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LGBB_032018_korrektur_02

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„Das, was Menschen an Wände schreiben, hat<br />

sich in mehr als 2000 Jahren kaum verändert“,<br />

sagt die Heidelberger Archäologin Polly Lohmann.<br />

Die typische Botschaft lautete schon immer: „Ich<br />

war hier.“<br />

Ganz Berlin ist voller solcher Signale:<br />

„Ich war hier.” Heute braucht man<br />

nicht einmal mehr zu ritzen, sprayen<br />

ist einfacher. Graffiti-Writings allüberall.<br />

Lateinschüler wissen, dass<br />

Graffiti (ein Neologismus aus dem italienischen<br />

sgraffiare oder graffiare, was sowohl (zer)kratzen<br />

als auch (ein)ritzen bedeuten kann) keine Erfindung<br />

des 20. Jahrhunderts sind. Der Terminus<br />

ist freilich so alt nicht, im 18. Jahrhundert prägte<br />

man ihn als Bezeichnung für eine bei den Ausgrabungen<br />

in Pompeji und Herkulaneum neu entdeckte<br />

Inschriftenform: Für geritzte Texte, Zahlen<br />

und Bilder an den Innen- und Außenwänden von<br />

Wohnhäusern, Läden und öffentlichen Gebäuden,<br />

an Gräbern, Stadtmauern und Stadttoren.<br />

Der erste dokumentierte Fund eines Graffitos aus<br />

Pompeji stammt wohl aus dem Jahr 1765 (S. 4).<br />

Als Zeichen von Vandalismus und als stupides<br />

Gekritzel wurden sie von der akademischen Forschung<br />

zunächst lange vernachlässigt; so schrieb<br />

etwa der Pompejiforscher August Mau im Jahre<br />

1908: „Gerade diejenigen Klassen der Bevölkerung,<br />

mit denen wir am liebsten in einen solchen<br />

unmittelbaren Verkehr treten möchten, enthielten<br />

sich des Bekritzelns der Wände; schon damals<br />

waren es vorzugsweise Narrenhände, die sich<br />

dieser Beschäftigung hingaben.“<br />

Erst in den letzten Jahren haben sich die Klassischen<br />

Altertumswissenschaften verstärkt den<br />

Graffiti zugewandt, ein radikaler Imagewechsel<br />

der Inschriftengattung wurde eingeleitet und hat<br />

sich zu einem regelrechten Forschungstrend ausgewachsen,<br />

aus illegalem Gekritzel wurden tolerierte<br />

Texte. Graffiti sind sowohl in der Archäologie<br />

als auch in den Geschichtswissenschaften<br />

– seit den 1970er Jahren (S. 21) – zum Gegenstand<br />

der Forschung geworden, sie dienen als<br />

Polly Lohmann, Graffiti als Interaktionsform.<br />

Geritzte Inschriften in den Wohnhäusern<br />

Pompejis (Materiale Textkulturen Bd.<br />

16, Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs<br />

933), De Gruyter Berlin/Boston 2018<br />

(Diss. München 2016), 486 Seiten,<br />

119,95 €, ISBN 978-3-11-057036-6<br />

Quellen, die Einblicke in das Alltagsleben in verschiedenen<br />

historischen Kontexten ermöglichen.<br />

Aus Pompeji stammen bekanntlich mehrere tausend<br />

informeller Wandinschriften (bislang über<br />

5600; S. 19), die bei den Ausgrabungen zwar<br />

dokumentiert, aber nur sehr selektiv untersucht<br />

wurden. Gegenüber anderen, kontrollierten<br />

Text- und Bildformen stellen sie als direktes, ungefiltertes<br />

Medium eine wertvolle Quelle zu den<br />

konkreten Lebensumständen in verschiedenen<br />

historischen und geografischen Kontexten dar.<br />

Fassadengraffi to „Hic habitat Minotaurus” (CIL IV 2331) (aus<br />

Lohmann 2017, Abb. 22)<br />

Für die Wohnforschung stellen Graffiti – so die<br />

Autorin – „unter zweierlei Gesichtspunkten einen<br />

gewinnbringenden Gegenstand dar: Anders<br />

als Architektur, Wand- und Fußbodendekoration,<br />

die lediglich den physischen Rahmen häuslichen<br />

Lebens bildeten, sind Graffiti erstens das Ergebnis<br />

sozialer Dynamiken im Haus. Während der umbaute<br />

Raum nur die von dem Besitzer oder Erbauer<br />

intendierten Nutzungsformen des Hauses<br />

und seiner Räume widerspiegelt, sind die geritzten<br />

Inschriften Produkte der Menschen, die sich<br />

in dem gebauten Raum bewegten, in und mit<br />

ihm interagierten. Zweitens sind Anbringungsort,<br />

Inhalt und Form der Graffiti Indikatoren für die<br />

Rezeption der Wände und ihrer Malereien. Insofern<br />

sind die Inschriften als Form der Interaktion<br />

an und mit dem Medium Wand eine für die Forschung<br />

einzigartige direkte Quelle der Wahrnehmung<br />

und Nutzung des römischen Wohnhauses”<br />

(S. 1f.).<br />

„Bei den Graffiti handelt es sich, zumindest in<br />

Pompeji, nicht um nachweislich politische Botschaften,<br />

wie man sie aus den Beschreibungen<br />

antiker Autoren aus Rom und von moderner<br />

Street Art kennt, sondern um private Angelegenheiten<br />

und Alltagsthemen der Stadtbewohner<br />

und -besucher, die aber für eine Öffentlichkeit<br />

lesbar waren: Namen, Grüße, Glückwünsche,<br />

Verkündigungen, persönliche Nachrichten, Liebesbotschaften<br />

und Beleidigungen, Erotisches<br />

und Witziges, Zahlen, Daten, Preise, Strichreihen<br />

und Alphabete wurden an die Wände geschrieben<br />

und ihren farbenprächtigen Malereien Zeichnungen<br />

von Gladiatoren, Tieren und Menschen<br />

hinzugefügt” (S. 5).<br />

„Rein technisch versteht die altertumswissenschaftliche<br />

Forschung unter antiken Graffiti in<br />

eine Oberfläche geritzte oder seltener mit Kohle<br />

oder Kreide (ca. 3%; vgl. S. 128) aufgetragene<br />

Buchstaben/Wörter, Zahlen, Symbole und Zeichnungen,<br />

die das Corpus Inscriptionum Latinarum<br />

trotz der Diversität ihrer technischen Ausführung<br />

unter dem Begriff graphio (in)scripta zusammenfasst.<br />

Diese Oberbezeichnung trägt der Mehrheit<br />

der Inschriften Rechnung: Sie wurden mit<br />

einem Stilus angefertigt, mit dem man auch auf<br />

Wachs oder Bleitafeln schrieb. Denn obwohl für<br />

Ritzungen prinzipiell verschiedene Gegenstände<br />

genutzt werden konnten, belegen die Buchstabenfolgen<br />

und die Grazilität der in den Wandputz<br />

geritzten Graffiti, dass man sich i.d.R. metallener<br />

Schreibgeräte bediente” (S. 5).<br />

„Buchstabenschiff” aus dem Namen Venustus (CIL IV 8<strong>02</strong>0)<br />

(aus Lohmann 2017, Abb. 121)<br />

Im ersten Kapitel (S. 3–38) beschäftigt sich Polly<br />

Lohmann mit Graffiti und anderen Inschriftenformen,<br />

sucht nach den Unterschieden von antiken<br />

und modernen Graffiti, erarbeitet in Abgrenzung<br />

von vielen anderen Inschriftentypen eine Definition<br />

des Begriffs und sammelt die Äußerungen<br />

antiker Autoren (Plautus, Vergil, Ovid, Properz,<br />

206 JAHRGANG LXII · <strong>LGBB</strong> 03 / 2018<br />

<strong>LGBB</strong> 03 / 2018 · JAHRGANG LXII<br />

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