Vanessa Mae ihren ersten großen<br />
Auftritt hatte – mit dem London Philharmonic Orchestra. Dabei<br />
ist sie heute erst 27. Mit drei Jahren spielte Vanessa Mae schon<br />
Klavier, und mit fünf Geige. Wenig überraschend also, dass sie in<br />
den Medien und der breiten Öffentlichkeit als Wunderkind wahrgenommen<br />
wird.<br />
Klar ist: Jugend und Attraktivität haben maßgeblich zum Erfolg<br />
von Vanessa Mae beigetragen. Auch, weil sie sich damit im arri-<br />
vierten Klassikmarkt als Rebellin inszenieren kann und trotzig<br />
verbreitet: „Ich lasse mich niemals von Kategorien einengen, die<br />
mir von außen willkürlich auferlegt werden.“<br />
Die Mae kultiviert das Bild der Grenzüberschreiterin: „Beethoven<br />
und Beatles, Mozart und Michael Jackson, Paganini und Prince –<br />
ich mag sie alle. Was ich mag, will ich spielen.“ Das tut sie erfolgreich.<br />
Mehrere dutzend Platin- und Goldschallplatten sowie<br />
Milliardenumsätze sind die Folge.
77<br />
NAGIB MACHFUS<br />
Jahre zählte Nagib Machfus, als er einen erfreulichen Anruf<br />
aus Stockholm bekam: Als erster arabischsprachiger Autor<br />
erhielt der Ägypter den Nobelpreis für Literatur. Eine späte<br />
Auszeichnung für die Lebensklugheit, die sich schon immer<br />
durch seine Bücher gezogen hatte. „Meine Liebe gilt den<br />
Bewohnern der Gassen. Nicht nur der alten Gassen von Kairo,<br />
sondern der Gassen der ganzen Welt“, so Machfus. Vom Schreiben<br />
leben konnte der Feingeist allerdings bis zu seinem Nobel-<br />
Nobelpreis mit 77 DOSSIER #06<br />
[Der Literatur-Pharao]<br />
preis nie. Im Stile Kafkas arbeitete er als Beamter in Kairo<br />
und schrieb daneben beharrlich seine ersten Erzählungen.<br />
Machfus war überzeugt davon, dass er der Welt etwas mitzuteilen<br />
hatte. Auch als Nobelpreisträger hielt er daran fest<br />
und mischte sich weiter gesellschaftlich ein. Sein Engagement<br />
erregte jedoch den Zorn radikaler Islamisten. Ein Attentäter<br />
verletzte ihn vor zwölf Jahren schwer. Trotz Fatwa verstummte<br />
der 94-Jährige nicht.
DOSSIER #06 Unternehmer mit 19<br />
[Instinkt und Hineintauchen]<br />
19<br />
MICHAEL DELL<br />
Jahre alt war Michael Dell, als er mit 1000 Dollar Startkapital<br />
sein Computerunternehmen gründete. Sein Erfolgskonzept<br />
ist Realismus kombiniert mit Visionärem: „Man muss kein<br />
Genie sein, um unkonventionell denken zu können. Man<br />
benötigt nur einen klar abgesteckten Rahmen und einen<br />
Traum.“ Den hatte er – günstige Computer mit hoher Leistung.<br />
Man habe ihm oft gesagt, dass das, was er oder sein<br />
Unternehmen wollte, unmöglich sei. Das wollte er nicht glau-<br />
ben; dank seiner Jugend konnte keine Ernüchterung seinen<br />
Elan eindämmen. „Tatsächlich hängt unser Erfolg teilweise<br />
davon ab, dass wir Dinge nicht nur anders sehen können,<br />
sondern sie auch anders sehen wollen.“ Dell wurde der<br />
jüngste CEO, der jemals auf der Fortune-500-Bestenliste<br />
erschien; heute ist er 17 Milliarden schwer. „Ich glaube, dass<br />
Chancen zu einem Teil aus Instinkt und zum anderen aus<br />
‚Hineintauchen‘ bestehen.“
60<br />
NICOLAS HAYEK<br />
Jahre alt war Nicolas Hayek, als er kurzerhand die am Boden<br />
liegende Schweizer Uhrenindustrie umwälzte und eine Weltmarke<br />
aufbaute: Swatch. Das Unternehmen schrieb Wirtschafts-<br />
wie Kulturgeschichte. Und das mit Firmenprinzipien,<br />
die so gar nicht jung-flippig daherkommen wie die Positionierung<br />
der Marke: „Bei der Swatch Group haben Leute, die nicht<br />
solidarisch sind, keinen Platz.“ Eine Schweizer Maxime, aber<br />
auch eine, die Hayek seiner Lebenserfahrung verdankt.<br />
#01 Leadership-Strategien Innovator mit 60 DOSSIER >D03< #06<br />
[Der König der Zeit]<br />
Kooperation innerhalb des Unternehmens ist für den Physiker<br />
und Mathematiker wichtig. Ein Konzept, das sich auszahlt. Zu<br />
seinem globalen Uhrenimperium gehören mittlerweile auch<br />
Nobelmarken wie Breguet, Blancpain, Glashütte, Omega und<br />
Longines. Der amerikanisch-libanesische Unternehmer handelt<br />
dabei nach einem ebenso klaren wie bodenständigen Markenverständnis.<br />
„Alle guten Marken vermitteln klare Botschaften,<br />
die der Wahrheit entsprechen.“
DOSSIER #06 Politischer Akteur mit zehn<br />
[Der beste Weltbürger]<br />
10<br />
GREGORY ROBERT SMITH<br />
Jahre alt war Gregory Robert Smith, als er die Organisation<br />
„International Youth Advocates“ gründete. Damit wurde er<br />
zum jüngsten Akteur in der globalen Politik. Bestimmender<br />
Charakterzug des heute 17-Jährigen: die Intelligenz und<br />
Leidenschaft zu lernen. Bereits mit 14 Monaten löste er<br />
seine erste Matheaufgabe. Mit 13 folgte der Bachelor. Gerade<br />
mal 16 Jahre alt, legte Smith seinen Master of Science<br />
Degree in Mathematik ab. Zwischendurch gründete er die<br />
Youth Advocates, eine globale Organisation, die sich für Kinderrechte<br />
einsetzt. Smith war immer der jüngste – und er<br />
weiß um diese Ausnahmestellung. Das Leben sieht er als<br />
einen Wettbewerb „mit sich selbst“ an. Viermal wurde er<br />
bereits für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Nicht<br />
ausgeschlossen, dass er die Ehrung irgendwann bekommt.<br />
Seine ehrgeizigen Ziele: Präsident der USA werden, bester<br />
Amerikaner – und bester Weltbürger.
66<br />
ELLEN JOHNSON-SIRLEAF<br />
Jahre – ein Alter, in dem sich manche Staatsoberhäupter so<br />
langsam zurückziehen. Ellen Johnson-Sirleaf fing da erst richtig<br />
an. In diesem Alter wurde sie zur Staatspräsidentin Liberias<br />
gewählt, zum ersten weiblichen Staatsoberhaupt in Afrika. Dabei<br />
standen die Chancen schlecht, denn gegen sie trat kein Geringerer<br />
an als Fußballstar George Weah. Mit Lebensweisheit und Zielstrebigkeit<br />
setzte sie sich im Wahlkampf gegen den Ex-Kicker<br />
durch – und mit dem Bewusstsein für die Chancen einer Frau.<br />
Präsidentin mit 66 DOSSIER #06<br />
[Die eiserne Großmutter]<br />
Sie ist überzeugt, dass sich aus den Eigenschaften von Frauen<br />
mehr Vorteile ergeben: „Sie sind aufrichtiger, einfühlsamer und<br />
verantwortungsbewusster.“ Bewunderer und Gegner beschreiben<br />
sie allerdings als unbeugsam und dominant. Nach 15 Jahren<br />
Bürgerkrieg hoffen die Liberianer auf ein etabliertes Netzwerk<br />
globaler Kontakte der Harvard-Absolventin. Diese brachte<br />
sie tatsächlich mit: Die sechsfache Großmutter hatte bereits für<br />
die Vereinten Nationen und die Weltbank gearbeitet.
DOSSIER #06 Demografischer Wandel als Chance<br />
Das Patriarchat und die Folgen<br />
IN DEN USA UND ANDEREN WELTREGIONEN WACHSEN DER KONSERVATISMUS UND DER RELIGIÖSE FUNDAMENTALISMUS. KEIN WUNDER, ARGU-<br />
MENTIERT DER AMERIKANISCHE WISSENSCHAFTLER PHILLIP LONGMAN IN DIESEM MEINUNGSBEITRAG: LIBERALE FAMILIEN KRIEGEN OFT WENIGER<br />
KINDER – UND WERDEN SO ZUNEHMEND ZUR MINDERHEIT. DIES VERÄNDERT AUCH DIE RAHMENBEDINGUNGEN FÜR DIE UNTERNEHMEN.<br />
s<br />
ES SIND DIE ZWEI GESICHTER der Demografie:<br />
Zwar wächst die Weltbevölkerung weiter, zwar<br />
werden nach Schätzungen der UNO im Jahr 2050<br />
knapp neun Milliarden Menschen die Erde bevölkern.<br />
Zugleich jedoch fallen in immer mehr Ländern<br />
die Geburtenraten. Nicht nur in Europa und<br />
Japan, sondern auch im Iran und Libanon, in<br />
China, Kanada und Kuba reicht die <strong>Anzahl</strong> geborener<br />
Kinder nicht mehr aus, um einen langfristigen<br />
Bevölkerungsrückgang zu vermeiden. Dies<br />
bedeutet jedoch nicht, dass die Menschheit ausstirbt.<br />
Stattdessen schrumpft und altert sie zwar<br />
zunächst, entwickelt sich dann jedoch wieder –<br />
und zwar in Richtung einer fundamentalistischeren,<br />
patriarchalischen Gesellschaft.<br />
Der Grund: Jene Faktoren, welche die Gründung<br />
großer Familien in modernen Ländern unattraktiv<br />
machen, spielen für religiös denkende<br />
Menschen keine Rolle. Aus religiöser Überzeugung<br />
fühlen sie sich verpflichtet, nach der Devise<br />
„Seid fruchtbar und mehret euch!“ zu leben. In<br />
modernen Gesellschaften mit ihren staatlichen<br />
Rentenkassen gibt es keine wirtschaftlichen<br />
Gründe, Kinder zu haben. Wer sich nach Gesellschaft<br />
sehnt, sucht diese zunehmend bei Haustieren,<br />
die billiger und gehorsamer sind.<br />
Es sind keine wirtschaftlichen Gründe, aus<br />
denen die neuen konservativen Familien Kinder<br />
bekommen. Entweder sie verstehen die Regeln<br />
der modernen Gesellschaft nicht, die große Familien<br />
zur wirtschaftlichen Belastung werden lassen,<br />
oder sie verschmähen diese Regeln aus religiöser<br />
Überzeugung. Jedenfalls besteht heute sowohl in<br />
Europa und den USA als auch in Israel und dem<br />
übrigen Nahen Osten ein enger Zusammenhang<br />
zwischen dem Glauben an traditionelle christliche,<br />
islamische oder jüdische religiöse Werte und<br />
einem hohen Reproduktionsstand.<br />
38<br />
Daraus entsteht eine Welt, in der alte patriarchalische<br />
Werte dominieren und der Säkularismus<br />
allmählich verschwindet. Sie gleicht jener<br />
Konstellation, die entstand, als die ursprüngliche<br />
Bevölkerung des Römischen Reiches das Interesse<br />
an Kindern verlor – in der die patriarchalische<br />
Familie und eine rigide Religiosität ein<br />
fulminantes Comeback erlebten. Beispiel Frankreich:<br />
Unter den Anfang der sechziger Jahre geborenen<br />
Französinnen hatten nur 30 Prozent drei<br />
oder mehr Kinder. Aber diese Minderheit unter<br />
Frankreichs Frauen – die meisten davon vermutlich<br />
praktizierende Katholikinnen und Muslimas –<br />
gebar 54 Prozent aller in ihrer Generation zur Welt<br />
gekommenen Kinder.<br />
WELTLICH EINGESTELLTE und fortschrittliche<br />
Teile der Gesellschaften werden zur Minderheit.<br />
So zeigte der Demograf Ron J. Lesthaeghe, dass<br />
Europäer, die dem Militär misstrauen, selten oder<br />
gar nicht in die Kirche gehen sowie positiv zum<br />
Umweltschutz, zu Minderheitenrechten, zu legalisierter<br />
Abtreibung und zu sonstigen „fortschrittlichen“<br />
Ansichten stehen, weniger Kinder bekom-<br />
PHIL LONGMAN<br />
ist Bernard L. Schwartz<br />
Senior Fellow an der<br />
liberalen New America<br />
Foundation. Er schrieb<br />
zuletzt das Buch „The<br />
Empty Cradle: How Falling<br />
Birthrates Threaten<br />
World Prosperity“.<br />
Mit seinen provokanten<br />
Thesen stößt er auf weltweites Medieninteresse.<br />
Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel führte<br />
mit ihm gerade ein großes Exklusivinterview.<br />
men als Bürger mit gegenteiligen Ansichten. In<br />
den USA sind die Reproduktionsraten in den Bundesstaaten,<br />
die George W. Bush bei den letzten<br />
Präsidentschaftswahlen unterstützten, um zwölf<br />
Prozent höher als in Staaten, die Kerry wählten.<br />
Indikatoren wie das Durchschnittsalter bei der ersten<br />
Eheschließung sowie die <strong>Anzahl</strong> unverheirateter<br />
heterosexueller Paare und gleichgeschlechtlicher<br />
Haushalte korrelieren stark sowohl mit der<br />
Reproduktionsrate eines Staates als auch mit dem<br />
Abstimmungsverhalten seiner Bürger. Gegenden,<br />
in denen Kerry 2004 siegte, haben das höchste<br />
Durchschnittsalter bei der ersten Eheschließung<br />
und die wenigsten Kinder. Umgekehrt erhielt Bush<br />
die meisten Stimmen in Gebieten, in denen eheähnliche<br />
Gemeinschaften selten und Kinder in<br />
Massen vorhanden sind. In Seattle, einer Bastion<br />
des demokratischen Liberalismus, gibt es fast<br />
45 Prozent mehr Hunde als Kinder, im religiösen<br />
Salt Lake City dagegen 18 Prozent mehr Kinder.<br />
NICHT ZUM ERSTEN MAL müssen sich<br />
momentan moderne Gesellschaften mit niedrigen<br />
Geburtenraten unter säkular eingestellten und<br />
gebildeten Bevölkerungsgruppen auseinander<br />
setzen. Schon im kaiserlichen Rom entdeckte der<br />
Staat, dass nicht einmal ein Diktator die Menschen<br />
zu Fruchtbarkeit und Mehrung zwingen<br />
kann, wenn die kulturellen und wirtschaftlichen<br />
Bedingungen das Elternsein unattraktiv erscheinen<br />
lassen. Kaiser Augustus erhob horrende<br />
„Junggesellensteuern“ bei Roms Elite und verweigerte<br />
Kinderlosen den Zugang zu hohen Ämtern.<br />
Aber diese Maßnahmen konnten den Geburtenrückgang<br />
nicht aufhalten. Warum führte also<br />
der zivilisatorische Fortschritt nicht schon vor<br />
langer Zeit zum Aussterben des Genus Mensch?<br />
Die Kurzantwort auf diese Frage liegt im Begriff
DAS KONSERVATIVE HAUS MIT GARTEN<br />
könnte wieder zur bevorzugten Lebensform<br />
werden. Nicht weil alternativ denkende<br />
Menschen ihre Werte verraten – sondern weil<br />
sie sich nicht fortpflanzen.<br />
Patriarchat. Patriarchat bedeutet nicht einfach,<br />
dass Männer herrschen. Es ist ein besonderes<br />
Wertesystem, das mit anderen männlichen Visionen<br />
von gutem Leben in Konkurrenz steht. Es erfordert<br />
zum Beispiel, dass Männer heiraten, und<br />
zwar eine „anständige“ Frau von vergleichbarem<br />
gesellschaftlichem Herkommen – selbst wenn es<br />
mehr Spaß macht, eine Revuetänzerin zu ehelichen<br />
oder das Internet für immer neue Eroberungen<br />
zu nutzen. Es fordert von den Männern<br />
auch, Verantwortung für die Kinder zu übernehmen,<br />
die ihre Frauen gebären, weil unter diesem<br />
System die Entwicklung der Kinder ihren Vätern<br />
und deren gesamtem Stammbaum entweder Ehre<br />
oder Schande macht. Aus diesen und anderen<br />
Gründen wird die Rolle des Patriarchen von vielen<br />
Männern als nicht besonders reizvoll empfunden.<br />
Und offensichtlich haben Frauen Probleme mit<br />
den ihnen vorgeschriebenen Einschränkungen.<br />
Daher wird das Patriarchat zu bestimmten Zeiten<br />
außer Kraft gesetzt. Aber es kehrt immer wieder.<br />
Was heißt dies für Unternehmen? Wie kann<br />
man als Firmenlenker von diesen Trends profitieren<br />
oder sich zumindest darauf vorbereiten?<br />
Erstens darf man nicht erwarten, dass die heutigen<br />
niedrigen Geburtenraten in den Industrieländern<br />
unverändert weiter fallen. Lineare Vorhersagen<br />
über die Zukunft irren zumeist, insbesondere<br />
im Bereich der Reproduktion. In den<br />
USA steigen die Geburtenraten gegenüber ihrem<br />
Niveau vor 30 Jahren bereits wieder, und Umfragen<br />
sowie Einzelberichte weisen auf einen zunehmenden<br />
Heirats- und Kinderwunsch unter jungen<br />
Leuten hin. Genau wie im viktorianischen Zeitalter,<br />
als die Angst vor dem Bevölkerungsrückgang<br />
besonders in den Eliten zur Kriminalisierung<br />
von Abtreibung und Geburtenkontrolle sowie zu<br />
neuen sehr konservativen Grundsätzen führte,<br />
wird die Toleranz gegenüber denjenigen abnehmen,<br />
die keine Kinder in die Gesellschaft einbringen.<br />
Das Leben als Single wird seinen Glanz<br />
verlieren. Wie in der noch gar nicht so fernen Vergangenheit<br />
werden auch Homosexuelle wieder<br />
stigmatisiert werden, genauso wie Frauen, die<br />
ihrer Karriere den Vorzug vor ihrer Familie geben.<br />
Unternehmen, deren Marketing auf Sex setzt oder<br />
deren Produkte Jugendliche vom Pfad der Tugend<br />
weglocken, dürften sich zunehmender gesellschaftlicher<br />
Kritik, wenn nicht sogar direkten<br />
Verboten und Boykotten ausgesetzt sehen. Vieles<br />
heutzutage Moderne wird unmodern oder<br />
sogar unzulässig. Provokant gesagt: Rock- und<br />
Hip-Hop-Musik, Gewaltfilme und Videospiele<br />
zusammen mit polyamoren Stars und wurzelsowie<br />
kinderlosen Akademikern werden als Überbleibsel<br />
einer dekadenten Vergangenheit empfunden,<br />
mit der kein Unternehmen in Verbindung<br />
gebracht werden möchte.<br />
Das beeinflusst auch das linke Denken der<br />
Zukunft. Die Linke wird, wie die Arbeiterbewegung<br />
des 19. Jahrhunderts, wenig Interesse an<br />
Umweltfragen oder der individuellen Befreiung<br />
haben, sondern sich vor allem für einen „Familienlohn“<br />
einsetzen, der ausreicht, damit ein<br />
Mann seine Kinder unterstützen kann – selbst<br />
wenn dies eine Lohndiskriminierung gegenüber<br />
Frauen nach sich zieht. Gleichzeitig werden viele<br />
Arbeitgeber Probleme haben, Frauen in die<br />
Arbeitswelt zu locken – einfach weil viel mehr<br />
Frauen die neuen kulturellen Botschaften verinnerlichen<br />
werden, die sie dazu ermutigen, wieder<br />
wie früher als Vollzeitmutter tätig zu sein.<br />
WIR MÖGEN DIES alles nicht angenehm finden.<br />
Doch hier geht es nicht um das, was wünschenswert<br />
ist, sondern darum, was es bedeutet,<br />
wenn diejenigen, die sich am besten an ihre<br />
Umwelt angepasst haben, sich nicht länger<br />
reproduzieren. Viele Menschen werden dies<br />
durchaus begrüßen. Andere werden es als den<br />
Tod der Aufklärung betrachten. Auf jeden Fall erleben<br />
wir gerade eine weitere Drehung des Rads der<br />
Geschichte – hin zu einer neuen Welt, auf die sich<br />
Entscheider heute vorbereiten müssen.<br />
39
p industry-report firmenporträt<br />
40
indien profiliert sich als industriestandort industry-report f<br />
Weniger Räder, mehr PS<br />
Dreiräder und Motorroller produzierte Bajaj Auto früher.<br />
Jetzt setzt das indische Unternehmen auf Motorräder – mit Erfolg.<br />
Ein Beispiel, das zeigt: Indien kann mehr als Dienstleistung.<br />
: Die Hallen sind neu, die Anlage blitzt.<br />
Das Werk des Motorradherstellers<br />
Bajaj Auto in Chakan, 140 Kilometer von<br />
Mumbai entfernt, ist eine industrielle Vorzeigeproduktion<br />
– ausgerechnet in Indien,<br />
jenem Land, das bisher vor allem durch<br />
erfolgreiche Dienstleister aufgefallen ist.<br />
Beim Thema Fortbewegung dachte man in<br />
erster Linie an Dreiräder. Die produzierte<br />
in der Vergangenheit auch Bajaj Auto.<br />
Doch jetzt setzt das Unternehmen auf<br />
Motorräder. Und weil diese mittlerweile<br />
sogar exportfähig sind, steht Bajaj stellvertretend<br />
für eine Wirtschaft, die zu den<br />
etablierten Industriestandorten immer<br />
weiter aufschließt.<br />
41
p industry-report japanisches wissen für den subkontinent<br />
42<br />
Eine bemerkenswerte Transformation legte Bajaj<br />
Auto hin. Maßgeblich mitgeholfen haben japanische<br />
Managementtechniken.<br />
Die Veränderungen, denen sich das Unternehmen<br />
jüngst unterzog, sind rasant. Noch<br />
vor wenigen Jahren produzierte Bajaj<br />
vor allem den Skooter Chetak, und zwar<br />
ausschließlich für den indischen Markt. Zu<br />
dieser Zeit schien die gesamte Motorradindustrie<br />
des Landes in einer Art Halbschlaf<br />
dahinzudämmern.<br />
Ausländische Partner wie Suzuki (das ein<br />
Joint Venture mit TVS Motors eingegangen<br />
war), Honda (mit Hero Honda, einem Joint<br />
Venture von Honda und einem indischen<br />
Partnerunternehmen) sowie Kawasaki<br />
(in technischer Zusammenarbeit mit Bajaj)<br />
trugen die meiste Verantwortung. Die<br />
Ruhe wurde erst gestört, als sich Suzuki<br />
und TVS trennten.<br />
BAJAJ WOLLTE AUF DEM MOTORRADMARKT<br />
FUSS FASSEN. DOCH IMAGE UND<br />
QUALITÄT STIMMTEN NOCH NICHT.<br />
Auf die Entscheider von Bajaj wirkte dies<br />
wie ein Weckruf. Sie sahen ein, dass künftig<br />
immer mehr Kunden richtige Motorräder<br />
würden kaufen wollen. Also setzten sie zwischen<br />
1990 und 2000 alles daran, auf dem<br />
Motorradmarkt Fuß zu fassen. Doch Qualitäts-<br />
und Imageprobleme plagten das<br />
Unternehmen. Bajaj startete deshalb eine<br />
Produktoffensive, fuhr das F&E-Budget massiv<br />
hoch und launchte im Motorradsegment<br />
gleich vier neue Produkte.<br />
Dafür musste auch die Unternehmenskultur<br />
revolutioniert werden. Rajiv Bajaj, Managing<br />
Director bei Bajaj Auto: „Wir waren ein<br />
„ Ein Geschäft beginnt dann,wenn der Kunde Nein sagt und ich mir das merke.“<br />
Rajiv Bajaj<br />
Unternehmen, das Chetaks hergestellt hat.<br />
Alles drehte sich um dieses Produkt, alles<br />
richtete sich danach – F&E, Marketing und<br />
Verkauf.“ Zwar seien manche <strong>Mitarbeiter</strong><br />
schon früh am Richtungswechsel interessiert<br />
gewesen, da sie die Veränderung auf<br />
dem Markt erahnten. „Weil sie aber in der<br />
Minderheit waren, wurde nur wenig getan“,<br />
so Rajiv Bajaj, der älteste Sohn von Vorstandschef<br />
Rahul Bajaj.<br />
BAJAJ STARTETE EINE INTERNE<br />
QUALITÄTSOFFENSIVE. DAFÜR HOLTE DAS<br />
UNTERNEHMEN HILFE AUS JAPAN.<br />
Rajiv Bajaj verkörpert den neuen Geist des<br />
Unternehmens. Er ist Ingenieur, hat ein<br />
Maschinenbaudiplom von der renommierten<br />
britischen University of Warwick. In<br />
England lernte er auch, dass die Fähigkeit<br />
zur Veränderung im Wettbewerb oft alles<br />
ist. Und verändert hat sich Bajaj – grundlegend.<br />
Motorräder, die 1996 nur zehn Prozent<br />
des Umsatzes ausmachten, dominieren<br />
heute mit fast 80 Prozent.<br />
Die neue Aufstellung am Markt ging mit<br />
einer internen Qualitätsoffensive einher.<br />
Diese fußte auf der Produktivitätsphilosophie<br />
„Total Productive Maintenance“. Für<br />
deren Umsetzung holten die Bajajs eigens<br />
den japanischen Qualitätsguru Sueo Yamaguchi<br />
ins Haus. Dessen erste Lehre interpretiert<br />
Rajiv Bajaj so: „Ein Geschäft beginnt<br />
dann, wenn der Kunde Nein sagt und ich mir<br />
das merke.“ Denn aus der Ablehnung des<br />
Angebots ergibt sich die Chance, ein neues,<br />
besseres Produkt zu entwickeln.<br />
Doch selbst nachdem alle <strong>Mitarbeiter</strong> erkannt<br />
hatten, dass sich ihr Unternehmen komplett<br />
neu ausrichten musste, blieb die Frage:<br />
Wohin genau soll die Reise eigentlich gehen?<br />
Bajaj: „Manche Leute wollten sich auf Produkte<br />
konzentrieren, andere auf das Marketing.<br />
Es gab Konflikte zwischen den Strategien<br />
für billige Massengüter und solchen für<br />
teurere, gewinnbringendere Produkte mit<br />
kleineren Verkaufszahlen.“ Die Neustruktu-<br />
rierung hatte auch zur Folge, dass die Zahl<br />
der Zulieferer massiv sank und letztlich fast<br />
die Hälfte der 23 000 <strong>Mitarbeiter</strong> freiwillig in<br />
den Ruhestand ging.<br />
Sonderlich beliebt waren die Produktivitätstools<br />
der Japaner intern folglich nicht. Doch<br />
die Ergebnisse sprachen für sich: Das Vorzeigewerk<br />
in Chakan verdoppelte seine Produktivität<br />
im Vergleich zum deutlich älteren<br />
Werk in Akurdi.<br />
Auch die F&E-Abteilung bauten Rajiv und<br />
sein jüngerer Bruder Sanjiv aus. Früher<br />
arbeiteten dort weniger als zehn <strong>Mitarbeiter</strong>.<br />
Dann wuchs die Zahl auf 200. Umgerechnet<br />
rund neun Millionen Euro steckt Rajiv heute<br />
jährlich in die Forschung. Eine Investition,<br />
die sich nicht nur in der zunehmenden Popularität<br />
neuer Produkte zeigt. Auch die <strong>Mitarbeiter</strong><br />
erkennen, dass F&E ein zentraler<br />
Wettbewerbsfaktor geworden ist. Das Investment<br />
verändert also die Firmenkultur. F&E-<br />
Chef Abraham Joseph: „Rajiv hat trotz starker<br />
Opposition in die Forschungsabteilung<br />
investiert. Mein Team teilt seine Vision und<br />
sein Engagement uneingeschränkt.“<br />
MOTORRÄDER ZU BAUEN LERNTE BAJAJ<br />
VON KAWASAKI. JETZT AGIERT DAS<br />
UNTERNEHMEN IMMER UNABHÄNGIGER.<br />
Ziel ist die Marktführerschaft im indischen<br />
Motorradsegment. Bajaj bereitet sich zurzeit<br />
auf die Einführung eines neuen Flaggschiffprodukts<br />
vor. Auch die Roller geben Rajiv<br />
und sein Team nicht auf: Zwei sind für 2007<br />
geplant. Schwerpunkt sind künftig jedoch<br />
Motorräder.<br />
Wie man diese baut, lernten Bajaj und seine<br />
Leute vor allem von dem Motorradhersteller<br />
Kawasaki. In den frühen neunziger Jahren<br />
begann Bajaj die Zusammenarbeit mit<br />
den Japanern. Das jüngste Gemeinschaftsprodukt<br />
hieß Wind und wurde speziell für<br />
den indischen und den südostasiatischen<br />
Markt entwickelt. Doch das Motorrad kam<br />
in Indien nicht an und wird nun von Kawasaki<br />
auf den asiatischen Schlüsselmärkten
vertrieben. Shubhabrata Marmar, leitender<br />
Redakteur der Autozeitschrift Business<br />
Standard Motoring: „Die Wind könnte<br />
das letzte Kawasaki-Kleinkraftrad auf dem<br />
indischen Markt sein.“ Bajaj sollte sein<br />
Know-how beim Bau kleinerer Motorräder<br />
künftig komplett auf eigene Faust nutzen,<br />
empfiehlt der Autojournalist. Dann könnte<br />
sich Kawasaki auf den Import eigener<br />
Maschinen konzentrieren.<br />
Erst kooperieren, dann schrittweise unabhängig<br />
werden – Bajaj tut genau das, was die<br />
Japaner in den fünfziger Jahren so erfolgreich<br />
in der britischen Motorradbranche<br />
vorführten. Zwar sollen auch künftig weiter<br />
einige Produkte in Gemeinschaftsarbeit entstehen.<br />
Doch die Entwicklungsarbeit übernimmt<br />
zunehmend Bajaj.<br />
Fragt sich, wo die Kernmärkte für weiteres<br />
Wachstum liegen. In Indien selbst ist die<br />
Firmenposition gefestigt. Bajaj steht an zweiter<br />
Stelle und ist der am schnellsten wachsende<br />
Motorradhersteller des Landes.<br />
Doch die Strategie des Unternehmens beschränkt<br />
sich längst nicht mehr auf den<br />
Subkontinent, sondern richtet sich auch auf<br />
benachbarte Märkte, vor allem in Südostasien.<br />
Länder wie Indonesien, Sri Lanka oder<br />
Bangladesch können japanische und europäische<br />
Qualitätsanbieter nämlich kaum<br />
kostendeckend bedienen.<br />
Außerdem visiert Bajaj den Riesenmarkt<br />
China an. Denn kleine Motorräder von solider<br />
Grundqualität sind gerade für die dortigen<br />
rauen Landschaften und langen Wege<br />
geeignet. Im Alleingang mutet sich Rajiv<br />
Bajaj diesen Schritt vorerst nicht zu: „Wir<br />
möchten die Nachfrage nach neuen Technologien<br />
decken und suchen zunächst jemanden,<br />
der diese von uns bezieht.“<br />
Nach drei bis fünf Jahren Technologieexport<br />
könne dann die Lieferung kompletter<br />
Maschinen der nächste Schritt sein. Indien<br />
und China erobern also nicht nur gemeinsam<br />
den Weltmarkt, sondern machen sich<br />
auch auf den Heimatmärkten Konkurrenz.<br />
bajaj will den riesenmarkt china erobern industry-report f<br />
Indien: Standort im Wandel<br />
INDIEN WIRD IN ERSTER LINIE ALS DIENSTLEISTER DER WELTWIRTSCHAFT WAHRGENOMMEN.<br />
DOCH AUCH IN DER INDUSTRIE HOLEN DIE UNTERNEHMEN AUF. PARALLEL DAZU STEIGEN DIE<br />
AUSLÄNDISCHEN DIREKTINVESTITIONEN, LIEGEN ABER DEUTLICH UNTER DENEN IN CHINA.<br />
INDUSTRIE UND DIENSTLEISTUNGEN LEGEN IN INDIEN ZU<br />
ANTEIL AM BIP NACH SEKTOREN (IN PROZENT)<br />
19<br />
29<br />
QUELLE: WELTBANK<br />
1960 1980 2004<br />
MANAGER SIND AUF DEM MARKT ...<br />
VERFÜGBARKEIT VON FÜHRUNGSKRÄFTEN<br />
... UND KOSTEN VERGLEICHSWEISE WENIG<br />
JAHRESGEHÄLTER (IN US-DOLLAR)<br />
LAND VERFÜGBARKEIT*<br />
CEO PERSONALCHEF INGENIEUR<br />
USA<br />
7, 2 573 852<br />
242 377<br />
99 456<br />
DEUTSCHLAND<br />
6,7 384 287<br />
202 291<br />
131 348<br />
INDIEN<br />
6,3 122 742<br />
62 807<br />
34 854<br />
BRASILIEN<br />
6,0<br />
295 170<br />
90 245<br />
65 653<br />
CHINA<br />
2,9<br />
90 922<br />
55 523<br />
34 207<br />
* 0 = KEINE KANDIDATEN VERFÜGBAR, 10 = KANDIDATEN KÖNNEN SOFORT EINGESTELLT WERDEN<br />
QUELLE: IMD WORLD COMPETITIVENESS YEARBOOK, 2006<br />
AUSLÄNDISCHE DIREKTINVESTITIONEN<br />
IN MILLIARDEN US-DOLLAR<br />
40,7<br />
46,9<br />
52<br />
LANDWIRTSCHAFT DIENSTLEISTUNGEN INDUSTRIE<br />
2,3 3,4 3,4 4,3 5,3<br />
2000 2001 2002 2003 2004<br />
INDIEN CHINA<br />
52,7<br />
53,5<br />
37<br />
QUELLE: STATISTICAL OUTLINE OF INDIA 2004–2005<br />
58,0<br />
40<br />
23<br />
MITARBEITER SIND LOYAL<br />
EMOTIONALE BINDUNG AN DAS UNTERNEHMEN<br />
5<br />
26<br />
18<br />
% %<br />
69<br />
27<br />
21<br />
13<br />
INDIEN DEUTSCHLAND<br />
HOCH GERING KEINE<br />
QUELLE: GALLUP WORKFORCE ENGAGEMENT<br />
INDEX INDIEN, DEUTSCHLAND 2005<br />
52<br />
69<br />
43
Frischer Ostwind<br />
pkn orlen setzt in polen auf eine zwei-marken-strategie industry-report f<br />
Vom Staatsbetrieb zum europäischen Player: PKN Orlen hat die Wende geschafft und mischt Europas<br />
Tankstellenmärkte auf. Hier erklärt Vorstandsmitglied Heydel der FT-Energieexpertin Carola Hoyos,<br />
wo PKN Orlen wachsen will und warum Verluste im Westen die Eintrittskarte ins Big Business waren.<br />
THINK: ACT Herr Heydel, PKN Orlen hatte auf<br />
dem polnischen Tankstellenmarkt einst<br />
einen Marktanteil von 100 Prozent, heute<br />
liegt er bei unter 30 Prozent. Macht Ihnen<br />
das Sorgen?<br />
HEYDEL Zur Zeit des Kommunismus stand der<br />
Tankstellenmarkt vollständig unter staatlicher<br />
Kontrolle. Es gab ein Unternehmen, das eine<br />
Lizenz zur Gestaltung des Marktes besaß.<br />
Anfang der neunziger Jahre öffnete sich der<br />
Markt, und eine große <strong>Anzahl</strong> von Ölfirmen<br />
versuchte, hier aktiv zu werden: Amoco, Aral,<br />
Agip, Esso, Shell, BP, Neste, Statoil, Texaco und<br />
andere. Natürlich war der Markt dazu nicht<br />
flexibel genug. In 15 Jahren dürften nur noch<br />
Shell, BP und Statoil übrig sein; die anderen<br />
werden sich wohl zurückziehen. PKN hat heute<br />
einen Marktanteil von 27 Prozent – immer<br />
noch eine einflussreiche Position.<br />
Aber reichen dürfte Ihnen das nicht. Wie<br />
wollen Sie den Marktanteil ausbauen?<br />
Wir produzieren zwei Drittel des gesamten Verbrauchs<br />
in Polen. Für uns ist es außerordentlich<br />
wichtig, den Großteil dieser Produktion<br />
auch über unsere eigene Kette zu verkaufen.<br />
Wir können unsere schrumpfenden Marktanteile<br />
nicht länger akzeptieren, sondern möchten<br />
einen Wert von über 30 Prozent erreichen.<br />
Unser strategischer Plan ist es daher, die Tankstellen<br />
zu entwickeln und damit Marktanteile<br />
zurückzuerobern.<br />
Und wie kommen Sie voran?<br />
2004 bemerkte unser damals neues Management,<br />
dass unser Investitionsprogramm im<br />
Bereich Tankstellen nicht ausreichte. Von 2000<br />
bis 2004 eröffnete PKN Orlen gerade einmal<br />
fünf bis zehn Tankstellen pro Jahr – angesichts<br />
der Geschwindigkeit, mit der der Markt wuchs,<br />
viel zu wenig. Wir gaben daher die Devise aus,<br />
fortan über 40 Tankstellen pro Jahr zu eröffnen<br />
und außerdem 65 alte abzureißen und neu aufzubauen.<br />
Im vergangenen Jahr zum Beispiel<br />
haben wir so mehr als 100 de facto neue Tankstellen<br />
eröffnet. Von 2005 bis 2009 wollen wir<br />
mehr als 700 Millionen Dollar in unser Netz<br />
investieren und damit jedes Jahr insgesamt<br />
über 300 Tankstellen rebranden, neu bauen,<br />
modernisieren oder renovieren.<br />
Sie haben sich kürzlich auch von der alten<br />
Ein-Marken-Strategie im polnischen Tankstellenbereich<br />
verabschiedet. Weshalb?<br />
Es gibt zwei Arten von Kunden: Die einen, besser<br />
ausgebildet, jünger, gut verdienend, erwarten<br />
von Tankstellen qualitativ hochwertige<br />
Angebote, einschließlich Convenience-Stores,<br />
Autowaschanlagen und Tankwarten statt<br />
Selbstbedienung. Andere Kunden aber gucken<br />
vor allem auf den Spritpreis. Wir haben daher<br />
entschieden, die Marke Orlen aufzuspalten und<br />
eine Zwei-Marken-Strategie zu fahren. Fast<br />
1000 Tankstellen sollen auf eine neue Marke<br />
umgestellt werden, die sich als „wirtschaftlich“<br />
definiert. Etwa 900 werden zur Premiummarke<br />
„Orlen“. Anfang November letzten Jahres eröffneten<br />
wir die erste Discounttankstelle unter<br />
der Marke „Bliska“, was auf Polnisch „nahe<br />
dran“ heißt. Ende 2005 hatten wir 30 Versuchstankstellen.<br />
Auch unsere Strategie im Bereich Kraftstoff<br />
haben wir verändert. Hier setzen wir auf Spitzentechnologie<br />
und eine eigene Marke. Im September<br />
haben wir unseren Markenkraftstoff<br />
„Verva“ eingeführt.<br />
Nach einem halben Jahr Bliska und fast einem<br />
Jahr Verva lässt sich sagen, dass die Bliska-Versuchstankstellen<br />
und der Verva-Umsatz unsere<br />
Erwartungen klar übertroffen haben.<br />
Mit Ihren Convenience-Stores sind sie bisher<br />
weniger erfolgreich ...<br />
Der Umsatz unserer Convenience-Stores liegt<br />
immer noch unter dem Branchenstandard. Das<br />
ist daher auch eines unserer wichtigsten Projekte<br />
im laufenden Jahr.<br />
WOJCIECH HEYDEL verantwortet als Executive<br />
Vice President die Bereiche Marketing und<br />
Sales von PKN Orlen. Vor seinem Einstieg dort<br />
baute er zwölf Jahre lang das Polen-Geschäft des<br />
britischen Ölkonzerns BP mit auf. Heydel studierte<br />
an der Silesian University of Technology im polnischen<br />
Gliwice und an der University of Michigan.<br />
PKN ORLEN ist mit gut 10,2 Milliarden Euro<br />
Umsatz der größte polnische Mineralöl- und Tankstellenkonzern.<br />
Das Unternehmen steigerte 2005<br />
seinen Umsatz um 35,4 Prozent und seinen Vorsteuerprofit<br />
sogar um 84,7 Prozent (auf 1,3 Milliarden<br />
Euro). Für 2006 sagt PKN Orlen15 Prozent<br />
Wachstum beim Operating Profit voraus.<br />
Nach konsequenter Umstrukturierung ist der ehemalige<br />
Staatsbetrieb heute einer der zentralen<br />
Player im europäischen Öl- und Tankstellengeschäft.<br />
In Deutschland betreibt PKN das Tankstellennetz<br />
Orlen, in Tschechien die Kette Unipetrol.<br />
Momentan übernimmt das Unternehmen die litauische<br />
Raffinerie Mazeikiu Nafta. Weitere Akquisitionen<br />
in Westeuropa gelten als wenig wahrscheinlich,<br />
in Zentral-, Ost- und Südeuropa hingegen will<br />
PKN Orlen seine Marktposition auch durch Übernahmen<br />
ausweiten.<br />
45
46<br />
Eine Bedrohung könnte von den etwa in<br />
Frankreich sehr etablierten großflächigen<br />
Hypermärkten ausgehen, die neben vielen<br />
Konsumgütern auch Sprit anbieten. Fürchten<br />
Sie diese Konkurrenz für Polen?<br />
Die Liberalisierung verhalf den Hypermärkten<br />
hier in Polen zu einem enormen Aufschwung.<br />
Heute haben 67 von ihnen ihre eigenen Tankstellen<br />
und verkaufen Benzin zu Billigpreisen.<br />
Ihr Marktanteil ist zwar noch sehr klein. Aber<br />
sollten sie wachsen, könnten wir ähnliche Probleme<br />
bekommen wie Tankstellenbetreiber in<br />
Frankreich. Aber es ist auch eine andere Entwicklung<br />
denkbar, eher wie jene in Deutschland,<br />
mit weniger Hypermärkten und vielen<br />
kleinen Franchising-Betrieben.<br />
Sie selbst mussten auf dem deutschen<br />
Markt einiges Lehrgeld mit Ihrem Tankstellennetz<br />
zahlen ...<br />
Wir stiegen 2003 mit dem Kauf von 494 Tankstellen<br />
in Deutschland ein. Wir haben dort viel<br />
Geld verloren, aber das war wahrscheinlich die<br />
Eintrittsgebühr, um im internationalen<br />
Geschäft mitzuspielen. Im letzten Jahr mussten<br />
wir uns entscheiden, wie es in Deutschland<br />
weitergehen sollte. Wir haben auch überlegt,<br />
das Geschäft zu verkaufen. Es war eine<br />
schreckliche Zeit: Wir schlossen Dutzende von<br />
Tankstellen, entließen <strong>Mitarbeiter</strong> und änderten<br />
Verträge mit den Händlern. Aber rückblickend<br />
war es die Sache wert: Im ersten Halbjahr<br />
2006 haben wir zum ersten Mal schwarze<br />
Zahlen geschrieben. Insofern liegt meiner Meinung<br />
nach die schlimmste Phase hinter uns.<br />
Wie wollen Sie auf dem harten deutschen<br />
Markt bestehen?<br />
Der deutsche Markt ist anders als der polnische:<br />
Er schrumpft, es herrscht ein harter Konkurrenzkampf,<br />
die Gewinnspannen sind<br />
gering, die Kostenseite ist entscheidend. Nur<br />
knallharte Kostenkontrolle bringt Sie in die<br />
schwarzen Zahlen.<br />
Aber Sie glauben an Ihr Deutschland-<br />
Engagement?<br />
Unser Marktanteil ist ja sehr klein (weniger als<br />
drei Prozent des Gesamtmarktes und sieben<br />
Prozent des norddeutschen Marktes), es gibt<br />
zwei sehr dominante Wettbewerber – BP und<br />
Shell. Schaffen wir es, unsere Sparmaßnahmen<br />
erfolgreich zu beenden, werden wir uns nach<br />
Kaufgelegenheiten umschauen, um etwa zehn<br />
Prozent Marktanteil zu erreichen. Aber falls<br />
wir einen guten Käufer finden, was nicht leicht<br />
ist, könnten wir auch mit diesem verhandeln.<br />
Was lehrt Sie die deutsche Erfahrung für<br />
andere Märkte?<br />
Deutschland hat uns eine wertvolle Lektion<br />
erteilt, denn meiner Meinung nach werden sich<br />
Tschechien und Polen ganz ähnlich entwickeln.<br />
In Tschechien haben wir durch die Tankstellenkette<br />
Benzina, die wir mit unserer Unipetrol-<br />
Übernahme erworben haben, einen Marktanteil<br />
von zehn Prozent. Dort werden wir unsere<br />
deutschen und polnischen Strategien kombinieren,<br />
also sowohl Kosten senken als auch stärker<br />
und schneller investieren. Wir werden auch<br />
hier eine Zwei-Marken-Strategie verfolgen.<br />
Wojciech Heydel (rechts) im<br />
Gespräch mit Carola Hoyos in<br />
PKN Orlens Zentrale. Der Topmanager<br />
setzt auf Expansion<br />
auch durch Zukäufe.<br />
Und über Tschechien hinaus? Wo wollen<br />
Sie weiter expandieren – im Westen oder<br />
eher in Osteuropa?<br />
Wir wollen uns auf weniger entwickelte Länder<br />
konzentrieren. Wir sind gerade dabei, die<br />
Mazeikiu-Nafta-Raffinerie in Litauen zu übernehmen.<br />
Die Tankstellenketten in den vier<br />
Ländern, die von dieser Raffinerie beliefert<br />
werden (Lettland, Litauen, Estland und Ukraine),<br />
sind noch unterentwickelt. Daher wollen<br />
wir unsere Position im Einzelhandel dieser vier<br />
Länder verbessern. Ich denke nicht, dass wir<br />
uns in absehbarer Zukunft über Deutschland<br />
hinaus in weitere reife Märkte einkaufen.<br />
Sind hohe Ölpreise ein Problem für Sie?<br />
In Polen beträgt der Durchschnittslohn pro<br />
Monat etwa 600 Euro. Das heißt, wenn die<br />
Kraftstoffpreise einen Euro pro Liter erreichen<br />
– und das ist immer noch erheblich weniger als<br />
die Höchstpreise etwa in Deutschland und<br />
Frankreich – dann fahren die Leute einfach<br />
weniger. Aber trotz hoher Kraftstoffpreise<br />
haben wir eine Periode hohen BIP-Wachstums<br />
hinter uns. Wenn die Industrieproduktion und<br />
die Bauindustrie wachsen, hat man nicht das<br />
Gefühl, dass sich der Preis sehr auf die Konjunktur<br />
auswirkt.<br />
Für PKN Orlen bedeutete der hohe internationale<br />
Ölpreis, dass das Unternehmen lernen<br />
musste, rationeller zu arbeiten. Wir können<br />
schließlich nicht jede Ölpreiserhöhung an den<br />
Kunden weitergeben.<br />
CAROLA HOYOS ist Chief Energy Correspondent<br />
der Financial Times (FT). Bis 2003<br />
war sie Korrespondentin am Sitz der Vereinten<br />
Nationen in New York. Von dort berichtete sie<br />
unter anderem über die Vorgeschichte des<br />
Irakkrieges. Im Jahr 2000 war sie Mitglied<br />
eines FT-Teams, das der britische Verband der<br />
Auslandspresse für die beste Geschäfts- und<br />
Finanzberichterstattung auszeichnete.
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48<br />
Vielfalt als Wettbewerbsvorteil<br />
Europas Stärke ist seine Heterogenität. Doch gelingt es, sie in profitables Wachstum zu verwandeln?<br />
Diese Frage steht im Fokus des zweiten „Best of European Business“-Wettbewerbs. Burkhard<br />
Schwenker stellt ihn hier vor – und erklärt, warum sich Europas Firmen nicht verstecken müssen.<br />
: Europa ist ein Kontinent der Vielfalt.<br />
Kein anderer politischer Entscheidungsraum<br />
bietet diese Mischung aus kultureller<br />
Heterogenität und unterschiedlichen politischen<br />
Strukturprinzipien, die von einer<br />
gemeinsamen Wertebasis zusammengehalten<br />
werden. 50 Jahre nach der Ratifizierung<br />
der EU-Verträge steht damit fest: Das Experiment<br />
Europa ist auf der kulturellen und politischen<br />
Ebene weit gehend geglückt.<br />
Aber: Wie schaffen es die Unternehmen, aus<br />
Europas Vielfalt Kraft zu schöpfen? Wie entsteht<br />
daraus profitables Wachstum? Was<br />
macht die Integration der Unternehmen<br />
über die Landesgrenzen hinweg erfolgreich?<br />
Wie gut sind sie darin, fremde Kulturen zu<br />
integrieren und eine europäische Unternehmenskultur<br />
aufzubauen? Diese Fragen sind<br />
es, mit denen wir uns in unserem zweiten<br />
Wettbewerb „Best of European Business“ in<br />
diesem Jahr beschäftigen. Die europäische<br />
Integration innerhalb von Unternehmen und<br />
der Erfolg grenzüberschreitender Fusionen<br />
werden – neben der generellen Performance<br />
der Firmen – im Mittelpunkt unserer Unter-<br />
suchungen stehen. Dabei wird sich zeigen,<br />
wie europäisch Europas Unternehmen sind<br />
und was ihnen das bringt. Und weil die kulturellen<br />
Eigenheiten eines Landes immer<br />
auch Rückwirkungen auf die soziale Einbettung<br />
und gesellschaftliche Akzeptanz<br />
von Unternehmen haben, werden wir in diesem<br />
Jahr – gemeinsam mit der Europäischen<br />
Kommission – erstmals auch die besten<br />
Ansätze im Bereich Corporate Social Responsibility<br />
prämieren.<br />
Unser Ansatz, ein europaweites Benchmarking<br />
zu betreiben und damit einen realistischen<br />
Blick auf die wahre Leistungsstärke<br />
und die Optimierungspotenziale für Europas<br />
Unternehmen aufzudecken, führte bereits<br />
bei der Erstauflage des „Best of European<br />
Business“ zu überraschenden Erkenntnissen.<br />
Europa verfügt über eine Reihe von Spitzenunternehmen,<br />
die auch im weltweiten Vergleich<br />
herausragen – ein Ergebnis, das uns<br />
überrascht hat. Sehr deutlich zeigte sich dies<br />
bei den Wachstumsraten der besten Unternehmen.<br />
Im Vergleichszeitraum 2000 bis<br />
2004 legten die Top-Performer fast alle um<br />
mehr als 20 Prozent zu. Die These, auf<br />
Grund der weltweiten Konkurrenz könnten<br />
europäische Unternehmen nur noch in<br />
vereinzelten Industriebereichen punkten,<br />
lässt sich nicht halten. Selbst in alten Industrien<br />
wie der Bauwirtschaft und der Textilbranche<br />
schreiben Champions wie der portugiesische<br />
Baukonzern Mota Engil oder die<br />
spanische Inditex Erfolgsgeschichten. Inditex<br />
ist in den vergangenen Jahren um über<br />
21 Prozent gewachsen – viermal so stark<br />
wie der Branchendurchschnitt. In Schlüsselindustrien<br />
wie Automobilbau, Chemie, Öl<br />
und Gas oder Telekommunikation wachsen<br />
Europas Firmen regelmäßig schneller als<br />
ihre Wettbewerber.<br />
Echte Champions lassen sich selbst von<br />
unvorteilhaften Rahmenbedingungen nicht<br />
aufhalten. So sind hohe Wachstumsraten<br />
der Unternehmen nicht abhängig vom Grad<br />
der Bürokratie in den jeweiligen Heimatländern.<br />
Doch auch wenn sich die bessere Idee<br />
über schwierige Rahmenbedingungen hinwegsetzt<br />
– unter wirtschaftsfreundlicheren<br />
Bedingungen könnten noch weit bessere
Ergebnisse erzielt werden. So hat es einen<br />
deutlichen Effekt, wenn der Staat direkt in<br />
Geschäfte eingreift. Europäische Firmen<br />
mit signifikantem Staatsanteil wuchsen im<br />
Schnitt nur halb so schnell wie private<br />
Unternehmen.<br />
Auch beim Thema Innovation schneiden die<br />
Europäer – allen voran deutsche und skandinavische<br />
Unternehmen – besser ab als die<br />
globale Konkurrenz. Sie haben die fortschrittlichsten<br />
Produktionsprozesse, machen<br />
besseres Marketing und Branding und verfügen<br />
über höhere Innovationskapazitäten.<br />
Der französische Pharmakonzern Sanofi-<br />
Aventis ist hier ein Beispiel. Rund vier Milliarden<br />
Euro werden in Forschung und Entwicklung<br />
investiert, knapp zwei Drittel der<br />
Präparate genießen umfassenden Patentschutz<br />
und können kurzfristig nicht von Generikaherstellern<br />
kopiert werden.<br />
Die besten europäischen Unternehmen nutzen<br />
die neuen Chancen in Mittel- und Osteuropa.<br />
Mit einer frühen Präsenz vor Ort und<br />
flexiblen, den örtlichen Gegebenheiten<br />
angepassten Konzepten haben sie Spitzenpositionen<br />
eingenommen. So publiziert der<br />
Axel-Springer-Verlag mit FAKT die größte<br />
polnische Tageszeitung und betreibt den<br />
größten Verlag Ungarns.<br />
Die nationalen Wettbewerbe haben also<br />
gezeigt, dass Europa über viele hochdynamische<br />
Unternehmen verfügt, deren Performance<br />
auch im weltweiten Vergleich hervorsticht.<br />
Doch wie ist es um die Wettbewerbsfähigkeit<br />
der Unternehmen auf dem Heimatmarkt<br />
Europa, dem größten Absatzmarkt der<br />
Welt, bestellt? Um dies herauszufinden,<br />
bezogen wir in unseren europaweiten Wettbewerb<br />
alle Unternehmen ein, die geschäftlich<br />
in Europa aktiv sind. Ergebnis: In allen<br />
neun untersuchten Industrien gewannen die<br />
Europäer. Dies belegt aus unserer Sicht<br />
zweierlei. Zum einen ist die Stärke auf dem<br />
Heimatmarkt nach wie vor entscheidend für<br />
die globale Performance. Zum anderen –<br />
und hier wird die Relevanz unseres neuen<br />
entscheider müssen ihre zentralen als systemköpfe verstehen industry-report f<br />
Schwerpunkts deutlich – verfügen Topunternehmen<br />
offensichtlich über die Fähigkeit,<br />
die Vielfalt Europas zum Wettbewerbsvorteil<br />
zu machen. Nicht zuletzt auf Grund ihrer<br />
kulturellen Anpassungsfähigkeit ist UBS,<br />
Gesamtsieger unseres Wettbewerbs, weltweit<br />
erfolgreich. Die Spitzenbank muss in<br />
ihrem Heimatland mit vier Landessprachen<br />
klarkommen – Sprach- und Kulturbarrieren<br />
zu überwinden ist also ein fester Bestandteil<br />
der Unternehmens-DNA.<br />
Auf Europa verzichten wollen die Firmen<br />
nicht. Das ergab eine Exklusivumfrage, die<br />
wir direkt unter CEOs durchführten. Fast<br />
alle Befragten waren der Ansicht, Europa<br />
werde künftig eine größere Rolle spielen.<br />
Der Kontinent hat zwar seine Schwächen,<br />
wird dadurch aber im Gefüge der globalen<br />
Wirtschaft keinesfalls irrelevant.<br />
Die wichtigsten Argumente für Europa sind<br />
die Menschen und ihr Können, eine hervorragende<br />
Infrastruktur und ein regulatorisches<br />
Umfeld, das von vielen vielleicht als<br />
zu dicht empfunden werden mag – das aber<br />
einen verlässlichen Rahmen für gute<br />
Geschäfte bietet. Europa wird, so die Manager,<br />
in den nächsten zehn Jahren besonders<br />
in Schlüsselfeldern an Bedeutung gewinnen:<br />
Bei den Themen Finanzierung, Vertrieb und<br />
Marketing, Branding, Managementausbildung<br />
und Management-Recruiting wird der<br />
Kontinent als „Rising Star“ gesehen.<br />
Ein Grund dafür ist wiederum seine Vielfalt.<br />
Europa besteht aus ganz unterschiedlichen<br />
Standorten, von denen jeder seine eigenen<br />
komparativen Vorteile hat. Europäischen<br />
Unternehmen bietet sich die Chance, diese<br />
zu einem wettbewerbsfähigen Netzwerk<br />
zu verknüpfen. Schon heute fungieren die<br />
meist westeuropäischen Zentralen vieler<br />
Unternehmen als Systemkopf schlagkräftiger<br />
Netzwerke. Wenn die Unternehmen<br />
an der Vervollkommnung ihrer Kompetenz<br />
arbeiten, Netzwerke zu knüpfen und diese<br />
unter Berücksichtigung der Stärken jedes<br />
Standorts zu steuern, wird Europa für sie<br />
EUROPAS BESTE ZUM ZWEITEN<br />
Auf zehn Teilnehmerländer hat <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong><br />
den „Best of European Business“-Wettbewerb<br />
in diesem Jahr erweitert. Neu dabei sind Dänemark,<br />
die Niederlande und die Schweiz. Daneben<br />
werden auch wieder in Deutschland,<br />
Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen, Portugal<br />
und Spanien die besten Unternehmen<br />
ausgezeichnet. Ab August werden die nationalen<br />
Preise vergeben, der erste davon in der<br />
Schweiz. Voraussichtlich im kommenden März<br />
findet die europäische Abschlussgala statt.<br />
Die Kategorien in diesem Jahr: Wachstum,<br />
grenzüberschreitende M&A-Aktivitäten und<br />
Europäisierung. Im Bereich Wachstum werden<br />
Unternehmen ausgezeichnet, die seit 2001<br />
besonders starke Absatzzuwächse verzeichneten<br />
und dabei profitabel waren. Bei den Mergers<br />
and Acquisitions suchen die nationalen<br />
Jurys nach Beispielen für Zusammenschlüsse,<br />
die besonders nachhaltig Werte erzeugten.<br />
Die Kategorie Europäisierung schließlich prämiert<br />
Unternehmen, denen es gelingt, die<br />
Dimension Europa besonders überzeugend in<br />
ihre Strategien einzubeziehen.<br />
Auch in diesem Jahr setzt <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> auf<br />
hochkarätige Jurys und Medienpartner, um<br />
Objektivität und Qualität zu garantieren.<br />
Medienpartner des Gesamtwettbewerbs wird<br />
in diesem Jahr CNN. Zu den nationalen<br />
Medienpartnern gehören Boersen (Dänemark),<br />
manager magazin (Deutschland),<br />
Enjeux les Echos (Frankreich), Il Sole 24 Ore<br />
(Italien), Harvard Business Review (Polen),<br />
Journal de Negócios (Portugal), Die Bilanz<br />
(Schweiz), The Times (Großbritannien) und<br />
Wall Street Journal Europe.<br />
zu einem echten Standort- und Wettbewerbsvorteil.<br />
Für die Politik muss dies ein Anreiz sein, die<br />
Rahmenbedingungen für die Unternehmen<br />
zu verbessern. Gelingt dies und werden die<br />
bestehenden Nachteile im globalen Standortvergleich<br />
reduziert, so kann tatsächlich<br />
die kulturelle Vielfalt des Kontinents im globalen<br />
Wettbewerb den Ausschlag geben.<br />
49
p industry-report trends und branchen<br />
50<br />
Zukunftsmärkte im Check<br />
Autos kommunizieren miteinander. Computerchips verstehen künftig mehr als null und eins. Ein<br />
neues Satellitensystem ortet auf einen Meter genau alles. Elektronische Lesegeräte kommen.<br />
vernetzte fahrzeuge<br />
Viele Verkehrsunfälle geschehen auf Grund von<br />
Fehlinformation: Im dichten Verkehr erkennen<br />
Autofahrer das Geschehen vor sich nicht und reagieren<br />
daher zu spät. Führende Autobauer (Volkswagen,<br />
Audi, DaimlerChrysler, BMW, Honda, Renault) und<br />
Elektronikfirmen (Philips, NEC) haben sich daher in dem<br />
Konsortium Car2Car Communication zusammengeschlossen,<br />
um einen europäischen Standard für ein Telematiksystem<br />
auf Basis der Wireless-LAN-Technik zu entwickeln.<br />
Die Idee: Die Fahrzeuge bilden während der Fahrt<br />
„Ad-hoc-Netze“ und tauschen untereinander Nachrichten<br />
über die aktuelle Verkehrslage aus. Steht ein Fahrzeug<br />
beispielsweise im Stau, sendet es diese Information an<br />
alle Fahrzeuge in seinem Umfeld und gibt dadurch<br />
Gelegenheit zu frühzeitiger Reaktion. Auch das Umfahren<br />
des Staus mittels Navigationssystem würde dadurch<br />
möglich. „Wenn nur zehn Prozent aller Fahrzeuge in<br />
Deutschland direkt miteinander kommunizieren könnten“,<br />
rechnet Burkhard Göschel vor, Entwicklungsvorstand<br />
bei BMW, „würden wir eine flächendeckende<br />
Verkehrsinformation erhalten.“ Erst in zehn bis 15 Jahren,<br />
so heißt es bei BMW, werden diese Systeme Marktreife<br />
erlangen. Dann allerdings könnten sie nachträglich<br />
den Versuch der Europäischen Kommission unterstützen,<br />
die Zahl der Verkehrstoten bis zum Jahr 2010 im Vergleich<br />
zu 2001 zu halbieren.<br />
quantencomputer<br />
Gemäß dem „Mooreschen Gesetz“ verdoppelte sich<br />
die Leistungsfähigkeit von Siliziumchips in den vergangenen<br />
40 Jahren alle 18 Monate. Bald sollen die Strom<br />
führenden Kanäle der Prozessoren nur noch 22 Nanometer<br />
breit sein. Damit stoßen die Hersteller allerdings<br />
an die Grenzen der klassischen Physik – und in die<br />
Quantenmechanik vor. Dort können Bits nicht mehr<br />
nur die Zustände „eins“ oder „null“ annehmen. Die<br />
Quantenbits, auch Qubits genannt, überlagern diese singulären<br />
Zustände durch kohärente. So wie eine Lampe,<br />
die nicht nur in den Grundfarben leuchtet, sondern<br />
auch in den Komplementärfarben. Der Vorteil: Qubits<br />
lösen mathematische Fragestellungen wie das Entschlüsseln<br />
von Daten wesentlich schneller. Das Problem:<br />
Sie sind sehr instabil. Um im Bild zu bleiben: Sobald<br />
jemand das Farbenspiel beobachten will, zerfällt es<br />
in seine Grundfarben.<br />
Weltweit versuchen Forscher, Quantencomputer zu<br />
entwickeln. Eine Rechenmaschine mit fünf Qubits wurde<br />
bereits realisiert. Doch je mehr Qubits dazukommen,<br />
desto kürzer die Zeit, in denen die Qubits rechnen können.<br />
Trotzdem glauben die Wissenschaftler langfristig an<br />
den Erfolg. „Das ist eine Frage der experimentellen<br />
Entwicklung“, sagt Anton Zeilinger, Experimentalphysiker<br />
an der Universität Wien. Kommerzielle Lösungen erwarten<br />
viele Forscher nicht vor 2020. Die Ausnahme bildet<br />
das kanadische Start-up-Unternehmen D-Wave-Systems.<br />
„Wir planen, einen Prototyp bis Ende 2006 fertig zu stellen“,<br />
kündigt CEO Geordie Rose an.<br />
So schrumpfen moderne Transistoren<br />
Kanalbreite Transistoren pro Chip<br />
(in Nanometern) (in Millionen)<br />
2003 90 180<br />
2005 65 380<br />
2007 45 1500<br />
2009 32 3010<br />
2011 22 keine Angabe<br />
Quelle: AMD, ITRS
galileo-satellitennavigation<br />
Am 28. Dezember 2005 startete eine Sojus-<br />
Trägerrakete in eine neue Ära. Vom russischen<br />
Weltraumbahnhof Baikonur hievte sie Giove-A, den<br />
ersten Testsatelliten des Galileo-Systems, auf eine geostationäre<br />
Umlaufbahn ins Weltall. Bis 2010 sollen 30 Satelliten<br />
die Kommunikation mit und auf der Erde sichern. „Dann<br />
wird Galileo nutzbar sein und den Alltag der Bürger verbessern“,<br />
prognostiziert Jacques Barrot, Vizepräsident der<br />
EU-Kommission.<br />
Im Unterschied zu den bestehenden Satellitensystemen,<br />
dem amerikanischen Global Positioning System (GPS) und<br />
dem russischen Glonass, ist Galileo für zivile Bedürfnisse<br />
konzipiert. Die Privatwirtschaft wird das System betreiben.<br />
Militärische Einschränkungen soll es nicht geben. Ein weiterer<br />
Unterschied: Die Galileo-Satelliten arbeiten exakter als<br />
e-paper<br />
Die belgische Tageszeitung DeTijd startete im April den<br />
Feldversuch: 200 Abonnenten empfingen drei Monate lang<br />
Nachrichten statt auf Papier per Funk oder Internet auf<br />
einem elektronischen Lesegerät. Die Herstellerfirma<br />
IRexTechnologies, ein Philips-Spin-off, hat ihm den Namen<br />
eines der ältesten Bücher der Welt gegeben: „Iliad“. Im<br />
gleichnamigen Buch beschrieb Homer die Schlacht um Troja.<br />
Anders als bei Flüssigkristall-Displays flimmert das Bild<br />
des Iliad nicht. Das PDA-ähnliche Gerät baut auf helle und<br />
dunkle Partikel, die entgegengesetzt geladen sind und durch<br />
eine klare Lösung schwimmen. Beim Anlegen einer Spannung<br />
bewegen sich die hellen Partikel nach vorn, während<br />
die dunklen in den Hintergrund treten. Der Betrachter sieht<br />
die hellen Partikel. Wird die Spannung gedreht, nimmt der<br />
Betrachter die dunklen Partikel wahr. Wird die Spannung<br />
abgeschaltet, verharren die Partikel in der aktuellen Position.<br />
Der Kontrast zwischen Hell und Dunkel gleicht damit dem<br />
von bedrucktem Papier. Das E-Book von Sony, das im April<br />
trends und branchen industry-report f<br />
die Konkurrenz. Mit GPS lassen sich Objekte in<br />
der Senkrechten auf 70 Meter genau lokalisieren.<br />
Für Blindflüge eignet sich das System damit<br />
nicht. Galileo dagegen erlaubt es, die Lage von<br />
Menschen und Maschinen nahe der Erdoberfläche<br />
sowohl in der Senkrechten als auch in der Waagerechten<br />
auf einen Meter genau zu orten. Neue Anwendungen<br />
in der Logistik, aber auch in der Firmenkommunikation<br />
sollen damit möglich werden. Beispielsweise könnte Galileo<br />
die Navigation für Fischer, Ölförderfirmen oder die Holzindustrie<br />
verbessern. Die Kontrolle regulierter Logistikdienstleistungen<br />
ließe sich vereinfachen. Rainer Grohe,<br />
Exekutivdirektor der EU-Behörde Galileo Joint Undertaking,<br />
erwartet daher schnelles Wachstum. „Der Markt dürfte etwa<br />
2012 weltweit bei 22 bis 25 Milliarden Euro pro anno liegen.“<br />
auf den US-Markt gekommen ist, nutzt die gleiche Technik.<br />
Für Videoanwendungen eignen sich beide Geräte allerdings<br />
nicht, da die Partikel maximal einmal pro Sekunde ihre<br />
Position verändern. Auch knicken lassen sie sich noch nicht.<br />
Entsprechend gespannt nehmen Hersteller daher<br />
Ankündigungen wie jene der Technologieschmiede Plastic<br />
Logic auf, die die weltgrößte Aktivmatrix aus einer flexiblen,<br />
organischen Polyethylenfolie entwickelt haben will.<br />
51
p business-culture auch topmanager sollten die schulbank drücken
: Lohnt es sich für eine Hamburger-Kette,<br />
ein neues Restaurantkonzept zu starten?<br />
50 gut gekleidete Männer und Frauen sollen<br />
diese Frage beantworten, am Dienstagabend<br />
in der Zürcher Graduate School of Business<br />
Administration (GSBA). Sie diskutieren,<br />
schreiben Stichwörter auf Flip-Charts. Pizzastücke<br />
werden vertilgt. Es ist zwanzig nach<br />
acht. Doch müde wirkt keiner.<br />
Lange arbeiten sind die Studenten gewohnt.<br />
Sie arbeiten nämlich tagsüber in Leitungspositionen<br />
in Unternehmen. Den Kurs<br />
machen sie nebenher. Am Ende haben sie<br />
den Titel „Executive MBA“ in der Tasche.<br />
Das klingt glamourös, dahinter steht aber<br />
die grundsolide Idee, sich neben dem Beruf<br />
neues Wissen anzueignen.<br />
DAS ANGEBOT WIRD BREITER. ZUNEHMEND<br />
GERATEN AUCH OBERSTE FÜHRUNGSEBENEN<br />
INS VISIER DER WEITERBILDER.<br />
die telekom verordnete der gesamten führungscrew weiterbildung business-culture f<br />
Manager auf der Schulbank<br />
„Weiterbildung ist nichts für mich“, glaubten Entscheider bisher. Jetzt denken viele um. Immer<br />
mehr Angebote richten sich an erfahrene Verantwortungsträger. Selbst Topmanager drücken heute<br />
die Schulbank. Nicht zuletzt Change-Management können auch versierte Entscheider üben.<br />
Die Teilzeitstudenten in Zürich sind aufstrebende<br />
Manager, viele auf dem Sprung in<br />
oberste Führungsetagen. Die Weiterbildung<br />
verleiht ihnen den letzten Schliff. Wie sie<br />
drücken immer mehr Manager freiwillig<br />
die Schulbank.<br />
Die Angebote werden anspruchsvoller,<br />
immer weiter differenziert sich der Markt<br />
für Executive-Education aus. Und: Zunehmend<br />
näher an die obersten Führungsfunktionen<br />
rücken die Angebote heran. Volkshochschule<br />
für Eliten. Damit wird das gängige<br />
Vorurteil angekratzt, dass mit dem Aufstieg<br />
eines Managers seine Lernfähigkeit<br />
sinke. Immer mehr Angebote richten sich an<br />
Manager mit Führungserfahrung.<br />
Dabei wird Executive-Education noch oft als<br />
Tabu gesehen: Wer sich weiterbildet, offenbart<br />
eine Schwäche, so häufig die Denkweise.<br />
Aber der Markt wächst zweistellig.<br />
120 Millionen Pfund pro Jahr geben Entscheider<br />
allein in Großbritannien für ihre<br />
Weiterbildung aus. Vom Nachfragezuwachs<br />
profitieren Elite-Institutionen wie die französische<br />
INSEAD oder die GSBA, aber auch<br />
dubiose Anbieter ohne Zertifizierung.<br />
Ein Grund für den Boom: Heute rücken auch<br />
junge Führungskräfte schnell in hohe Positionen<br />
auf. Ihnen fehlt die Erfahrung früherer<br />
Topmanager. Sie brauchen den zusätzlichen<br />
Input aus dem Seminarraum. Dabei<br />
ändert sich das Verständnis von den Angeboten,<br />
„weg von der Führungskräfte-Fortbildung,<br />
hin zur Führungskräfte-Entwicklung“,<br />
so Srikant Datar, Dekan an der Harvard<br />
Business School. Punktgenau werden die<br />
Manager auf oberste Leitungsaufgaben und<br />
Entscheidungssituationen vorbereitet.<br />
Die Idee der Weiterbildung dringt auch deshalb<br />
zunehmend in obere Hierarchieebenen<br />
vor, weil sie zum veränderten Jobprofil der<br />
Spitzenmanager passt. Diese müssen heute<br />
nicht nur Unternehmen steuern, sondern<br />
auch Wissensmanagement in eigener Sache<br />
betreiben. Executives müssen ständig dazulernen,<br />
weil sich die Welt, in der sie agieren,<br />
permanent verändert. Teilweise in Mannschaftsstärke<br />
setzen sich sogar absolute Spitzenentscheider<br />
deshalb heute auf die Schul-<br />
bank. So wie das gesamte Führungsteam der<br />
Deutschen Telekom. Dieses unternahm eine<br />
Bildungsreise erster Klasse nach Harvard.<br />
René Obermann, CEO von T-Mobile: „Ich<br />
konnte ,Urlaub von der Verantwortung‘ nehmen<br />
und das Unternehmen aus einer ganz<br />
anderen Perspektive betrachten. Das Alltagsgeschäft<br />
fordert fast die gesamte Aufmerksamkeit,<br />
man ist im Kopf nicht frei, sich<br />
mit neuen Ideen zu beschäftigen.“<br />
Er fand es wichtig, in Boston mit Dozenten<br />
und anderen Teilnehmern „off the records“<br />
sprechen zu können. Und nutzte computergestützte<br />
Planspiele, die zeigen, wie sich<br />
bestimmte Veränderungen auf die Entwicklung<br />
eines Unternehmens auswirken.<br />
Der Vorteil der Bildungsarbeit aus dem<br />
Berufsleben heraus: Die Manager wissen,<br />
was die Firma braucht, und lassen Erkenntnisse<br />
folglich direkt in ihre tägliche Arbeit<br />
einfließen. Obermann etwa lernte in Harvard,<br />
dass hohe Kundenzufriedenheit nicht<br />
zwangsläufig zu mehr Absatz führt. Eine Einsicht,<br />
aus der heraus er ein neues Managementtool<br />
entwickelte: den „Net Promoter<br />
Score“. Dieser „evaluiert, in welchem Maße<br />
unsere Kunden uns weiterempfehlen“.<br />
Obermann ist überzeugt: „Es gehört zu den<br />
Anforderungen an eine Führungskraft, sich<br />
selbst und seine Kenntnisse regelmäßig auf<br />
den Prüfstand zu stellen.“ Diese Art proaktiver<br />
Weiterbildung ist innovativ. Flächendeckend<br />
durchgesetzt hat sie sich aber noch<br />
nicht. Viele Chefs handeln eher im Nachhinein<br />
und auf Ad-hoc-Basis.<br />
53
p business-culture die sloan school erteilt einzelunterricht im hotelzimmer<br />
54<br />
Das muss nicht zu spät sein. Beispiel Exxon-<br />
Mobil. Der Energieriese sah sich öffentlicher<br />
Kritik ausgesetzt. Die Folge: Sämtliche<br />
Executives weltweit durchliefen ein<br />
Medientraining. „Weil es ein Unterschied<br />
ist, ob man dem Wallstreet Journal ein<br />
Interview gibt oder sich den aggressiven<br />
Fragen von Reportern eines privaten Fernsehsenders<br />
stellen muss“, so die interne<br />
Begründung.<br />
Ein Problem in der Executive-Education<br />
globaler Konzerne: Wie stellt man sicher,<br />
dass Entscheider weltweit dasselbe lernen?<br />
Um für Einheitlichkeit zu sorgen, setzen<br />
viele Firmen heute auf interne Lösungen.<br />
Der französische Versicherungskonzern<br />
AXA etwa legte jüngst ein globales Programm<br />
auf, das weltweit alle Executives<br />
durchlaufen: AXA Ambition. Das Programm<br />
orientiert sich konsequent an der Praxis.<br />
AXA-Ausbilder Helmut Kolmerer: „In den<br />
letzten Jahren lag der Schwerpunkt stark<br />
auf Action-Learning“, also darauf, dass die<br />
Teilnehmer konkrete Problemlösungen<br />
erarbeiten und dadurch lernen. Die AXA<br />
steht damit für einen generellen Trend. Der<br />
Charakter von Executive-Fortbildung hat<br />
sich verändert, weg von der Theorie, hin zu<br />
einer Orientierung an der realen Firmenwelt.<br />
Denn: Topmanager sind lernwillig,<br />
reagieren aber auf unnötige Theorie schnell<br />
allergisch. Maßgeschneiderte Programme<br />
für einzelne Unternehmen gewinnen daher<br />
an Bedeutung. „Wir haben dazu viel mehr<br />
Anfragen, als wir bewältigen können“, so<br />
Charles Breckling, Marketingdirektor der<br />
Harvard Business School. „Aber es hat keinen<br />
Sinn, schnell mal einen Strategiekurs<br />
für 20 Teilnehmer aus einem Unternehmen<br />
zu konzipieren.“<br />
Sinnvollerweise trägt eine solche spezialisierte<br />
Fortbildung einige Jahre. Und sie<br />
berücksichtigt die Zeitknappheit der Manager.<br />
Wie weit diese Art Kundenorientierung<br />
gehen kann, zeigt ein Angebot der Sloan<br />
School of Business für 150 Merrill-Lynch-<br />
Führungskräfte. Dieses setzte auf eine<br />
Mischung aus E-Learning, Tele-Tutoring –<br />
und Einzelunterricht. Eine Lehrkraft suchte<br />
dazu jeweils einen der Entscheider auf, wo<br />
immer es diesem passte – zu Hause, in<br />
Hotels. Thematisch waren die Inhalte eng<br />
mit den aktuellen Herausforderungen des<br />
Unternehmens verknüpft.<br />
Auf den Ergebnissen baut auch die Projects<br />
Academy der Sloan School für den Ölriesen<br />
BP auf. Teilnehmer sind hochkarätige Projektverantwortliche.<br />
200 haben bereits das<br />
Programm durchlaufen. Es besteht aus dreimal<br />
zwei Wochen theoretischer Arbeit am<br />
MIT. Zwischen diesen klassischen Lernphasen<br />
findet Projektarbeit statt. „Durch die<br />
Projects Academy verfügten wir über eine<br />
vereinheitlichte Methode, um neun strategisch<br />
wichtige Fusionen und Übernahmen<br />
zu steuern. Die Herangehensweise an neue<br />
Projekte ist stimmig, und es wurde eine<br />
echte Gemeinschaft aus allen bedeutenden<br />
Projektleitern weltweit geschaffen“, erklärt<br />
Academy-Direktor Jim Breson.<br />
Ein Schwerpunkt der Maßprogramme für<br />
ausgewählte Firmen ist momentan die Vorbereitung<br />
auf Change-Prozesse. Doch nicht<br />
nur bei Change-Kursen steht am Ende oft<br />
ein konkreter Effekt auf die internen Prozesse<br />
im Unternehmen. Für IBM etwa<br />
haben Lehrkörper und Executives gemeinsam<br />
ein neues Analysetool entwickelt, das<br />
der Konzern inzwischen in Eigenregie<br />
nutzt, um immer wieder Strategien und<br />
Innovationsprozesse zu überprüfen.<br />
NOVARTIS-CHEF DANIEL VASELLA<br />
ENTDECKTE DURCH WEITERBILDUNG NEUE<br />
SEITEN AM EIGENEN UNTERNEHMEN<br />
Ist eine Maßnahme gut, dann führt sie bei<br />
den Topentscheidern zu einer neuen Sicht<br />
auf das eigene Unternehmen. Beispiel<br />
Novartis: Dessen enge Kooperation mit der<br />
Harvard Business School begann bereits in<br />
den neunziger Jahren beim Zusammenschluss<br />
der Unternehmen Sandoz und Ciba<br />
Geigy. CEO Daniel Vasella schildert, wie er<br />
ganz persönlich von der Zusammenarbeit<br />
profitierte: „Wir haben Fallstudien entwickelt,<br />
und auch ich selbst begann, neue<br />
Aspekte am Unternehmen zu entdecken.“<br />
Die gemeinsame Lernerfahrung förderte<br />
eine echte, tiefe Zusammenarbeit.<br />
Vom Schweizer Firmensitz bis nach Boston<br />
sind es Tausende Kilometer. Muss das sein?<br />
Ja, sagt Soumitra Dutta, Dekan für Executive-<br />
Education bei INSEAD. Topmanager müssten<br />
ihre „Komfortzone“ verlassen. Nirgendwo<br />
lassen sich heilige Kühe schlechter<br />
schlachten als auf dem eigenen Balkon.<br />
Neuen Input holt man sich besser anderswo.<br />
Das glaubt auch Hélène Ploix, Präsidentin<br />
von Pechel Industries. Sie kam kürzlich an<br />
ihren Studienort nach Fontainebleau zurück,<br />
für das International Director’s Forum:<br />
„Wenn im normalen Arbeitsalltag ein Problem<br />
zu lösen ist, ist man sehr dicht dran.<br />
Der Abstand fehlt oder die Muße, sich einer<br />
Frage auf andere Weise zu nähern.“<br />
Ebenfalls wichtig für sie waren „der Erfahrungsaustausch<br />
auf internationaler Ebene<br />
und die Chance, ein Netzwerk zu entwickeln“.<br />
Ein Argument, auch zur internen<br />
Legitimation der Fortbildung auf Toplevel,<br />
ist eben der Stapel Visitenkarten, den man<br />
ins Büro mitbringt.<br />
DIE OPER ALS LERNPARCOURS<br />
Auf eine ganz besondere Art Weiterbildung<br />
setzt eine Kooperation zwischen der Münchner<br />
Staatsoper und <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong>. Das „Young<br />
Leadership Program“ führt junge Entscheider<br />
in die Welt des Opernmanagements ein. Vom<br />
Musiktheater sollen sie lernen, vielstufige und<br />
komplexe kreative Prozesse zielgerichtet zu<br />
führen. Sie werden mit Intendant Kent Nagano<br />
ebenso diskutieren wie mit Direktoren und Regisseuren.<br />
Hintergrund ist die Idee, dass Manager<br />
heute in der Balance zwischen Wirtschaft,<br />
Kultur und Politik selbst kreativ sein müssen.
Wer Gewalt übersieht, erzeugt damit selbst<br />
Schmerz. Wenn Sie mitbekommen, dass<br />
ein Kind misshandelt wird, und das für sich<br />
behalten, werden Sie zum Handlanger<br />
des Täters. Bitte, wenn ein Kind misshandelt<br />
wird, sagen Sie es uns!<br />
Schluss mit der Gewalt gegen Kinder!<br />
Organisation „Unser Kind“ (Our Child Foundation), Ustavni 91/95, 181 21 Prague 8, Czech Republic, nadace@nasedite.cz
WENN DAS CHAOS PRODUKTIV WIRD:<br />
Dieses Foto stammt aus einer Reihe von Aufnahmen,<br />
die Rem Koolhaas selbst bei einem seiner ersten Besuche<br />
in Lagos schoss. Es verdeutlicht die Vitalität, die<br />
mit den Verkehrsstaus der Metropole einhergeht.<br />
REM KOOLHAAS gilt als radikalster Denker unter<br />
den Stararchitekten der Welt. Er studierte an der Londoner<br />
Architectural Association und wurde 1978 mit<br />
seinem Buch „Delirious New York“ bekannt. Der heute<br />
59-Jährige ist Chef des Architekturbüros OMA (Office<br />
for Metropolitan Architecture) und des angegliederten<br />
Forschungsinstituts AMO. Zu seinen bekanntesten<br />
Bauten gehören die Konzerthalle in Porto und die<br />
niederländische Botschaft in Berlin. Koolhaas lehrt als<br />
Professor an der Harvard University.
Von Lagos lernen<br />
:<br />
Rem Koolhaas läuft viel durch Städte.<br />
Geschätzte 300 Tage im Jahr jettet er um<br />
die Welt. Seine Freizeit verbringt er mit<br />
Schwimmen. Und Interviews mit ihm finden<br />
am besten im Auto statt. Der Mann liebt<br />
die Bewegung – auch als urbanes Grundprinzip.<br />
Im Gespräch auf der Fahrt zum<br />
Flughafen entwirft er seine Vision einer<br />
hypermobilen Stadt der Zukunft, einer<br />
Stadt, die sich permanent verändert, spontan<br />
selbst organisiert und ziemlich chaotisch<br />
daherkommt.<br />
Paradebeispiele für diesen neuen Urbanismus<br />
findet Koolhaas in zwei Weltgegenden,<br />
die nach gängiger Meinung wenig miteinander<br />
zu tun haben: in Chinas rasant<br />
wachsenden neuen Epizentren des asiatischen<br />
Kapitalismus – sowie, und das überrascht,<br />
in der chaotischen nigerianischen<br />
Metropole Lagos. Die provokante These des<br />
Pritzker-Preisträgers: „Lagos ist in vielerlei<br />
Hinsicht Richtung weisend für die Stadt der<br />
nächsten 100 Jahre.“<br />
Jahrelang hat Koolhaas mit Kollegen untersucht,<br />
wie in Lagos urbane Strukturen entstehen<br />
und sich die Zehn-Millionen-Metropole<br />
trotz Armut und Katastrophen wie<br />
explodierenden Ölplattformen am Leben<br />
erhält. Die Antwort, die er auch in einem für<br />
Herbst geplanten Buch erläutert: durch<br />
Selbstorganisation und – auch ökonomische<br />
– Improvisation.<br />
Diese drückt sich nicht zuletzt in spontan<br />
entstehenden Märkten aus. Ein Beispiel ist<br />
der tägliche Verkehrsstau. Fahrten durch die<br />
Stadt können in Lagos schon einmal für<br />
Stunden zum Stillstand kommen. Der Rest<br />
ist Markt: Binnen Minuten sammeln sich um<br />
rem koolhaas glaubt nicht an das konsummodell mall business-culture f<br />
Die Stadt der Zukunft wird chaotisch, prognostiziert der Architekt Rem Koolhaas – und hat durchaus<br />
seine Freude daran. Wie Chaos produktiv wird, erklärt der Holländer am Beispiel Lagos. Dort wird der<br />
Verkehrsstau zum spontanen Markt – und eine Autobahnbrücke zum urbanen Zentrum.<br />
die Autos herum Hundertschaften fliegender<br />
Händler und bieten alles Mögliche an,<br />
von Lebensmitteln über Basisdienstleistungen<br />
bis zu Autoersatzteilen. (Letztere werden<br />
auch gern von stehenden Fahrzeugen<br />
abmontiert.)<br />
Der Markt als Organisationsprinzip einer<br />
Stadt – dieses Modell lernte Koolhaas selber<br />
in seiner Jugend in Indonesien kennen: „Asiatische<br />
Gesellschaften waren stets stark von<br />
Märkten geprägt. Märkte produzieren hier<br />
eigene soziale Strukturen.“<br />
LAGOS IST DIE PERMANENTE VERÄNDERUNG.<br />
JEDE PLEITE WIRD VON EINER NEUEN<br />
NUTZUNGSFORM AUFGEFANGEN.<br />
Allerdings sind diese Strukturen nie von<br />
Dauer, sondern verändern sich schnell wieder.<br />
Städte sind damit keine statischen<br />
Gebilde mehr, sondern werden zu sich ständig<br />
weiterentwickelnden Phänomenen.<br />
Auch das zeigt das Beispiel Lagos: Die Stadt<br />
ist ständig im Werden begriffen. Jede planerische<br />
Pleite wird schnell von einer anderen<br />
Nutzungsform aufgefangen. Wenn Brückenteile<br />
nicht zusammenpassen, wird kurzerhand<br />
die ganze Brücke umfunktioniert,<br />
etwa zu einer lebhaften Fußgängerzone.<br />
Diese Art von improvisiertem Urbanismus<br />
ist es, die Koolhaas an Lagos fasziniert.<br />
Wenn Städte zu Zentren flexibler Selbstorganisation<br />
werden, heißt das nicht, dass<br />
städtebauliche Planung unnötig würde. Sie<br />
geschieht jedoch eher punktuell als einem<br />
Masterplan folgend. Und das, so Koolhaas,<br />
hat Lagos mit China gemein. Zwar entwirft<br />
das boomende Riesenland in Grüngebieten<br />
gigantische urbane Strukturen, zwar ist die<br />
gesamte westliche Architektenelite mit dem<br />
Entwerfen neuer urbaner Regionen in<br />
China beschäftigt. Doch einer übergeordneten<br />
Ästhetik oder einheitlichen Vision folgt<br />
die chinesische Planung nicht. Angesichts<br />
der Geschwindigkeit, mit der Städte in<br />
China, aber auch in anderen Boomregionen<br />
wachsen, habe die Idee langfristig und ganzheitlich<br />
planbaren städtischen Wachstums<br />
für diese Länder ausgedient: „Wer dort<br />
dabei ist, arbeitet auch als Architekt oder<br />
Planer ganz anders.“ Es geht um das<br />
Management des Chaos. Der Planer wird<br />
zum Kontrolleur spontaner Dynamiken.<br />
So wie Guan Yetong, in Shanghai für die<br />
Entwicklung des Xujiahui-Bezirks zuständig.<br />
„Wir sind so sehr mit dem Managen<br />
konkreter Projekte beschäftigt, dass wir gar<br />
nicht die Zeit haben, über das große Ganze<br />
nachzudenken“, sagt er. Das bestätigt Koolhaas.<br />
In China beobachtet er einen Städtebau<br />
nach dem Try-and-Error-Prinzip: „Dort<br />
werden innerhalb kürzester Zeit gigantische<br />
Bauvorhaben gestemmt. Sie können aber<br />
auch schnell wieder obsolet werden.“ Der<br />
Planer plant, der Architekt baut also nicht<br />
mehr für die Ewigkeit, sondern für die Zeit<br />
bis zur nächsten Umwälzung.<br />
Nicht allen gefällt diese Art von Stadtentwicklung.<br />
Yin Zhi, Direktor des Instituts für<br />
Stadtplanung und Design an der Tsinghua-<br />
Universität, kritisiert am Beispiel Pekings, es<br />
seien zwar viele Wirtschaftswissenschaftler<br />
an der Planung der Stadt beteiligt gewesen,<br />
„aber kaum Leute mit kulturellem Hintergrundwissen“.<br />
„Chinas Städte sehen zunehmend<br />
aus wie Vororte“, bemerkt süffisant die<br />
asiatische Ausgabe von Time Magazine.<br />
57
p business-culture der große wurf hat in der stadtplanung ausgedient<br />
58<br />
„Wir sind so sehr mit dem Managen konkreter Projekte beschäftigt,<br />
dass wir gar nicht die Zeit haben, über das große Ganze nachzudenken.“<br />
Guan Yetong, chinesischer Stadtplaner<br />
„Stadt und Nichtstadt werden ununterscheidbar“,<br />
sagt auch Koolhaas. Doch sein<br />
Statement lässt neben Skepsis auch Faszination<br />
erahnen.<br />
„KAPITALISMUS IST EIN FORDERNDES,<br />
STIMULIERENDES SYSTEM.“ NUR GEHE SEIN<br />
SPONTANER CHARAKTER ZUNEHMEND VERLOREN.<br />
Faszination und Skepsis zugleich – diese<br />
Haltung zeichnet auch die Auseinandersetzung<br />
des Architekten mit der Gegenwart<br />
insgesamt aus. Heraus kommen Visionen,<br />
die alles andere als gemütlich sind. Koolhaas<br />
liebt die Konfrontation mit Phänomenen,<br />
die nicht nur harmonische humanistische<br />
Seiten haben, sondern auch harte, strukturzerstörende.<br />
Der größte Strukturveränderer ist die globalisierte<br />
Marktwirtschaft. Der Kapitalismus<br />
zerstört, aber er schafft auch Neues und<br />
setzt Kreativität frei. „Kapitalismus ist<br />
grundsätzlich ein forderndes, stimulierendes<br />
System.“ Nur gehe dieser Charakter<br />
zunehmend verloren. „Heute wird der Kapitalismus<br />
immer weniger selbstorganisierend<br />
interpretiert. Unternehmen und Staaten<br />
setzen statt dessen auf rigide Kontrolle.“<br />
Sie rücken ab von einem Verständnis der<br />
Marktwirtschaft als Schauplatz spontaner<br />
Selbstorganisation und Reflexivität.<br />
Dass der Kapitalismus zur Reflexivität, zur<br />
Kritik seiner eigenen Prinzipien fähig ist,<br />
hat Koolhaas selbst vorgeführt. Als Professor<br />
in Harvard untersuchte er das Phänomen<br />
Shopping und gestaltete die Prada-Geschäfte<br />
in New York, Los Angeles und Tokio. Kritiker<br />
sehen in ihm seither den Büttel des<br />
Kapitals. Doch sie ignorieren, dass die Läden<br />
den Markenfetischismus keineswegs<br />
unzweideutig feiern. So sind die Schaufensterpuppen<br />
in Shoppingpose im Boden des<br />
Prada-Stores in Beverly Hills ebenso sehr<br />
kritischer Kommentar wie Designgag.<br />
Die Koolhaas-Methode lässt sich mit „teilnehmender<br />
Kritik“ beschreiben. Nach dem<br />
Motto: Um etwas zu verstehen, muss man<br />
nah dran sein, mitmachen. Auch deshalb<br />
baut er gerade, sehr zum Unmut vieler politischer<br />
Beobachter, ein 500 000-Quadratmeter-Gebäude<br />
für das staatliche chinesische<br />
Fernsehen CCTV in Peking. Kritiker argumentieren,<br />
er unterstütze damit symbolisch<br />
ein Regime, das die Medienfreiheit untergräbt.<br />
Doch der CCTV-Bau ist kein Beleg<br />
dafür, dass Koolhaas ein unpolitischer Architekt<br />
wäre. Er sieht die Ambivalenz Chinas.<br />
Aber er konstatiert auch, „dass das Land als<br />
Ganzes sich in eine beeindruckende Rich-<br />
STÄDTE MÜSSEN CLUSTER BILDEN<br />
„Eine Welle der Interdisziplinarität“ beobachtet<br />
der Nanowissenschaftler Horst Weller<br />
momentan in Deutschland. In der Kooperation<br />
zwischen unterschiedlichen Fachbereichen<br />
sowie in Clustern aus Wissenschaft und Wirtschaft<br />
sieht der Professor von der Universität<br />
Hamburg auch die Zukunft der Stadt. Ein ausführliches<br />
Interview mit Weller erschien im Mai<br />
in der Tageszeitung Die Welt als Beitrag zu<br />
einer achtteiligen Artikelserie über die Zukunft<br />
der Stadt. Diese hat die Zeitung gemeinsam<br />
mit <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> erarbeitet. Die komplette<br />
Serie erscheint demnächst als Sammelband.<br />
Im Oktober veranstaltet <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> außerdem<br />
einen Kongress zu dem Thema.<br />
tung entwickelt“. Dass er ein politischer<br />
Architekt ist, zeigt auch sein Europa-Engagement.<br />
Für die EU-Kommission hat er eine<br />
Alternative zur europäischen Flagge entworfen;<br />
auf Veranstaltungen wie der Vortragsreihe<br />
„Reden über Europa“ der Allianz<br />
Kulturstiftung verteidigt er seine Idee eines<br />
kreativen Europa.<br />
Das bedeutet nicht, dass Koolhaas einstimmen<br />
würde in den momentan populären<br />
Lobgesang der „klassischen europäischen<br />
Stadt“. Diese „ist kein Modell für den Rest<br />
der Welt“, ihr Ansatz kontrollierten Wachstums<br />
funktioniere anderswo nicht. Doch<br />
auch ohne die europäische Stadt als globales<br />
Rollenmodell: Koolhaas glaubt an neue Formen<br />
europäisch-asiatischer Zusammenarbeit.<br />
Auch in der Architektur.<br />
Fest stehe: „Die Menschen in China oder im<br />
Nahen Osten wollen keine einfache Amerikanisierung.“<br />
Daher hält er auch das US-<br />
Konzept immer gigantischerer Shoppingmalls<br />
für ein Auslaufmodell. Das überrascht,<br />
bedenkt man, dass die gigantischsten Malls<br />
momentan in China entstehen. Andererseits:<br />
Viele der überdachten Konsumstädte<br />
wie die Golden Resources Shopping Mall<br />
mit ihren über 1000 Geschäften werden bisher<br />
nicht angenommen. Für Koolhaas keine<br />
Überraschung: „80 Prozent aller Malls<br />
haben finanzielle Probleme.“ Die Mall sei<br />
„ein Widerspruch zum Modell des Marktes,<br />
überorganisierter Konsum“.<br />
Währenddessen kommt das Auto am Flughafen<br />
an, 40 Minuten vor Abflug. „Perfektes<br />
Timing“, vermerkt der Vordenker des Chaos,<br />
verwundert darüber, dass die Dinge manchmal<br />
doch klappen wie geplant.
Noch in den achtziger Jahren waren New<br />
York, Chicago, Paris, London und Tokio die<br />
Zentren ihrer nationalen Ökonomien und<br />
die Kommandozentralen der Weltwirtschaft.<br />
Allein 137 der 500 größten US-Firmen<br />
hatten ihre Zentrale 1967 in New York,<br />
38 in Chicago. Jedes dritte US-Großunternehmen<br />
war in einer der beiden Städte<br />
ansässig. Dieses Bild hat sich seither gründlich<br />
verändert: 2005 machte dieser <strong>Anteil</strong><br />
kaum noch zehn Prozent aus.<br />
Angezogen wurden die Firmen nicht zuletzt<br />
von den niedrigeren Kosten an weniger eng<br />
besiedelten Standorten, vor allem den Vorstädten.<br />
1969 befanden sich nur elf Prozent<br />
der größten Unternehmen der USA in einer<br />
Vorstadt, 25 Jahre später schon rund die<br />
Hälfte – besonders Technologiefirmen.<br />
Microsoft hat seine Zentrale in Redmond an<br />
der Peripherie von Seattle. Die meisten<br />
anderen führenden Technologiefirmen sitzen<br />
im Umland von San Francisco, Los<br />
Angeles, Seattle oder Dallas. „Die Geschichte<br />
der Technologie ist mit der des großstädtischen<br />
Umlands gleichzusetzen“, sagt Fred<br />
Siegel, Professor für Historische Urbanistik<br />
an der Cooper Union in New York.<br />
Dass der Run auf die Zentren zum Erliegen<br />
gekommen ist, bestätigen auch Zahlen des<br />
„Regional Economic Information Systems“.<br />
Danach wuchs die Beschäftigung in amerikanischen<br />
Gegenden mit hoher Bevölkerungsdichte<br />
zwischen 1990 und 1998 nur um<br />
etwas über fünf Prozent, in niedriger besiedelten<br />
Gegenden hingegen um bis zu 20<br />
Prozent. Ähnliches ist weltweit zu beobachten.<br />
Die Einwohnerzahl von Londons<br />
Innenstadt nahm nach Informationen des<br />
Infodienstes Demographia von 1965 bis 2000<br />
um 12,9 Prozent ab, die von Paris um 24,1<br />
Prozent, die von Tokio um 8,6 Prozent.<br />
Der Hauptgrund für den Wandel: Unternehmen<br />
wählen ihren Sitz heute anhand<br />
der Wettbewerbsfähigkeit eines Standortes<br />
aus – und nicht, wie momentan gern<br />
behauptet wird, anhand der „Hipness“<br />
größe allein macht nicht wettbewerbsfähig business-culture f<br />
Der neue alte Städtewettbewerb<br />
Wer setzt sich durch im Kampf um Investitionen der großen Unternehmen? Nicht unbedingt die<br />
klassischen Metropolen, glaubt der Stadtforscher Joel Kotkin. Klein wird fein.<br />
einer Stadt, ihrer Kunst- und Kulturaktivitäten.<br />
Damit schwindet ein natürlicher Vorteil<br />
der klassischen Metropole. Firmen entscheiden<br />
sich nicht für Kunstzentren, sondern<br />
für den effizientesten Standort – und<br />
der ist oft genug in Gegenden zu finden, die<br />
lange weiße Flecken auf der Karte der Weltwirtschaft<br />
waren. Beispiel Houston: 1900<br />
eine kleine Siedlung im osttexanischen<br />
Marschland. Heute gehört die Stadt zu den<br />
wichtigsten urbanen Zentren und hat New<br />
York und New Orleans die Führungsposition<br />
in der Energiebranche abgerungen.<br />
STÄDTE MÜSSEN SICH ALS MARKEN<br />
VERSTEHEN – DOCH DABEI REICHT<br />
ES NICHT, ALS HIP ZU GELTEN<br />
Der Wettbewerb der Städte ist härter als je<br />
zuvor. Die Telekommunikation erlaubt es,<br />
dass abgelegene Standorte wie das indische<br />
Bangalore oder Fargo in Nord-Dakota eine<br />
zentrale Rolle auf den weltweiten Dienstleistungs-<br />
und Informationsmärkten spielen.<br />
Das bedeutet: Städte müssen sich als<br />
Marke verstehen – dürfen sich dabei aber<br />
nicht auf ihre Attraktivität in den Augen<br />
einer schmalen Schicht junger Kreativer<br />
verlassen. Im Wettbewerb machen mehr<br />
denn je Investitionen in die grundlegende<br />
Infrastruktur den Unterschied – Straßen,<br />
Schiffskanäle, Industrieparks, Flughäfen.<br />
Daneben entscheidend ist ein Image als<br />
hervorragend und effizient geführte Stadt.<br />
Diese Dynamik zeigt sich vor allem in den<br />
Entwicklungsländern. Korruption und das<br />
schiere Ausmaß der Megastädte mit den<br />
höchsten Bevölkerungszahlen – Mexiko-<br />
Stadt, Kairo, Mumbai, Kalkutta, São Paulo<br />
und Manila – haben dazu geführt, dass Firmen<br />
sich lieber anderswo ansiedeln. In<br />
Indien hat sich ein Großteil des Wachstums<br />
im Technologiesektor in kleineren, gut verwalteten<br />
und mit weniger sozialen Problemen<br />
behafteten Städten wie Bangalore und<br />
Jaipur sowie in den Vorstädten von Mumbai<br />
und Delhi abgespielt. Im Nahen Osten<br />
machen vor allem kompakte Technologiezentren<br />
wie Dubai und Abu Dhabi Fortschritte.<br />
Dubai, 1948 eine staubige Siedlung<br />
mit 25 000 Einwohnern, war 50 Jahre später<br />
auf fast eine Million angewachsen. Um<br />
zehn Prozent pro Jahr wuchs die Wirtschaft<br />
des Emirats in den letzten zehn Jahren. Ein<br />
kosmopolitischer Ansatz, Investitionen in<br />
die physische Infrastruktur und die<br />
Ansammlung von Talenten zahlten sich aus.<br />
Dieses Muster lässt sich auch in Ostasien<br />
erkennen, dem zentralen Spielfeld des<br />
Urbanismus im 21. Jahrhundert. Dort haben<br />
sich relativ kleine Städte wie Singapur und<br />
Kuala Lumpur erfolgreicher in die globale<br />
Wirtschaft eingefügt als größere wie Bangkok,<br />
Jakarta und Manila. Selbst im hochzentralisierten<br />
Japan entfernten sich Aktivitäten<br />
in den Bereichen Software, Call-Center<br />
und auf anderen Technologiefeldern aus<br />
den großen, aber überfüllten Zentren Osaka<br />
und Tokio weg. Auch Hongkong hat Hightechansiedlungen<br />
an weniger eng besiedelte<br />
Gebiete auf dem chinesischen Festland<br />
verloren.<br />
Der Wandel zu kleineren Orten vollzieht<br />
sich auch in Europa. Gouda, einst Zentrum<br />
der Käseherstellung, ist heute beliebtes Ziel<br />
für Unternehmen, die den Rassenunruhen<br />
in Rotterdam entfliehen möchten. Was passiert,<br />
wenn Unternehmen ihre Firmensitze<br />
frei wählen können, zeigt auch das Beispiel<br />
Berlin. Der Regierungssitz wurde nicht, wie<br />
von vielen erhofft, zur europäischen Wirtschaftsmetropole.<br />
Die einst „Chicago an der<br />
Spree“ genannte Hauptstadt ist heute primär<br />
als trendiger Touristenort bekannt.<br />
Um diese Trends rückgängig zu machen,<br />
reicht es nicht, wenn die Metropolen sich<br />
als „kreativ“ vermarkten. Sie müssen sich<br />
mit den Gründen der Abwanderung befassen.<br />
Die wichtigsten Themen: Rassen- und<br />
Klassenprobleme, Bildung und Ausbildung<br />
– sowie eine solide physische Infrastruktur.<br />
Joel Kotkin ist Wissenschaftler und der Verfasser<br />
des Buches „The City: A Global History“
p business-culture twenty years after<br />
60<br />
Der wütende Manager<br />
Das Buch „Kaizen: The Key to Japan’s Competitive Success“ sorgte 1986 für Wirbel: Autor Masaaki<br />
Imai verriet, was das Geheimnis von Toyota und anderen japanischen Wunderkonzernen war. Die<br />
Methode „Kaizen“ wurde weltbekannt. Ihr Vordenker ist trotzdem nicht zufrieden.<br />
: „Übermorgen können Sie mit Imai-San<br />
sprechen“, verkündet die texanische<br />
Assistentin und betont die kleine Wendung<br />
aus dem Japanischen fröhlich. „San“ meint<br />
bekanntlich mehr als nur „Herr“, eher schon:<br />
„Meister“. Und wirklich: Masaaki Imai ist<br />
eine Legende. Sein Buch, das die Methode<br />
„Kaizen“ erstmals formulierte, hat sich<br />
millionenfach verkauft. Dabei begann der<br />
weißhaarige, freundliche Herr mit dem<br />
runden Kopf und der eckigen Max-Frisch-<br />
Brille als Provokateur.<br />
„Als wir in Japan bei den ersten Firmen<br />
Kaizen einführten, wehrten sich einfach<br />
alle – Manager genau wie Gewerkschafter“,<br />
sagt Imai. Fragt man ihn heute nach seinem<br />
legendären Werk, das so viel Echo fand und<br />
dessen Grundsätze es bis nach Disneyland<br />
geschafft haben, folgt die nächste Überraschung.<br />
„Ich bin frustriert, eigentlich sogar<br />
wütend“, meint er. Nach Sonnen im Ruhm<br />
klingt das nicht. „Ich schätze, 99,9 Prozent<br />
der Unternehmen arbeiten immer noch mit<br />
den alten Methoden.“<br />
Er meint damit jene Firmenchefs, die nicht<br />
ihre komplette Unternehmenskultur umgekrempelt<br />
haben. Denn Kaizen bedeutet<br />
übersetzt so viel wie „ständige Veränderung<br />
zum Besseren“ und verlangt, dass ein gesamtes<br />
Unternehmen seine Abläufe täglich<br />
überprüft. Was nichts anderes heißt, als dass<br />
die Organisation in all ihren Bestandteilen<br />
für verbesserungsfähig gehalten wird und<br />
ohne ständige Erneuerung dem Verfall<br />
preisgegeben ist. Jeder gegenwärtige<br />
Zustand dient demnach als Ausgangspunkt<br />
für weitere Optimierungen. An den Werkbänken<br />
in Europa, den USA und in Asien ist<br />
dieses Konzept oft umgesetzt worden. Nicht<br />
jedoch an der Firmenspitze, betont Imai:<br />
„Die Topmanager glauben immer, sie seien<br />
davon ausgenommen. Gerade sie müssen<br />
aber als Erste umdenken.“<br />
Begonnen hat die Geschichte der Wundermethode<br />
„Kaizen“ bereits in den dreißiger<br />
Jahren. Sakichi Toyoda, der Firmengründer<br />
von Toyota – damals noch Hersteller automatischer<br />
Webstühle – sagte zu seinen Kollegen<br />
gern: „Öffnet das Fenster, da ist eine<br />
große Welt.“ Sein Sohn Kichiro Toyoda<br />
nahm den Gedanken auf, von der Welt zu
Taichi Ohno (r.) begann die Kaizen-<br />
Revolution, Masaaki Imai (l.) setzte sie fort<br />
lernen. Als junger Mann wollte er seine<br />
Schwester in England besuchen, doch schon<br />
das erste Treffen scheiterte. Kaum gelandet,<br />
verpasste Toyoda seinen Zug. Beim Warten<br />
kam ihm die Idee zu „just in time“: Jedes<br />
Teil, das in einer Fabrik benötigt wird, muss<br />
genau in der richtigen Sekunde eintreffen.<br />
Eine Strategie, die ebenfalls in Kaizen eingeflossen<br />
ist. Bis heute kommt Toyota fast<br />
ohne Lager aus.<br />
Die Firma, die 2004 mehr Gewinn verzeichnete<br />
als General Motors, DaimlerChrysler<br />
und VW zusammen, ist bis heute das Paradebeispiel<br />
für Kaizen. Das Konzept erfunden<br />
hat Taichi Ohno, der in den fünfziger Jahren<br />
das Stammwerk von Toyota leitete. Zu dieser<br />
Zeit war das Unternehmen fast bankrott.<br />
Nach dem Krieg brach das Geschäft mit<br />
schweren Nutzfahrzeugen ein, Arbeiter<br />
wurden entlassen. „Das ist sehr unüblich in<br />
Japan“, kommentiert Imai. „Ohno nahm es<br />
sich zu Herzen und suchte nach den Gründen.“<br />
Er fand vor allem einen: Überproduktion.<br />
Ohno, angetrieben vom Grundgedanken<br />
des drohenden Verfalls, stellte jeden<br />
Prozess auf den Prüfstand – gegen heftigsten<br />
Widerstand. Er wurde so oft mit anonymen<br />
Anrufen belästigt, dass er sein privates Telefon<br />
abmelden musste. Das hielt ihn nicht<br />
davon ab, ständig nach Überflüssigem zu<br />
suchen, nach besseren Lösungen im Unternehmensablauf:<br />
im „Flow“, wie es heute<br />
heißt. Auch dieser Modebegriff hat die<br />
Kaizen-Bewegung geprägt.<br />
WENN „MISTER OH NO!“ KAM, WURDE ES<br />
UNGEMÜTLICH. DEM UNTERNEHMEN<br />
HAT DAS ABER GENÜTZT.<br />
„Ohno konnte sanft und verständnisvoll mit<br />
Arbeitern und Gästen umgehen, aber er war<br />
immer sehr hart zu anderen Managern“,<br />
erinnert sich Imai. Auch daran, dass die Kollegen<br />
den Werkschef irgendwann „Mister<br />
Oh no!“ nannten. Wenn er kam, wurde es<br />
ungemütlich. „Heute wollen Topmanager<br />
allen gefallen“, klagt Imai. „Sie sind weich<br />
geworden und haben vergessen, dass sie<br />
ihre mittleren Manager fordern müssen.“ Ein<br />
guter Kaizen-Manager betrete mit einem<br />
wütenden Gesicht die Firma.<br />
Imai selbst kam in den Fünfzigern mit gerade<br />
26 Jahren nach Amerika und führte Japaner<br />
durch US-Unternehmen. Er und seine<br />
Landsleute suchten das Geheimnis der<br />
Hochproduktivität. 1961 ging Imai zurück<br />
nach Japan und wurde der erste Headhunter<br />
der Inselnation. Fast 20 Jahre später zog<br />
es ihn wieder in seinen alten Beruf, diesmal<br />
hatten sich die Vorzeichen umgekehrt: Er<br />
empfing US-Gäste und zeigte ihnen die großen<br />
japanischen Unternehmen. Jetzt waren<br />
die Amerikaner auf der Suche nach den<br />
Erfolgsgeheimnissen ihrer Handelspartner.<br />
„Jeden Tag sammelte ich Informationen<br />
über unsere Produktionsweise“, sagt Imai<br />
heute. „Die wollte ich dem Westen näher<br />
bringen.“ Also schrieb er den Weltbestseller<br />
„Kaizen – der Schlüssel zum Erfolg der Japaner<br />
im Wettbewerb“. Letztlich, fasst Imai<br />
zusammen, ist Kaizen eine universelle Idee.<br />
„Viele Menschen haben mir gesagt, dass es<br />
ihnen auch privat geholfen hat.“<br />
Die Annahme nie endender Verbesserung<br />
hat grundlegend menschliche Dimensionen.<br />
Die Kaizen-Verfechter argumentieren hier<br />
ähnlich wie Goethes Faust, der literarische<br />
Protagonist des permanenten Strebens. Tatsächlich<br />
sagt Faust bei seinem letzten Auftritt:<br />
„Nur der verdient sich Freiheit wie das<br />
Leben, der täglich sie erobern muss.“ Doch<br />
ein Unterschied besteht: Anders als Faust<br />
sollten Kaizen-Manager „vorher ganz klare<br />
Ziele definieren“, so Imai.<br />
Seine eigenen Ziele hat der 76-Jährige so<br />
deutlich wie immer vor Augen. Er möchte<br />
noch viel mehr mit Topmanagern reden. Im<br />
nächsten Jahr will er – nach dem Klassiker<br />
„Kaizen“ und der Erweiterung „Gembakaizen“<br />
– sein drittes Buch veröffentlichen.<br />
„Vielleicht nenne ich es: Die Anatomie des<br />
Kaizen.“ Der Abschluss einer Trilogie – doch<br />
bei dem großen Wort lacht Imai.<br />
Was ist Kaizen?<br />
Die Methode, die Management und alle anderen <strong>Mitarbeiter</strong><br />
eines Konzerns gleichermaßen einbezieht,<br />
verlangt eine permanente Optimierung des Unternehmens.<br />
Der Grundgedanke: Ein komplexes System<br />
befindet sich in stetigem Verfall, gegen den es täglich<br />
ankämpfen muss. Anders als in westlicher Denkweise<br />
geht es nicht um sprunghafte Verbesserung<br />
durch Innovation, sondern um eine stetige Perfektionierung<br />
des Vorhandenen. Im Wesentlichen ist<br />
Kaizen eine Sammlung von Faustregeln, darunter<br />
fällt auch die Just-in-time-Produktion.<br />
Biografien<br />
MASAAKI IMAI wurde 1930 in Tokio geboren und<br />
machte 1955 seinen Bachelor-Abschluss an der<br />
Tokioter Universität im Fach Internationale Beziehungen.<br />
Imai arbeitete danach einige Jahre in Washington,<br />
kehrte zurück in seine Heimat und half fortan<br />
ausländischen Firmen, sich in Japan niederzulassen.<br />
Seit er 1986 seine Kaizen-Ideen veröffentlichte und<br />
ein Institut zu ihrer Verbreitung gründete, ist er als<br />
Vortragender in Sachen Kaizen unterwegs.<br />
TAICHI OHNO wurde 1912 in der Mandschurei<br />
geboren und kam als 20-Jähriger zu Toyota nach<br />
Japan. Die Firma stellte damals noch dampfgetriebene<br />
Webstühle her, stieg aber 1935 mit dem Toyota A1<br />
ins Automobilgeschäft ein. Der Ingenieur Ohno wurde<br />
Produktionsleiter im Hauptwerk in Tokio. Gemeinsam<br />
mit Firmenpräsident Eiji Toyoda reiste er 1956 nach<br />
Detroit, um das Ford-Werk zu besichtigen. Was die<br />
Japaner sahen, fanden sie abschreckend – Ohno<br />
wollte eine Fabrik, die flexibler ist und in der der<br />
Mensch im Mittelpunkt steht. In den folgenden Jahrzehnten<br />
entwickelte er die Methoden der Just-intime-Produktion<br />
und der bedarfsorientierten Zulieferung<br />
„Kanban“. Er ist damit der Erfinder des legendären<br />
Toyota-Produktionssystems und lieferte auch<br />
das Ideengerüst für Kaizen. Er starb 1990.<br />
61
p service impressum<br />
62<br />
Vertiefen Sie<br />
Ihr Wissen<br />
Falls Sie intensiver in ein Thema einsteigen<br />
möchten: hier einige Bücher, die unsere<br />
Essayisten und Interviewpartner geschrieben<br />
haben oder die eines unserer Themen<br />
vertiefen. Die <strong>Roland</strong>-<strong>Berger</strong>-Studie<br />
„Den demografischen Wandel erfolgreich<br />
bewältigen“ zeigt, dass die Veränderung im<br />
Altersgefüge von Gesellschaften eine<br />
Chance darstellt. Die ersten Ausgaben der<br />
neuen Reihe „think:act Content“ beleuchten<br />
die Boommärkte Nahost und China.<br />
Und in „The Fortune at the Bottom of the<br />
Pyramid“ demonstriert Managementvordenker<br />
C. K. Prahalad, wie Unternehmen<br />
auch auf finanzschwachen Märkten Geld<br />
verdienen können – und warum das auch<br />
diesen Ländern nützt.<br />
service@think-act.info<br />
Haben Sie Fragen an den Herausgeber<br />
oder das Redaktionsteam? Interessieren<br />
Sie sich für Studien von <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong><br />
Strategy Consultants? Schreiben Sie<br />
an service@think-act.info<br />
IMPRESSUM<br />
HERAUSGEBER<br />
Dr. Burkhard Schwenker, CEO<br />
<strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> Strategy Consultants<br />
Stadthausbrücke 7<br />
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LEITUNG<br />
Torsten Oltmanns<br />
REDAKTIONSBEIRAT<br />
<strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> Strategy Consultants<br />
Dr. Christoph Kleppel †, Felicitas<br />
Schneider<br />
VERLAG<br />
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Konrad-Zuse-Platz 11<br />
81829 München<br />
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GESCHÄFTSFÜHRER<br />
Manfred Hasenbeck,<br />
Andreas Struck<br />
VERLAGSLEITER<br />
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CHEFREDAKTEUR<br />
Alexander Gutzmer (V.i.S.d.P.)<br />
ART-DIREKTION<br />
Blasius Thätter<br />
CHEF VOM DIENST<br />
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REDAKTION<br />
Elmar zur Bonsen, Markus Czeslik<br />
AUTOREN<br />
Frank Grünberg, Cathrin Günzel, Prem<br />
Lata Gupta, Thomas Huber, Dr. Anita<br />
Krätzer, Thomas Lindemann, Philipp<br />
Rothberger, David Selbach<br />
GASTAUTOREN<br />
Eckhard Deutscher (Washington),<br />
Phillip Longman (Washington), Joel<br />
Kotkin, Prof. Ito Peng (Toronto)<br />
LEKTORAT<br />
Dr. Michael Petrow (Ltg.), Jutta<br />
Schreiner, Petra Teichner<br />
GRAFIK/GESTALTUNG<br />
Andrea Hüls, Heike Nachbaur,<br />
Kathrin Seiffert<br />
PHILLIP LONGMAN:<br />
„The Empty Cradle. How<br />
Falling Birthrates Threaten<br />
World Prosperity and<br />
What to Do about It.“<br />
THINK:ACT CONTENT:<br />
„Benefiting from China’s<br />
five-year plan“<br />
C. K. PRAHALAD:<br />
„The Fortune at the Bottom<br />
of the Pyramid. Eradicating<br />
Poverty through Profits.“<br />
THINK:ACT CONTENT:<br />
„Dealing with the boom<br />
in the Gulf region“<br />
PRODUKTION<br />
Wolfram Götz (Ltg.), Rüdiger Hergerdt, Franz<br />
Kantner, Silvana Mayrthaler, Cornelia Sauer<br />
BILDREDAKTION<br />
Beate Blank (Ltg.), Silvia Erhard, Mitra Nadjafi<br />
BILDNACHWEISE<br />
Titelbilder: Robert Laska, Toyota, Urban<br />
Zintel, IYA, Peter Krings GmbH/Plattling<br />
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