österreichische zeitschrift für ... - Universität Wien
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ös t e r r e i c h i s c h e z e i t s c h r i f t f ü r<br />
ge s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t e n<br />
1 1 . j g . , h e f t 1 , 2 0 0 0<br />
i n n o v a t i o n e n<br />
w i e n e u e s e n t s t e h t<br />
h e r a u s g e g e b e n v o n<br />
a l b e r t m ü l l e r u n d k a r l h . m ü l l e r<br />
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.<br />
Gefördert durch das Bundesministerium <strong>für</strong><br />
Wissenschaft und Verkehr sowie die Stadt<br />
<strong>Wien</strong>, Magistratsabteilung 18 – Stadtentwicklung<br />
und Stadtplanung, Referat Wissenschafts-<br />
und Forschungsförderung.<br />
Österreichische Zeitschrift <strong>für</strong> Geschichtswissenschaften.<br />
Zitierweise: ÖZG.<br />
Redaktionsadresse: ÖZG, c/o Institut <strong>für</strong><br />
Wirtschafts- und Sozialgeschichte, <strong>Universität</strong><br />
<strong>Wien</strong>, Dr. Karl Lueger-Ring 1, A-1010<br />
<strong>Wien</strong>. FAX: 43-1-4277-9413.<br />
http://www.univie.ac.at/<br />
Wirtschaftsgeschichte/OeZG/<br />
Preise: Einzelheft ATS 198, Jahresabonnement:<br />
Einzelpersonen ATS 600, Institutionen<br />
ATS 700, im Ausland zuzüglich Versandkosten:<br />
Europa ATS 100, Übersee ATS 170.<br />
Bestellungen über den Buchhandel oder<br />
über den Verlag Turia + Kant, FAX: 43-1-<br />
53 20 768, email: turia.kant turia.at<br />
http://www.turia.at<br />
ISSN 1016-765 X<br />
Coverdesign: Ingo Vavra<br />
Medieninhaber (Verleger): Turia + Kant,<br />
Schottengasse 3A / 5 / DG 1, A-1010 <strong>Wien</strong>.<br />
Druck: VB S, Ljubljana<br />
Offenlegung nach 25 Mediengesetz: Medieninhaber:<br />
Turia + Kant. Herausgeber: Österreichische<br />
Gesellschaft <strong>für</strong> Geschichtswissenschaften,<br />
<strong>Wien</strong>. Blattlinie: Veröffentlichungen<br />
wissenschaftlicher Arbeiten aus allen Bereichen<br />
der Geschichtswissenschaften.<br />
2
Editorial 5<br />
Innovationen<br />
Wie Neues entsteht<br />
Albert Müller 9 Eine kurze Geschichte des BCL.<br />
Heinz von Foerster und das<br />
Biological Computer Laboratory<br />
J. Rogers Hollingworth/ 31 Radikale Innovationen und Forschungs-<br />
Ellen Jane Hollingworth organisation. Eine Annäherung<br />
Jerald Hage 67 Die Innovation von Organisationen und<br />
die Organisation von Innovationen<br />
Karl H. Müller 87 Wie Neues entsteht<br />
Christian Fleck 129 Wie Neues nicht entsteht. Die<br />
Gründung des Instituts <strong>für</strong> Höhere Studien<br />
in <strong>Wien</strong> durch Ex-Österreicher und die<br />
Ford Foundation<br />
179 Abstracts<br />
Forum<br />
Ruth Beckermann 181 Toleranz und Zeitgeschichte<br />
Götz Aly 186 Adolf Eichmanns späte Rache<br />
Rezensionen<br />
Klaus Naumann 192 Der Krieg als Text. Das Jahr 1945 im<br />
kulturellen Gedächtnis der Presse<br />
(Ruth Wodak)<br />
Johanna Gehmacher 297<br />
” Völkische Frauenbewegung“. Deutschnationale<br />
und nationalsozialistische<br />
Geschlechterpolitik in Österreich<br />
(Kirsten Heinsohn)<br />
200 Anschriften der Autorinnen und Autoren<br />
ÖZG 11.2000.1 3
Herausgeber/innen<br />
Gerhard Baumgartner, <strong>Wien</strong> . Markus<br />
Cerman, <strong>Wien</strong> . Ulrike Döcker, <strong>Wien</strong><br />
Franz X. Eder, <strong>Wien</strong> . Peter Eigner, <strong>Wien</strong><br />
Gabriella Hauch, Linz . Erich Landsteiner,<br />
<strong>Wien</strong> . Alexander Mejstrik, <strong>Wien</strong><br />
Albert Müller, <strong>Wien</strong> . Reinhard Sieder,<br />
<strong>Wien</strong> . Gerald Sprengnagel, Salzburg<br />
Anton Staudinger, <strong>Wien</strong> . Karl Stocker,<br />
Graz.<br />
An diesem Heft haben mitgearbeitet<br />
Peter Eigner . Albert Müller<br />
Karl H. Müller . Reinhard Sieder<br />
Gerald Sprengnagel . Anton Staudinger<br />
Herausgeber dieses Heftes<br />
Albert Müller und Karl H. Müller<br />
Wissenschaftlicher Beirat<br />
Rudolf Ardelt, Linz . Neven Budak,<br />
Zagreb . Josef Ehmer, Salzburg<br />
Christian Fleck, Graz . Ernst Hanisch,<br />
Salzburg . Gernot Heiß, <strong>Wien</strong> . Hans<br />
Heiss, Brixen . Eric Hobsbawm, London<br />
Georg G. Iggers, Buffalo . Robert Jütte,<br />
Stuttgart . Robert Luft, München . Hans<br />
Medick, Göttingen . Wolfgang Meixner,<br />
Innsbruck . Herta Nagl-Docekal, <strong>Wien</strong><br />
Jan Peters, Berlin . Michael Pollak ,<br />
Paris . Georg Schmid, Salzburg . Peter<br />
Schöttler, Berlin . Alice Teichova,<br />
Cambridge . Ernst Wangermann,<br />
Salzburg . Fritz Weber, <strong>Wien</strong>.<br />
4 ÖZG 11.2000.1
Innovationen – wie Neues entsteht<br />
Zu den selbstverständlichen Merkwürdigkeiten <strong>für</strong> Historiker gehört es, meist<br />
nur indirekt mit ’ Neuem‘ konfrontiert zu werden. Denn die wichtigen Übergänge,<br />
Passagen und Prozesse sind bereits vollzogen und Neues geschieht unter<br />
historischer Sonne typischerweise – nicht. Diese zweifellos Beobachter-determinierte<br />
’ Falle‘, die sich hier – nicht nur – disziplinspezifisch auftut, wurde von gar<br />
nicht so unbedeutenden Historikern gewissermaßen ideologisiert: zur histoire<br />
immobile etwa, zur Strukturgeschichte oder zur historischen Anthropologie.<br />
Neues wird aber auch unter dem Schlagwort der ’ Innovationen‘ immer nur<br />
ex post zum Gegenstand der sozial-, technologie- und wirtschaftswissenschaftlichen<br />
Forschung. Und ” wie Neues entsteht“, ist auch in den Wissenschaften der<br />
Wissenschaften unter der Leitperspektive von ’ Strukturen vergangener wissenschaftlicher<br />
Revolutionen‘ abgehandelt worden. So enthält Thomas S. Kuhns<br />
Sammlung von wissenschaftshistorischen Beispielen im wesentlichen die Siegeszüge<br />
des ” einstig Neuen“, nämlich von ” Kopernikus, Newton, Lavoisier und<br />
Einstein“.<br />
Diese Beschränkungen auf Bereiche diesseits des Neuen haben zu unterschiedlichen<br />
Ausweich- und Umgehungsstrategien geführt: Bei Historikern hat<br />
das Fehlen des Neuen zwei verschiedene Hauptwege entstehen lassen. Auf der<br />
einen Seite sehen wir die ’ historistische Steigerung‘, das ’ eigentlich‘ Gewesene<br />
– entweder unter ” Auslöschung“ des Selbst, der frühe Wunsch des Leopold von<br />
Ranke, oder unter ” Beteiligung“ des Selbst, die spätere Phase historistischer<br />
Selbstreflexion – in den alleinigen Vordergrund zu stellen. Auf der anderen Seite<br />
entstand speziell in den letzten Jahrzehnten ein Interesse daran, was ” nicht<br />
eigentlich gewesen“ – oder was der ’ historistische Blick‘ aus den Augen verloren<br />
beziehungsweise nie in das Blickfeld bekommen hat: Alltag, Frauen, außereuropäische<br />
Kulturen.<br />
Im Feld der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften herrschen hauptsächlich<br />
kompensatorische Neigungen vor, die fehlende Faßbarkeit der Entstehung des<br />
Neuen durch eine ’ Rhetorik der neuen Einzigartigkeit‘ und einen ’ Jargon der<br />
permanenten Innovation‘ zu sublimieren. Und die wissenschaftswissenschaftliche<br />
Perspektive genügt sich hinreichend selbst damit, die mannigfaltigen kognitiven<br />
wie nicht-kognitiven ’ Netze‘, die den Wissenschaftsentwicklungen zugrunde<br />
liegen, auf immer andere und damit neue Weisen zu re-konfigurieren.<br />
Man zeigt Design-Variationen – und rekonfiguriert Bekanntes.<br />
ÖZG 11.2000.1 5
Der Augenblick des Neuen, so schön er auch sein mag, er findet normalwissenschaftlich<br />
derzeit kein Verweilrecht. Dabei läßt sich die Frage dieses Heftes,<br />
” wie Neues entsteht“, auf mehrfache Weisen beantworten. Eine der elementaren<br />
Antworten lautet beispielsweise, daß die Buchstabenmenge eeeeehinnsstttuw<br />
ausreicht, Wie Neues entsteht“ entstehen zu lassen. Aus 5×e, aus 3×t, aus<br />
”<br />
2×n, aus 2×s, aus 1×i, aus 1×h, aus 1×u sowie aus 1×w kann nach geeigneten<br />
Kompositionen beziehungsweise Rekombinationen Wie Neues entsteht“ her-<br />
”<br />
vortreten. Eine ähnliche Antwort könnte darauf verweisen, daß Wie Neues<br />
”<br />
entsteht“ aus unterschiedlichen Punkten und nach so und so vielen Transformationen<br />
aus Weisse hueten nett“, aus Seestuten weihen“, aus Enten husten<br />
” ” ”<br />
weise“ oder aus weise Hustenenten“ hervorgegangen ist.<br />
”<br />
Erst gegen das Ende dieses Heftes zu werden sich einige Gründe versammelt<br />
finden, welche gerade solche scheinbar trivialen Scrabble-Transformatio-<br />
’<br />
nen‘, die mit den Fragen nach der Entstehung des Neuen überhaupt nicht zusammenhängen,<br />
in den Mittelpunkt des Interesses rücken werden.<br />
Der Weg bis zu diesem Schlußpunkt ist allerdings umfangreich geworden,<br />
aber kognitiv überaus spannend zu verfolgen. Mit dem vorliegenden Heft ist es,<br />
so hoffen wir, gelungen, die Frage nach der Entstehung des Neuen – und man<br />
sollte hinzufügen: vornehmlich das Neue innerhalb der Wissenschaft, nur am<br />
Rande jenes der Technologie – auf so etwas wie eine Arbeitsbasis‘ zu stellen.<br />
’<br />
Die Artikel in diesem Heft vermitteln trotz der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen<br />
eine Kohärenz, die angesichts der Schwierigkeiten und der<br />
Gewöhnungsbedürftigkeit des Themas ungewöhnlich ist – und erstaunt.<br />
Albert Müller beginnt mit einem Fallbeispiel, dem Biological Computer<br />
Laboratory an der University of Illinois (1958–1976). Dort wurden unter der<br />
Ägide von Heinz von Foerster, dessen Anliegen es war, die Kybernetik im Laufe<br />
der Jahre von einer ersten‘ auf eine zweite‘ Stufe zu heben, zukunftsweisende<br />
’ ’<br />
Ideen geboren, Programme formuliert und pädagogisch neue Wege beschritten.<br />
Obgleich diese Institution in den funding wars letztlich aufgerieben wurde, setzte<br />
nach seiner Schließung eine bemerkenswerte Welle der Diffundierung ein.<br />
Grundgelegt wurde dies allerdings sowohl im kybernetischen Forschungsprogramm,<br />
das auf Interdisziplinarität, auf eine coincidentia oppositorum‘ ziel-<br />
’<br />
te, als auch in der ungewöhnlichen Zusammensetzung des BCL, mit der diese<br />
” transdisziplinäre“ Haltung umgesetzt werden konnte.<br />
Ellen Jane und Rogers Hollingsworths bieten auf einer breiten empirischen<br />
Grundlage eine Kontrast-Untersuchung von 28 Instituten, denen ein großer<br />
”<br />
Durchbruch“ in den bio-medizinischen Wissenschaften gelang, und hundert Instituten,<br />
deren Aktivität und Ergebnisse man als normalwissenschaftlich‘ be-<br />
’<br />
zeichnen kann. Anhand der Merkmale Vielfalt, Tiefe, Differenzierung, hierarchische<br />
und bürokratische Koordination, interdisziplinäre und integrierte Aktivitäten,<br />
Leadership und Qualität werden die organisatorischen Settings der<br />
6 ÖZG 11.2000.1
Forschungslaboratorien untersucht. Die in solchen organisatorischen Settings<br />
jeweils geförderte oder nicht geförderte Hybridität“ oder Weite“ von kogni-<br />
” ”<br />
tiven Domänen erweist sich zusammen mit organischen“ Institutsstrukturen,<br />
”<br />
mit einem hohen Grad an horizontaler Kommunikation“ oder mit klar vor-<br />
”<br />
gegebenen Institutszielen“ als Schlüsselfaktor <strong>für</strong> die Wahrscheinlichkeit eines<br />
”<br />
” großen Durchbruchs“ im Bereich der Biomedizin.<br />
Jerry Hage untersucht die Voraussetzung zur Innovation in Unternehmen<br />
und anderen Organisationen aus einer vergleichenden, transkulturellen Perspektive.<br />
Seine Formel der komplexen Arbeitsteilung“ erweist sich zunächst<br />
”<br />
als das Ergebnis einer schwierigen Balance zwischen Differenzierung und Entdifferenzierung<br />
der Tätigkeiten unterschiedlicher, in die Organisation involvierter<br />
Akteure. Riskante Strategien“ und organische Organisationskulturen“ sind<br />
” ”<br />
zwei weitere Faktorengruppen, die Hage benennt. Am Beispiel von Forschungseinrichtungen<br />
wird nun gezeigt, daß diese in der Management-Forschung gewonnenen<br />
Kategorien sich generalisieren lassen.<br />
Diese Analysen werden in der Arbeit von Karl H. Müller versuchsweise synthetisiert,<br />
zusammengefaßt und erweitert. Unter dem Generaltitel Wie Neues<br />
”<br />
entsteht“ werden nach einer Reihe von begrifflichen Klärungen zum Status des<br />
Neuen vier systematische Analysewege beschrieben, auf denen das Phänomen<br />
des Neuen untersucht werden kann. Bemerkenswert an diesen vier Heuristiken<br />
dürfte vor allem die Tatsache sein, daß in allen vier Fällen so etwas wie<br />
ein einheitliches Erklärungsmuster gefunden werden konnte, das zudem auf<br />
sehr verschiedenen Bereichen eingesetzt werden kann. Sollten sich, was in diesem<br />
Artikel allerdings nicht mehr geschieht, mit diesen Heuristiken interessante<br />
wissenschaftshistorische Fallstudien aufbereiten und durchführen lassen, dann<br />
hätte die Frage, wie Neues entsteht, wiederum ihr wissenschaftliches Heim-<br />
’<br />
recht‘ gefunden.<br />
Aber die Frage, wie Neues entsteht, besitzt eine logische Kehrseite, die da<br />
lautet: Wie Neues nicht entsteht. Und wenn sich Faktorengruppen‘ <strong>für</strong> die Ent-<br />
’<br />
stehung des Neuen finden lassen, dann sollte die Absenz solcher Faktoren auch<br />
die erweiterte Reproduktion des Alten, des Bekannten wie auch die Verhinderung<br />
des Neuen miterklären helfen. Und in der Tat verdeutlicht die Arbeit von<br />
Christian Fleck, daß mehrere gewichtige nicht gegebene Schlüsselfaktoren“ rei-<br />
”<br />
chen, um Neues nicht entstehen oder wenigstens zeitweilig nicht aufkommen zu<br />
lassen. Ohne dem spannend erzählten Sitten- und Bildungsroman aus den fünfziger<br />
und frühen sechziger Jahren von Österreich II vorgreifen zu wollen, kann<br />
einleitend eine systematische Zusammenfassung versucht werden. Eine <strong>für</strong> die<br />
<strong>österreichische</strong> Landschaft der damaligen Jahre geplante Innovation‘, nämlich<br />
’<br />
die Gründung eines Instituts <strong>für</strong> Advanced Studies“ im Bereich der Sozial-<br />
”<br />
und Wirtschaftswissenschaften, mißrät in den ersten Jahren, indem es an die<br />
bestehende politische Kultur akribisch assimiliert und vorauseilend angepaßt<br />
ÖZG 11.2000.1 7
wird. Einige der notwendigen organisatorischen Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> innovatives<br />
wissenschaftliches Arbeiten, sie blieben in der schwierigen ’ Gründerzeit‘<br />
des nachmaligen Instituts <strong>für</strong> Höhere Studien auf der politik-wissenschaftlichen<br />
Strecke. Dazu zählt beispielsweise eine klare strategische Positionierung eines<br />
solchen Instituts, dazu gehören sehr hohe wissenschaftliche Standards in der<br />
Personalrekrutierung, dazu reiht sich auch ein hinreichender Grad an ’ Autonomie‘<br />
vom politisch-wirtschaftlichen Umfeld. Alle diese ” Schlüsselfaktoren“ fehlten<br />
– und die vorhandenen Schlüsselelemente <strong>für</strong> Innovation wie beispielsweise<br />
eine interdisziplinäre Zusammensetzung oder ein starker sozialer wie kommunikativer<br />
Zusammenhalt erwiesen sich in dieser Phase als zu schwach, um diese<br />
Kehrseiten kompensieren und aufwiegen zu können. Zwar konnte sich nach 1968<br />
das Institut <strong>für</strong> Höhere Studien einen gewichtigen Platz innerhalb der <strong>österreichische</strong>n<br />
Ökonomie, Politikwissenschaft oder Soziologie aufbauen, doch lastete<br />
die ” Erbschaft dieser Frühzeit“ an allen weiteren Umstrukturierungen.<br />
Im Forum findet sich ein Beitrag von Ruth Beckermann, der sich mit den<br />
in Österreich diskutierten Plänen eines Hauses der Geschichte beziehungsweise<br />
eines Hauses der Toleranz befaßt und der gegen die gegenwärtige Tendenz zu<br />
einer musealisierenden Zementierung bestehender reaktionärer Geschichtsbilder<br />
und ’ Identitäts‘-Konzeptionen antritt. Am Beispiel dieser vor allem politischen<br />
Diskussion läßt sich abermals nachvollziehen, ” wie Neues nicht entsteht“ und<br />
nicht entstehen kann. Götz Aly verdanken wir schließlich einen Survey in die<br />
nun vom israelischen Staatsarchiv freigegebenen Aufzeichungen Adolf Eichmanns.<br />
Albert Müller und Karl H. Müller, <strong>Wien</strong><br />
8 ÖZG 11.2000.1
Albert Müller<br />
Eine kurze Geschichte des BCL<br />
Heinz von Foerster und das Biological Computer Laboratory<br />
” Heinz, womit müßte ein Historiker beginnen,<br />
wenn er die Geschichte des BCL schreiben möchte “<br />
” Er müßte mit den Macy-Konferenzen beginnen“1<br />
Bevor ich diesem durchaus begründeten Rat folge, möchte ich kurz darlegen,<br />
was ich mir hier vorgenommen habe. Ich versuche den Ansatz einer Interpretation<br />
zu einem kleinen und – wie ich glaube – ungewöhnlichen Kapitel der<br />
Wissenschaftsgeschichte der späten 1950er bis Mitte der 1970er Jahre, dem<br />
bisher nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde.<br />
Und ebenso motiviert mich der Umstand, daß das BCL in der Literatur zur<br />
Geschichte der Kybernetik, der Systemtheorie, der nun wieder neu debattierten<br />
Bionik, des parallelen Rechnens, der Neurophysiologie, der Bio-Logik, der<br />
künstlichen Intelligenz, des symbolischen Rechnens oder des Konstruktivismus<br />
als Denktradition – man könnte noch weitere Wissensgebiete von gegenwärtig<br />
großem Renommee aufzählen – nur sehr selten erwähnt wird, 2 obwohl Mitarbeiter<br />
dieser Einrichtung, des BCL, als maßgeblich <strong>für</strong> die jeweilige Domäne<br />
in der Literatur zu diesen Wissensgebieten erscheinen. Ist das eine spezielle<br />
Vergeßlichkeit der history of science (die Vergeßlichkeit der science selbst ist<br />
1 Aus einem Interview mit Heinz von Foerster. Ohne die jahrelange tatkräftige Unterstützung<br />
durch Heinz von Foerster, der meine Fragen immer wieder geduldig beantwortete (hinfort zitiert<br />
als Interview HvF) und der mir sein Archiv (hinfort zitiert als HvF-Archiv) zugänglich<br />
machte, wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ich möchte mich hier herzlich da<strong>für</strong> bedanken.<br />
Diese Arbeit wäre außerdem nicht möglich gewesen ohne die dauernde Zusammenarbeit<br />
mit Karl H. Müller, mit dem ich das Interesse am BCL und seinem Gründer teile.<br />
2 Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet hier Pierre Levy, Analyse de contenu des travaux<br />
du Biological Computer Laboratory (B.C.L.), in: Ecole Polytechnique – CREA – Centre de<br />
Recherche epistemologie et autonomie, Hg., Genealogies de l’auto-organisation, Paris 1985,<br />
155–192; ders., Le theatre des operations. Au sujet des travaux du B.C.L., in: ebd., 193–224.<br />
ÖZG 11.2000.1 9
ja weithin bekannt) 3 Ich bin nicht sicher. Und ich versuche einmal ein Beispiel<br />
aus einem speziellen Bereich zu geben. Jeder der sich nur ein bißchen<br />
mit der Geschichte der Kybernetik beschäftigt, stößt zuerst auf den Namen<br />
ihres Begründers Norbert <strong>Wien</strong>er. 4 Und zugleich mit dem Namen erfährt er,<br />
daß <strong>Wien</strong>er am MIT (Massachusetts Institute of Technology) in Boston tätig<br />
war. Bald danach wird der oder die Interessierte auf den Namen W. Ross<br />
Ashby stoßen, der ja immerhin der Verfasser eines der bedeutendsten Lehrund<br />
Grundlagenbücher der Kybernetik ist, bestens geschrieben, gerade heute<br />
lesenswert. 5 Der Interessierte wird bei dieser Gelegenheit lernen, daß es sich bei<br />
Ashby um einen englischen Psychiater handelt. Er wird aber gewöhnlich nicht<br />
erfahren, daß Ashby eine lange Zeit bis 1972 eine Professur am BCL innehatte.<br />
Solche Kleinigkeiten sind es unter anderem, die mich dazu bewegen, an einer<br />
vorläufigen kleinen Geschichte des BCL zu arbeiten. 6<br />
BCL (Biological Computer Laboratory) ist der Name einer eigenständigen<br />
Abteilung innerhalb des Departments of Electrical Engineering an der University<br />
of Illinois, die 1957/58 vom damaligen Professor for Electrical Engineering<br />
Heinz von Foerster gegründet und im Zuge seiner Emeritierung geschlossen<br />
wurde. Die Vermutung einer sehr engen Bindung des ” Schicksals“ dieser Institution<br />
an das ” Schicksal“ ihres Gründers und Leiters mag damit schon auf den<br />
ersten Blick naheliegend erscheinen. 7<br />
Vorgeschichten<br />
Zu jeder kurzen Geschichte kann man eine kurze Vorgeschichte erzählen. Im<br />
speziellen Fall des BCL wird sich diese Vorgeschichte auf biographische Um-<br />
3 Um beim Beispiel zu bleiben: Schon rund zehn Jahre nach seiner Schließung erinnerte sich<br />
– so berichtet Stefano Franchi – an der University of Illinois niemand mehr an das BCL.<br />
Vgl. Stefano Franchi, Güven Güzeldere u. Eric Minch, Interview with Heinz von Foerster, in:<br />
Stanford Humanities Review 4 (1995), H. 2, 288–307.<br />
4 Vgl. nur Norbert <strong>Wien</strong>er, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen<br />
und in der Maschine, Düsseldorf u. a. 1992. (urspr. 1948).<br />
5 W. Ross Ashby, An Introduction to Cybernetics, New York 1956.<br />
6 Ein kleiner Versuch, die Verhältnisse ein wenig zurecht zu rücken, stammt von Francisco<br />
Varela. Vgl. Francisco Varela, Heinz von Foerster, the scientist, the man, in: Stanford<br />
Humanities Review 4 (1995), H. 2., 285–288.<br />
7 Eine Einführung in die Biographie Heinz von Foersters sowie eine Bibliographie seiner<br />
Schriften bis 1997 findet sich in: Albert Müller, Karl H. Müller u. Friedrich Stadler, Hg.,<br />
Konstruktivismus und Kognitionswissenschaft. Kulturelle Wurzeln und Ergebnisse. Heinz<br />
von Foerster gewidmet, <strong>Wien</strong> u. New York 1997. Einen Überblick über die Arbeit von Foersters<br />
bieten: Heinz von Foerster, Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie,<br />
Braunschweig, 1985; ders., Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Frankfurt<br />
am Main 1992; ders., KybernEthik, Berlin 1993; außerdem ders., Observing Systems, Salinas<br />
1981.<br />
10 ÖZG 11.2000.1
stände seines Gründers konzentrieren müssen. Heinz von Foerster hatte bald<br />
nach seiner Ankunft in den USA 1949 eine Stelle an der University of Illinois<br />
erhalten. Das war zunächst die Folge einer Kette von Zufällen, sodann die der<br />
nachdrücklichen Unterstützung durch Warren McCulloch. Wenn man es genau<br />
nimmt, war Foerster im Jahr 1949 kein Wissenschaftler im ’ strengen‘ Sinn, weder<br />
nach den Regeln des mitteleuropäischen Wissenschaftssystems, noch nach<br />
denen des Wissenschaftssystems der Vereinigten Staaten. Von Foerster war<br />
Techniker und Erfinder. Vor 1945 hatte er im Bereich avancierter physikalischer<br />
Grundlagenforschung in der NS-Rüstungsforschung gearbeitet. 8 Er verfügte aus<br />
verschiedenen Gründen über keinen regulären akademischen Abschluß. 9 Und er<br />
hatte bis dahin nur eine geringe Anzahl von Publikationen. Einen Artikel aus<br />
dem Bereich der Physik 10 und ein schmales Buch, das nach landläufigen Begriffen<br />
dem Gebiet der Psychologie zugeordnet wurde.<br />
Nach 1945 verdiente er die Hälfte seines Gehalts als Techniker bei einem<br />
<strong>Wien</strong>er Betrieb der Kommunikationstechnologie. Die andere Hälfte verdiente er<br />
mit journalistischer Arbeit, die sowohl gesellschaftspolitische als auch wissenschaftsjounalistische<br />
Beiträge umfaßte, im Sender Rot-Weiß-Rot. Wissenschaft<br />
war damals <strong>für</strong> Foerster eher so etwas wie ein Hobby, denn selbst seine erste<br />
Buchpublikation Das Gedächtnis entstand nebenher. 11 Im <strong>Wien</strong> der Nachkriegsjahre<br />
fand diese Publikation – vor allem auch unter Psychologen 12 – nur<br />
geringen Anklang, 13 obwohl die Veröffentlichung etwa bei Erwin Schrödinger<br />
auf Interesse stieß. 14<br />
Diese Untersuchung gelangte eher zufällig und über private Netzwerke in<br />
die Hände Warren McCullochs, der sich vom quantenmechanischen Ansatz die-<br />
8 Soweit heute abzusehen ist, produzierte Foerster weder direkt noch indirekt <strong>für</strong> den Krieg<br />
’ brauchbare‘ Forschungsergebnisse.<br />
9 Heinz von Foerster studierte an der Technischen Hochschule <strong>Wien</strong> Technische Physik. Vor<br />
dem Studienabschluß trat er eine Stelle in einer Firma <strong>für</strong> physikalisch-technische Instrumente<br />
an. 1944 reichte er an der <strong>Universität</strong> Breslau eine Dissertation ein und machte entsprechende<br />
Prüfungen. Den <strong>für</strong> die formelle Promotion notwendigen Ariernachweis‘ konnte er aber nicht<br />
’<br />
erbringen, sodaß seine Promovierung unterblieb.<br />
10 Heinz von Foerster, Über das Leistungsproblem beim Klystron, in: Berichte der Lilienthal<br />
Gesellschaft <strong>für</strong> Luftfahrtforschung 155 (1943), 1–5. Daneben verfaßte er interne Forschungsberichte<br />
über laufende Arbeiten, die unpubliziert blieben.<br />
11 Heinz von Foerster, Das Gedächtnis: Eine quantenmechanische Untersuchung, <strong>Wien</strong> 1948.<br />
Erste Aufzeichnungen über Vorarbeiten finden sich in einem Manuskriptband aus dem Jahr<br />
1945 (im HvF-Archiv).<br />
12 Die Gedächtnisforschung an der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> verfolgte gänzlich andere Konzepte.<br />
Vgl. z. B. Hubert Rohracher, Zur Physiologie des Gedächtnisses, in: Anzeiger der phil.-hist.<br />
Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1948, Nr. 3, 41–55; vgl. auch ders.,<br />
Die Vorgänge im Gehirn und das geistige Leben, 2. Aufl. Leipzig 1948.<br />
13 Die Korrespondenz des Deuticke-Verlags mit dem Autor in den Jahren nach dem Erscheinen<br />
des Buches weist nur geringe Verkaufszahlen aus. (HvF-Archiv.)<br />
14 Erwin Schrödinger an Hans Deuticke, 16. Dezember 1948, Abschrift im HvF-Archiv.<br />
ÖZG 11.2000.1 11
ser Untersuchung eine Lösung eigener Forschungsprobleme versprach, von denen<br />
Foerster zur Zeit der Abfassung von Das Gedächtnis keine Kenntnis hatte.<br />
McCulloch 15 lud Foerster jedenfalls ein, seine Thesen zur Funktionalität des<br />
Gedächtnisses im Hinblick auf Erinnern und Vergessen auf einer Kybernetiktagung,<br />
der Macy-Conference, vorzutragen. 16<br />
Im Gegensatz zum BCL haben die Macy-Konferenzen durchaus einiges<br />
wissenschaftshistorisches Interesse gefunden. Einen besonderen Hinweis verdient<br />
hier Steve Heims’ Buch über die Cybernetics Group 1946–1953. 17 Diese<br />
Arbeit basiert zwar auf einer breiten Quellenkenntnis, sie leidet aber möglicherweise<br />
ein wenig unter einer ” ideologiekritischen“ Fixierung auf die USA im<br />
Kalten Krieg. Die politische Entwicklung der Vereinigten Staaten wird manchmal<br />
allzusehr an die Aktivitäten der Forschergruppe gebunden.<br />
Nach seinem ersten Vortrag vor der Macy-Konferenz 1949 wurde Heinz von<br />
Foerster zum Herausgeber der Publikation der Konferenzakten bestimmt. 18 In<br />
sehr kurzer Zeit war er von der äußersten Peripherie (dem Nachkriegs-<strong>Wien</strong>)<br />
ins Zentrum einer der bedeutendsten Wissenschafts-Bewegungen des 20. Jahrhunderts<br />
geraten.<br />
Die Teilnehmer der Macy-Tagungen vertraten 1949 die Fachrichtungen<br />
Psychiatrie, Elektrotechnik, Physiologie, Computerwissenschaft, Medizin, Zoologie,<br />
Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Anatomie, Neurologie, Verhaltensforschung,<br />
Mathematik, Radiobiologie, Biophysik, Philosophie. Bis 1953 erweitert<br />
sich diese Liste noch um Ökonomie und andere Disziplinen. 19<br />
15 Zu Warren McCulloch vgl. am besten die Collected Works of Warren S. McCulloch, hg.<br />
v. Rook McCulloch, Salinas CA 1989, 4 Bde. mit zahlreichen kommentierenden Artikeln.<br />
Leichter zugänglich: ders., Embodiments of Mind, Cambridge MA 1965. Für den Kontext<br />
vgl. Olaf Breidbach, Die Materialisierung des Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19.<br />
und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997, 367 ff.<br />
16 Heinz von Foerster, Quantum Mechanical Theory of Memory, in: Ders., Hg., Cybernetics.<br />
Circular Causal, and Feedback Mechanisms in biological and social Systems. Transactions of<br />
the Sixth Conference, New York 1949, 112–145.<br />
17 Steve Joshua Heims, Constructing a social science for postwar America. The cybernetics<br />
Group 1946–1953, Cambridge MA u. London 1991. Vgl. aber auch Jean-Pierre Dupuy, Aux<br />
origines des science cognitives, Paris 1994, sowie einige Hinweise bei Francisco J. Varela,<br />
Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik. Eine Skizze aktueller Perspektiven, Frankfurt<br />
am Main 1990, 30 ff. Eine neue Interpretation findet sich bei N. Katherine Hayles, Boundary<br />
Disputes. Homeostasis, Reflexivity, and the Foundations of Cybernetics, in: Configurations 2<br />
(1994), 441–467.<br />
18 Heinz von Foerster, Hg., Transactions of the sixth Conference, wie Anm. 16; ders., Margaret<br />
Mead u. Hans Lukas Teuber, Hg., Cybernetics: Transactions of the Seventh Conference,<br />
New York 1950; dies., Hg., Cybernetics: Transactions of the Eighth Conference, New York<br />
1951; dies., Hg., Cybernetics: Transactions of the Ninth Conference Foundation, New York<br />
1953; Dies., Hg., Cybernetics: Transactions of the Tenth Conference, New York 1955. Die<br />
Übertragung der Herausgeberschaft an das zuletzt hinzugekommene Mitglied war nicht zuletzt<br />
die didaktische Absicht verbunden, dessen Englischkenntnisse zu verbessern.<br />
19 Nach den Teilnehmerverzeichnissen der Transactions, wie Anm. 18.<br />
12 ÖZG 11.2000.1
Unter den Teilnehmern waren neben dem Vorsitzenden Warren McCulloch<br />
unter anderem Norbert <strong>Wien</strong>er, John von Neumann, Gregory Bateson, Margareth<br />
Mead, Julian H. Bigelow, Paul Lazarsfeld, Walter Pitts und der Leiter<br />
des Tagungsprogramms der Macy Foundation, Frank Fremont Smith.<br />
Die Diskussionen dieser Gruppe kennzeichnete Heinz von Foerster als ” kooperativ,<br />
und nicht kompetitiv“ 20 . Die von ihm betreuten Publikationen versuchten<br />
diese Diskussionsstruktur auch in der gedruckten Form nachzuzeichnen.<br />
Die Vorträge werden durch Fragen, der Bitte nach Erläuterungen, Einwänden<br />
etc. unterbrochen, die Multiperspektivität auf ein Thema stand dabei<br />
im Vordergrund. Dennoch ließ auch dieser kooperative Diskussionsmodus heftige<br />
Einwände zu. Als ein Beispiel kann die Auseinandersetzung zwischen Ross<br />
Ashby, der seinen Homöostaten präsentierte, und Julian Bigelow, der die Nützlichkeit<br />
dieser Konstruktion vehement bestritt, dienen. 21<br />
Für den nunmehrigen Professor <strong>für</strong> Electrical Engineering in Urbana, Illinois,<br />
bedeutete die Mitwirkung an den regelmäßigen jährlichen Tagungen so<br />
etwas wie ein intellektuelles Zentrum. Und nach dem Ende der Macy-Group<br />
(1953) versuchte er gewissermaßen ihr ” Erbe“ weiterzuführen. Als Physiker in<br />
Urbana konnte Heinz von Foerster jedoch zunächst an seine früheren Arbeiten<br />
anschließen: er leitete das Electron Tube Lab.<br />
Die Gründung des BCL<br />
Eine der vielversprechenden Optionen der Kybernetik schien <strong>für</strong> Foerster offenkundig<br />
in der Auslotung ihrer Anwendungsgebiete und -möglichkeiten zu<br />
liegen. Diese Anwendungsmöglichkeiten ergaben sich allerdings zunächst nicht<br />
aus den bisherigen Forschungen Foersters als Physiker und Elektrotechniker.<br />
Er nutzte die Möglichkeit eines Sabbaticals und die Unterstützung der Guggenheim<br />
Foundation, um sich in zusätzlichen Bereichen weiterzubilden. Zum<br />
einen Teil beschäftigte er sich am MIT bei Warren McCulloch mit Problemen<br />
der Neurophysiologie, zum andern Teil ging er nach Mexiko, um bei Arturo<br />
Rosenblueth, einem bedeutenden Mitglied der Macy-Group, zu Problemen der<br />
Physiologie und Biologie zu arbeiten. Während dieses Aufenthalts verfaßte er<br />
unter anderem ein – dann unveröffentlicht gebliebenes – Manuskript, dessen<br />
Inhalt die Kybernetik der Muskelaktivität betraf. 22<br />
Mit dieser ” Schulung“ bei Rosenblueth und McCulloch erschien Foerster<br />
20 Interview HvF.<br />
21 Vgl. W. Ross Ashby, Homeostasis, in: Foerster u. a., Transactions of the ninth conference,<br />
wie Anm. 18, 73–108, bes. 95: ” Bigelow: It (Ashby’s Homöostat) may be a beautiful replica<br />
of something, but heaven only knows what.“<br />
22 Manuskript im HvF-Archiv mit dem Titel ” Phenomenology of External and Internal Work<br />
in the Active Whole Muscle“, datiert Mai 1957.<br />
ÖZG 11.2000.1 13
ausreichend legitimiert, um von seiner <strong>Universität</strong> die Möglichkeit zu erhalten,<br />
das BCL, soweit ich sehe: ganz nach seinen eigenen Vorstellungen, zu eröffnen<br />
und zu betreiben. Das Labor wurde mit 1. Jänner 1958 eröffnet. Ein völlig<br />
neuer Forschungszweig wurde damit innerhalb der <strong>Universität</strong> und innerhalb<br />
des Departments of Electrical Engineering konstituiert. Die Leitung des Electron<br />
Tube Lab, das vor allem auch aufgrund der zunehmenden Bedeutung des<br />
Transistors an Relevanz verlor, hatte Foerster aufgegeben.<br />
Abbildung 1: Heinz von Foerster im BCL, ca. 1960<br />
(Quelle: HvF-Archiv)<br />
Das BCL war in seinem ersten Jahrzehnt vor allem ein Forschungslabor.<br />
Mit der Arbeit dort war (fast) keine Lehrtätigkeit verbunden. Studenten, die<br />
am BCL arbeiteten, wurden aus Forschungsprojekten bezahlt und nicht formell<br />
– im Sinne eines Studienganges oder Curriculums – dort ausgebildet.<br />
Die Finanzierung des BCL erfolgte vor allem über Drittmittel. Von medizinischen<br />
und anderen Programmen abgesehen waren US-Airforce und US-Navy<br />
die Hauptfinanciers des Labors. (Vgl. Tabelle 2 im Anhang.) Beide militärischen<br />
Organisationen verfügten in den 50er und 60er Jahren über erstaunliche<br />
Etats <strong>für</strong> (nicht-militärische) Grundlagenforschung. Erst seit Beginn der 1970er<br />
Jahre sollte sich dies ändern.<br />
14 ÖZG 11.2000.1
Anfangsjahre<br />
Versucht man die Anfangsjahre des BCL zu rekonstruieren, so gelangt man zu<br />
folgenden bemerkenswerten Ergebnissen: Offensichtlich gelang es Foerster sehr<br />
rasch, interessante Forscher an das BCL zu bringen. Einige dieser Personen entstammten<br />
dem kybernetischen ” Establishment“ – Ross Ashby wurde ja schon<br />
erwähnt –, sodann wurden aber auch Vertreter ” ferner“ Disziplinen, der Philosoph<br />
Gotthart Günther ist da<strong>für</strong> ein Beispiel, gewonnen. Dazu kamen immer<br />
wieder junge Wissenschaftler aus allen möglichen Bereichen. Und schließlich lud<br />
das BCL Gäste ein: solche Einladungen waren wohl nur zum Teil ” strategisch“,<br />
zum Teil eher zufällig oder über die bereits bestehenden Netzwerke – nicht zuletzt<br />
der Macy-Group – vermittelt. So gelangte etwa Gotthart Günther durch<br />
die Vermittlung Warren McCullochs an das BCL. 23 In den ersten Jahren des<br />
Labors, bis 1965, waren insgesamt folgende Personen als Visiting Research Professors<br />
eingeladen: Gordon Pask (England), Lars Löfgren (Schweden), W. Ross<br />
Ashby (England), Gotthard Günther (USA, Deutschland), William Ainsworth<br />
(England), Alex Andrew (England), Dan Cohen (Israel). Ashby (seit 1961) und<br />
Günther (seit 1967) erhielten dauernde Professuren, Pask 24 , mit dem Foerster<br />
auch gemeinsam publizierte 25 , und Löfgren blieben in permanentem Kontakt<br />
mit dem BCL.<br />
Selbstorganisierende Systeme und Bionik<br />
Auf der Grundlage dieser Struktur gelang es, am BCL nach nur sehr kurzer<br />
Anlaufzeit eines der damals konjunkturträchtigsten Themen zu bearbeiten und<br />
auch organisatorisch gewissermaßen zu besetzen. Mehrere wichtige Konferenzen<br />
kamen im unmittelbaren Umfeld des BCL zustande. Thematisch kreisten<br />
sie um Probleme der Systemtheorie und speziell um den Bereich selbstorganisierender<br />
Systeme. 26 Noch heute sind die Konferenzbände wie Self-Organizing<br />
23 Vgl. Heinz von Foerster, Metaphysics of an experimental Epistemologist, in: Roberto<br />
Moreno-D az u. Jose Mira-Mira, Hg., Brain Process, Theories, and Models. An International<br />
Conference in Honor of W. S. McCulloch 25 Years after his Death, Cambridge u. London<br />
1995, 3–10.<br />
24 Zur Zusammenarbeit von Pask und Foerster vgl. auch Heinz von Foerster, On Gordon<br />
Pask, in: Systems Research 10 (1993), Nr. 3, 35–42.<br />
25 Gordon Pask u. Heinz von Foerster, A Predictive Model for Self-Organizing Systems, in:<br />
Cybernetica 3 (1960), 258–300; dies., A Predictive Model for Self-Organizing Systems, in:<br />
Cybernetica 4 (1961), 20–55.<br />
26 Vgl. allgemein Rainer Paslack, Urgeschichte der Selbstorganisation. Zur Archäologie eines<br />
wissenschaftlichen Paradigmas, Braunschweig 1991.<br />
ÖZG 11.2000.1 15
Systems 27 oder Principles of Self-Organization 28 grundlegend <strong>für</strong> diesen Forschungsbereich.<br />
Diese und anschließende Konferenzen, an denen Mitglieder<br />
des BCL beteiligt waren, erregten rasch internationales Aufsehen und zogen<br />
klar nachvollziehbare Diffundierungseffekte in europäischen Ländern bis hin<br />
zur UdSSR nach sich. Die Theorie selbstorganisierender Systeme kontrastierte<br />
und erweiterte die Tradition der Systemtheorie, 29 die in die 1920er Jahre<br />
zurückreicht, und dehnte vor allem ihre Anwendungsbereiche ganz massiv aus.<br />
Heinz von Foersters Beiträge dazu bestehen vor allem im Konzept des order<br />
from noise sowie in der Analyse der selbstorgansierenden Systeme im Rahmen<br />
der Thermodynamik. 30<br />
Neben Systemtheorie und Selbstorganisation war es vor allem das Schlagwort<br />
der Bionik, 31 das der Forschergruppe am BCL Aufsehen verschaffte. Bionik<br />
diente als weitgespanntes catchword, unter dem die Versuche zusammengefaßt<br />
wurden, biologische Prozesse zu analysieren, zu formalisieren und auf<br />
Rechnern zu implementieren. 32 Damit schloß das BCL sowohl an die Ideen von<br />
McCulloch und Pitts 33 als auch an die Tradition der Macy-Tagungen an. Auch<br />
zum Bereich der Bionik wurden Kongresse und Tagungen durchgeführt, die international<br />
weithin diffundierten. Mit der Bionik wurde übrigens auch eine Alternative<br />
zur 1956 formulierten ’ Artificial Intelligence‘ 34 geschaffen, auch wenn<br />
heute klar erscheint, daß sich die Artificial Intelligence in the long run auf dem<br />
Markt der wissenschaftlichen Forschungsprogramme als erfolgreicher erwies.<br />
Die raschen Erfolge des BCL trugen dazu bei, daß dem Labor militärische<br />
Förderungsmittel erschlossen wurden, obwohl das BCL zu keinem Zeitpunkt<br />
militärisch ” verwendbare“ bzw. ” verwertbare“ Produkte lieferte. Neben Grundlagenforschung<br />
wurde am BCL aber auch anwendungsorientierte Forschung<br />
27 Marshall C. Yovits u. Scott Cameron, Hg., Self-Organizing Systems, New York 1960.<br />
28 Heinz von Foerster u. George W. Zopf Jr., Hg., Principles of Self-Organization: The Illinois<br />
Symposium on Theory and Technology of Self- Organizing Systems, New York 1962.<br />
29 Vgl. z. B. Ludwig von Bertalanffy, General System Theory. Foundations, Development,<br />
Applications, revised edition, New York 1969.<br />
30 Vgl. Heinz von Foerster, On Self-Organizing Systems and Their Environments, in: Yovits<br />
u. Cameron, Hg., Self-Organizing Systems, wie Anm. 27, 31–50.<br />
31 Vgl. das Vorwort zu einer der initialen Konferenzen auf diesem Gebiet: Heinz von Foerster,<br />
Bionics, in: Bionics Symposium. Living Prototypes – the Key to new Technology, Technical<br />
Report 60-600, Wright Air Development Division Ohio 1960, 1–4; sowie ders., Bio-Logic, in:<br />
Eugene E. Bernard u. Morley A. Kare, Hg., Biological Prototypes and Synthetic Systems, Bd.<br />
1, New York 1962, 1–12. Für eine Art lexikalische Übersicht vgl. ders., Bionics, in: McGraw-<br />
Hill Yearbook Science and Technology (1963), 148-151.<br />
32 Heinz von Foerster, Some Aspects in the Design of Biological Computers, in: Second<br />
International Congress on Cybernetics, Namur 1960, 241–255.<br />
33 Vgl. den bahnbrechenden Artikel: Warren S. McCulloch u. Walter H. Pitts, A Logical<br />
Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity, in: Bulletin of Mathematical Biophysics<br />
5 (1943), 115–133.<br />
34 Als Erfinder diese Begriffs gilt bekanntlich John McCarthy.<br />
16 ÖZG 11.2000.1
Abbildung 2: Heinz von Foerster erläutert ein McCulloch-Pitts-Netzwerk, vor 1960<br />
(Quelle: HvF-Archiv)<br />
betrieben. Dazu zählt etwa ein interdisziplinäres Projekt zur Leukozytenforschung<br />
35 oder eine Serie von demographischen Arbeiten, die sich mit der Prognose<br />
des Umfangs der Weltbevölkerung beschäftigten. Das sogenannte Doomsday-Projekt<br />
36 erzeugte nicht zuletzt deshalb große Publizität über die Fachgrenzen<br />
hinaus, weil es bis in die 1980er Jahre ” bessere“ Vorhersagen als die<br />
traditionelle Demographie lieferte. 37<br />
Über beide Projekte – und weitere – könnte man sagen (und es wurde<br />
gesagt), ihnen lägen die unorthodoxen, ” schrägen“ Ideen Heinz von Foersters<br />
zugrunde. Diese etwas saloppe Formulierung, die lediglich die strategische An-<br />
35 George Brecher, Heinz von Foerster u. Eugene P. Cronkite, Produktion, Ausreifung und<br />
Lebensdauer der Leukozyten, in: Herbert Braunsteiner, Hg., Physiologie und Physiopathologie<br />
der weißen Blutzellen, Stuttgart 1959, 188–214; dies., Production, Differentiation and<br />
Lifespan of Leucocytes, in: Herbert Braunsteiner, Hg., The Physiology and Pathology of<br />
Leucocytes, New York 1962, 170–195.<br />
36 Vgl. Heinz von Foerster, Patricia M. Mora u. Lawrence W. Amiot, Doomsday, in: Science<br />
133 (1961), 936–946; dies., Population Density and Growth, in: ebd., 1931–1937. Vgl. auch<br />
allgemein: Heinz von Foerster, Some Remarks on Changing Populations, in: Frederick Stohlman<br />
Jr., Hg., The Kinetics of Cellular Proliferation, New York 1959, 382–407.<br />
37 Vgl. dazu auch Stuart A. Umpleby, The Scientific Revolution in Demography, in: Population<br />
and Environment. A Journal of Interdisciplinary Studies 11 (1990), 159–174.<br />
ÖZG 11.2000.1 17
wendung von Forschungsstrategien auf unerwartete‘, überraschende‘ Berei-<br />
’ ’<br />
che etikettieren soll, in die Terminologie der Innovationsforschung38 gebracht,<br />
läßt vielfältige Operationen der Re-Kombination als zentrales Element wissenschaftlicher<br />
Kreativität am BCL erscheinen. Nicht zufällig tauchte die Idee der<br />
’ Foerster-Operatoren‘ in diesem Zusammenhang auf.39<br />
Abweichung als Innovation<br />
” Abweichende“ Hypothesen und Forschungsprogramme wurden <strong>für</strong> den BCL-<br />
Stil, beziehungsweise <strong>für</strong> den Forschungsstil seiner Protagonisten zunehmend<br />
kennzeichnend. Der Abschied vom Mainstream der Forschung war zwar offensichtlich<br />
nicht das intendierte Ziel, aber doch wenigstens das offensichtliche<br />
Ergebnis der nun anschließenden Phase der Geschichte des Labors, deren Beginn<br />
wir in die Mitte der 1960er Jahre datieren können. Damals besuchte Heinz<br />
von Foerster den chilenischen Wissenschaftler Humberto Maturana, den er auf<br />
einer Konferenz in Europa kennengelernt hatte, in seinem Labor in Santiago<br />
und lud ihn in der Folge an das BCL ein. Maturana hatte bereits USA-<br />
Erfahrung, einige Zeit hatte er am MIT gearbeitet und dort aufgrund seiner<br />
” eigensinnigen“ Ansichten zunächst keine große Akzeptanz gefunden. Zum Labor<br />
von Marvin Minsky, dem späteren Mastermind“ der Artificial Intelligence-<br />
”<br />
Forschung40 hatte er damals – 1959 – schon ein schwieriges Verhältnis gehabt.<br />
Humberto Maturana kam also an das BCL und erarbeitete dort unter anderem<br />
einen wichtigen Artikel auf dem Weg zu seiner – heute weltweit bekannten –<br />
Theorie der Autopoiesis. 41 Aber auch die erste Ausformulierung der nun auf<br />
den Begriff gebrachten Theorie der Autopoiesis erschien zuerst als interne Publikation<br />
des BCL. 42 Schüler und Mitarbeiter Maturanas entwickelten ebenfalls<br />
38 Vgl. dazu nur Karl H. Müller, Sozialwissenschaftliche Kreativität in der Ersten und in<br />
der Zweiten Republik, in: ÖZG 7 (1996), 9–43, bzw. ders. in diesem Heft.<br />
39 Vgl. Heinz von Foerster, Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen. Eine<br />
Selbsterschaffung in 7 Tagen, hg. v. Albert Müller u. Karl H. Müller, <strong>Wien</strong> 1997, 213 ff.<br />
40 Vgl. Marvin Minsky, Mentopolis, Stuttgart 1990. Maturana hat auf sehr interessante<br />
Weise auf die Unterschiede zwischen der A.I.-Forschung und seinem eigenen Ansatz bzw. auch<br />
dem des BCL aufmerksam gemacht: ” Die Artificial-Intelligence-Forscher ahmten biologische<br />
Phänomene nach. Wenn man biologische Phänomene nachahmt und dabei nicht zwischen dem<br />
Phänomen und seiner Beschreibung unterscheidet, dann ahmt man am Ende die Beschreibung<br />
des Phänomens nach.“ Volker Riegas u. Christian Vetter, Gespräch mit Humberto Maturana,<br />
in: Dies., Hg., Zur Biologie der Kognition, Frankfurt am Main 1990, 45.<br />
41 Humberto Maturana, Biology of Cognition, Biological Computer Laboratory, Urbana Illinois<br />
1970, (BCL Report 9.0). Ders., u. Francisco Varela, Autopoietic Systems: A Characterization<br />
of the Living Organization. With an Introduction of Stafford Beer, Urbana Illinois<br />
1975, (BCL Report 9.4).<br />
42 Zur Genese des Begriffs Autopoiesis vgl. auch Humberto Maturana, The Origin of the<br />
18 ÖZG 11.2000.1
Beziehungen zum BCL, und zentrale erste Publikationen – zum Beipiel jene von<br />
Francisco Varela wurden als BCL-Reports herausgegeben. Jene Kontakte, die<br />
zu englischsprachigen Publikationen führten, wurden im BCL hergestellt.<br />
Wahrscheinlich war es die Herausforderung durch den Impuls der chilenischen<br />
Gruppe, die es Heinz von Foerster ermöglichte, die Entwicklung seiner<br />
radikalen Version einer Kybernetik zweiter Ordnung (second order cybernetics)<br />
voranzutreiben. 43 Dies soll nicht heißen, daß sich Foersters Konzepte aus denen<br />
Maturanas ableiten ließen, oder umgekehrt. Die Parallelen und die wechselseitige<br />
Stimulierung wurde auf einer Konferenz zu Cognitive Studies and Artificial<br />
Intelligence Research 1969 sichtbar. Foersters Beitrag kann als direkte Antwort<br />
auf jenen von Maturana gelesen werden – und vice versa. 44 Die hauptsächliche<br />
Parallele zwischen Forster und Maturana scheint in der selbst-thematisierenden<br />
Wende zu bestehen, die in den 60er und frühen 1970er Jahren gegen den wissenschaftlichen<br />
Mainstream gerichtet war. Dazu zählen vor allem zwei ’ Leitmotive‘,<br />
das der ” Schließung“ und das des ” Beobachters“.<br />
Gegen Ende der 60er Jahre läßt sich auch eine dezidierte Hinwendung<br />
zum Problem Sprache, wenngleich nicht zu einem linguistic turn im gewohnten<br />
Wortsinn, feststellen. Sowohl ’ Linguistics‘ als auch ’ Speech‘ wurden zu wichtigen<br />
Forschungsbereichen unter insgesamt fünf thematischen Schwerpunkten.<br />
Eine Tabelle aus dem Jahr 1969 stellt die Struktur der BCL-Forschung dar<br />
(vgl. Tabelle 1). Die generellen Themen gliedern sich in die Bereiche Logik,<br />
Linguistik, Struktur und Funktion von Systemen, Sprechen (bzw. gesprochene<br />
Sprache) und Physiologie.<br />
Abweichung und Innovation, die Wende zum Sozialen<br />
In der Spätphase des BCL wurde versucht, <strong>für</strong> bereits erzielte Einsichten sowie<br />
<strong>für</strong> geplante Weiterentwicklungen Anwendungsbereiche im Sozialen zu finden.<br />
Besonders bemerkenswert erscheint mir eine Kette von Projekten, in denen der<br />
gesellschaftliche Nutzen in den Vordergrund gestellt wurde. Vorhandene Elemente<br />
wie erkenntnis- und informationstheoretische Arbeiten, die Modellierung<br />
des Sensoriums, Arbeiten zur Datenstruktur und allgemeine Fragen der Proble-<br />
Theory of Autopoietic Systems, in: Hans Rudi Fischer, Hg., Autopoiesis. Eine Theorie im<br />
Brennpunkt der Kritik, Heidelberg 1991, 121–124.<br />
43 Vgl. zur Einführung und Übersicht: Heinz von Foerster, Hg., Cybernetics of Cybernetics<br />
or the Control of Control and the Communication of Communication, 2. Aufl., Minneapolis<br />
1995.<br />
44 Vgl. Humberto Maturana, Neurophysiology of Cognition, in: Paul L. Garvin, Hg., Cognition:<br />
A multiple view, New York u. Washington 1970, 3–23, sowie Heinz von Foerster,<br />
Thoughts and Notes on Cognition, in: Ebd., 25–48.<br />
ÖZG 11.2000.1 19
Tabelle 1: Forschungsstruktur am BCL, 1969<br />
Foundations Theory Computation Equipment Experiments<br />
Logic Natural Number<br />
in Trans-Classic<br />
Systems<br />
Linguistics Computers and<br />
Language,<br />
Linguistics,<br />
Grammar<br />
Structure Complex Dyn- Automata Automata Teaching Teaching<br />
and amic Systems Theory Theory Machines Machines<br />
Function Self- Complex Compuof<br />
Reproduction Systems tational<br />
Systems Analysis Networks<br />
Computational Neurons<br />
Networks and Nets<br />
Cognition and<br />
Perception<br />
Neurons<br />
and Nets<br />
Teaching<br />
Machines<br />
Information<br />
Transducers<br />
Speech Speech Event Speech Event Speech Event<br />
Sequences Sequences Sequences<br />
Speech Speech Speech<br />
Analysis Analysis Analysis<br />
Response Response Response<br />
Distortion Distortion Distortion<br />
of a Network of a Network of a Network<br />
Adaptive Adaptive Adaptive<br />
Sampling Sampling Sampling<br />
of Speech of Speech of Speech<br />
Speech Speech Speech<br />
Synthesis Synthesis Synthesis<br />
Physiology Tectal Orga- Tectal Organization<br />
of nization of<br />
Ambystoma Ambystoma<br />
Tigrinum Tigrinum<br />
Display of Display of Display of Display of<br />
Neurophysio- Neurophysio- Neurophysio- Neurophysiological<br />
Data logical Data logical Data logical Data<br />
Endocrine Endocrine<br />
Modelling Modelling<br />
20 ÖZG 11.2000.1
me der damaligen Gesellschaft sollten gewissermaßen in eins‘ gesetzt werden,<br />
’<br />
um allgemeinen – und vor allem: zivilen – Nutzen zu erzeugen.<br />
” Die Anwendung im sozialen Bereich war mir schon sehr früh als ein<br />
schmackhaftes Problem erschienen. Das Sozial-Problem haben ich, oder meine<br />
Freunde immer gesehen als die Möglichkeit einer sprachlichen Verbindung. Wir<br />
haben die Sprache aufgefaßt als den Klebstoff, der eine Gesellschaft formt. (...)<br />
Sprache erlaubt eine Kommunikation zweiter Ordnung (...) Einer der besten in<br />
unserer Gruppe, der über Sprache reflektieren konnte, war Paul Weston.“ 45<br />
Unter dem Titel Direct Access Intelligence Systems“<br />
” 46 sollte eine Art in-<br />
”<br />
telligenter“ Datenbank entstehen, deren Hauptkennzeichen nicht-numerischer<br />
Inhalt, natural language interface, vernetzte, dezentrale Wissensbasen hätten<br />
sein sollen. Wir dachten, man muß das Interface so bauen, daß ich bleiben<br />
”<br />
kann, wie ich eben bin, und das System so bleiben kann, wie es eben läuft“ 47<br />
Im Kontext der Entwicklung dieser Projekte wurde die interdisziplinäre<br />
Basis noch einmal verbreitert und unter Einbeziehung zum Beispiel von Pädagogen<br />
eine Arbeitsgruppe <strong>für</strong> Cognitive Studies gegründet.<br />
Neben den beiden Projektanträgen Foersters von 1970 und 1971 formulierte<br />
auch der BCL-Mitarbeiter Paul Weston einen Antrag, der sich vor allem<br />
mit Datenstrukturen – Information Designs würde man heute sagen –<br />
beschäftigte. 48 Liest man diese zukunftsweisenden Anträge heute rund 30 Jahre<br />
später, fühlt man sich an avancierte – nicht-kommerzielle – Perspektiven des<br />
” Internet“ erinnert.<br />
Die Annahme dieser Projekte bestand darin, es gäbe ein Defizit einzelner<br />
Gesellschaftsmitglieder an den Wissensbeständen des Kollektivs. Die Projekte<br />
sahen Terminals in den Lebensbereichen der Benutzer vor. Das System SOLON<br />
sollte mit natürlicher Sprache kontaktiert werden. Der Benutzer erhielte entweder<br />
die nötige Antwort oder eine Rückfrage, die zum Auffinden einer Lösung<br />
beitragen sollte. Die Frage würde selbst zum Teil der Datenbasis.<br />
Im Anschluß an ein solches Projekt stellt sich nicht nur <strong>für</strong> die damals ablehnend<br />
reagierenden Gutachter, sondern auch heute noch die Frage nach den<br />
Möglichkeiten einer Realisierung eines solchen Systems: Dieses Problem ist ja<br />
”<br />
immer noch nicht gelöst. Wie siehst Du Deine Chancen, retrospektiv, dieses<br />
45 Interview HvF, 26.11.1999.<br />
46 Heinz von Foerster, Proposal for a basic research program entitled: Toward direct access<br />
intelligence systems, Urbana, 1 August 1970; ders., Proposal for a basic research program<br />
entitled: Toward direct access intelligence systems, Urbana, 1 June 1971.<br />
47 Interview, 26.11.1999.<br />
48 Paul Weston, Proposal. Beyond numerical Computers: Technology for Information Processing<br />
in higher order Representations, Urbana 1 June 1972. (Als nicht genannter Koautor<br />
fungierte Heinz von Foerster.)<br />
ÖZG 11.2000.1 21
Problem gelöst zu haben “ ” Absolut gut. Wenn wir weiter daran hätten arbeiten<br />
können, hätten wir faszinierende Sachen auf den Tisch legen können.“ 49<br />
Die ablehnenden anonymen Gutachten, die die Forschergruppe erhielt,<br />
werfen zugleich ein interessantes Licht auf das Prekäre multidisziplinärer Forschung,<br />
das im Kern in der Ablehnung – oder wenigstens der Reserviertheit –<br />
von seiten der Einzeldisziplinen besteht.<br />
So meinte etwa ein Gutachter, der sich als ” deeply involved in the physiological<br />
basis of perception and the mechanisms of attention and decision<br />
making,“ zu erkennen gab: ” I cannot escape the conclusion that cognition laboratories<br />
equipped with the machines proposed Dr. von Foerster cannot cope<br />
effectively with even the known range of states and transitions in human perception<br />
and corgnition.“ Ein (offenkundiger) Computerexperte machte dagegen<br />
den Vorschlag der Verwendung einer anderen Programmiersprache. Ein (vermutlicher)<br />
Sozialwissenschaftler bezweifelte den gesellschaftlichen Nutzen eines<br />
Projektes, das sich vor allem auch mit Kognition beschäftigen wollte. Und ein<br />
Gutachter, der in mehreren Details Vertrautheit mit den Projekten Terry Winograds<br />
und Seymour Paperts und damit – im Jahr 1972 – eine gewisse Nähe<br />
zum MIT erkennen läßt, weist das Projekt ganz fundamental zurück: ” I find<br />
the proposal incredible, so incredible that I hardly know how to describe my<br />
reaction.“ 50<br />
Publikationen<br />
Die Liste wissenschaftlicher Einzelleistungen muß hier aber jedenfalls unvollständig<br />
und kursorisch bleiben. Für das Labor als ganzes können einige Publikations-Indikatoren<br />
herangezogen werden. Die Publikationen des BCL sind<br />
ja gut dokumentiert und über eine Mikrofiche-Edition auch in Europa nachlesbar.<br />
51<br />
Machen wir also zwischendurch ein wenig Statistik. Die offizielle Liste der<br />
Publikationen aus dem BCL bezieht sich auf knapp über hundert Autorinnen<br />
und Autoren. In die Liste aufgenommen wurden offenbar alle dem BCL zuzurechnenden<br />
Arbeiten: Bücher, Artikel und ungedruckte Forschungsberichte<br />
der Professoren, Mitarbeiter/innen, Student/inn/en und Gäste. Die Zahl der<br />
Arbeiten pro Autor/in variierte stark. Der geringste Wert liegt bei eins. Dabei<br />
handelt es sich meist um die Abschlußarbeit eines Studenten oder einer<br />
Studentin. An der Spitze liegt – nicht ganz überraschend – Heinz von Foerster<br />
49 Interview HvF.<br />
50 Diese Auszüge aus anonymisierten Gutachten befinden sich im HvF-Archiv.<br />
51 Kenneth L. Wilson, The Collected Works of the Biological Computer Laboratory. Department<br />
of Electrical Engineering, University of Illinois, Peoria 1976.<br />
22 ÖZG 11.2000.1
selbst mit knapp über hundert Publikationen aus dem Zeitraum 1957–1976. Der<br />
Durchschnittswert der Zahl der Publikationen pro Autor/in liegt bei sechs. (Für<br />
diese Berechnung wurden übrigens Publikationen mit mehreren Autoren jedem<br />
Autor zugerechnet).<br />
Die thematische Bandbreite dieser Publikationen ist erstaunlich, sie umfaßt<br />
naturwissenschaftliche Disziplinen wie Mathematik, Physik, Medizin, Biologie,<br />
Bio-Chemie, technische Disziplinen wie die Computerwissenschaften, aber<br />
auch Philosophie, Logik, Sprachwissenschaften, Kommunikationswissenschaften,<br />
Politikwissenschaften, Pädagogik und Sozialwissenschaften. Dazu kamen<br />
beispielsweise noch Anthropologie – Heinz von Foerster war zeitweilig auch<br />
Präsident der Wenner-Gren Foundation – oder Musikwissenschaften, Kompositionslehre<br />
52 und Tanz. Aber ich zähle gewiß nicht alles auf.<br />
Die Publikationen spiegeln also eine faszinierende Praxis transdisziplinärer<br />
Arbeit, die tatsächlich sehr stark an die der Macy-Konferenzen erinnert. Betrachtet<br />
man die Laborentwicklung im Zeitverlauf, so läßt sich feststellen, daß<br />
die Transdisziplinarität ansteigt, oder anders formuliert: daß der – so kann man<br />
es nennen – disziplinäre Disparitätskoeffizient ansteigt. Hinter dieser Entwicklung<br />
stand offensichtlich mehrerlei:<br />
– ein tiefes Mißtrauen gegenüber den Möglichkeiten und Problemlösungskompetenzen<br />
von Einzeldisziplinen,<br />
– das Bedürfnis, Einsichten der Kybernetik (speziell dann auch der Kybernetik<br />
zweiter Ordnung) in die Einzeldisziplinen hineinzutragen,<br />
– die Möglichkeiten der Einzeldisziplinen zu nutzen, um die Kybernetik selbst<br />
weiterzuentwickeln.<br />
Derart radikal auf Transdisziplinarität – wie dies am BCL geschah – zu<br />
setzen, eröffnet nicht nur Innovationschancen, sondern birgt auch Risiken, wenigstens<br />
unter den Bedingungen des modernen Wissenschaftssystems. Erst seit<br />
den 1990er Jahren setzte eine wirklich massive Diskussion über Disziplingrenzen<br />
wieder ein. 53 Zu diesen Risiken gehört unter anderem, die eigene Identität<br />
preiszugeben und damit die Zuschreibung von Kernkompetenzen zu verringern.<br />
Der geschätzte Anteil von Publikationen, die sich auf ” brauchbare“ oder<br />
unmittelbar ” verwertbare“ Forschungsergebnisse bezogen, lag in den ersten<br />
Jahren des Labors höher als in den letzten. So wurden Arbeiten über Zellvermehrung<br />
in der Medizin ” gebraucht“, der praktische Nutzen stärker allgemein<br />
an Erkenntnistheorie interessierter Artikel war dagegen weniger einsichtig. Und<br />
genau dieses Interesse an allgemeiner Erkenntnistheorie trat im Werk Heinz von<br />
Foersters – wohl nicht zuletzt aufgrund der ” atypischen“ Situation am BCL –<br />
52 Vgl. z. B. Heinz von Foerster u. James W. Beauchamp, Hg., Music by Computers, New<br />
York u.a. 1969.<br />
53 Vgl. z. B. Peter Galison u. David J. Stump, Hg., The Disunity of Science. Boundaries,<br />
Contexts, and Power, Stanford 1996.<br />
ÖZG 11.2000.1 23
zugleich mit dem Interesse an der Lösung sozialer Probleme stärker in den Vordergrund.<br />
Wenn man wollte, könnte man diese Entwicklung auch gleichsam aus<br />
der Logik des Werks zu begründen versuchen. Einer Umwelt allerdings, die Ingenieursgeist,<br />
praktische und vor allem kommerzialisierbare wissenschaftliche<br />
Arbeit höher bewertete als vieles andere, fehlte <strong>für</strong> diese Entwicklung offenkundig<br />
da<strong>für</strong> das nötige Verständnis. Zwar wurden am BCL hochinteressante<br />
Arbeiten über Rechnen im semantischen Bereich erarbeitet, 54 eine technischindustrielle<br />
Realisierung in Hard- und Software blieb – von Prototypen abgesehen<br />
– aber aus.<br />
Prototypen<br />
Solche Prototypen, die im Laufe der Zeit am BCL entstanden, waren zum<br />
Beispiel Artificial Neurons, Numarete, das social interaction experiment, der<br />
Dynamic Signal Analyzer, die 1965 beschrieben wurden. 55 1966 wurde der Visual<br />
Image Processor, dargestellt, 56 1967 werden dann ein Speech Decoder und<br />
ein Real Time Speech Processor erwähnt. 57 Was am BCL der 1960er Jahre also<br />
gebaut wurde, könnte man mit dem Begriff Perzeptions-Maschinen‘ oder<br />
’<br />
’ Wahrnehmungs-Maschinen‘ grob umreißen.<br />
Am interessantesten erscheint dabei die Numarete. Eine erste Publikation<br />
dazu erschien im Jahr 1962, nachdem 1960 auf einer Konferenz darüber berichtet<br />
worden war. 58 Die Numarete, die in verschiedenen Versionen dokumentierbar<br />
ist, konnte die Zahl von Gegenständen, die ihr gezeigt“ wurden, erkennen<br />
”<br />
und basierte auf einer Simulation eines Netzwerks von Pitts-McCulloch-Zellen,<br />
die durch eine spezielle Anordnung und Verschaltung von Photozellen mit flipflops,<br />
elektronischen Elementen, die zwei Zustände (ein oder aus oder 0 und<br />
1) annehmen konnten. Mit der Numarete wurde ein Rechner gebaut, der nicht<br />
der (reduktionistischen) Von-Neumann-Architektur entsprach, sondern gewissermaßen<br />
quer‘ zu dieser lag: er beruhte auf den parallelen Operationen seiner<br />
’<br />
Bausteine.<br />
54 Heinz von Foerster, Computing in the Semantic Domain, in: Annals of the New York<br />
Academy of Science 184 (1971) 239–241.<br />
55 Heinz von Foerster, Proposal for a study entitled Theory and Application of Computational<br />
Principles in Biological Systems, Urbana 1965.<br />
56 Heinz von Foerster, Proposal for a study entitled Theory and Application of Computational<br />
Principles in Complex, Intelligent Systems, Urbana 1966.<br />
57 Heinz von Foerster, Proposal for a study entitled Toward the mechanization of cognitive<br />
Processes, Urbana 1967.<br />
58 Heinz von Foerster, Circuitry of Clues of Platonic Ideation, in: C. A. Muses, Hg., Aspects<br />
of the Theory of Artificial Intelligence. The Proceedings of the First International Symposium<br />
on Biosimulation Locarno 1960, New York 1962, 43–82.<br />
24 ÖZG 11.2000.1
Konflikte<br />
Seit dem Ende der 1960er Jahre kam es zu Konflikten zwischen dem BCL und<br />
der <strong>Universität</strong>sverwaltung. Mitarbeiter des BCL waren wie Heinz von Foerster<br />
selbst in den allgemeinen Lehrbetrieb eingebunden worden und arbeiteten<br />
an <strong>für</strong> die gegebenen Verhältnisse reichlich unorthodoxen partizipatorischen<br />
Lehr-Projekten, die allerdings ganz dem Klima der Studentenrevolte entsprachen.<br />
Auf Wunsch der Studierenden wurde ein Kurs in Heuristics angeboten. 59<br />
Eines der Ziele dieses Kurses war, die Studierenden nicht nur Anteil nehmen zu<br />
lassen, sondern sie auch ihrer Eigenverantwortung bewußt zu machen und den<br />
Kurs mit einem ” Produkt“, an dem sich alle beteiligen konnten, abzuschließen.<br />
Dieses Produkt war eine gemeinsame Publikation, die den Titel Whole University<br />
Catalogue trug. 60 Gegen diese Publikation wurde der Vorwurf erhoben,<br />
sie enthielte auch Obszönitäten und behandele Drogenkonsum. 61 Proteste von<br />
Elternvertretern führten letztlich dazu, daß Foerster sich bei einer Anhörung<br />
rechtfertigen mußte. Trotz dieser Widerstände wurde die im Heuristics-Kurs<br />
entwickelten Prinzipien in der Lehre beibehalten.<br />
Nach einem ähnlichen partizipatorischen Modell verlief auch der Kurs Cybernetics<br />
of Cybernetics (1973/74), dessen Publikation als ein immer noch gültiges<br />
Kompendium des Feldes angesehen werden kann, vor allem auch weil es<br />
neben dem Reprint maßgeblicher Artikel dauerhafte Definitionsarbeit enthielt.<br />
Das verstärkte Engagement in der Lehre führte somit im Verbund mit innovativen<br />
pädagogischen Ansätzen aber auch dazu, die Arbeit des BCL zu resümieren<br />
und gewissermaßen auf den Begriff zu bringen. 62<br />
Eine exzellente Gruppenkultur – und eine prekäre Kommunikationsstruktur<br />
Mehrfach wurde die Gruppenkultur am BCL als – nicht nur – <strong>für</strong> die Zeit<br />
ungewöhnlich liberal, ungewöhnlich offen, ungewöhnlich heterarchisch‘ darge-<br />
’<br />
stellt – in Verbindung mit der schon angesprochenen inter-/transdisziplinären<br />
’ Weite‘. Mehrfach wurde gerade auch der Leiter des Labs als Initiator dieser<br />
Struktur dargestellt. Zugleich scheint es so gewesen zu sein, daß nicht alle Mit-<br />
59 Vgl. Heinz von Foerster u. Herbert Brun, Heuristics. A Report on a Course in Knowledge<br />
Acquisition, Urbana 3 October 1970.<br />
60 Das Vorbild war der Whole Earth Catalogue, <strong>für</strong> den Foerster Texte verfaßte.<br />
61 Die Publikation von 1969 enthielt das Ergebnis einer Umfrage unter den Teilnehmer/inne/n,<br />
die sich auf ihre Kompetenzen, ihre wissenschaftlichen und auch privaten Interessen<br />
bezog. Unter den 114 Befragten fanden sich auch vereinzelt Angaben wie dope, LSD, sex<br />
aber auch politics, beat the system und Vietnam oder finding Nirvana. Dies alles kann gewiß<br />
als typischer Ausdruck der damaligen Jugendkultur angesehen werden.<br />
62 Vgl. Foerster, Cybernetics of Cybernetics, wie Anm. 43.<br />
ÖZG 11.2000.1 25
glieder des BCL die durch diese Struktur gegebenen Möglichkeiten genutzt<br />
haben. Heinz was the crossing point of all these studies going on in the BCL“,<br />
”<br />
meint Humberto Maturana, der sich als Gast und Lehrender am BCL aufhielt,<br />
I don’t remember, that there has been something that one would call a<br />
”<br />
’ BCL-meeting‘ (...) Heinz met these groups working under his inspiration and<br />
protection, he would speak to all of them (...) He had the ability to understand<br />
(them all). But it was not the case that everybody there was able to understand<br />
everybody there. So he was the center of the BCL.“ 63 Diese gewissermaßen un-<br />
’<br />
ausgewogene‘ Kommunikationsstruktur wird auch durch andere Quellen belegt<br />
und läßt sich durch eine Analyse der Zitationen bestätigen.<br />
Das Ende der finanziellen Basis<br />
Das BCL konnte sich aber seine Abweichungen und Extravaganzen leisten, da es<br />
seine Mittel fast zur Gänze von außen bezog, vor allem auch – wie schon erwähnt<br />
– von militärischen Organisationen. Genau diese relative Unabhängigkeit von<br />
lokalen universitären Strukturen und die Abhängigkeit von einer überregionalen<br />
Forschungsförderungsstruktur, die über ein Jahrzehnt, Grundlagenforschung<br />
am BCL großzügig gefördert hatte, sollten aber zum Untergang, zur Schließung<br />
des BCL führen. Denn seit 1969/1970 wurden die Forschungsförderungsmodalitäten<br />
durch das sogenannte Mansfield-Amendment nachhaltig verändert. 64<br />
Eine neue Bestimmung verlangte nun, daß militärische Forschungsgelder auf<br />
Projekte beschränkt werden sollten, die tatsächlich ’ kriegstaugliche‘ Ergebnisse<br />
produzierten. Derartige Projekte wurden am BCL nicht betrieben.<br />
Verschiedene Versuche Foersters, die nun ausbleibenden Mittel zu substituieren<br />
und weiterhin Geld <strong>für</strong> die Grundlagenforschung des BCL zu erhalten,<br />
scheiterten mehr oder minder dramatisch. Auch Projekte, die anwendungszentrierte<br />
Forschung vorschlugen, wurden abgelehnt. Das letzte Projekt des BCL,<br />
Cybernetics of Cybernetics, unterstützt von der POINT-Foundation, bildete<br />
zugleich einen gelungenen Versuch der ’ Kodifizierung‘ der am Lab erarbeiteten<br />
Epistemologie und schrieb eine konzeptuelle Wende fest: die first order cybernetics,<br />
die sich mit ” beobachteten Systemen“ beschäftigten, sollten um die second<br />
order cybernetics, die sich mit ” beobachtenden Systemen“ beschäftigten,<br />
63 Interview Humberto Maturana, 8.5.1998.<br />
64 Den Hinweis auf das Mansfield-Amendment verdanke ich Stuart A. Umplebie, der am<br />
BCL studierte (Interview, 9.7.1998). Zu den Auswirkungen des Mansfield-Amendment auf<br />
die Forschungslandschaft der USA vgl. allgemein Bruce Spear, Die Forschungsuniversität, der<br />
freie Markt und die Entdemokratisierung der höheren Bildung in den USA, in: PROKLA.<br />
Zeitschrift <strong>für</strong> kritische Sozialwissenschaft 104 (1996). Eine eher ” Sieger-orientierte“ Darstellung<br />
– ’ naturgemäß‘ unter Ausklammerung der BCL-Gruppe – findet sich bei: Commission<br />
on Physical Sciences, Mathematics, and Applications, Funding a Revolution. Government<br />
Support for Computing Research, Washington 1999.<br />
26 ÖZG 11.2000.1
ergänzt und erweitert werden. Damit wurde der Basis-Idee der Macy-Tagungen,<br />
der zirkulären Kausalität, eine neue Dimension hinzugewonnen.<br />
Mitte Juni 1974 ersuchte Heinz von Foerster in Anbetracht der hoffnungslos<br />
erscheinenden finanziellen Situation des BCL um seine Emeritierung an.<br />
Bevor das BCL geschlossen wurde, wurden seine Materialien archiviert, die<br />
vorhandenen Instrumente anderen Laboratorien zur Verfügung gestellt. Nach<br />
zwei weiteren Jahren war das Laboratorium, auch was die noch zu promovierenden<br />
Dissertanten anlangte, sozusagen ” abgewickelt‘. Das Ehepaar Foerster<br />
übersiedelte von Illinois nach Kalifornien. Heute ist das Institutsgebäude abgerissen.<br />
In den letzten Jahren vor der Schließung des BCL gelang es Heinz von Foerster<br />
abermals in mehreren bedeutsamen Schritten, <strong>für</strong> seine und die Arbeit des<br />
BCL neue Kontexte sowie neue Teil-Resümees zu entwickeln. Besonders hervorzuheben<br />
ist dabei zum Beispiel der ” Anschluß“ an die Arbeit Jean Piagets 65 ,<br />
ein großes Resümee kybernetischer Erkenntnistheorie 66 oder eine zeitgemäße<br />
Reformulierung des bionischen Forschungsprogramms. 67<br />
Auf meine Frage nach den ungelösten Problemen gab mir Heinz von Foerster<br />
eine <strong>für</strong> ihn sehr bezeichnende Antwort: die ungelösten Probleme bestünden<br />
vor allem darin, keine Theorie der Unlösbarkeit von Problemen abschließend<br />
formuliert zu haben.<br />
Ein neuer Anfang und die Transponierung der BCL-Forschung<br />
Mit seiner Emeritierung begann Heinz von Foerster eine neue Karriere, die es<br />
ermöglichte, die Rezeption seiner Ideen – und damit der des BCL – in gänzlich<br />
neue Wege zu leiten. Durch die Vermittlung von Gregory Bateson, der<br />
mit seiner Veröffentlichung von 1972 Steps to an Ecology of Mind ein breites<br />
Publikum gewonnen hatte, 68 geriet er in den Umkreis des Mental Research<br />
Institute in Palo Alto, 69 an dem er nun regelmäßig Vorträge zu halten be-<br />
65 Vgl. Heinz von Foerster, Objects: Tokens for (Eigen-)Behaviors, in: ASC Cybernetics<br />
Forum 8 (1976), 91–96, bzw. ders., Formalisation de Certains Aspects de l’Equilibration de<br />
Structures Cognitives, in: B. Inhelder, R. Garcias u. J. Voneche, Hg., Epistemologie Genetique<br />
et Equilibration, Neuchatel 1977, 76–89.<br />
66 Heinz von Foerster, Kybernetik einer Erkenntnistheorie, in: W. D. Keidel, W. Handler u.<br />
M. Spring, Hg., Kybernetik und Bionik, München 1974, 27–46.<br />
67 Heinz von Foerster, Notes on an Epistemology for Living Things, BCL Report. No. 9.3,<br />
Urbana 1972; ders., Notes pour une epistemologie des objets vivants, in: Edgar Morin u.<br />
Massimo Piateli-Palmerini, Hg., L’unite de l’homme, Paris 1974, 401–417.<br />
68 Vgl. Gregory Bateson, Steps to an Ecology of Mind. Collected Essays in Anthropology,<br />
Psychiatry, Evolution, and Epistemology, San Francisco 1972.<br />
69 Vgl. dazu Edmond Marc u. Dominique Picard, Bateson, Watzlawick und die Schule von<br />
Palo Alto, Frankfurt am Main 1991.<br />
ÖZG 11.2000.1 27
gann. Ideen, die im Kontext des BCL entwickelt worden waren und die von<br />
den unmittelbaren Peers nicht akzeptiert worden waren, zirkulierten nun unter<br />
Familientherapeuten, später unter Management- und Organsiationsberatern. 70<br />
Handelte es sich dabei gewissermaßen um ’ Anwendungsfälle‘ der Epistemologie<br />
des BCL, so gewann seit Mitte der 1980er Jahre die sich weiter entwickelnde<br />
Foerstersche Epistemologie als solche zunehmend Bedeutung. Der Bielefelder<br />
Soziologe Niklas Luhmann rückte eine Reihe von Foersterschen Konzepten ins<br />
Zentrum seiner Theorie sozialer Systeme, darunter Foersters Theorien des Beobachters,<br />
der Selbstreferentialität und der Selbstorganisation. 71 Damit wurde<br />
im deutschsprachigen Raum eine breite neue Rezeption eingeleitet, die allerdings<br />
weit über die fachlichen Grenzen sozialwissenschaftlicher Systemtheorie<br />
hinaus führte. Dazu wurde ein älterer Text Heinz von Foersters von sich entwickelnden<br />
Gruppen des Konstruktivismus als ” Basistext“ angesehen. 72<br />
Das Ende des Biological Computer Laboratory war zweifellos prekär und<br />
<strong>für</strong> seinen Gründer sowie seine Mitarbeiter eine Enttäuschung. Neben den <strong>für</strong><br />
sein Ende angeführten Gründen wird auch zu überlegen sein, ob nicht Gerschenkrons<br />
Theorie der komparativen Vorteile relativer Rückständigkeit eine<br />
komplementäre Theorie der komparativen Nachteile relativer Fortschrittlichkeit<br />
gegenübergestellt werden sollte, <strong>für</strong> die die Geschichte des BCL einen herausragenden<br />
Anwendungsfall bilden könnte.<br />
Tabelle 2: Sponsoren des BCL (1958–1974) 73<br />
1. Toward the Realization of Biological Computers. Contract NONR 1834(21), ONR Project<br />
No. NR 049-123; Sponsored by Information Systems Branch, Mathematical Science Division,<br />
Office of Naval Research. Period: 1 January 1958 to 31 July 1961. Principal Investigator: H.<br />
Von Foerster.<br />
2. Mechanisms of White Cell Production and Turnover. United States Public Health Grant<br />
CA-04044; Sponsored by Department of Health, Education and Welfare, Public Health Service,<br />
National Institutes of Health. Period: 1 July 1958 to 21 October 1963. Principal Investigator:<br />
H. Von Foerster.<br />
3. Analysis Principles in the Mammalian Auditory System. Contract No. AF 33 (616)-<br />
6428, Project No. 60(8-7232), Task No. 71782; Sponsored by Aeronautical Systems Division,<br />
Wright-Patterson Air Force Base, Ohio. Period: 1 May 1959 to 30 September 1961. Principal<br />
Investigator: H. Von Foerster.<br />
70 Vgl. Heinz von Foerster, Principles of Self-Organization in a Socio-Managerial Context,<br />
in: Hans Ulrich u. Gilbert Probst, Hg., Self-Organization and Management of Social Systems,<br />
Berlin 1984, 2–24.<br />
71 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am<br />
Main 1984.<br />
72 Vgl. Heinz von Foerster, On Constructing a Reality, in: Wolfgang F. E. Preiser, Hg.,<br />
Environmental Design Research, Vol. 2, Stroudberg 1973, 35–46.<br />
73 Quelle: Publications by of the members of the Biological Computer Laboratory. B.C.L.<br />
Report No. 74.1, Champaign-Urbana 1975, 3–6.<br />
28 ÖZG 11.2000.1
4. Theory and Circuitry of Property Detector Nets and Fields. NSF Grant 17414; Sponsored<br />
by the National Science Foundation, Washington, D.C. Period: 27 March 1961 to 30 June<br />
1962. Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />
5. Theory and Circuitry of Property Detector Nets and Fields. NSF Grant 25148; Sponsored<br />
by the National Science Foundation, Washington, D.C. Period: 1 July 1962 to 31 December<br />
1963. Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />
6. Theory and Circuitry of Systems with Mind-Like Behavior. AF-OSR Grant 7-63; Sponsored<br />
by Air Force Office of Scientific Research, United States Air Force, Washington, D.C. Period:<br />
1 October 1962 to 31 October 1964. Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />
7. Semantic and Syntactic Properties of Many Valued Systems of Logic. AF-OSR Grant 8-63;<br />
Sponsored by Air Force Office of Scientific Research, United States Air Force, Washington,<br />
D.C. Period: 2 October 1962 to 31 March 1964. Principal Investigator: Gotthard Günther.<br />
8. Principles of Information Transfer in Living Systems. United States Public Health Grant<br />
GM-10718; Sponsored by Department of Health, Education and Welfare, Public Health Service,<br />
National Institutes of Health. Period: 1 May 1963 to 30 April 1966, Principal Investigator:<br />
H. Von Foerster; Co-investigator: W. R. Ashby.<br />
9. Information Processing Capabilities of the University of Illinois Dynamic Signal Analyzer.<br />
Contract No. AF 33(657)-10659; sponsored by Aerospace Medical Research Laboratory, Air<br />
Force Systems Command, United States Air Force, Wright-Patterson Air Force Base, Ohio.<br />
Period: 1 February 1963 to 31 January 1964. Principal Investigator: M. L. Babcock.<br />
10. Theory and Circuitry of Systems with Mind-Like Behavior. AF-OSR Grant 7-64; Sponsored<br />
by- Air Force Office of Scientific Research, United States Air Force, Washington, D.C.<br />
Period: 1 November 1964 to 31 October 1965. Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />
11. Semantic and Syntactic Properties of Many-Valued and Morphogrammatic Systems of<br />
Logic. AF-OSR Grant 480-64; Sponsored by Air Force Office of Scientific Research, United<br />
States Air Force, Washington, D.C, Period: 1. October 1963 to 30 September 1967, Principal<br />
Investigator: G. Günther.<br />
12. Information Processing Capabilities of the University of Illinois Dynamic Signal Analyzer.<br />
Contract No. AF 33 (615)-2573; Sponsored by Aerospace Medical Research Laboratory, Air<br />
Force Systems Command, United States Ait Force, Wright-Patterson Air Force Base, Ohio.<br />
Period: 1 February 1965 to 31 January 1966. Principal Investigator: M. L. Babcock.<br />
13. Cybernetics in Anthropology. Grant No. 1720; Sponsored by the Wenner-Gren Foundation<br />
for Anthropological Research, New York, New York. Period: 1 February 1965 to 30 September<br />
1966. Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />
14. Integration of Theory and Experiment Into a Unified Concept of Visual Perception, AF<br />
49(638)-1680: Sponsored by The Air Force Office of Scientific Research, United States Air<br />
Force, Washington, D.C. Period: 1 March 1966 to 30 April 1969. Principal Investigator: H.<br />
Von Foerster.<br />
15. Theory and Application of Computational Principles in Intelligent, Complex Systems.<br />
AF-OSR Grants 7-66 and 7-67; Sponsored by the Air Force Oftice of Scientific Research,<br />
United States Air Force, Washington, D.C. Period: 1 November 1965 to 31 October 1967.<br />
Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />
16. Cybernetics Research. Contract AF 33(615)-j890; Sponsored by Air Force Systems Engineering<br />
Group, Air Force Systems Command, United States Air Force, Wright-Patterson<br />
Air Force Base, Ohio, Period: 1 April 1966 to 31 March 1969. Principal Investigator: H. Von<br />
Foerster.<br />
17. Information, Communication, Multi-Valued Logic and Meaning, AF-OSR 68-1391; Sponsored<br />
by Air Force Office of Scientific Research, United States Air Force, Washington, D.C.<br />
Period: 1 October 1967 to 30 September 1969. Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />
18. Study Toward the Mechanization of Cognitive Processes, NASA NGR 14-005-111; Sponsored<br />
by the National Aeronautics and Space Administration, Electronics Research Center,<br />
ÖZG 11.2000.1 29
Boston, Massachusetts. Period: 1 October 1967 to 30 September 1968. Principal Investigator:<br />
M. L. Babcock and H. Von Foerster.<br />
19. Theory and Application of Computational Principles in Complex, Intelligent Systems. AF-<br />
OSR Grant 7-67; Sponsored by the Air Force Office for Scientific Research, United States Air<br />
Force, Washington, D.C. Period: 1 September 1967 to 31 August 1969. Principal Investigator:<br />
H. Von Foerster.<br />
20. Application of Cognitive Systems Theory to Man-Machine Systems. AF-OSR 70-1865.<br />
Sponsored by the Air Force Office of Scientific Research, United States Air Force, Washington,<br />
D.C. Period: 1 October 1969 to 31 September 1970. Principal Investigator: H. Von Foerster,<br />
21. Notation of Movement. Grant DA-ARO-D-31-124-G998; Sponsored by the United States<br />
Army Research Office, Durham, North Carolina, Period: 1 March 1968 to 31 August 1969.<br />
Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />
22. Cognitive Memory, A Computer Oriented Epistemological Aproach to Information Storage<br />
and Retrieval. Grant OEC-1-7-071213-4557; Sponsored by the office of Education, Bureau<br />
of Research, Washington, D.C. Period: 1 September 1967 to 31 August 1970. Principal Investigators:<br />
R. T. Chien and H. Von Foerster.<br />
23. A Mathematical System for Decision Making Machines. AF-OSR 68-1391; Sponsored by<br />
the Air Force Office of Scientific Research, United States Air Force, Washington, D.C. Period:<br />
1 October 1969 to 30 September 1970. Principal Investigator: G. Günther.<br />
24. Toward Direct Access Intelligence Systems. AF-OSR Grant 70-1865; Sponsored by The<br />
Air Force Office of Scientific Research, United States Air Force, Washington, D.C. Period: 1<br />
October 1970 to 30 September 1972. Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />
25. Cybernetics of cybernetics. Grant ” Cybernetics of Cybernetics“; Sponsored by POINT,<br />
San Francisco, California. Period: 1 September 1973 to 31 August 1974. Principal Investigator:<br />
H. Von Foerster.<br />
30 ÖZG 11.2000.1
J. Rogers Hollingsworth/Ellen Jane Hollingsworth<br />
Radikale Innovationen und Forschungsorganisation:<br />
Eine Annäherung<br />
Wenn Watson und Crick die Struktur der DNA<br />
nicht entschlüsselt hätten, dann hätte es innerhalb<br />
der nächsten zwei, drei Jahre jemand anders<br />
getan ... Aber wenn Kafka nicht den ’ Prozeß‘ geschrieben<br />
hätte, dann wäre dieser Roman bis in<br />
alle Ewigkeit ungeschrieben geblieben.<br />
Harry Mulisch, Die Prozedur<br />
Dieser Text 1 widmet sich zentral der Frage nach den strukturellen und kulturellen<br />
Eigenschaften von Forschungsorganisationen, welche die ’ großen Durchbrüche‘<br />
und ’ radikalen Entdeckungen‘ im Feld der biomedizinischen Wissenschaften<br />
beeinflußten. 2 Im speziellen widmet sich diese Arbeit den charakteristischen<br />
Merkmalen jener Forschungsorganisationen, welche im Lauf der Jahre<br />
∗ Eine erweiterte Fassung dieses Artikels mit einer ausführlichen weiteren Fallstudie, nämlich<br />
zum ’ California Institute of Technology‘, ist: J. Rogers Hollingsworth u. Ellen Jane Hollingsworth,<br />
The Structure of Research Organizations and Radical Innovation in Science, unveröff.<br />
Typoskipt, Madison 1999. Eine leicht veränderte englische Version erscheint unter dem Titel<br />
J. Rogers Hollingsworth u. Ellen Jane Hollingsworth, Major Discoveries and Biomedical<br />
Research Organizations. Perspectives on Interdisciplinarity, Nurturing Leadership, and Integrated<br />
Structures and Cultures, in: Peter Weingart u. Nico Stehr, Hg., Practising Interdisciplinarity,<br />
Toronto 2000. Der vorliegende Artikel wurde von Karl H. Müller übersetzt.<br />
1 Unser Dank gilt Ragnar Bjork, Jerald Hage, Nico Stehr, Peter Weingart, Gerald Edelman<br />
und Julie Klein <strong>für</strong> ihr Engagement und ihre Diskussionsbereitschaft. Den Archiv-<br />
Mitarbeitern im Karolinska-Institut sowie im ’ California Institute of Technology‘ gebührt unser<br />
Dank <strong>für</strong> ihre wertvolle und sachliche Hilfe. Und schließlich möchten wir noch der ’ Rockefeller<br />
Foundation‘, der ’ Sloan-Foundation‘, der ’ Andrew W. Mellon Foundation‘ und dem<br />
Schwedischen Forschungsförderungsfonds <strong>für</strong> ihre großzügige Unterstützung unseren Dank<br />
abstatten. Als Monographien zur Entwicklung in der Biomedizin speziell in den USA vgl.<br />
u. a. Lily E. Kay, The Molecular Vision of Life. Caltech, the Rockefeller Foundation and the<br />
Rise of the New Biology, New York 1993; Robert E. Kohler, The Lords of the Fly. Drosophila<br />
Genetics and the experimental Life, Chicago 1994 oder John W. Servos, Physical Chemistry<br />
from Oswald to Pauling. The Making of Science in America, Princeton 1990.<br />
2 Anm. des Übersetzers: Aus Gründen der terminologischen Variation werden die Ausdrücke<br />
ÖZG 11.2000.1 31
und Jahrzehnte immer wieder mit ’ wissenschaftlichen Revolutionen‘ hervorgetreten<br />
sind. Obschon der Schwerpunkt der empirischen Resultate auf den<br />
Vereinigten Staaten liegt, gibt es immer wieder Bezüge zu verschiedenen anderen<br />
nationalen Forschungssettings. Der vorliegende Artikel bildet einen Teil<br />
einer größeren Studie, die sich den strukturellen und kulturellen Charakteristika<br />
von biomedizinischen Forschungsorganisationen in vier Ländern (Deutschland,<br />
Frankreich, Großbritannien, Vereinigte Staaten) widmet. Besonderes Augenmerk<br />
gilt dabei einer zentralen Frage: Warum unterscheiden sich Forschungsorganisationen<br />
in ihren Fähigkeiten oder Potentialen, neue kognitive Durchbrüche<br />
innerhalb der Biomedizin zu erzielen Immer wieder wird man nämlich mit<br />
dem Phänomen konfrontiert, daß eine Forschungsorganisation zu einer weltweit<br />
führenden Position aufsteigt und dann, wegen ihrer organisatorischen Trägheit<br />
und wegen fehlender Anpassungen an neue Herausforderungen, diese Führungsposition<br />
wieder verliert.<br />
Es sind, und damit kommen wir zur Kernaussage dieses Artikels, spezielle<br />
strukturelle und organisatorische Arrangements, welche sich als notwendig erweisen,<br />
wenn Wissenschaftler tatsächlich einen ’ Paradigmenwechsel‘ innerhalb<br />
ihrer jeweiligen Disziplinen erreichen wollen. Es wird zum vorrangigen Ziel unserer<br />
Arbeiten, jene Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> Wissenschaftsinnovationen aus dem<br />
Bereich der Forschungsorganisation zu identifizieren. Die Grundfragen <strong>für</strong> diese<br />
Art der Forschung besitzen ihren Ursprung in der wissenschaftssoziologischen<br />
Diskussion um den Einfluß von strukturellen und kulturellen Faktoren <strong>für</strong> radikale<br />
Innovationen. So gibt es mittlerweile eine unüberschaubare und äußerst<br />
anregende Literatur innerhalb der Wissenschaftsgeschichte und der Wissenschaftssoziologie<br />
des zwanzigsten Jahrhunderts zu zwei großen Themenkomplexen:<br />
Einmal zum Themenfeld der ’ Performanz‘ innerhalb des Wissenschaftsbetriebs<br />
mit Problemstellungen wie ’ wissenschaftliche Entdeckungen‘, kreative<br />
Prozesse innerhalb der Wissenschaften und ganz allgemein zur ’ wissenschaftlichen<br />
Produktivität‘. 3 Der zweite Themenkomplex gehört den organisatorischen<br />
Kontexten, den Strukturen, Strategien und den ’ Kulturen‘, innerhalb derer die<br />
’ große‘, ’ nachhaltige‘, ’ radikale‘ Durchbrüche ( ’ Entdeckungen‘, ’ Erfindungen‘, ’ Paradigmenwechsel‘)<br />
als jeweils äquivalent genommen.<br />
3 Vgl. dazu überblicksartig: Joseph Ben-David, The Scientist’s Role in Society. A Comparative<br />
Study, Englewood Cliffs, NJ 1971; ders., Centers of Learning. Britain, France, Germany,<br />
United States, New York 1977; ders. u. Randall Collins, Social Factors in the Origin of a<br />
New Science, in: American Sociological Review 31 (1966), 451–465, P. D. Allison u. J. Scott<br />
Long, Departmental Effects on Scientific Productivity, in: American Sociological Review 55<br />
(1990), 469–478; Karin Knorr, The Manufacture of Knowledge. An Essay in the Constructivist<br />
and Contextual Nature of Science, Oxford 1981; Garland E. Allen, Opposition to the<br />
Mendelian-Chromosome Theory. The Physiological and Developmental Genetics of Richard<br />
Goldschmidt, in: Journal of the History of Biology 7 (1978), 55–87; ders., Thomas Hunt<br />
Morgan, The Man and His Science, Princeton 1978; Donald C. Pelz, Frank M. Andrews,<br />
Scientists in Organizations. Productive Climates for Research and Development, New York<br />
32 ÖZG 11.2000.1
Wissenschaften operieren. Für uns stellt sich der Prozeß der wissenschaftlichen<br />
Forschung als eine Verbindung von lokalen, kollektiven und globalen Elementen<br />
dar. 4 In den letzten Jahren hat sich in den Arbeiten der Wissenschaftsforschung<br />
eine zunehmende Schwerpunktverlagerung auf die Bedeutsamkeit<br />
des Forschungslabors als konkretem Ort großer Entdeckungen und Umstürze<br />
vollzogen. 5 Diese und mehrere andere Arbeiten haben die Aufmerksamkeit auf<br />
die Wichtigkeit des ’ impliziten Wissens‘ gelenkt und darüber hinaus gezeigt,<br />
daß sich wissenschaftliches Wissen als hochgradig differenziert, als ungleich<br />
verteilt und als stark in lokalen Kontexten eingebettet erweist. 6 Der vorliegende<br />
Artikel geht über die bestehende Diskussion hinaus und bemüht dazu Elemente<br />
aus der Theorie ’ komplexer Organisationen‘, aus den Analysen ’ lokaler‘<br />
Forschungspraktiken und aus der Konzeption ’ impliziten Wissens‘. Zu diesem<br />
Zweck wird zunächst eine Reihe von Variablen zur Forschungseinheit insgesamt<br />
und <strong>für</strong> den Bereich von Labors bzw. Abteilungen spezifiziert. In einem<br />
zweiten Schritt werden Fallstudien vorgenommen, um die Beziehungsmuster<br />
zwischen diesen Variablen <strong>für</strong> das Schwerpunktthema ” radikale Innovationen<br />
im biomedizinischen Komplex“ zu untersuchen.<br />
Grundbegriffe, Daten, Methoden<br />
Begrifflich werden große Durchbrüche als jene Entdeckungen oder Prozesse definiert,<br />
die – in der Regel durch eine Kaskade an zahlreichen kleinen ’ Fortschritten‘<br />
vor- und aufbereitet – ein besonders gewichtiges Problem gelöst haben<br />
und die ihrerseits ” to a number of smaller advances, based on the newly discovered<br />
principle“ führen. 7 Im Lauf der Wissenschaftsgeschichte manifestierten<br />
sich solche ’ großen Durchbrüche‘ als radikale neue Leitidee, beispielsweise die<br />
1966; Harriet Zuckerman, Scientific Elite. Nobel Laureates in the United States, New York<br />
u. London 1977.<br />
4 Vgl. dazu nur Steven Shapin, Here and Everywhere. Sociology of Scientific Knowledge,<br />
in: Annual Review of Sociology 21 (1995), 289–321; Michael Lynch, Art and Artifact in<br />
Laboratory Science. A Study of Shop Work and Shop Talk in a Research Laboratory, London<br />
1985; ders., Scientific Practice and Ordinary Action: Ethnomethodology and Social Studies<br />
of Science, Cambridge 1993.<br />
5 Vgl. als wichtige Referenzpunkte nur Joan H. Fujimura, The Molecular Biology Bandwagon<br />
in Cancer Research: Where Social Worlds Meet, in: Social Problems 35 (1987), 261–283;<br />
Bruno Latour u. Steven Woolgar, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts,<br />
Princeton 1979 sowie Shapin, Here, wie Anm. 4.<br />
6 So unter anderem P. Dasgupta u. Paul A. David, Toward a New Economics of Science (ME-<br />
RIT Research Paper), Maastricht 1993, 94–103, Maastricht 1993; Lynch, Art, wie Anm. 4,<br />
sowie ders., Practice, wie Anm. 4.<br />
7 So Joseph Ben-David, Scientific Productivity and Academic Organization in Nineteenth<br />
Century Medicine, in: American Sociological Review 25 (1960), 828–843, hier 828. Zu diesem<br />
Punkt vgl. weiterhin Robert Merton, Singletons and Multiples in Scientific Discovery, in:<br />
ÖZG 11.2000.1 33
Konzeption von Trägern der Erbanlagen, als die Entwicklung einer neuen Methodologie<br />
wie das ’ genetische Mapping‘, als ein neuartiges Instrument oder<br />
eine Erfindung von der Art des Elektronenmikroskops oder als ein ganzes Cluster<br />
solcher Leitideen, idealtypisch exemplifiziert an der Evolution der Evolutionstheorie.<br />
Solche großen Durchbrüche brauchen nicht schlagartig in die Welt<br />
gesetzt werden. Es kann durchaus der Fall sein, daß solche ’ Revolutionierungen‘<br />
zahllose kleine Experimente erforderten oder sich in einem Prozeß vollzogen,<br />
der sich über längere Zeitspannen erstreckte und einen Gutteil an ’ implizitem<br />
Wissen‘ voraussetzte oder akkumulierte. 8<br />
Um den Begriff des ’ großen Durchbruchs‘ oder der ’ nachhaltigen Entdeckung‘<br />
einzuführen, möchten wir uns primär, aber nicht ausschließlich auf die<br />
wissenschaftliche Gemeinschaft selbst verlassen. Als ’ großer Durchbruch‘ sollen<br />
jene Kriterien Anwendung finden, welche innerhalb des Wissenschaftssystems<br />
selbst angelegt sind, um ’ große Durchbrüche‘ anzuerkennen. Wir bemühen allerdings<br />
zur Operationalisierung des Begriffs eine Vielfalt an Strategien. So schließen<br />
wir auch Durchbrüche oder Entdeckungen ein, die zum Gewinn oder zum<br />
Beinahe-Gewinn einer der großen wissenschaftlichen Auszeichnungen geführt<br />
haben. Und obschon wir die großen Durchbrüche und Entdeckungen an die<br />
großen Prämierungen im Wissenschaftsbereich binden, soll doch kein einzelner<br />
Preis, sondern eine Mehrzahl solcher akklamierter Auszeichnungen herangezogen<br />
werden. Als ’ große Durchbrüche‘ oder ’ nachhaltige Entdeckungen‘ gelten<br />
innerhalb der biomedizinischen Wissenschaften jene, die (1) durch die Copley-<br />
Medaille der Royal Society in London seit dem Jahre 1901 prämiert werden,<br />
(2) mit einem Nobel-Preis <strong>für</strong> Physiologie beziehungsweise Medizin seit der<br />
ersten Preisverleihung im Jahre 1901 ausgezeichnet werden, (3) seit 1901 mit<br />
einem Nobel-Preis <strong>für</strong> Chemie geehrt wurden (sofern sich diese Forschung als<br />
relevant <strong>für</strong> den biomedizinischen Komplex herausstellt, was in der Regel <strong>für</strong><br />
die Entdeckungen innerhalb der Biochemie und einigen anderen chemischen<br />
Teilbereichen gilt), (4) vor 1941 jeweils mindestens zehn Nominierungen über<br />
mindestens drei Jahre <strong>für</strong> einen Nobel-Preis in Physiologie bzw. Medizin oder<br />
Chemie (sofern der Bezug zur Biomedizin gegeben ist) erhielten. Der Grund<br />
<strong>für</strong> dieses Kriterium liegt hauptsächlich darin, daß eine hohe Zahl an Nominierungen<br />
eine breite Überzeugung innerhalb der wissenschaftlichen Community<br />
zum Ausdruck bringt, daß dieses Forschungsergebnis einen größeren Durchbruch<br />
darstellt, selbst wenn es nicht unmittelbar zu einem Nobel-Preis führt.<br />
(5) Jedes Jahr setzt die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften<br />
Proceedings of the American Philosophical Society 55 (1961), 470–486, ders., The Sociology<br />
of Science. Theoretical and Empirical Investigations, Chicago 1973; Nathan Rosenberg,<br />
Exploring the Black Box. Technology, Economies, and History, Cambridge 1994, bes. 15.<br />
8 Vgl. dazu auch Michael Polanyi, The Tacit Dimension, London 1966; Bruno Latour, Science<br />
in Action. How to Follow Scientists and Engineers Through Society, Cambridge 1987.<br />
34 ÖZG 11.2000.1
und das Karolinska Institut jeweils ein Komitee ein, das die großen Entdeckungen<br />
untersuchen und mögliche Preisträger innerhalb der Chemie oder der Medizin<br />
vorschlagen soll. Diese beiden Komitees gelangen jeweils zu einer engen<br />
Auswahl an ’ preisverdächtigen‘ Entdeckungen, von denen dann einige auch<br />
tatsächlich mit dem Nobel-Preis ausgezeichnet wurden. Wir schließen <strong>für</strong> die<br />
Zeit vor 1945 in unsere Gruppe der großen Durchbrüche auch Kandidaten in<br />
die engere Auswahl ein, selbst wenn sie dann keinen Nobel-Preis bekommen<br />
oder auch das Kriterium der zehn Nennungen in zumindest drei Jahren verfehlen<br />
sollten. Wir haben <strong>für</strong> den Zeitraum vor 1946 Zugang zu den Nobel-<br />
Archiven <strong>für</strong> den Physiologie- bzw. den Medizin-Preis am Karolinska-Institut<br />
sowie zu den Archiven der Königlich Schwedischen Akademie in Stockholm. Aus<br />
Gründen der Vertraulichkeit sind allerdings die Archive <strong>für</strong> die letzten fünfzig<br />
Jahre noch verschlossen. Um die Vielfalt an großen wissenschaftlichen Entdeckungen<br />
<strong>für</strong> diese Zeitspanne abzudecken, wurden weitere Kriterien herangezogen.<br />
So schlossen wir auch (6) jene großen Entdeckungen ein, die durch den<br />
Arthur und Mary Lasker-Preis <strong>für</strong> biomedizinische Wissenschaften, (7) durch<br />
den Louisa Gross Horwitz-Preis <strong>für</strong> die biomedizinische Grundlagenforschung,<br />
und schließlich (8) durch den Crafoord Preis prämiert worden sind, der durch<br />
die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften verliehen wird. Diese<br />
Formen der Auszeichnung und Prämierung wurden <strong>für</strong> die gesamte Periode<br />
von 1901 bis 1995 als Basis <strong>für</strong> ’ große Durchbrüche‘ herangezogen. Und gerade<br />
weil nicht alle spektakulären Entdeckungen und ’ Paradigmenverschiebungen‘<br />
mit einem Nobel-Preis ausgezeichnet werden können, haben wir uns außerordentlich<br />
bemüht, diese Studie nicht als eine Geschichte der Nobel-Preisträger<br />
anzulegen.<br />
Mit den bisherigen Kriterien ist die empirische Basis da<strong>für</strong> aufbereitet, was<br />
als ’ großer Durchbruch‘ oder als ’ bedeutende Entdeckung‘ innerhalb der biomedizinischen<br />
Wissenschaften qualifiziert werden kann – und soll. Als nächsten<br />
Schritt galt es herauszufinden, in welchem Labor und in welcher Forschungseinrichtung<br />
diese neuen Ergebnisse erzielt worden sind. Anders ausgedrückt ging es<br />
in diesem nächsten Punkt darum, trotz des Schwerpunktes auf organisatorische<br />
Faktoren die Karrieren einzelner Forscher zu untersuchen, um die genauen Orte<br />
<strong>für</strong> die spektakulären Durchbrüche identifizieren zu können. Als Ergebnis dieser<br />
Analyse konnten wir konkrete Forschungseinrichtungen, in deren Kontext<br />
sich die großen Durchbrüche abspielten, benennen und ihnen eine oder mehrere<br />
solcher ’ biomedizinischen Revolutionen‘ zuschreiben. In einigen Fällen haben<br />
Wissenschaftler ihre großen Durchbrüche über mehrere Forschungseinrichtungen<br />
hindurch erreicht und wir haben der gesamten Kette an Instituten einen<br />
solchen ’ Innovations-Bonus‘ vergeben. Zudem nimmt unsere Untersuchung darauf<br />
Rücksicht, daß nicht alle Wissenschaftler, die an solch großen Durchbrüchen<br />
beteiligt waren, eine Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Leistungen durch<br />
ÖZG 11.2000.1 35
die Verleihung akademischer Auszeichnungen gefunden haben. Einige Forscher<br />
konnten aus unterschiedlichen Gründen <strong>für</strong> einzelne Preise nicht berücksichtigt<br />
werden – so werden beispielsweise Nobel-Preise nur an noch lebende Personen<br />
verliehen. Trotz der Tatsache ’ vergessener‘ oder ’ übergangener‘ Auszeichnungen<br />
gilt unsere Untersuchung aber nicht den einzelnen individuellen Forscherkarrieren,<br />
sondern den organisatorischen Merkmalen von Forschungseinrichtungen.<br />
Und <strong>für</strong> diese Problemstellung besitzt das Phänomen mangelnder Anerkennung<br />
keinen unmittelbar störenden oder verfälschenden Bias. Denn unsere Methode<br />
der Tiefenanalyse über die konkreten Orte von großen Durchbrüchen erlaubt<br />
es, jene Wissenschaftler zu identifizieren, die zum Zustandekommen dieser Ergebnisse<br />
beitrugen, obwohl sie selbst nicht die Anerkennung durch ein entsprechendes<br />
Komitee gefunden haben.<br />
Diese Art von Forschung bemüht sich nicht um eine Geschichte großer<br />
wissenschaftlicher Ideen oder um die Kreativität einzelner Wissenschaftler. Die<br />
weitere Analyse setzt zwar voraus, daß große Entdeckungen von Individuen erzielt<br />
wurden und daß Kreativität eine unaufhebbare individuelle Besonderheit<br />
darstellt. Der Schwerpunkt der weiteren Arbeit gilt der Frage, wie die Kontexte<br />
von Forschungslaboratorien bzw. Abteilungen und der Forschungseinheit<br />
insgesamt die Schaffung großer biomedizinischer Entdeckungen im zwanzigsten<br />
Jahrhundert beeinflußt. Die großen Erfindungen innerhalb der Laboratorien,<br />
der Forschungsabteilungen und der Institute geschehen nicht durch das Wirken<br />
eines blinden Zufalls. Dort, wo diese radikalen Entdeckungen stattfinden,<br />
herrschen besondere und eigene Bedingungen. Und die sollen in der weiteren<br />
Arbeit näher spezifiziert und vorgestellt werden.<br />
Strukturelle und kulturelle Begriffe<br />
Die Analyse von Forschungseinheiten und Laboratorien bzw. Abteilungen dreht<br />
sich um sieben zentrale Begriffe, die auch in der Übersicht unten zusammen mit<br />
den da<strong>für</strong> konstitutiven Indikatoren oder Beispielen angeführt werden. Diese<br />
Begrifflichkeiten betreffen (1) die ’ Vielfalt von Wissensfeldern‘, (2) die ’ Wissenstiefe‘<br />
innerhalb jedes der diversen Wissensfelder, (3) die Differenzierung<br />
der Organisation und Abteilungen in Untereinheiten, (4) die hierarchische und<br />
bürokratische Koordination (beispielsweise das Ausmaß an Standardisierung<br />
von Regeln und Abläufen), (5) das Ausmaß an interdisziplinären und integrierten<br />
’ Kulturen‘, (6) die Führungskapazität, welche die Fähigkeit zur Integration<br />
von diversen Wissensfeldern besitzt, und (7) die ’ Qualität‘ wie die Qualifikationen<br />
von Wissenschaftlern in den einzelnen Laboratorien, Abteilungen und<br />
Instituten. Es sollte noch eigens betont werden, daß es zwischen den beiden<br />
36 ÖZG 11.2000.1
Niveaus (Forschungseinheit und Laboratorien bzw. Abteilungen) ’ feine Unterschiede‘<br />
bei den jeweiligen Indikatoren und Beispielen gibt.<br />
Organisatorische Schlüsselfaktoren: Indikatoren und Beispiele<br />
Die Ebene von Forschungseinrichtungen insgesamt<br />
1. Vielfalt: (1) die unterschiedlichen biologischen wie medizinischen Disziplinen und<br />
Subdisziplinen, (2) Anteile von Personen in den biologischen Wissenschaften mit<br />
Forschungserfahrungen in anderen Disziplinen und/oder Paradigmen.<br />
2. Tiefe: (1) die Größe einer wissenschaftlichen Gruppe in jedem der unterschiedlichen<br />
Wissenschaftsfelder, (2) ’ Weite‘ an Expertise in jedem der Wissenschaftsfelder<br />
(im Falle der Genetik beispielsweise Spezialisierungen auf Drosophila, Mais,<br />
Mäuse, etc.).<br />
3. Differenzierung: (1) die Anzahl von biomedizinischen Abteilungen und anderen<br />
Einheiten, (2) Delegation der Entscheidung <strong>für</strong> die Personalaufnahme auf<br />
die Ebene von Abteilungen oder anderen Untereinheiten, (3) Verantwortung <strong>für</strong><br />
extramurale Finanzmittel auf der Ebene von Abteilungen oder anderen Untereinheiten.<br />
4. Hierarchische und bürokratische Koordination: (1) Standardisierung von Regeln<br />
und Abläufen, (2) zentrale budgetäre Kontrollen, (3) zentralisierte Entscheidungen<br />
über Forschungsprogramme, (4) zentralisierte Entscheidungen über die Personalanzahl.<br />
5. Interdisziplinäre und integrierte Aktivitäten zwischen Laboratorien, Abteilungen<br />
und Unterabteilungen: (1) die Häufigkeit und die Intensität von Interaktionen,<br />
(2) Publikationen von Artikeln, (3) Vorhandensein von Zeitschriften-Räumen,<br />
(4) gemeinsame Mahlzeiten und Freizeitaktivitäten.<br />
6. ’ Leadership‘, die Fähigkeit zur Integration wissenschaftlicher Vielfalt: (1) Strategische<br />
Vision zur Integration unterschiedlicher Gebiete wie auch <strong>für</strong> Schwerpunktthemen,<br />
(2) Fähigkeit zur Sicherung ausreichender finanzieller Mittel <strong>für</strong><br />
diese Schwerpunkte, (3) Fähigkeit zur Rekrutierung eines hochqualifizierten,<br />
aber hinreichend diversen Personals, so daß die einzelnen Forschungsgruppen<br />
ständig über den momentanen Stand an signifikanten und potentiell lösbaren<br />
Problemfeldern informiert sind, (4) die Fähigkeit zu harter Kritik im Kontext<br />
einer innovationsfreundlichen, unterstützenden Umgebung.<br />
7. Qualität: (1) Anteil von Wissenschaftlern an der landesweit angesehensten Wissenschaftsakademie,<br />
(2) Forschungsmittel pro Wissenschaftler.<br />
Die Ebene von Forschungslaboratorien und Forschungsabteilungen<br />
1. Vielfalt: (1) die unterschiedlichen biologischen wie medizinischen Disziplinen und<br />
Sub-Disziplinen, (2) Anteile von Personen in den biologischen Wissenschaften<br />
mit Forschungserfahrungen in anderen Disziplinen und/oder Paradigmen.<br />
2. Tiefe: (1) die Größe einer wissenschaftlichen Gruppe in jedem der unterschiedli-<br />
ÖZG 11.2000.1 37
chen Wissenschaftsfelder, (2) ’ Weite‘ an Expertise in jedem der Wissenschaftsfelder.<br />
3. Differenzierung: (1) die Anzahl von biomedizinischen Abteilungen und anderen<br />
Einheiten, (2) Delegation der Entscheidung <strong>für</strong> die Personalaufnahme auf<br />
die Ebene von Abteilungen oder anderen Untereinheiten, (3) Verantwortung <strong>für</strong><br />
extramurale Finanzmittel auf der Ebene von Abteilungen oder anderen Untereinheiten.<br />
4. Hierarchische und bürokratische Koordination: (1) Standardisierung von Regeln<br />
und Abläufen, (2) zentrale budgetäre Kontrollen, (3) zentralisierte Entscheidungen<br />
über Forschungsprogramme, (4) zentralisierte Entscheidungen über die Personalanzahl.<br />
5. Interdisziplinäre und integrierte Aktivitäten zwischen Laboratorien, Abteilungen<br />
und Unterabteilungen: (1) die Häufigkeit und die Intensität von Interaktionen,<br />
(2) Publikationen von Artikeln, (3) Vorhandensein von Zeitschriften-Räumen,<br />
(4) gemeinsame Mahlzeiten und Freizeitaktivitäten.<br />
6. ’ Leadership‘, die Fähigkeit zur Integration wissenschaftlicher Vielfalt: (1) Strategische<br />
Vision zur Integration unterschiedlicher Gebiete wie auch <strong>für</strong> Schwerpunktthemen,<br />
(2) Fähigkeit zur Sicherung ausreichender finanzieller Mittel <strong>für</strong><br />
diese Schwerpunkte, (3) Fähigkeit zur Rekrutierung eines hochqualifizierten,<br />
aber hinreichend diversen Personals, so daß die einzelnen Forschungsgruppen<br />
ständig über den momentanen Stand an signifikanten und potentiell lösbaren<br />
Problemfeldern informiert sind, (4) die Fähigkeit zu harter Kritik im Kontext<br />
einer innovationsfreundlichen, unterstützenden Umgebung.<br />
7. Qualität: (1) Anteil von Wissenschaftlern an der landesweit angesehensten Wissenschaftsakademie,<br />
(2) Forschungsmittel pro Wissenschaftler.<br />
Instituts-Sample und Daten<br />
Die größere Studie, welche diesem Artikel zugrunde liegt, basiert auf der Untersuchung<br />
von 128 Forschungseinrichtungen in den USA: 28 Forschungsinstitute,<br />
in denen zwei oder mehr große Durchbrüche erzielt wurden und als Vergleichsgruppe<br />
100 Einrichtungen, in denen eine oder gar keine große Entdeckung erzielt<br />
worden sind. Die Untersuchung widmete sich vier unterschiedlichen Typen<br />
von Forschungseinrichtungen, nämlich (1) <strong>Universität</strong>en, (2) medizinischen Fakultäten,<br />
Spitälern oder Kliniken, (3) selbständigen Forschungsinstituten und<br />
(4) industriellen Forschungslaboratorien. Für nahezu zwei Dutzend dieser Forschungseinrichtungen<br />
wurden eigene Fallstudien erstellt, die auf ’ Expertengesprächen‘<br />
und Tiefeninterviews gründeten. Die genaueren Details über den<br />
Sampling-Prozeß, der zur Auswahl von Forschungseinheiten ohne große Durchbrüche<br />
während des gesamten Untersuchungszeitraumes führte, werden an anderer<br />
Stelle beschrieben. 9<br />
9 Vgl. Rogers J. Hollingsworth u. Jerry Hage, Organizational Characteristics which Facilitate<br />
38 ÖZG 11.2000.1
Naturgemäß stehen viele Kriterien offen, wenn es um die Bewertung der<br />
’ Performanz‘ oder der Leistung‘ von Forschungseinrichtungen geht: ihre Pro-<br />
’<br />
duktivität, das Ranking‘ in Zitationsindizes, das Volumen an Forschungsmit-<br />
’<br />
teln pro Wissenschaftler oder im Falle der amerikanischen <strong>Universität</strong>en: die<br />
Anzahl von akademischen Graden oder die Qualität des Ausbildungsprogramms<br />
und des Lehrkörpers <strong>für</strong> graduierte Studenten. Unsere Untersuchung geht nicht<br />
davon aus, daß Forschungseinrichtungen ohne größere Durchbrüche als wissenschaftlich<br />
mangelhaft“ oder schlecht“ klassifiziert werden sollten. Eine solche<br />
” ”<br />
Schlußfolgerung wäre allzu voreilig. Jedoch verlangt es der noch sehr fragmentarische<br />
und unterentwickelte Wissensstand über die organisatorischen Erfolgswie<br />
Mißerfolgsfaktoren <strong>für</strong> große wissenschaftliche Durchbrüche einfach, diese<br />
Form der Untersuchung voranzutreiben.<br />
Die Daten stammen von vielen unterschiedlichen Quellen: von Interviews,<br />
Archivmaterialien, mündlichen Lebensgeschichten, Sekundärauswertungen veröffentlichter<br />
Materialien sowie wissenschaftlicher Literatur. Platzbeschränkungen<br />
haben allerdings dazu geführt, nur einen kleinen Teil der Datenquellen <strong>für</strong><br />
dieses Forschungsprojekt eigens anzuführen.<br />
Methodologie<br />
In der weiteren Untersuchung wurden Instrumente der vergleichenden Forschung<br />
wie auch der Gesprächsanalyse verwendet. Da das primäre Forschungsziel<br />
darin liegt zu erklären, wie die organisatorischen Eigenschaften von Forschungseinrichtungen<br />
mit der Entstehung großer wissenschaftlicher Durchbrüche<br />
zusammenhängen, hat die vorliegende Untersuchung Institute mit mehreren<br />
größeren Durchbrüchen mit solchen Forschungseinrichtungen verglichen, in<br />
denen sich keine oder nur eine einzelne große Entdeckung ereignet hat. Gleichzeitig<br />
werden auch historische Untersuchungen als zusätzliche Quelle <strong>für</strong> vergleichende<br />
Analysen herangezogen. Mit dieser Methode wollen wir vor allem<br />
Forschungseinrichtungen in verschiedenen Etappen ihrer Geschichte vergleichen,<br />
indem wir sie vor und nach bedeutsamen strukturellen und kulturellen<br />
Veränderungen vergleichen, um die Konsequenzen solcher Veränderungen <strong>für</strong><br />
das Gelingen und die Anzahl solcher Durchbrüche zu prüfen.<br />
Trotz unserer Betonung struktureller und kultureller Bedingungen in Forschungsorganisationen<br />
mit oftmaligen großen Durchbrüchen ist es wichtig, die<br />
Tatsache nicht aus dem Auge zu verlieren, daß es nicht den einen und ausschließlich<br />
einen Weg gibt, auf dem Forschungseinrichtungen ihre große Durchbrüche<br />
erzielen. Vielmehr ist man mit einem Panorama von unterschiedlichen<br />
Major Discoveries in the Biomedical Sciences, in: Proposal to National Science Foundation<br />
1996.<br />
ÖZG 11.2000.1 39
Konfigurationen konfrontiert, in denen unterschiedliche Schlüsselfaktoren je<br />
nach Zeitpunkt, je nach Analyseniveau und je nach konkretem Typus von Forschungsorganisation<br />
(z. B. <strong>Universität</strong>, Forschungsinstitute) variieren.<br />
Dieser Artikel stellt einen vorläufigen Bericht über jene Schlüsselmerkmale<br />
von Forschungseinrichtungen dar, welche ihr Fähigkeit <strong>für</strong> oftmalige große<br />
Durchbrüche wesentlich beeinflussen und bedingen. Wichtig an den strukturellen<br />
und organisatorischen ’ Settings‘, in denen sich solche großen Entdeckungen<br />
vollzogen, ist die Art, wie stark diese Forschungseinrichtungen auf diesen<br />
Schlüsselfaktoren ’ laden‘ und auch die Weise, wie diese Schlüsselfaktoren<br />
zusammenwirken. Was an den einzelnen Forschungsinstituten variiert, ist ihr<br />
Profil bei den einzelnen Schlüsselfaktoren wie auch die Art, in der diese Faktoren<br />
sich wechselseitig beeinflussen. Jene Forschungseinrichtungen mit immer<br />
wiederkehrenden großen Durchbrüchen besitzen ein ganz anderes Profil als die<br />
Konfiguration dieser Faktoren dort, wo spektakuläre Entdeckungen ein sehr<br />
seltenes Ereignis oder gar einen Non-Event darstellen.<br />
Es gibt natürlich einige Variationen hinsichtlich der Zusammensetzung jener<br />
Schlüsselfaktoren, die mit spektakulären wissenschaftlichen Durchbrüchen<br />
in Zusammenhang gebracht werden: Einige erweisen sich als stärker erklärungsrelevant<br />
als andere. Aber das Ziel unserer Untersuchung besteht ja darin herauszufinden,<br />
welche dieser Schlüsselfaktoren am stärksten und am häufigsten<br />
bei der ’ Entstehung des Neuen‘ beteiligt sind. In jenen Organisationen, welche<br />
immer wieder als die konkreten Orte von großen wissenschaftlichen Durchbrüchen<br />
in Erscheinung getreten sind, stehen zwei Schlüsselbegriffe im Zentrum<br />
der Erklärung, nämlich einerseits ’ Interdisziplinarität und integrierte Kultur‘<br />
und andererseits eine ’ innovationsfreundliche Führung‘.<br />
Fallstudien: Das hochgradig integrierte kleine Forschungsinstitut<br />
In diesem Artikel sollen eine Fallstudie in größerer Ausführlichkeit referiert<br />
und einige andere Fallstudien kurz gestreift werden. Die größere Fallstudie widmet<br />
sich dem Rockefeller Institute/University. Das Rockefeller-Institut gilt als<br />
der Ort mit den meisten größeren Durchbrüchen innerhalb der Biomedizin des<br />
zwanzigsten Jahrhunderts – es gibt keinen vergleichbaren anderen Platz auf der<br />
Welt mit einer ähnlichen Dichte an biomedizinischen ’ Basisinnovationen‘.<br />
Das zentrale Ergebnis in der Fallstudie besteht darin, daß die großen Entdeckungen<br />
dort deswegen sehr häufig auftreten, weil sich in dieser Einrichtung<br />
ein hohes Ausmaß an Interdisziplinarität wie auch an ’ integrierten Programmen‘<br />
zwischen sehr unterschiedlichen Disziplinfeldern etabliert hatte. Anders<br />
ausgedrückt war das Rockefeller Institut (wie auch ein ähnlich innovatives Institut,<br />
nämlich das California Institute of Technology) durch Forschungs-Settings<br />
40 ÖZG 11.2000.1
gekennzeichnet, in denen Wissenschaftler mit unterschiedlichen Perspektiven,<br />
disziplinären Hintergründen und Forschungsprogrammen häufig und intensiv<br />
miteinander in Kontakt standen. Darüber hinaus war die Führung dieser Forschungseinrichtung<br />
in hohem Ausmaß als ’ innovationsfreundlich‘ einzustufen,<br />
in denen sich Momente von Abschirmung und längerfristigen Perspektiven mit<br />
starken Standards und Kriterien <strong>für</strong> wissenschaftliche Kritik und Auseinandersetzung<br />
kombinierten. Die konkreten Formen, in denen sich solche ’ interdisziplinären‘<br />
und ’ integrierten‘ Wissenschaftskulturen und innovationsfreundlichen<br />
Umgebungen ausdrücken, schwanken aber je nach organisatorischen Kontexten<br />
– und auch je nach Zeit.<br />
Wir werden ausführliche Beispiele anführen, um mehr Anschaulichkeit in<br />
die bisher beschriebene analytische Struktur zu bringen und um die Bedeutung<br />
von Ausdrücken wie ’ interdisziplinäre‘ bzw. ’ integrierte Kultur‘, ’ Tiefe‘, etc.<br />
zu verdeutlichen und zu konkretisieren. Aus platztechnischen Gründen können<br />
die Organisationsstrukturen jener Forschungseinrichtungen, Laboratorien oder<br />
Abteilungen, in denen sich kaum oder keine spektakulären Durchbrüche ereigneten,<br />
im weiteren nur kursorisch gestreift werden, obschon einige Hinweise auf<br />
diese Vergleichsgruppe immer wieder wichtig da<strong>für</strong> werden, den robusten Charakter<br />
des analytischen Designs wie auch seiner Ergebnisse zu verdeutlichen.<br />
Die nun näher beschriebene Forschungseinrichtung, in der sich immer wieder<br />
große Entdeckungen, Erfindungen oder Durchbrüche ereigneten, weist folgende<br />
Werteverteilung bei den Schlüsselfaktoren auf: höhere bis hohe Werte<br />
im Bereich der ’ Vielfalt‘, geringe Werte bei der internen Differenzierung, eine<br />
Führung, welche sich auf die Integration wissenschaftlicher Viel- und Mannigfaltigkeit<br />
verstand, höhere bis hohe Werte an wissenschaftlicher ’ Tiefe‘, geringe<br />
Werte im Bereich der hierarchischen Koordination sowie wiederum hohe Werte<br />
bei der Qualität wie eben vor allem der ’ interdisziplinären‘ und ’ integrierten‘<br />
Kultur.<br />
Das Rockefeller Institut<br />
In seinen frühen Jahren erwarb sich das Rockefeller-Institut einen herausragenden<br />
Ruf und zugleich eine Struktur, die immer wieder große Durchbrüche<br />
ermöglichte. Im Laufe der Zeit kam es zwar zu Veränderungen in der Organisation<br />
des Instituts, doch gelang es über die Zeit hinweg, den exzellenten Ruf<br />
und die Grundstruktur so zu konservieren, daß es seine Spitzenposition in der<br />
biomedizinischen Forschung erhalten konnte.<br />
Ganz anders als das Koch-Institut in Berlin, das Pasteur-Institut in Paris<br />
oder Ehrlich Institut in Frankfurt, die alle um einzelne große Wissenschaftler<br />
und ihre jeweilige Forschungsrichtungen gegründet worden waren, setz-<br />
ÖZG 11.2000.1 41
te das Rockefeller-Institut von Anfang auf die Verschiedenheit und auf eine<br />
größere Anzahl an unterschiedlichen Disziplinen innerhalb der biomedizinischen<br />
Wissenschaften. 10 Anstatt sich auf ein spezielles Gebiet wie Bakteriologie<br />
oder Immunologie zu spezialisieren, bestand das Institutsziel seit der Gründung<br />
darin, unterschiedliche Gebiete in der Biomedizin abzudecken. Frühe Institutsgründungen<br />
in der Biomedizin gruppierten sich vorrangig um den Bereich der<br />
Bakteriologie. Bakteriologie wurde am Rockefeller-Institut viel stärker mit Pathologie<br />
verknüpft und beide Felder wurden enger an Entdeckungen im Bereich<br />
der organischen und der physikalischen Chemie wie auch der Physik gebunden.<br />
Die Leitidee des Instituts bestand seit seiner Gründungsphase in einer breit<br />
ausgelegten Konzeption von biomedizinischen Wissenschaften. Die Konsequenzen<br />
aus dieser Grundentscheidung, auf die Weite und die Mannigfaltigkeit von<br />
biomedizinischen Disziplinen zu setzen, werden im weiteren detailliert erläutert.<br />
In den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts bestand nur eine<br />
relativ geringe ’ Vielfalt‘ oder ’ Weite‘ am Rockefeller Institut, was sich sowohl<br />
an der geringen Anzahl unterschiedlicher Forschungslaboratorien als auch in<br />
ihrer nur mittleren ’ Tiefe‘ niederschlug, weil in jedem dieser Labors nur wenige<br />
Leute arbeiteten. Aber selbst in dieser Konstellation legte der erste Direktor,<br />
Simon Flexner, großes Augenmerk auf den Prozeß der Personalrekrutierung, indem<br />
Wissenschaftler aus verschiedenen kulturellen und wissenschaftlichen Gebieten<br />
in das Institut integriert wurden. Und so traten denn auch Personen<br />
wie beispielsweise Carrell aus Frankreich, Landsteiner aus Österreich, Noguchi<br />
aus Japan, Levene aus Rußland sowie Meltzer und Loeb aus Deutschland<br />
ihren Weg zum Rockefeller-Institut an. Dieses Rekrutierungsmuster stellte sicher,<br />
daß sich am Rockefeller-Institut unterschiedliche Problemzugänge, unterschiedliche<br />
Denkstile und unterschiedliche Forschungsfelder zusammenfanden.<br />
Beinahe jeder dieser Wissenschaftler verkörperte in sich selbst eine Vielzahl<br />
an kulturellen und wissenschaftlichen ’ Stilen‘, welche nochmals die Möglichkeit<br />
<strong>für</strong> interdisziplinäre Vielfalt erhöhten. Generell hatte nahezu jeder der<br />
bedeutenden Wissenschaftler in der Geschichte des Rockefeller-Instituts eine<br />
hohe ’ interne Vielfalt‘ in seinem individuellen Forscherleben aufgebaut, was<br />
von vornherein eine gewisse ’ kognitive Nähe‘ oder ’ Familienähnlichkeit‘ zwischen<br />
jedem dieser disziplinären ’ Grenzgänger‘ herstellte. Von seinen frühesten<br />
Anfängen organisierte das Rockefeller-Institut – übrigens in deutlichem<br />
Kontrast zu den <strong>Universität</strong>en – seine ’ Wissensproduktion‘ nicht entlang jener<br />
Grenzen, welche die Wissenschaftsdisziplinen nahelegten. Speziell in seinen<br />
organisatorischen Demarkationen erwies sich das Rockefeller-Institut als<br />
einzigartig, da in anderen Forschungseinrichtungen in der Regel die Wissensproduktion<br />
’ disziplinär‘ organisiert war und normalerweise auch Personen mit<br />
10 Vgl. George W. Corner, A History of the Rockefeller Institute, New York 1964; Rene J.<br />
Dubos, The Professor, the Institute, and DNA, New York 1976.<br />
42 ÖZG 11.2000.1
geringerer interner wissenschaftlicher oder kultureller Viel- und Mannigfaltigkeit<br />
rekrutiert wurden. Eine der herausragenden Qualitäten der Forschungsorganisation<br />
am Rockefeller-Institut lag aber gerade in seiner Praxis, nur jene<br />
Personen an sich zu binden, welche innerhalb einer großen Vielfalt an kulturellen,<br />
wissenschaftlichen und organisatorischen ’ Umgebungen‘ sozialisiert worden<br />
waren. Und gerade diese Einzelpersönlichkeiten mit einem hohen Grad an ’ internalisierter<br />
Vielfalt‘ wiesen denn auch ein vergleichsweise höheres Potential<br />
da<strong>für</strong> auf, sich neue Denkstile und neue wissenschaftliche Kompetenzen anzueignen<br />
und damit noch mehr an ’ interner Vielfalt‘ aufzubauen. Kurz gesagt,<br />
das Rockefeller-Institut war von seinen frühesten Anfängen an ein Ort, wo Wissenschaftler<br />
in vielfältigen Disziplinen gleichzeitig lebten – und leben wollten.<br />
Wie Michael Gibbons und andere hervorheben, 11 werden innovative Leistungen<br />
im Wissenschaftssystem durch Kommunikationsprozesse ’ beschleunigt‘, die<br />
ihrerseits vom Grad der Mobilität abhängen. ’ Mobilität‘ bedeutet einen sehr<br />
gewichtigen Faktor als Vorbedingung da<strong>für</strong>, daß sich neuartige ’ Hybrid-Ideen‘<br />
formen. Das Rockefeller-Institut erwies sich im frühen zwanzigsten Jahrhundert<br />
als einzigartiger Platz da<strong>für</strong>, Wissenschaftler aus den verschiedensten Teilen der<br />
Welt zu rekrutieren, die bereits durch eine Vielfalt an unterschiedlichen Stätten<br />
der Wissensproduktion und in mannigfaltigen disziplinären Umgebungen gewandert<br />
und so ’ bewandert‘ waren. Diese Rekrutierungspraxis produzierte eine<br />
Art von wissenschaftlicher Hybridbildung, die im Zeitablauf immer wieder zu<br />
neuen Ideen, Einfällen, Techniken, Instrumenten, Modellen, Heuristiken oder<br />
Prinzipien führte.<br />
Eine Forschungseinrichtung vom Typus des Rockefeller-Instituts besaß eine<br />
Reihe von komparativen Vorteilen gegenüber den meisten akademischen Lehr-<br />
Organisationen. Die meisten wissenschaftlichen Lehrstätten wollen ihren Studenten<br />
ein Wissenschaftsgebiet in breiter Streuung vermitteln und finden es<br />
in der Regel unangemessen, ein spezielles Teilgebiet zu vernachlässigen. Aus<br />
diesem Grunde werden oftmals Personen berufen, die nicht wegen ihrer herausragenden<br />
Arbeiten, sondern wegen ihrer Spezialkenntnisse an eine <strong>Universität</strong><br />
geholt werden. Ein Forschungsinstitut besitzt hingegen keine Verpflichtung, ein<br />
gesamtes Wissensgebiet vollständig abzudecken und es kann sich hochselektiv<br />
hinsichtlich seiner jeweiligen Schwerpunkte verhalten. Wenn es gewünscht<br />
wird, kann Rockefeller ganze Wissensfelder vernachlässigen oder neu beleben.<br />
In jedem Falle werden nur solche Wissenschaftler aufgenommen, welche als die<br />
weltweit höchstqualifizierten Personen betrachtet werden und deren Schwerpunktgebiete<br />
zudem in das Rockefeller-Profil passen. Auch besitzt ein Forschungsinstitut<br />
vom Schlage Rockefeller – und dies wiederum im Unterschied<br />
zu einschlägigen Lehreinrichtungen – die Flexibilität, schlagartig neue Wissensgebiete<br />
zu besetzen. Und weil Rockefeller nicht an die Lehre gebunden<br />
11 Vgl. Michael Gibbons, u. a., The New Production of Knowledge, London 1994.<br />
ÖZG 11.2000.1 43
war, konnte sich das Institut den Luxus leisten, höchstqualifizierte Personen<br />
auch dann zu rekrutieren, wenn sie sich nicht einmal in der englischen Sprache<br />
hinreichend ausdrücken konnten. 12<br />
Natürlich besaß das Institut eine großzügige finanzielle Basis über die Stiftung<br />
durch John D. Rockefeller. Doch eine Reihe anderer Institute, die ungefähr<br />
zur selben Zeit ins Leben gerufen wurden, waren finanziell ebenfalls sehr gut<br />
ausgestattet: das Phipps Institute in Philadelphia, etabliert durch den Stahlmagnaten<br />
Henry Phipps, das Memorial Institute <strong>für</strong> ansteckende Krankheiten<br />
in Chicago, gegründet von Harold McCormick, einen Schwiegersohn von John<br />
D. Rockefeller, oder die Carnegie Institution in Washington unter der Schirmherrschaft<br />
von Andrew Carnegie. Man könnte diese Liste noch verlängern. Doch<br />
scheint ausreichend Geld eine notwendige, nicht aber eine hin- und ausreichende<br />
Bedingung <strong>für</strong> außerordentliche wissenschaftliche Leistungen darzustellen.<br />
Eine der wichtigsten Bedingungen <strong>für</strong> eine Forschungseinrichtung, um langfristig<br />
das Gelingen großer wissenschaftlicher Durchbrüche sicherzustellen, liegt<br />
in der Qualität der Führung dieser Institute, im ’ Leadership‘. Dieser Schlüsselfaktor<br />
besitzt in der überkommenen organisationssoziologischen Literatur nur<br />
eine untergeordnete Bedeutung. Aber gerade bei seinen Direktoren und Präsidenten<br />
bemühte sich Rockefeller, immer wieder Persönlichkeiten zu finden,<br />
die sehr gut mit Wissenschaftlern zusammenarbeiten konnten und zudem die<br />
führenden Forscher auf dem Gebiet der Biomedizin persönlich kannten. Von den<br />
sieben Direktoren bzw. Präsidenten seit der Gründung von Rockefeller waren<br />
fünf direkt an großen biomedizinischen Entdeckungen beteiligt und die beiden<br />
ohne spektakuläre Durchbrüche (Detlev Bronk und Fred Seitz) waren herausragende<br />
Wissenschaftler, die beide auch zu Präsidenten der National Academy<br />
of Sciences gewählt wurden. Vier der sieben Rockefeller-Direktoren waren auch<br />
Nobel-Preisträger in Medizin beziehungsweise Physiologie.<br />
Der erste Direktor, Simon Flexner, hinterließ ein unvergängliches Erbe.<br />
Denn es war Flexner, der den Plan entwickelte, daß ganz bestimmte Standards<br />
<strong>für</strong> die Leitung am Rockefeller-Institut gelten sollten. Rockefeller sollte<br />
von Wissenschaftlern geleitet werden, die erstens eine ’ strategische Vision‘ zur<br />
Integration unterschiedlicher Gebiete entwickelten und entsprechende Schwerpunktprogramme<br />
ausarbeiten konnten. Zweitens sollten die Leiter gleichermaßen<br />
die Fähigkeit zur ” Konstruktion“ – die Schaffung einer geschützten wie<br />
innovationsfreundlichen Umgebung – und ” Kritik“ – die Anwendung rigoroser<br />
wissenschaftlicher Evaluation – beherrschen. Drittens sollten sie in der Lage<br />
sein, ein hinreichend unterschiedliches und vielfältiges wissenschaftliches Personal<br />
zu rekrutieren, so daß die einzelnen Forschungsgruppen nicht nur über<br />
die jeweils ’ heißesten‘ Problemfelder und ihre prinzipiell möglichen Lösungs-<br />
12 Vgl. Simon Flexner, Medical Education. A Comparative Study, New York 1925, sowie<br />
ders., Universities. American, German, English, Oxford 1930.<br />
44 ÖZG 11.2000.1
wege informiert waren, sondern auch die passende Umgebung da<strong>für</strong> hatten,<br />
sich den neuen Herausforderungen direkt zu stellen und neue Forschungspfade<br />
auch tatsächlich zu erproben. Viertens mußten die Leiter in der Lage sein, eine<br />
hinreichende finanzielle Plattform <strong>für</strong> diese Art von ’ riskanter Forschung‘ aufzubauen<br />
und zu erhalten. Natürlich haben nicht alle weiteren Direktoren von<br />
Rockefeller diese Art von Führung praktiziert oder sind diesen Standards so<br />
gefolgt, wie sie von Flexner verkörpert worden sind. Aber nach diesen Idealen<br />
sind immerhin die weiteren Leiter sowohl innerhalb wie außerhalb dieser<br />
Forschungseinrichtung gemessen worden.<br />
Flexner stand ein wissenschaftlicher Beirat zur Seite, der sich aus einigen<br />
der führenden biomedizinischen Forscher der Vereinigten Staaten zusammensetzte.<br />
Der erste Präsident des Beirates war William H. Welch von der medizinischen<br />
Fakultät von Johns Hopkins, der damals als die unbestrittene graue<br />
Eminenz in der medizinischen Forschung und Ausbildung galt. Dieser Beirat<br />
war verantwortlich <strong>für</strong> die Anstellung von Wissenschaftlern und <strong>für</strong> die strategische<br />
wie inhaltliche Positionierung der konkreten wissenschaftlichen Forschungsschwerpunkte.<br />
Der Direktor (Flexner) wurde von den wissenschaftlichen<br />
Beiräten ernannt und sollte zudem in einem engen Arbeitsverhältnis mit<br />
dem wissenschaftlichen Personal stehen. Weiterhin gab es einen Aufsichtsrat <strong>für</strong><br />
die finanziellen Angelegenheiten und Obliegenheiten, doch der wissenschaftliche<br />
Beirat spielte eine essentielle Rolle, wann immer es galt, einen besonders<br />
herausragenden Wissenschaftler in das Institut einzubinden. Die äußerst angesehene<br />
Rolle des wissenschaftlichen Beirats erleichterte zusammen mit den besonderen<br />
Fertigkeiten des Direktors dieses exquisite und hochqualifizierte Auswahlverfahren.<br />
Diese Form der Selektion sollte bis zum Jahre 1953 dauern, bis<br />
sich das Institut zu einer kleinen <strong>Universität</strong> verwandelte und der wissenschaftliche<br />
Beirat mit dem Aufsichtsrat <strong>für</strong> Finanzen zu einem einzigen Aufsichtsrat<br />
zusammenschmolz. Von da an besaß Rockefeller nicht mehr jenes kleine Gremium<br />
an weltweit anerkannten Wissenschaftlern, welche die Letztentscheidung<br />
über Neuzugänge trafen. Die Qualität der Neubesetzungen seither, obschon<br />
noch immer als ’ erlesene Auswahl‘ vollzogen, erreicht doch nicht mehr jene hohen<br />
Standards wie sie bei einem so hochkarätig besetzten Gremium erreichbar<br />
gewesen wäre.<br />
Am Institut selbst wurden die dauerhaft angestellten Forscher als ” Mitglieder“<br />
bezeichnet und besaßen eine zeitlich unbegrenzte Anstellung, welche<br />
der Stellung eines Professors im Rahmen einer amerikanischen <strong>Universität</strong> entsprach.<br />
Die nächste Stufe innerhalb der Rockefeller-Hierarchie trug den Titel<br />
eines ” Assoziierten Mitglieds“ und war mit einer dreijährigen Anstellung verknüpft;<br />
die Verträge assoziierter Mitglieder konnten allerdings erneuert werden.<br />
Doch nach einer einmaligen Verlängerung entschied es sich in der Regel,<br />
ob assoziierte Mitglieder als normale und dauerhafte Mitglieder angestellt wur-<br />
ÖZG 11.2000.1 45
den oder das Institut wieder verlassen mußten. ” Assoziierte Mitarbeiter“ wurden<br />
auf zwei Jahre angestellt, ” Assistenten“ oder ” Fellows“ <strong>für</strong> ein Jahr. Auch<br />
diesen Institutsangehörigen standen im Prinzip Vertragsverlängerungen offen;<br />
aber auch hier etablierte sich die Praxis, daß nach drei bis fünf Jahren diese<br />
Mitarbeiter entweder innerhalb des Instituts befördert wurden oder wieder<br />
ausscheiden mußten. Wie die Kaiser-Wilhelm- und Max-Planck-Institute, die<br />
später ein ähnliches Personalmanagement betrieben, war Rockefeller auf diese<br />
Weise auch damit beschäftigt, eine fortgeschrittene Ausbildung <strong>für</strong> eine kleine<br />
Elite an biomedizinischen Wissenschaftlern zu betreiben.<br />
Der Rekrutierungsprozeß <strong>für</strong> die höchste Hierarchiestufe, nämlich <strong>für</strong> die<br />
Mitglieder des Instituts, war äußerst aufwendig gestaltet. Der wissenschaftliche<br />
Beirat übernahm eine wichtige Rolle, weltweit nach hervorragenden Wissenschaftlern<br />
auf dem Feld der Biomedizin zu suchen. Nicht alle Mitglieder<br />
wurden allerdings auf diese Weise gekürt. Zum Beispiel wurden im Jahre 1934<br />
46 Prozent der permanenten Mitglieder von außen rekrutiert und 54 Prozent<br />
institutsintern bestellt. Und diese permanenten Mitglieder pflegten in der Regel<br />
am Institut zu bleiben. Aus diesem Kreis verließ nur Eugene Opie Mitte<br />
der dreißiger Jahre das Institut, doch selbst er kehrte später wieder dorthin<br />
zurück. Ein früherer Präsident von Rockefeller vertraute uns an, daß am Institut<br />
während der meisten Zeit seines Bestehens die ’ implizite Regel‘ galt, daß<br />
niemand als dauerhaftes Mitglied angestellt werden sollte, sofern nicht die starke<br />
Überzeugung bestand, daß diese Person einen Nobel-Preis gewinnen könnte.<br />
Es ist aber nicht damit getan, als Schlüsselfaktoren über die oben ausgeführte<br />
’ Leitungsphilosophie‘ zu verfügen, hervorragende Wissenschaftler zu<br />
rekrutieren, einen mittleren bis hohen Grad an wissenschaftlicher Vielfalt zu<br />
versammeln oder hinreichende finanzielle Ressourcen zu besitzen, um immer<br />
wieder zu spektakulären wissenschaftlichen Durchbrüchen vorzustoßen. Es müssen<br />
weitere wichtige Schlüsselfaktoren hinzutreten, die ebenfalls operativ wirksam<br />
werden. Wenn die wissenschaftliche Vielfalt sich in starken horizontalen<br />
Interaktionen untereinander äußern sollte, dann war es wichtig, daß das Institut<br />
nicht in viele akademische Abteilungen und Unterabteilungen separiert<br />
wurde, welche die Wissensproduktion fragmentierten. Die erforderliche Organisation<br />
mußte sich als weitgehend ’ integriert‘ erweisen, ein Kriterium, welches<br />
das Rockefeller-Institut in hohem Maße erfüllen sollte.<br />
Erstens wurde niemals eine Differenzierung in einzelne wissenschaftliche<br />
Institute angestrebt. Zwar war in seinen Frühzeiten das Institut in einen Laborbereich<br />
und in die Klinik aufgeteilt. Diese Klinik war die erste in ihrer Art<br />
und diente vor allem als Labor <strong>für</strong> den Bereich der Humanbiologie und der<br />
Pathologie. Diese Klinik wies immer nur eine geringe Größe auf und besaß lediglich<br />
eine kleine Anzahl von Mitarbeitern mit nicht-klinischer Ausbildung.<br />
Im Laufe der Zeit sollten aber dennoch eine größere Zahl seiner dauerhaft an-<br />
46 ÖZG 11.2000.1
gestellten Wissenschaftler zu Mitgliedern der National Academy of Sciences<br />
avancieren. Bei Rockefeller war nämlich das Ideal einer Dialektik‘ oder einer<br />
’<br />
’ Wechselbeziehung‘ zwischen klinischer Forschung und Grundlagenwissenschaften<br />
tatsächlich umgesetzt worden. Als markantes Beispiel kann auf Oswald<br />
Averys Entdeckung jener chemischen Substanz hingewiesen werden, welche <strong>für</strong><br />
bakterielle Umwandlungen verantwortlich zeichnet. Dieser große Durchbruch,<br />
der auch einen markanten Wendepunkt von der medizinischen hin zur molekularen<br />
Mikrobiologie darstellt, wurde durch Forscher ermöglicht, die ihre Ausbildung<br />
im Bereich der Medizin erhielten und in der Rockefeller-Forschungsklinik<br />
arbeiteten. Ihre Art von Forschung, sofern sie sich auf das Verständnis biologischer<br />
Prozesse bezog, beeinflußte die medizinische Praxis nur auf indirekte<br />
Weise. Und doch führte sie zu einer der wichtigsten biologischen Entdeckungen<br />
im zwanzigsten Jahrhundert. Die Mitarbeiter aus den Laboratorien und aus<br />
dem Klinikbereich kamen nämlich täglich oftmals zusammen. Und in der Tat<br />
bestand ja das organisatorische Erfolgsgeheimnis von Rockefeller genau in der<br />
wissenschaftlichen Integration‘ und in der Abwendung von einer Aufsplitterung<br />
’<br />
in mehr und mehr ausdifferenzierte Forschungszweige.<br />
Vielfalt und Tiefe innerhalb einer hochintegrierten Forschungseinrichtung<br />
besitzen ein inhärentes Potential da<strong>für</strong>, die Problemsichten von Personen zu<br />
verändern oder vor schwerwiegenden Fehlern wie auch vor einer Beschäftigung<br />
mit trivialen Problemen zu schützen. Schließlich müssen sich Wissenschaftler,<br />
sollen ihnen große Durchbrüche gelingen, an großen Problemen‘ erproben, die<br />
’<br />
zumindest prinzipiell als lösbar erscheinen. Und je größer sich die Vielfalt und<br />
Tiefe einer Forschungsgruppe innerhalb einer insgesamt integrierten Struktur<br />
gestaltet, desto größer sollte auch die Wahrscheinlichkeit sein, daß sich Wissenschaftler<br />
nicht mit unproduktiven oder prinzipiell unlösbaren Fragestellungen<br />
herumschlagen. Häufige und intensive Interaktionen unter Forschern mit ähnlichen<br />
disziplinären Hintergründen und Heuristiken scheinen in der Regel nicht<br />
zu größeren Durchbrüchen zu führen.<br />
Oswald Averys Karriere am Rockefeller Institut stellt im übrigen einen aufschlußreichen<br />
Einzelfall dar. Im Alter von 37 Jahren an das Rockefeller Institut<br />
berufen, hatte sich Avery bis zu diesem Zeitpunkt als ein höchst kompetenter<br />
Forscher auf mehreren Feldern hervorgetan, aber bislang wenig Kreativität und<br />
Originalität in seinen Arbeiten bewiesen. Einmal fest im vielfältigen‘, tiefen‘<br />
’ ’<br />
und integrierten‘ Rockefeller-Kontext verankert, begann sich Averys intellek-<br />
’<br />
tuelles Potential immer deutlicher zu zeigen. Als er 1944 seinen mittlerweile<br />
klassischen Artikel mit MacLeod und McCarty über die DNA und ihre Transformationen<br />
veröffentlichte, hatte er persönlich die so heterogenen Felder von<br />
Bakteriologie, Immunologie, Chemie, Bio-Chemie und Genetik auf vielfältige<br />
Weise integriert. Unsere Arbeit an amerikanischen Forschungseinrichtungen<br />
legt es nahe, daß der Kontext, in den Wissenschaftler eingebettet sind,<br />
ÖZG 11.2000.1 47
ihre Leistung beeinflußt. Arbeiten Wissenschaftler in Umgebungen mit einer<br />
beträchtlichen Vielfalt und Tiefe sowie mit häufigen wie auch intensiven Kontakten<br />
mit Wissenschaftlern mit Komplementärinteressen, dann steigert das in<br />
der Regel die Qualität ihrer wissenschaftlichen Produktion. Es ist die Vielfalt<br />
an Disziplinen und Paradigmen, denen individuelle Forscher in häufigen und<br />
intensiven Auseinandersetzungen und Gesprächen ausgesetzt sind, welche die<br />
Tendenz, die Propensität‘, zu revolutionären Umstrukturierungen und großen<br />
’<br />
Durchbrüchen steigern und verstärken.<br />
Die intellektuelle und soziale Integration wurde am Rockefeller Institut<br />
über eine Reihe von Maßnahmen und Vorkehrungen gewährleistet. Da wäre<br />
zunächst das qualitativ hochwertige Speiseangebot zu Mittag zu nennen, das<br />
auf Tischen serviert wurde, auf denen nicht mehr als acht Leute Platz fanden.<br />
Der Grund da<strong>für</strong> lag darin, daß auf einem solchen Tisch – im Gegensatz<br />
zu größeren Arrangements – ein angeregtes Gespräch über ein einziges Thema<br />
zwischen allen Teilnehmern stattfinden konnte. Das gemeinsame Essen bei<br />
wissenschaftlichen Gesprächen über wichtige wissenschaftliche Themen stellte<br />
einen wichtigen Teil der Rockefeller-Kultur‘ dar und war ein bedeutsames Bin-<br />
’ ’<br />
demittel‘, die vorhandene Vielfalt und Tiefe am Institut besser zu integrieren.<br />
Und obschon die wissenschaftliche Vielfalt am Rockefeller-Institut ganz beträchtliche<br />
Dimensionen annahm, war es eine andere Art von Vielfalt als jene,<br />
die sich auf den Colleges‘ von Oxford oder Cambridge manifestiert. Auch dort<br />
’<br />
bildet das gemeinsame Essen ein wichtiges Element der universitären Kultur.<br />
Auf den britischen Colleges erstreckt sich aber die Vielfalt in ihrer größtmöglichen<br />
Ausdehnung und reicht von der Archäologie, von esoterischen Sprachen,<br />
von der Geschichte bis hin zur Mathematik, Physik, Biologie und so weiter.<br />
Bei so hoher Vielfalt wird es aber als Affront gewertet, wenn man zu Tisch<br />
ein Gespräch über die eigene Arbeit beginnen wollte, da viele der Anwesenden<br />
einer Diskussion nicht folgen könnten. Doch am Rockefeller Institut bedeutet<br />
Vielfalt immer nur das weite Land der Biologie – und es gehörte zur Etikette‘,<br />
’<br />
lebhafte Mittagsdiskussionen über biomedizinische oder verwandte Wissensgebiete<br />
durchzuführen. Auf diese Weise stellte der Mittagstisch ein großartiges<br />
Lernexperiment dar, in dem Forscher intensive Diskussionen über neue Wege<br />
in der Biomedizin führen konnten – und auch führten.<br />
Die Integration wurde aber auch durch wöchentliche Zusammenkünfte erleichtert,<br />
an denen jeder teilnehmen sollte und an denen ein oder mehrere Wissenschaftler<br />
über ihre laufenden Arbeiten berichteten. Es gab auch Nachmittagstees,<br />
an denen die meisten Institutsmitglieder teilnahmen. Einer der wichtigsten<br />
Integrationspunkte stellte der Zeitschriften-Club‘, speziell der Klinik-<br />
’ ’<br />
Zeitschriften-Club‘ dar. Während eines akademischen Jahres traf sich dieser<br />
’ Klinik-Zeitschriften-Club‘ einmal im Monat und es wurde ein ausgezeichnetes<br />
Essen serviert. Von jedem wurde die Teilnahme erwartet – und zudem die<br />
48 ÖZG 11.2000.1
Bereitschaft, einen Artikel von allgemeinerem Interesse außerhalb der eigenen<br />
Forschungsaktivitäten zu referieren. Niemand wußte im vorhinein, wer ausgewählt<br />
wird, einen solchen Vortrag vor dem Zeitschriften-Club‘ zu halten.<br />
’<br />
Warum sollten sich erstrangige Wissenschaftler einem solchen Ritual unterziehen<br />
Nun, sie taten dies vor allem im Bewußtsein, an einem Welt-Institut‘ zu<br />
’<br />
arbeiten und im Glauben, daß einer der Gründe ihres Erfolgs im wechselseitigen<br />
Lernen bestand. Auch diese Form der regelmäßigen Auseinandersetzung<br />
mit Bereichen, die <strong>für</strong> andere innerhalb des Instituts von Interesse sein könnten,<br />
stellte einen der Wege zur Ausweitung der intellektuellen Horizonte dar.<br />
Das Beispiel von Oswald Avery dient dazu, einen anderen Aspekt in der<br />
’ Rockefeller-Kultur‘ hervorzuheben, nämlich die Förderung von Ideen und von<br />
jungen Wissenschaftlern durch das Medium von Diskussionen und informellen<br />
Kontakten. Robert Olby hat Oswald Avery nicht als einen dominanten<br />
Teamleiter beschrieben, 13 sondern als jemanden, der einen starken Einfluß auf<br />
jüngere Wissenschaftler durch häufige informelle Diskussionen in seinem Büro<br />
ausübte. Studiert man die Archive des Rockefeller-Instituts, dann kann man<br />
nicht umhin, die überragende Rolle von Simon Flexner aus den frühen Jahren<br />
des zwanzigsten Jahrhundert anzuerkennen, schon sehr früh eine Kultur der<br />
Förderung und Stimulierung junger Wissenschaftler etabliert zu haben. Einmal<br />
ins Leben gerufen und verankert, wurde dieses Merkmal weiterhin auch<br />
unter den anderen Direktoren bzw. Präsidenten kultiviert, wie dies speziell in<br />
den Aktivitäten von Oswald Avery, Detlev Bronk und Bloebel zum Ausdruck<br />
kam.<br />
Und schließlich stellt auch noch die Umgebung von New York einen gewichtigen<br />
Vorteil des Rockefeller-Instituts dar. Vor den Tagen des Düsenjets<br />
war New York die natürliche Anlegestelle <strong>für</strong> Wissenschaftler jenseits des Atlantiks.<br />
Und fast selbstverständlich machten ausländische Forscher denn auch<br />
am Rockefeller-Institut Station. Sicher zählte keine andere biomedizinische<br />
Forschungseinrichtung in den Vereinigten Staaten so viele ausländische Wissenschaftler<br />
in ihren Reihen. Darüber hinaus war das Institut in einem der<br />
schönsten Stadtteile New Yorks angesiedelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten<br />
das New York Hospital, das Cornell University Medical College sowie das<br />
Sloan Kettering Institute for Cancer Research zu seinen unmittelbaren Nachbarn.<br />
Es stand im Kern eines der weltweit größten Zentren in der biomedizinischen<br />
Forschung. Seine Umgebung verschaffte ihm zusätzlich die Möglichkeit,<br />
mit den allerneuesten Richtungen, Wegen und Ergebnissen biomedizinischer<br />
Forschung konfrontiert zu sein. Und wenn es auch als verhältnismäßig kleines<br />
Institut nicht die Mannigfaltigkeit an verschiedensten Approaches und Richtungen<br />
in der biomedizinischen Forschung durch seine Institutsanghörigen zu<br />
13 Siehe Robert Olby, The Protein Version of the Central Dogma, in: Genetics 79 (1975),<br />
3–27; ders., The Path to the Double Helix, Seattle 1979.<br />
ÖZG 11.2000.1 49
epräsentieren vermochte, so bot es doch eine Plattform da<strong>für</strong>, daß im Grunde<br />
sämtliche führenden Forscher innerhalb der Biomedizin Rockefeller besuchten,<br />
um Darstellungen ihrer neuesten Arbeiten und Forschungen zu vermitteln. Verschieden<br />
lange Stipendien der Rockefeller Foundation an junge britische oder<br />
europäische Forscher brachten zudem die Creme de la Creme an jungen wissenschaftlichen<br />
Talenten nach New York.<br />
Wegen seiner im wesentlichen gleichbleibenden Struktur und seiner tradierten<br />
Wissenschaftskultur stellt das Rockefeller-Institut/<strong>Universität</strong> noch immer<br />
eines der weltweit führenden Zentren im Bereich der biomedizinischen Forschung<br />
dar. Doch seit den 1950er Jahren steht es nicht mehr als dermaßen<br />
dominante und überragende Erscheinung in der biomedizinischen Landschaft<br />
wie es dies in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts tat. Der erste<br />
Grund da<strong>für</strong> liegt darin, daß das Düsenflugzeug einen außerordentlich starken<br />
Effekt darauf ausübte, die führenden Stätten der biomedizinischen Forschung<br />
zu verschieben. Es war nicht mehr länger notwendig, an der Ostküste angesiedelt<br />
zu sein. Herausragende Wissenschaftler waren zunehmend bereit, sich<br />
auch im südlichen Kalifornien, in Palo Alto, in San Francisco, in Seattle oder<br />
in zahlreichen anderen Forschungsstätten quer über die Vereinigten Staaten<br />
niederzulassen. Darüber hinaus verlor Rockefeller zu jenem Zeitpunkt, als das<br />
National Institute of Health die biomedizinische Forschung in großem Maßstab<br />
zu finanzieren begann, seine besonderen finanziellen Vorteile. Keine größere private<br />
Forschungseinrichtung konnte ohne öffentliche Finanzierung auskommen,<br />
wollte sie wissenschaftlich in die allerersten Reihen vorstoßen oder diese Position<br />
beibehalten. Als Resultat von neuen Transport- und Verkehrsmöglichkeiten<br />
sowie von neuen Finanzierungsquellen war es Rockefeller nicht mehr möglich,<br />
seine dominante Position innerhalb der biomedizinischen Welt wie in früheren<br />
Zeiten ungebrochen aufrechtzuerhalten.<br />
Auch die interne Struktur begann sich zu wandeln, eine Veränderung, die<br />
einige negative Effekte <strong>für</strong> seine langfristige Zukunft mit sich brachte, aber<br />
letztlich keine allzu starken Auswirkungen <strong>für</strong> seine Vorreiterrolle als Center of<br />
Excellence in der biomedizinischen Forschung bewirken sollte. Im Jahr 1953 berief<br />
das Institut Detlev Bronk, den Präsidenten der Johns-Hopkins-<strong>Universität</strong>,<br />
zu seinem neuen Direktor. Wie schon oben erwähnt, bestand der wichtigste<br />
Wechsel unter Bronks Führung darin, daß der wissenschaftliche Beirat aufgelöst<br />
wurde und der bisherige Aufsichtsrat zur alleinigen Kontrollinstanz des<br />
Instituts aufgewertet wurde. Ebenfalls unter Bronk’s Führung verwandelte sich<br />
das Rockefeller-Institut zur einzigen reinen Graduierten-<strong>Universität</strong> innerhalb<br />
der Vereinigten Staaten. Auf diesem Gebiet wurde Rockefeller eine Ausnahmeerscheinung,<br />
da es keine formellen Kursprogramme gab, nur acht Lehrveranstaltungen<br />
angeboten wurden und keine davon verpflichtend war. Über lange Jahre<br />
wies Rockefeller mehr Lehrpersonal als Studenten auf, die sich als überaus be-<br />
50 ÖZG 11.2000.1
gabt erwiesen und in dieser Umgebung ein hohes Maß an Selbstdisziplin an den<br />
Tag legten. Wegen ihrer kleinen Anzahl konnte den Studenten eine sehr umfassende<br />
und gründliche Ausbildung innerhalb einer innovationsfreundlichen wie<br />
auch sehr fördernden und anspornenden Umgebung angeboten werden.<br />
Aber als Ergebnis der neuen Rolle der Organisation veränderte sich auch<br />
der Stellenwert der Institutsmitglieder. Wurden unter Bronk und seinem Nachfolger<br />
Seitz noch eine Reihe an hochkarätigen Forschern eingestellt, ging Rockefeller<br />
ohne seinen wissenschaftlichen Beirat dazu über, auch weniger herausragende<br />
Wissenschaftler in Dauerpositionen zu übernehmen. Einer der Gründe<br />
<strong>für</strong> diesen Wechsel hatte mit der zunehmenden Vielfalt innerhalb von Rockefeller<br />
zu tun. Mit der Zunahme an Größe wurde es <strong>für</strong> den Präsidenten zunehmend<br />
schwieriger, die individuellen Qualitäten jedes Wissenschaftlers einzuschätzen.<br />
Darüber hinaus stand Bronk selbst, der im übrigen als brillanter <strong>Universität</strong>sverwalter<br />
mit einem ungewöhnlichen Charisma agierte, nicht mehr innerhalb<br />
der biomedizinischen Forschung, als er zum Direktor von Rockefeller ernannt<br />
wurde. Obwohl er als sehr geschätzter Bio-Physiker galt, hatte er sich schon<br />
seit langen Jahren auf die <strong>Universität</strong>s-Administration verlegt. Zudem war sein<br />
Nachfolger, der prominente Physiker Fred Seitz, zwar als Präsident der National<br />
Academy of Sciences hervorgetreten, aber niemals als Biologe. Er kannte<br />
einfach die biomedizinische community nicht in jenem Ausmaß und jener Genauigkeit<br />
wie die ersten beiden Direktoren. Die Unterschiede im wissenschaftlichen<br />
Hintergrund von Bronk und Seitz schlugen sich auch in der Tatsache<br />
nieder, daß einige der dauerhaften Anstellungen zumindest eine Stufe unterhalb<br />
der Qualität jener Rekrutierungen ausfielen, die während der Jahre der<br />
ersten beiden Direktionen zum Standard zählten.<br />
Noch wichtiger <strong>für</strong> die dauerhafte Fähigkeit der Rockefeller <strong>Universität</strong>,<br />
große Durchbrüche zu erzielen, erwiesen sich die leichten Anpassungen ihrer<br />
internen Struktur an die jeweils veränderten Rahmenbedingungen <strong>für</strong> Forschungsfinanzierungen.<br />
Als Mittel vom National Institute of Health verfügbar<br />
wurden, wuchsen mehrere der Laboratorien an Größe, wurden stärker nach<br />
innen gerichtet und damit auch in höherem Maße autonom. Das gemeinsame<br />
Mittagessen aller mit allen wurde nicht mehr gepflegt. Zu Beginn der 1970er<br />
Jahre gab es zu viele Forscher, zu viele postdoktorale Mitarbeiter und zu viele<br />
Studenten, um die Kommunikations- und Integrationsformen aus der Frühzeit<br />
aufrechtzuerhalten. Und so begannen die meisten Laboratorien, ihrerseits eigene<br />
Zeitschriften-Clubs zu eröffnen. Gleichzeitig sank die Teilnehmerzahl an den<br />
wöchentlichen wissenschaftlichen Vorträgen dramatisch. Diese beiden Anzeichen<br />
deuten klar darauf hin, daß dieselbe Form an horizontalen Kommunikationen<br />
und Kontakten nicht länger stattfand, wie sie <strong>für</strong> die erste Hälfte des<br />
zwanzigsten Jahrhunderts noch typisch gewesen war. Und doch, trotz des geringeren<br />
Grades an Integration, erweist sich Rockefeller noch immer als weitaus<br />
ÖZG 11.2000.1 51
weniger differenziert als jede andere amerikanische <strong>Universität</strong>. Allein die Tatsache,<br />
daß es keine eigenen Abteilungen oder Institute gibt und daß jedes Labor<br />
mit dem Abgang seines Leiters geschlossen wird, verschafft dieser Forschungseinrichtung<br />
ein außergewöhnliches Maß an Flexibilität und an Möglichkeiten,<br />
sich den Veränderungen im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß anzupassen.<br />
Und es ist diese Flexibilität und Adaptivität, welche im Kern erklären, warum<br />
das Rockefeller Institut trotz seiner nur geringen Größe noch immer alle anderen<br />
biomedizinischen Forschungsstätten in den USA überragt. Auch heute<br />
besitzt dieses Institut einen höheren Anteil seiner Forscher an den Mitgliedern<br />
der National Academy of Sciences oder an Howard Hughes-Forschern als jede<br />
andere Forschungseinrichtung in den USA. Darüber hinaus wird auch die Pro-<br />
Kopf-Quote an Drittmitteln <strong>für</strong> biomedizinische Forschung durch das National<br />
Institute of Health von keiner anderen Forschungsorganisation in den Vereinigten<br />
Staaten erreicht oder übertroffen. Und Rockefeller stellt auch heute ein<br />
Forschungsinstitut dar, in dem immer wieder große wissenschaftliche Durchbrüche<br />
und spektakuläre biomedizinische Entdeckungen passieren.<br />
Große Forschungseinrichtungen und ihre großen Probleme mit großen Durchbrüchen<br />
Mit dem Zuwachs von Vielfalt und von Tiefe innerhalb von wissenschaftlichen<br />
Einrichtungen stellt sich fast wie von selbst eine Tendenz in Richtung von<br />
stärkerer Differenzierung und von weniger Integration ein. Diese Veränderungen<br />
werden oftmals von einer Zunahme an hierarchischer und bürokratischer Koordination<br />
begleitet, was sich insgesamt negativ auf das Zustandekommen großer<br />
Durchbrüche zu Buche schlägt. Strukturbrüche und Paradigmenwechsel innerhalb<br />
des biologischen oder des medizinischen Wissens ziehen markante Folgen<br />
<strong>für</strong> die Vielfalt und die Tiefe von Forschungseinrichtungen nach sich und machen<br />
sich vor allem in der Neugründung von Instituten oder Unterabteilungen<br />
bemerkbar, welche diese neuen und ’ heißen‘ biomedizinischen Felder abdecken,<br />
wollen diese Einrichtungen ein Image des Anachronismus oder des Traditionalismus<br />
vermeiden. Und so begannen beispielsweise <strong>Universität</strong>en, Forschungsinstitute<br />
oder medizinische Fakultäten die Bio-Chemie zu inkorporieren, sobald<br />
sich dieses Feld auszuweiten begann. Genetik, Bio-Physik und verschiedene andere<br />
medizinische oder chirurgische Spezialisierungen klinkten sich mit der Zeit<br />
in medizinische Fakultäten und andere Forschungsorganisationen ein. Solche<br />
Ausweitungen gingen in der Regel mit der Rekrutierung mehrerer oder mitunter<br />
vieler neuer Wissenschaftler einher, um die erforderliche wissenschaftliche<br />
Tiefe auch sicherzustellen. Neue Generationen von Instrumenten und anderen<br />
Technologien brachten ebenfalls den Zuzug neuen wissenschaftlichen Personals<br />
mit sich. Aber der Zuwachs von Personal in neuen Spezialfeldern, die Zunahme<br />
52 ÖZG 11.2000.1
an Vielfalt mit der erforderlichen Streuung von Begabungen sowie die Steigerung<br />
der wissenschaftlichen Tiefe in jedem dieser Gebiete impliziert auch ein<br />
Größerwerden der einzelnen Forschungseinrichtungen. Das universelle Problem,<br />
das sich dabei stellt, liegt darin, wie Institute mit den beiden Phänomenen<br />
von ’ Wissensexpansion‘ und ’ Größenwachstum‘ umgehen. Lautet die Antwort<br />
der Forschungseinrichtungen, dem biomedizinischen Wissensfortschritt mittels<br />
Schaffung immer neuer Institute und Laboratorien und über mehr und mehr<br />
hierarchische wie bürokratische Kontrollen zu begegnen, dann führen solche<br />
Prozesse unweigerlich zu einem Rückgang an Integration und schmälern die<br />
Möglichkeit <strong>für</strong> neue große Entdeckungen oder fundamentale Perspektivenwechsel.<br />
Andererseits kann derselbe Prozeß durchaus dazu führen, daß diese<br />
großen Institute sehr produktiv werden, wenn man nur die Anzahl veröffentlichter<br />
wissenschaftlicher Artikel als Bezugspunkt heranzieht.<br />
Beispiele von Forschungseinrichtungen, welche die Erkenntnisfortschritte<br />
in den biologischen und den medizinischen Wissenschaften über neue Institutsgründungen<br />
und über das Größenwachstum ’ eingefangen‘ haben, können<br />
an zahlreichen großen amerikanischen Forschungsuniversitäten wie zum Beispiel<br />
an den <strong>Universität</strong>en von Illinois, California (Berkeley), Minnesota oder<br />
Michigan und an vielen medizinischen Fakultäten wie etwa an der University<br />
of California in Los Angeles, Yale oder an der University of Pennsylvania<br />
gefunden werden. Viele dieser Forschungsstätten schienen zu gewissen Zeiten<br />
nahezu prädestiniert da<strong>für</strong>, als Ort großer biomedizinischer Durchbrüche in<br />
Erscheinung zu treten. Aber solche großen Entdeckungen stellten sich nicht<br />
ein, weder damals noch später. Es muß unbedingt betont werden, daß nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg diese <strong>Universität</strong>en und medizinischen Fakultäten über<br />
große Forschungsmittel verfügten, als sehr produktiv galten und eine große Anzahl<br />
an Wissenschaftlern in der National Academy of Sciences stellten. Aber<br />
trotz alledem besaßen sie nicht den geeigneten strukturellen und kulturellen<br />
Forschungskontext, der <strong>für</strong> große und spektakuläre Durchbrüche innerhalb der<br />
Biomedizin benötigt wird.<br />
Man könnte nun zahlreiche Beispiele von Forschungseinrichtungen anführen,<br />
die auf der einen Seite ein hohes Ausmaß an Vielfalt und Tiefe besaßen<br />
und die andererseits weder hochgradig interdisziplinär oder wissenschaftlich<br />
integriert organisiert waren, sondern über ein hohes Ausmaß an innerer Differenzierung<br />
verfügten. Dieses Phänomen kam besonders klar in Form scharfer<br />
Grenzziehungen zwischen einzelnen Instituten zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang<br />
stellt die University of California in Berkeley ein besonders markanntes<br />
Beispiel dar. Berkeley bildet eine der weltweit führenden <strong>Universität</strong>en<br />
und besitzt doch einen spektakulär unspektakulären Ruf, wenn man ihn an<br />
der Anzahl von großen Durchbrüchen im zwanzigsten Jahrhundert bemessen<br />
würde. Es stimmt zwar, daß sich in Berkeley eine Reihe von großen wissen-<br />
ÖZG 11.2000.1 53
schaftlichen Durchbrüchen innerhalb der Physik oder der Chemie ereigneten,<br />
aber die Entwicklung innerhalb der Biologie zeigt ein ganz anderes Bild. Zu<br />
Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war Berkeley noch eine unter mehreren<br />
Stätten, an denen Jacques Loeb einige seiner bahnbrechenden Arbeiten unternahm.<br />
Und während der 1920er Jahre gelang Herbert M. Evans eine große<br />
Entdeckung in der Biologie. Aber über mehr als sechzig lange Jahre hat die<br />
wissenschaftliche community keine einzige biologische Arbeit aus Berkeley als<br />
große Entdeckung oder als spektakulären Durchbruch gefeiert oder klassifiziert.<br />
Ein gutes Stück der Erklärung liefert die Tatsache, daß sich die wissenschaftliche<br />
Vielfalt in Berkeley in zahlreichen fragmentierten Instituten niederschlug,<br />
die zudem weit über den Campus verstreut lagen.<br />
Die Berkeley-Jahre des prominenten Genetikers Curt Stern machen viele<br />
dieser Probleme spürbar und deutlich. Stern verfügte über eine hervorragende<br />
Ausbildung an deutschen <strong>Universität</strong>en, bevor er in den dreißiger Jahren<br />
in die Vereinigten Staaten emigrierte. Obwohl er ein Genetiker war, wurde<br />
er im Department of Zoology im College of Arts and Sciences angestellt, wogegen<br />
das Genetik-Institut in Berkeley im College of Agriculture residierte.<br />
Und immer, wenn Stern eine Lehrveranstaltung über Genetik halten wollte,<br />
entstanden darüber beträchtliche Spannungen und Streitigkeiten um das ’ Monopol<br />
der Lehre‘. Weil das Genetik-Institut im College of Agriculture beheimatet<br />
war, waren die dortigen Genetiker der Ansicht, daß es völlig unzulässig<br />
sei, wenn Mitglieder eines Instituts <strong>für</strong> Zoologie eine Genetik-Veranstaltung<br />
durchführen wollen, selbst wenn es sich dabei um Personen vom Profil Carl<br />
Sterns handelte. Stern war zu dieser Zeit bereits der herausragendste Genetiker<br />
am gesamten Berkeley Campus und ein Wissenschaftler von internationalem<br />
Format. Und obschon Stern als eine sehr kooperative, kollegiale und eine sehr<br />
offene Person galt, zeigen seine Jahre in Berkeley doch beispielhaft und deutlich,<br />
wie die herrschenden Strukturen der Biologie in Berkeley es <strong>für</strong> die dort<br />
tätigen Wissenschaftler erschwerten, miteinander häufig und intensiv über die<br />
verschiedenen Bereiche der Biologie in Kontakt zu treten oder zu interagieren<br />
– immerhin die Vorbedingungen da<strong>für</strong>, wenn sich große Durchbrüche und<br />
spektakuläre Paradigmenverschiebungen ereignen sollen. In seinen kognitiven<br />
Innenstrukturen wies Stern ein hohes Maß an wissenschaftlicher Vielfalt auf<br />
– und genau diese kognitive Architektur Carl Sterns geriet in beträchtlichen<br />
Widerspruch zu den manifest fragmentierten und ausdifferenzierten Organisationsformen<br />
in Berkeley. Wegen dieser dauerhaften Diskrepanzen sollte Stern in<br />
Berkeley nie sein wissenschaftliches Potential verwirklichen können. Es muß an<br />
dieser Stelle erwähnt werden, daß in den späten 1980er und den frühen 1990er<br />
Jahren die University of California ihre allzu verteilte und zu stark differenzierte<br />
Grundstruktur innerhalb der Biologie als Qualitätsproblem erkannte. Und so<br />
wurde der gesamte Bereich der biologischen Wissenschaften restrukturiert und<br />
54 ÖZG 11.2000.1
in diesem Prozeß mehr als ein Dutzend Institute aufgelöst. Nach Jahren der<br />
Rekonfigurationen innerhalb der Biologie weist Berkeley heute ein weitaus ’ integrierteres‘<br />
Biologie-Programm und eine Grundstruktur auf, welche ein hohes<br />
Potential <strong>für</strong> große Durchbrüche und Entdeckungen in der Zukunft birgt.<br />
Differenzierung, Größe und Bürokratisierung stellen jene hauptsächlichen<br />
Schlüsselfaktoren dar, welche speziell die organisatorische Flexibilität einengen<br />
und behindern. Die Wissenschaften und ihre Erkenntnisfortschritte sind<br />
durch überaus dynamische Prozesse charakterisiert. Und dies wiederum bedeutet,<br />
daß Forschungseinrichtungen, wollen sie sich diesen schnellen Veränderungen<br />
erfolgreich anpassen, über hochflexible Strukturen verfügen müssen. Genau<br />
diese Flexibilität in den Anpassungen an die kognitiven Umbrüche und Neustrukturierungen<br />
bildet das Potential, aus dem später die großen Entdeckungen<br />
werden. Ein Mangel an Flexibilität stellt das Grundproblem an den meisten medizinischen<br />
Fakultäten innerhalb der Vereinigten Staaten dar. Als eine große<br />
Anzahl dieser medizinischen Fakultäten gegründet wurde, wurden sie von den<br />
klinischen Wissenschaften dominiert, speziell von den Instituten <strong>für</strong> Medizin<br />
und <strong>für</strong> Chirurgie. Die meisten medizinischen Fakultäten wurden scharf zwischen<br />
klinische Wissenschaften und Grundlagenforschung getrennt. Aus diesem<br />
Grunde erwies es sich <strong>für</strong> die meisten dieser grundlagenorientierten Institute<br />
innerhalb der medizinischen Fakultäten als äußerst schwierig, jene Autonomie<br />
und organisatorische Umgebung zu erhalten, die <strong>für</strong> große Durchbrüche und<br />
herausragende Arbeiten notwendig ist. Obschon sich über die Jahre die medizinischen<br />
Fakultäten an den <strong>Universität</strong>en von Michigan, Minnesota, Pennsylvania<br />
oder Wisconsin als sehr stark oder als qualitativ hochwertig innerhalb der<br />
klinischen Wissenschaften auswiesen, so haben sie doch im zwanzigsten Jahrhundert<br />
keine oder ganz wenige Spuren im Bereich der großen biomedizinischen<br />
Durchbrüche hinterlassen.<br />
Die University of Chicago stellt den Fall einer sehr prestigeträchtigen Einrichtung<br />
dar, welche im Bereich der Chemie, der Physik, aber auch der Ökonomie<br />
große Beiträge zum Wissensfortschritt geliefert hat. Und doch zeigt sich der<br />
Beitrag dieser <strong>Universität</strong> innerhalb der Biomedizin von einer vernachlässigbaren<br />
Größe. Interessant wird der Fall der University of Chicago noch dadurch,<br />
daß sie von ihrer Grundstruktur her eigentlich große biomedizinische Durchbrüche<br />
hätte ermöglichen sollen. Und so zeigt das Beispiel von Chicago, daß<br />
neben einer passenden Organisation auch die dazugehörigen kognitiven oder<br />
biomedizinischen ’ Landkarten‘ stimmen müssen: ohne stimmige ’ kognitive Karten‘<br />
keine spektakulären Entdeckungen. Die University of Chicago besitzt zwar<br />
im Unterschied etwa zum Rockefeller-Institut oder zu Cal Tech akademische<br />
Institute, doch im Gegensatz zu den meisten Forschungsuniversitäten sind die<br />
gesamten biomedizinischen Wissenschaften innerhalb einer Großabteilung <strong>für</strong><br />
Biologie unter der Führung einer einzelnen Person zusammengefaßt. Anders<br />
ÖZG 11.2000.1 55
ausgedrückt, erweisen sich die biologischen Wissenschaften bei weitem nicht so<br />
fragmentiert und ausdifferenziert wie an den meisten großen Forschungsuniversitäten.<br />
Warum verzeichnete dann aber die University of Chicago längerfristig<br />
nicht mehr spektakuläre Durchbrüche in der Biomedizin Die Antwort ist<br />
dreigeteilt, denn sie liegt (1) in unpassenden ’ kognitiven Landkarten‘, (2) in<br />
organisatorischen ’ Trägheiten‘ sowie (3) in der Dominanz von Einzelinteressen.<br />
Die University of Chicago schuf schon in sehr frühen Zeiten ein starkes<br />
Programm <strong>für</strong> den Bereich der Biologie, doch im Unterschied zur Ausrichtung<br />
am Cal Tech besaß dieses Programm keine starke Grundlage in der Genetik.<br />
Es gab sogar starke Vorbehalte gegen jene Art der Genetik, wie sie von Morgan<br />
und seinem Team an der Columbia University und später am Cal Tech<br />
betrieben und weiterentwickelt wurde. Als Sewall Wright, der herausragende<br />
Populationsgenetiker, auf die <strong>Universität</strong> von Chicago berufen wurde, rief er<br />
eine Stiftung <strong>für</strong> Genetik ins Leben, die aber nicht so unmittelbar zur Entwicklung<br />
der Molekulargenetik beitrug wie das Cal Tech-Programm. Darüber<br />
hinaus fand Sewall Wright oder der Bereich der Genetik allgemein von den<br />
meisten seiner Biologie-Kollegen nicht die nötige Unterstützung. 14 Doch als<br />
der Erkenntnisfortschritt in der Biomedizin sich immer stärker in Richtung<br />
Genetik hinbewegte, wies die <strong>Universität</strong> Chicago zwar eine große Anzahl beeindruckender<br />
Biologen auf, die aber allesamt einem Programm aus früheren<br />
Zeiten nachhingen. Aus diesem Grunde hatte Chicago bedeutende Schwierigkeiten,<br />
sich den neuen Gegebenheiten in der Genetik anzupassen und sich wieder in<br />
eine Führungsposition innerhalb der Biologie zu katapultieren. Es sollte aber<br />
noch schlimmer kommen. Als Frank Lillie, eine der unbestrittenen Leuchten<br />
innerhalb der seinerzeitigen Biologie, in den frühen dreißiger Jahren als Leiter<br />
der Biologischen Abteilung zurücktrat, kamen die biologischen Wissenschaften<br />
zunehmend unter die Dominanz von klinischen Forschern in der medizinischen<br />
Fakultät. Es fehlte plötzlich jede Leitung mit entsprechendem Sensorium <strong>für</strong> die<br />
weitere Dynamik in der Biomedizin. Und mit der zunehmenden Unterordnung<br />
der Biologie unter die klinischen Wissenschaften waren auch keine Anreize mehr<br />
gegeben, mehr Integration oder mehr an Interdisziplinarität in die biologische<br />
Grundlagenforschung zu bringen.<br />
Strategien <strong>für</strong> große Forschungseinrichtungen <strong>für</strong> ein ’ gekoppeltes Wachstum‘ von<br />
Vielfalt und Tiefe einerseits und wissenschaftlicher Integration andererseits<br />
Eine weitere Gruppe von Ergebnissen unserer Studie befaßt sich mit verschiedenen<br />
Strategien <strong>für</strong> Großforschungseinrichtungen, mehr an Vielfalt und Tiefe<br />
zu erreichen, ohne sich notwendigerweise in mehr Abteilungen aufzuspalten.<br />
14 Vgl. William B. Provine, Sewall Wright and Evolutionary Biology, Chicago 1986.<br />
56 ÖZG 11.2000.1
Da immer wieder der Zusammenhang und Kreislauf von Größenwachstum,<br />
Differenzierung in mehr Abteilungen, erhöhte hierarchische und bürokratische<br />
Koordination sowie weniger soziale Integration und damit weniger an großen<br />
Durchbrüchen betont wurde, liegt das hauptsächliche Problem darin, wie große<br />
Forschungseinrichtungen auf neue Wissensfelder mit einer Zunahme an wissenschaftlicher<br />
Vielfalt und Tiefe, aber nicht an Größe reagieren können. Wir<br />
haben eine Reihe von interessanten Strategien gefunden, welche einzelne Forschungseinrichtungen<br />
einschlagen, von denen einige näher vorgestellt werden<br />
sollen: (1) eine Führung mit dem klaren Ziel, die Größe konstant zu halten<br />
und mehr Wissenschaftler mit wissenschaftlicher beziehungsweise disziplinärer<br />
Vielfalt zu rekrutieren, (2) der Aufbau eines speziellen Forschungsprogramms<br />
oder einer speziellen Abteilung innerhalb der biomedizinischen Wissenschaften,<br />
welche starke Anforderungen an die interdisziplinäre Zusammensetzung und<br />
an die erfolgreiche Integration stellen und damit zu einer interdisziplinären<br />
und integrierten Wissenschaftskultur führen, (3) die Schaffung eines kleinen<br />
interdisziplinären Forschungsinstituts innerhalb einer hoch differenzierten Forschungseinrichtung.<br />
Die erste Strategie in Richtung von mehr Vielfalt bei konstanter Größe<br />
wurde durch eine Reihe von privaten Forschungsuniversitäten eingeschlagen.<br />
Einige <strong>Universität</strong>en, welche als Stätten großer Durchbrüche seit dem Zweiten<br />
Weltkrieg in Erscheinung traten, kontrollierten effektiv ihr Größenwachstum.<br />
Ein wichtiges Beispiel wäre Cal Tech. Aber in <strong>Universität</strong>en mit einer klaren<br />
Institutsstruktur erweist sich diese Aufgabe als weitaus schwieriger, weil wissenschaftliche<br />
Institute die Tendenz haben, sich vor allem erweitert selbst zu<br />
reproduzieren. <strong>Universität</strong>s-Institute, welche Tiefe und Vielfalt innerhalb ihrer<br />
wissenschaftlichen Disziplin erhöhen wollen, versuchen in der Regel, neues<br />
Personal zu rekrutieren und damit größenmäßig zuzunehmen.<br />
Ein interessantes Gegenbeispiel wird durch Harvard markiert, wo eine der<br />
Hauptaufgaben des <strong>Universität</strong>spräsidenten seit den Tagen von James Conant<br />
darin besteht, ein ad hoc-Komitee an herausragenden Wissenschaftlern<br />
zusammenzustellen, um jede dauerhafte Anstellung in der Fakultät <strong>für</strong> Arts<br />
and Sciences zu evaluieren und zu genehmigen. Diese ad hoc-Komitees haben<br />
sich vielfach gegen die Beurteilung durch die jeweiligen <strong>Universität</strong>sinstitute<br />
gestellt, indem sie immer wieder ein massives Veto gegen ein dauerhafte Anstellung<br />
einlegten, die von den jeweiligen Instituten be<strong>für</strong>wortet worden waren.<br />
Dieser Prozeß, gegen die geschlossene Reproduktion von Instituten vorzugehen,<br />
hat im Gegenzug die Vielfalt erhöht und hat auf diese Weise die Flexibilität<br />
von Harvard gesteigert, sich auf die neuen wissenschaftlichen Herausforderungen<br />
einzustellen. Auf diese Weise hat Harvard einen gewichtigen komparativen<br />
Vorteil gegenüber anderen <strong>Universität</strong>en erlangt.<br />
Mit seiner Strategie schaffte es Harvard, langfristig hochqualifizierte Wis-<br />
ÖZG 11.2000.1 57
senschaftler auf dauerhafte Positionen zu setzen, welche auch dauerhaft an<br />
vorderster Front stehen. Wegen ihres hohen Status innerhalb von Harvard und<br />
der wissenschaftlichen Welt im allgemeinen gelang es den Harvard-Biologen<br />
in periodischen Abständen, sich in neue Abteilungen oder Institute zu rekonfigurieren.<br />
Über diese Flexibilität zur Schaffung neuer Institute vermochte<br />
es Harvard, sich den Strukturveränderungen und der Dynamik des wissenschaftlichen<br />
Fortschritts anzupassen. Ohne seine sehr strengen ad hoc-Komitees<br />
hätten die einzelnen Institute wesentlich höhere Chancen besessen, sich ge-<br />
’<br />
schlossen‘ zu reproduzieren, die biologischen Institute und Abteilungen wären<br />
wissenschaftlich entlang konservativerer Pfade gewandelt und hätten sich damit<br />
vielfältige Chancen und Potentiale versperrt, sich dem schnellen Tempo<br />
wissenschaftlicher Revolutionen strukturell anzupassen.<br />
Eine zweite Strategie besteht darin, entweder ein integriertes Programm<br />
aufzubauen, welches Aspekte der Vielfalt, Tiefe und der Integration in den<br />
Vordergrund rückt oder den Prozeß zunehmender Differenzierung dadurch aufzuhalten,<br />
daß innerhalb der einzelnen Institute dieselben Ziele verfolgt werden.<br />
Zwei Illustrationen dieser Strategien sind das Biologie-Institut am MIT und die<br />
Grundlagenwissenschaften an der University of California in San Francisco,<br />
beide die gegenwärtig führenden Forschungseinrichtungen in den Vereinigten<br />
Staaten, wenn nicht überhaupt der ganzen Welt.<br />
Ein dramatisches Beispiel, wie sich eine medizinische Fakultät zu transformieren<br />
vermag, liefert die Restrukturierung des Bio-Chemie-Instituts an der<br />
University of California in San Francisco, das in den 1960er Jahren primär<br />
durch seine Unauffälligkeit auffiel. Gegen Ende der 1960er Jahre rekrutierte<br />
die <strong>Universität</strong> einen neuen Institutsleiter, nämlich Bill Rutter von der University<br />
of Washington, und einen Stellvertreter, Gordon Tompkins, um das<br />
Bio-Chemie-Institut zu leiten. Sie änderten sofort den Institutsnamen in ein<br />
” Institut <strong>für</strong> Bio-Chemie und Bio-Physik“ und führten eine eigene Abteilung<br />
<strong>für</strong> Genetik ein. Rein von den Bereichen her vollzog sich ein hoher Anstieg<br />
an wissenschaftlicher Vielfalt. Rutter und Tompkins lösten das Problem von<br />
wissenschaftlicher Vielfalt und Integration, indem sie polyvalente‘ Personen<br />
’<br />
rekrutierten, die sich durch Spezialisierungen in mehreren Feldern auszeichneten<br />
und die zudem die Gabe besaßen, mit anderen Personen oder Teams gut<br />
zusammenarbeiten zu können. Diese Rekrutierungspraxis führte geradewegs<br />
dazu, die Vielfalt von Perspektiven zu erhöhen und auch Kommunikationsprozesse<br />
quer über unterschiedliche Disziplinen zu erleichtern. Und da dieses neue<br />
Institut mit den anderen Grundlagen-Instituten kooperierte, wurde der Begriff<br />
des eigenständigen Instituts selbst fragwürdig. Langsam verschwanden denn<br />
auch die Instituts- oder Abteilungsgrenzen innerhalb der dortigen Grundlagenforschung.<br />
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß sich an der<br />
UCSF innerhalb einer Periode von nur zwanzig Jahren gleich mehrere spek-<br />
58 ÖZG 11.2000.1
takuläre Durchbrüche ereigneten. Die ” große Vision“ von Bill Rutter, Harold<br />
Varmus, Michael Bishop, Bruce Alberts, Stanley Prusiner und anderen war ein<br />
direkter Angriff auf die ’ Departmentalisierung‘, die sich in den meisten amerikanischen<br />
medizinischen Fakultäten, aber auch an den meisten amerikanischen<br />
<strong>Universität</strong>en breitmachte. Die Strategie der medizinischen Fakultät an der<br />
UCSF zur Organisierung ihrer Grundlagenforschung sollte zu einem beneideten<br />
best practice-Fall avancieren, den andere medizinischen Fakultäten noch<br />
immer zu imitieren versuchen.<br />
Ein weiteres Beispiel <strong>für</strong> eine fundamentale Umwandlung stellt das Biologie-<br />
Institut am MIT dar, das vor den 1960er Jahren so durch Mittelmäßigkeit<br />
glänzte, daß es Gefahr lief, von der <strong>Universität</strong>sverwaltung überhaupt geschlossen<br />
zu werden. Doch die Ernennung von Salvadore Luria zum MIT-Professor<br />
brachte einen grundlegenden Wandel in den bisherigen Strategien mit sich.<br />
Denn Luria schloß sich schnell mit Boris Magasanik, der aus der medizinischen<br />
Fakultät von Harvard bestellt wurde, zu einem Team zusammen, und dieses<br />
neue Team begann sofort, ein neues integriertes Programm <strong>für</strong> die Ausbildung<br />
von College-Studenten zu entwickeln. Dieses Programm erwies sich als so erfolgreich,<br />
daß mehr und mehr Studenten sich da<strong>für</strong> entschieden – und dieser<br />
meßbare Erfolg führte seinerseits dazu, mehr Lehrpersonal aufzunehmen. In<br />
diesem Prozeß wurden dann zwei riskante strategische Entscheidungen getroffen.<br />
Erstens sollte der gesamte Bereich der Biologie über ein einziges Institut repräsentiert<br />
werden; und zweitens sollte dieses Institut nur solche hochrangigen<br />
Wissenschaftler aufnehmen, die erwiesenermaßen über hohe Kommunikationsund<br />
Interaktionskompetenzen verfügen. Und obschon zwei Forschungsinstitute,<br />
das Whitehead Institute und ein Krebsforschungsinstitut, in den nächsten<br />
Jahren an das Biologie-Department angebunden wurden, ist die grundsätzliche<br />
Strategie beibehalten worden. Weniger als sechzig Mitglieder sollten nach den<br />
bisherigen Rekrutierungskriterien die MIT-Biologie vorantreiben. Anders ausgedrückt,<br />
die MIT-Biologie wurde nicht in zahlreiche Institute unterteilt und<br />
aufgespalten. Und als bemerkenswert fällt auch auf, daß die Integration im Falle<br />
von MIT über ein integriertes Ausbildungsprogramm <strong>für</strong> College-Studenten<br />
vollzogen wurde, an dem aber viele Institutsmitglieder teilnahmen. Die Erfolgsgeschichte<br />
am MIT verdient auch deswegen Beachtung, weil normalerweise die<br />
Lehre als Barriere oder Hindernis <strong>für</strong> ein erstklassiges Forschungsprogramm<br />
wahrgenommen wird. Innerhalb nur kurzer Zeit avancierte aber das MIT ’ lehrinduziert‘<br />
zu einem Zentrum, an dem sich gleich eine Reihe von großen biomedizinischen<br />
Durchbrüchen ereignete. Heute weist allein dieses Institut vier<br />
Nobel-Preisträger aus – und der mittlerweile verstorbene Salvadore Luria war<br />
der fünfte Preisträger dieser Einrichtung.<br />
Eine dritte Strategie resultiert schließlich aus der Möglichkeit, ein kleines<br />
interdisziplinäres Forschungsinstitut oder ein ’ Zentrum‘ im Umkreis einer<br />
ÖZG 11.2000.1 59
<strong>Universität</strong> oder einer medizinischen Fakultät zu etablieren. Dieses Institut<br />
sollte großteils unabhängig agieren können und sollte vor allem auf den Dimensionen<br />
von ’ Vielfalt‘, ’ Tiefe‘, ’ Integration‘ hoch rangieren. Eine sehr große<br />
Forschungsuniversität, die University of Wisconsin, folgte mit der Etablierung<br />
eines Enzyme Institute und des McArdle Cancer-Instituts dieser Strategie sehr<br />
erfolgreich über mehrere Jahrzehnte hinweg. Beide waren kleine Institute, die es<br />
gestatteten, Forschung in einer grenzüberschreitenden, problemzentrierten Weise<br />
zu betreiben und auch die benötigten Infrastrukturen zu offerieren, damit<br />
Mitglieder aus sehr unterschiedlichen Disziplinen, die im übrigen voll auf diesen<br />
Instituten angestellt waren, intensiv und häufig zusammentreffen konnten. Wiederum<br />
wird der Hinweis wichtig, daß seit dem Jahre 1960 gleich mehrere große<br />
Entdeckungen an diesen beiden Instituten, nicht aber an den angestammten<br />
Instituten an der University of Wisconsin erreicht worden sind.<br />
Die schiere Existenz eines interdisziplinären Instituts kann naturgemäß<br />
die großen Entdeckungen und Durchbrüche nicht garantieren. In diesem Zusammenhang<br />
wird das McArdle Cancer Institute von besonderem Interesse,<br />
und zwar hinsichtlich seiner Leitung durch seinen langjährigen Direktor Harold<br />
Rausch. Obschon er selbst nicht als herausragender Wissenschaftler in<br />
Erscheinung trat, besaß Rausch ein außerordentliches Gespür <strong>für</strong> ’ kommende<br />
Richtungen‘ innerhalb der Wissenschaften, <strong>für</strong> singuläre wissenschaftliche Begabungen,<br />
<strong>für</strong> die Akquisition ausreichender Drittmittel <strong>für</strong> die Forschung und<br />
schließlich <strong>für</strong> die Schaffung einer zwar sehr kritischen und qualitätsbetonten,<br />
aber trotz alledem innovationsfreundlichen Arbeitsatmosphäre. Der Karriereweg<br />
von Howard Temin am McArdle Cancer Institute mag da<strong>für</strong> als beispielhaft<br />
gelten. Für beinahe zehn Jahre nach seiner Ankunft in Madison im Jahre 1959<br />
wurde Temin von prominenten Wissenschaftlern quer durch die USA sehr heftig<br />
da<strong>für</strong> kritisiert, einen völlig falschen Weg einzuschlagen. Aber Rausch hielt<br />
seine schützende Hand über Temin und unterstützte seine Arbeit weiterhin.<br />
Hätte sich der vielgeschmähte Temin in einem Institut auf einer der großen<br />
staatlichen <strong>Universität</strong>en aufgehalten, wäre ihm wahrscheinlich eine Dauerstellung<br />
verwehrt worden. In den Jahren 1969 und 1970 veröffentlichte Temin einige<br />
klassisch gewordene Arbeiten auf dem Gebiet der Erforschung von Retroviren,<br />
die bald darauf in der Verleihung eines Nobel-Preises <strong>für</strong> Medizin beziehungsweise<br />
Physiologie mündeten. Die Führungsrolle von Harold Rausch erwies sich<br />
als wichtig nicht nur im Fall von Howard Temin, sondern auch <strong>für</strong> andere<br />
Wissenschaftler innerhalb der McArdle-Laboratorien, die große Durchbrüche<br />
während seiner Direktionszeit verzeichneten.<br />
Die medizinische Fakultät der University of Washington in Seattle stellt<br />
ein interessantes Beispiel dar, wie es unter geeigneten Umständen möglich wird,<br />
eine neue Fakultät aufzubauen, die sich entlang der vordersten Linien der Forschung<br />
bewegt. Als die University of Washington ihre neue Fakultät kurz nach<br />
60 ÖZG 11.2000.1
dem Ende des Zweiten Weltkriegs begründete, stellte sich <strong>für</strong> sie das Problem<br />
der ’ organisatorischen Trägheit‘ noch nicht, das in der Regel die etablierte Forschungseinrichtungen<br />
in Mitleidenschaft zieht. Zur Gründungsphase der medizinischen<br />
Fakultät an der University of Washington waren die meisten medizinischen<br />
Fakultäten von Ärzten dominiert, die nur ein geringes Interesse <strong>für</strong><br />
die Forschung entwickelten, was im übrigen auch einer der Hauptgründe da<strong>für</strong><br />
war, warum medizinische Fakultäten in so geringem Ausmaß durch eigene Forschungsleistungen<br />
auffielen. Doch die medizinische Fakultät an der University<br />
of Washington besaß während ihrer ersten Startjahre kein eigenes Spital, und<br />
so mußten sich schon sach- wie gelegenheitsgedrungen die ersten Fakultätsmitglieder<br />
auf die Forschung verlegen. Darüber hinaus verfügte die medizinische<br />
Fakultät über eine herausragende Leitung in der Person von Edward Turner,<br />
der sowohl im Bereich der Lehre als auch der Forschung eine ’ Kultur der Exzellenz‘<br />
verankern wollte. Die meisten der Institutslehrstühle sowohl in den<br />
Grundlagen- als auch in den klinischen Wissenschaften waren mit ausgezeichneten<br />
Personen besetzt, die über ihre jeweiligen Fachgrenzen hinweg sehr kooperativ<br />
interagierten. Diese Wissenschaftskultur von konkurrierenden, aber<br />
auch kooperativen Instituten mit einer starken wechselseitigen Verpflichtung<br />
auf herausragende Forschung quer über die einzelnen Disziplinen hat bis zum<br />
heutigen Tag überdauert. Und da die Entwicklung der medizinischen Fakultät<br />
an der University of Washington hin zu einer allseits respektierten Einrichtung<br />
sich zur selben Zeit vollzog wie die Ausweitung der Forschungsmittel durch<br />
das National Institute for Health (NIH), stellte sich auch eine enge Verbindung<br />
zwischen der Fakultät und dem NIH her. Weil Washington eine relativ junge<br />
und forschungsorientierte Fakultät war und wenige Verantwortungen im klinischen<br />
Sektor aufwies, konnte sich ein enger Konnex zwischen den einzelnen<br />
NIH-Komitees und der medizinischen Fakultät herausbilden, der die Grundlage<br />
<strong>für</strong> die zahlreichen Aufträge <strong>für</strong> die forschungsorientierte Fakultät bildete.<br />
Bemerkenswert ist auch, daß sich eine größere Anzahl an spektakulären Durchbrüchen<br />
innerhalb der Biomedizin gerade in diesem setting vollzog. Darüber<br />
hinaus lassen sich auch zahlreiche Indikatoren da<strong>für</strong> finden, daß die biomedizinischen<br />
Wissenschaften an der University of Washington zu einem typischen<br />
Center of Excellence avanciert sind. Seit mindestens fünfzehn Jahren findet<br />
sich die medizinische Fakultät unter den ersten drei Forschungseinrichtungen<br />
innerhalb der Vereinigten Staaten mit den höchsten Forschungsaufträgen vom<br />
National Institute of Health. Und heute beherbergt diese Forschungseinrichtung<br />
gleich vier Nobel-Preisträger, wogegen sie im Jahr 1950 nur ein einziges<br />
Mitglied der in die National Academy of Sciences gebracht hatte. Gegenwärtig<br />
weist sie gleich mehrere Dutzende Mitglieder der Akademie auf.<br />
ÖZG 11.2000.1 61
Warum Forschungseinrichtungen und nicht Netzwerke<br />
Da Wissenschaftler ihre Kooperationen zunehmend in Netzwerken ausführen,<br />
die sich über mehrere Forschungseinrichtungen erstrecken, liegt die Frage nahe,<br />
warum die Aufmerksamkeit ausgerechnet auf das Innenleben solcher Institute<br />
gerichtet werden soll. Zwar stimmt es trivialerweise, daß praktisch alle<br />
Wissenschaftler in Netzwerke eingebunden sind, welche über das angestammte<br />
Institut hinausgehen. Doch in unserer Untersuchung von großen biomedizinischen<br />
Durchbrüchen im zwanzigsten Jahrhundert erfolgten nur einer oder zwei<br />
als direktes Resultat einer Netzwerk-Kooperation. Unsere Analysen von großen<br />
Durchbrüchen in Europa und den Vereinigten Staaten zeigen im allgemeinen,<br />
daß <strong>für</strong> das Gelingen großer Entdeckungen im Kooperationsverbund folgende<br />
Voraussetzungen gegeben sein mußten: eine intensive und häufige Interaktion<br />
zwischen den beteiligten Wissenschaftlern, disziplinäre Vielfalt der daran beteiligten<br />
Personen, kleine Gruppen. Denn aus der Vielfalt resultieren Spannungen,<br />
die sich in ’ kreativen Synthesen‘ äußern können. Und zudem muß diese Interaktion<br />
intensiv und häufig sein, etwas, das sich normalerweise nur im Falle von<br />
gemeinsamen Orten der Begegnung aufrechterhalten läßt.<br />
Man könnte auch auf Ausnahmen zu den soeben aufgestellten Verallgemeinerungen<br />
hinweisen, doch reproduzieren selbst diese Ausnahmen das bisher<br />
erläuterte Grundmuster. Eine mögliche Ausnahme, die sich aufdrängt, könnten<br />
die Arbeiten von Delbrück, Luria und Hershey sein, von Wissenschaftlern<br />
also, die mit Anstellungen in verschiedenen Forschungseinrichtungen gemeinsam<br />
mit dem Nobel-Preis <strong>für</strong> Physiologie beziehungsweise Medizin im Jahre<br />
1968 prämiert wurden. Gerade diese Wissenschaftlergruppe zeichnete sich aber<br />
durch sehr häufige und intensive Kontakte am Cold Spring Harbor Laboratory<br />
aus, wo sie sich jahraus und jahrein zu gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeit<br />
trafen. 15 Die meisten ihrer spektakulären Arbeiten entstanden, gerade weil sie<br />
sich an einem einzelnen konkreten Platz treffen konnten.<br />
Unsere Studie zeigt, daß äußerst prominente biomedizinische Wissenschaftler,<br />
beispielsweise Mitglieder der National Academy of Sciences, die aber nie<br />
persönlich an spektakulären wissenschaftlichen Durchbrüchen beteiligt waren,<br />
in Netzwerken engagiert waren, die gerade nicht diese häufigen und intensiven<br />
interdisziplinären Gesprächsrunden und Diskussionen vor Ort ermöglichten.<br />
Netzwerke können sich ja in zweierlei Richtungen ausbreiten; einmal in<br />
Richtung des Einschlusses von mehr und mehr Wissenschaftsdisziplinen und<br />
einmal in Richtung der Integration von weiteren Forschungseinrichtungen in-<br />
15 Vgl. N. Mullins, The Development of a Scientific Specialty. The Phage Group and the<br />
Origins of Molecular Biology, in: Minerva 10 (1972); E. P. Fischer u. C. Lipson, Thinking<br />
About Science. Max Delbruck and the Origins of Molecular Biology, New York 1988; S. E.<br />
Luria, A Slot Machine. A Broken Test Tube, New York 1984.<br />
62 ÖZG 11.2000.1
nerhalb desselben disziplinären Bereiches. Es scheint, daß hoch-produktive und<br />
sehr angesehene biomedizinische Wissenschaftler ohne große und nachhaltige<br />
Durchbrüche stärker in disziplinären Netzwerken engagiert waren und mit mehreren<br />
Kollegen außerhalb des eigenen Instituts, aber innerhalb ihres eigenen<br />
disziplinären Wirkungskreises zusammenarbeiteten.<br />
Es stimmt zwar, daß viele besonders produktive und herausragende Biologen<br />
zunehmend mehr an interdisziplinärer Arbeit mit Wissenschaftlern in<br />
anderen Forschungseinrichtungen verbringen. Gleichzeitig muß diese interdisziplinäre<br />
Arbeit, will sie als großer Durchbruch gelingen, von jener Art sein,<br />
wo die einzelnen Wissenschaftler Gelegenheit zu häufigen und intensiven Kontakten<br />
und zum Meinungsaustausch innerhalb ein und desselben Ortes haben.<br />
Diese Art der Zusammenarbeit findet zudem selten in großen Forschungseinrichtungen<br />
statt, die sich in der Regel durch stark akzentuierte disziplinäre<br />
und institutsspezifische Grenzziehungen auszeichnen. Eine Analyse von entsprechenden<br />
Daten aus der Science Policy Research Unit an der University of<br />
Sussex und dem Institute of Scientific Information in Philadelphia unterstützen<br />
unsere Ergebnisse hinsichtlich dieser Trends. 16<br />
Zusammenfassungen<br />
Forschungseinrichtungen mit immer wiederkehrenden großen wissenschaftlichen<br />
Durchbrüchen haben sich im Lauf der Analyse als jene herausgestellt, in denen<br />
sich ein hohes Ausmaß an Interaktionen von Wissenschaftlern aus sehr unterschiedlichen<br />
Gebieten vollzieht. Und gerade weil die biomedizinischen Felder<br />
im Lauf der Jahre zunehmend komplexer wurden, müssen sich innovative Forschungsorganisationen<br />
in diesem Bereich darauf einstellen, immer wieder neue<br />
Wissensfelder mit der notwendigen ’ Tiefe‘ zu inkorporieren sowie darauf zu achten,<br />
daß Wissenschaftler intensiv und häufig in wechselseitigen Kontakt und<br />
Austausch treten. Zudem bedarf es besonderer Vorsicht, daß die Einführung<br />
von mehr Wissensvielfalt und -tiefe mit einem hinreichendem Ausmaß von Integration<br />
dieser neuen Elemente einhergeht und nicht zu geschlossenen Ausdifferenzierungen<br />
führt. Denn sonst stellen sich nicht die erforderlichen häufigen<br />
wie intensiven horizontalen Interaktions- und Kommunikationsbeziehungen ein,<br />
die ja als Grundbedingungen <strong>für</strong> größere Durchbrüche oder nachhaltige Entdeckungen<br />
firmieren.<br />
Forschungsorganisationen mit einer größeren Anzahl von radikalen Durchbrüchen<br />
wiesen eine besondere Art der Führung auf. Genauer handelte es sich<br />
16 So D. Hicks u. J. S. Katz, Science Policy for a Highly Collaborative Science System, in:<br />
Science and Public Policy 23 (1996), 39–44; sowie J. S. Katz u. a., The Changing Shape of<br />
British Science, Brighton 1995.<br />
ÖZG 11.2000.1 63
um Leiter, welche (1) eine strategische große Vision“ zur Integration unter-<br />
”<br />
schiedlicher Gebiete besaßen sowie eine Konzentration auf spezielle Forschungsprobleme<br />
vornehmen konnten; (2) eine Fähigkeit zur Akquisition von Forschungsgeldern<br />
hatten; (3) das Talent <strong>für</strong> eine Personalrekrutierung quer über<br />
heterogene Problemfelder aufwiesen, so daß die einzelnen Forschungsgruppen<br />
über den momentanen Stand an wichtigen oder heißen‘ Problemfeldern sowie<br />
’<br />
über die Möglichkeiten der Problemlösungen und Machbarkeiten informiert waren;<br />
(4) die Balance zwischen rigoroser wissenschaftlicher Kritik innerhalb einer<br />
’ innovationsfreundlichen‘ Umgebung herstellen konnten. ’ Innovationsfreundlich‘<br />
wird hier als Mix‘ zweier unterschiedlicher Tätigkeiten verstanden: Auf der<br />
’<br />
einen Seite stehen klare Evaluationen und Review-Prozesse der wissenschaftlichen<br />
Arbeiten innerhalb der einzelnen Forschungsgruppen, auf der anderen<br />
Seite finden sich Merkmale wie Stimulierung neuer Ideen und Arbeitsbedingungen,<br />
ein sozial verträgliches‘ Klima, u. a.<br />
’<br />
Das Ausmaß an disziplinärer Verschiedenheit wie auch der Grad an Wis-<br />
’<br />
senstiefe‘ innerhalb einer gut integrierten Forschungsgruppe sorgen in der Regel<br />
<strong>für</strong> veränderte Problemperspektiven und verhindern auf diese Weise, daß gravierende<br />
Fehleinschätzungen passieren oder daß an trivialen Problemen gearbeitet<br />
wird. Letztlich bedarf es als Grundvoraussetzung <strong>für</strong> große Durchbrüche,<br />
daß Wissenschaftler an signifikanten Problemen werken, die sich im Prinzip als<br />
’ lösbar‘ herausstellen. Und je höher sich das Ausmaß an kognitiver Vielfalt und<br />
wissenschaftlicher Tiefe darstellt, desto höher sollte auch die Wahrscheinlichkeit<br />
da<strong>für</strong> sein, daß Wissenschaftler nicht in insignifikanten oder unlösbaren<br />
Arealen verweilen. Wenn Wissenschaftler in settings mit großer Vielfalt, Tiefe<br />
und mit vielfältigen horizontalen Interaktionsmöglichkeiten mit anderen, kom-<br />
’<br />
plementären‘ Forschergruppen arbeiten können, dann steigt auch die Wahrscheinlichkeit,<br />
daß sich die Qualität der Arbeiten verbessert und wechselseitig<br />
steigert. Und genau in diesem permanenten Ausgesetztsein‘ gegenüber ande-<br />
’<br />
ren Disziplinen und Paradigmen sollten sich die kreativen Lösungen entfalten<br />
und die Chancen <strong>für</strong> große Durchbrüche zunehmen. Forschung in einer interdisziplinären<br />
Umgebung an sich, ohne intensive und oftmalige Interaktionen<br />
zwischen den einzelnen Forschern und Forschergruppen, führt in der Regel zu<br />
keinen neuartigen Perspektiven und damit auch zu keinen großen Durchbrüchen<br />
oder nachhaltigen Entdeckungen.<br />
Veränderungen des biologischen oder des medizinischen Wissens bringen<br />
vielfältige Konsequenzen und Herausforderungen <strong>für</strong> die Vielfalt und die Tiefe<br />
von Forschungsorganisationen mit sich. Diese müssen sich ihrerseits an diese<br />
Veränderungen in Form neuer Schwerpunkte anpassen, wollen sie am kognitiven<br />
Puls der Zeit bleiben. Mit der Wissensexpansion treten immer neue Disziplinen,<br />
Sub-Disziplinen und weiterführende Spezialisierungen in Erscheinung –<br />
und damit entsteht auch Druck auf die einzelnen Forschungseinrichtungen, sich<br />
64 ÖZG 11.2000.1
diesen neuen Gebieten mit den passenden Schwerpunkten, Personen und kognitiven<br />
Tiefen anzunehmen. Auch führen neue Formen der Instrumentierung<br />
wie die Einführung von technologischen Systemen in der Regel zu zusätzlichem<br />
Personalaufwand. Aber die Aufnahme von neuen Personen, Talenten und der<br />
erforderlichen kognitiven Tiefe haben fast unausweichlich Vergrößerungen im<br />
Mitarbeiterstab solcher Forschungseinrichtungen zur Folge.<br />
Zuwächse an kognitiver Weite und Tiefe, wenn sie nicht entsprechend organisiert<br />
und integriert werden, können letztlich die Potentiale von Forschungseinrichtungen<br />
<strong>für</strong> große Durchbrüche begrenzen. Es scheint eine natürliche Tendenz<br />
da<strong>für</strong> zu geben, daß Wachstum an Disziplinen und kognitiver Tiefe zu<br />
mehr Differenzierung und zur Desintegration führt. Zudem erweisen sich diese<br />
Veränderungen oftmals von hierarchischen Koordinationen und Bürokratisierungsprozessen<br />
begleitet, welche ihrerseits einen negativen Impact <strong>für</strong> die<br />
Möglichkeit großer Durchbrüche und nachhaltiger Entdeckungen ausüben.<br />
Mit der zunehmenden Differenzierung von Forschungseinrichtungen in immer<br />
mehr Abteilungen und Unterabteilungen werden auch im Laufe der Zeit<br />
die Rekrutierung neuen Personals wie auch die Anwerbung zusätzlicher Forschungsmittel<br />
an die unteren Ebenen delegiert. Und weil akademischen Einrichtungen<br />
eine konservative Grundtendenz innewohnt, werden auch stärker<br />
Personen aufgenommen, welche eingefahrene Denkgewohnheiten reproduzieren<br />
und fortsetzen. Aus diesem Grund übt die Differenzierung einen tendenziell<br />
bremsenden Einfluß auf das Überschreiten disziplinärer Grenzziehungen und<br />
auf den Prozeß der wissenschaftlichen Integration aus, die sich ja gerade als<br />
so wichtig <strong>für</strong> die Entstehung großer wissenschaftlicher Durchbrüche herausgestellt<br />
haben.<br />
Konkret bedeuten die Zuwächse an Institutsgröße sowie die Dezentralisierung<br />
von Entscheidungen über Forschungsschwerpunkte und Personal auf<br />
die Ebenen von einzelnen Abteilungen auch die Herausbildung von mehr bürokratischen<br />
Abläufen und Budgetkontrollen. Mit der Formalisierung der internen<br />
Prozesse von Forschungseinrichtungen wie auch mit dem Anwachsen an<br />
struktureller Differenzierung nehmen auch die Häufigkeit und die Intensität der<br />
Beziehungen zwischen einzelnen Abteilungen und damit auch die soziale Integration<br />
ab. Damit kann zur bestehenden theoretischen Literatur zum Thema<br />
Organisationsdifferenzierung eine neue Einsicht hinzugefügt werden, wonach<br />
Größenwachstum zu Differenzierungen und damit zu einer geringeren Anzahl<br />
an größeren Durchbrüchen im Feld der biomedizinischen Wissenschaften führt.<br />
Zum Schluß möchten wir noch eine Frage aufwerfen, die erst in einer weiteren<br />
Stufe dieses Forschungsprojekts aufgenommen und untersucht werden<br />
wird, nämlich die Beziehungen zwischen der Forschungsorganisation und den<br />
konkreten settings von Forschungslaboratorien/Abteilungen einerseits mit den<br />
psychologischen wie kognitiven Aspekten von Kreativität auf der anderen Sei-<br />
ÖZG 11.2000.1 65
te. Das Problem, wie sich individuelle Faktoren mit den Merkmalen von Forschungsorganisationen<br />
binden und zusammenfügen, kann an dieser Stelle nicht<br />
mehr thematisiert werden. Einige der bisherigen Befunde legen es aber nahe,<br />
daß die besonderen Qualifikationen und Merkmale der einzelnen Forscher im<br />
Zusammenspiel und im ’ Konzert‘ mit der Forschungsorganisation untersucht<br />
werden müssen, wenn ein verbessertes Verständnis der Entstehungsgeschichte<br />
großer Durchbrüche erreicht werden soll. Organisatorische Eigenheiten stellen<br />
ein setting her, innerhalb dessen individuelle Charakteristika zur bestmöglichen<br />
Entfaltung gebracht werden können. Forschungsorganisationen mit ganz<br />
besonderen Eigenschaften ziehen häufig Forscher mit besonderen und komplementären<br />
Merkmalen an. Diese Wechselbeziehung führt unter anderem dazu,<br />
daß diese individuellen Merkmale, um eine Analogie in die Welt der Flora herzustellen,<br />
zu ’ wachsen‘, zu ’ blühen‘ und zu ’ gedeihen‘ beginnen. Die genauen<br />
Details zu diesen ’ Komplementärbeziehungen‘ von Forscher/innen und Organisationen<br />
warten aber noch, als zukünftiger ’ großer Durchbruch über große<br />
Durchbrüche‘, in den weiteren Etappen dieses Forschungsprojekts auf ihre ’ Entdeckung‘<br />
– oder ihre ’ Erfindung‘.<br />
66 ÖZG 11.2000.1
Jerald Hage<br />
Die Innovation von Organisationen und die<br />
Organisation von Innovationen<br />
” Weil“, sagt Löw, wenn man alles hat, dann hat<br />
”<br />
man eigentlich nichts. Dann hat man nur noch seine<br />
Wünsche. Ein normaler Mensch freut sich schon<br />
über eine neue Schöpfkelle.“<br />
Harry Mulisch, Die Prozedur<br />
Die ’ Entstehung des Neuen‘ spielt in der langen Geschichte der Organisationen<br />
stets eine doppelte Rolle; einmal als Innovationen innerhalb von bestehenden<br />
Organisationen, indem neuartige Eigenschaften oder Strukturen auftauchen<br />
und einmal als Schaffung von neuen Organisationstypen oder ’ Formen‘, wie<br />
sie im Verlauf der bisherigen Geschichte unbekannt waren. Die zweite Lesart<br />
wird im weiteren Artikel in den Hintergrund gedrängt und erst gegen Ende<br />
dieser Arbeit als eigenständiges Thema auftauchen, das erste Bedeutungsfeld<br />
wird hingegen im Zentrum stehen. Die Hauptfrage richtet sich nach jenen (im<br />
wesentlichen drei Kerngruppen von) Schlüsselfaktoren und Grundmustern, die<br />
<strong>für</strong> Innovationen in einem weiten Bereich von Organisationen – Unternehmen,<br />
wissenschaftliche Institute, Bürokratien oder verwandte Organisations-Formen<br />
– relevant werden. In einem zweiten Schritt unternimmt diese Arbeit einen Versuch,<br />
diese drei Faktorengruppen mit den bisherigen empirischen Erhebungen<br />
zum Konnex zwischen Innovation und Forschungsorganisation zu verbinden,<br />
um daraus einige generelle Erklärungsmuster <strong>für</strong> die Innovation von Organisationen<br />
und die Organisation von Innovationen zu gewinnen.<br />
Obwohl vielfach über das Fehlen von übersichtlichen Darstellungen einer<br />
Zusammenschau der Forschungsergebnisse aus Soziologie oder den historischen<br />
∗<br />
Dieser Text entstand als Collage‘ aus einer veröffentlichten und einer großen unveröffent-<br />
’<br />
lichten Arbeit des Autors zum Thema Organisation und Innovation‘. Der im Druck befindli-<br />
’<br />
che Artikel trägt den Titel Organizational Innovation and Organizational Change‘ und wird<br />
’<br />
im Annual Review of Sociology publiziert, die große unveröffentlichte Arbeit benennt sich<br />
’ Organization Innovation. Past, Present, and Future‘. Für die Collage‘ möchte ich mich bei<br />
’<br />
Karl H. Müller, der diese Kompilation bewerkstelligte und aus dem Englischen übersetzte,<br />
recht herzlich bedanken.<br />
ÖZG 11.2000.1 67
Sozialwissenschaften geklagt wird, liefert gerade die Analyse organisatorischer<br />
Innovationen eines jener Gegenbeispiele, wo sich über einen Zeitraum von rund<br />
dreißig Jahren konsistente Ergebnisse angesammelt und angehäuft haben, die<br />
in kompakter Form z. B. in zwei umfangreicheren Aufsätzen 1 rezipiert werden<br />
können. Diese Übersichten haben zwei Gruppen an innovationsrelevanten<br />
Schlüsselfaktoren in den Vordergrund gerückt, die unter die Bezeichnungen ” organische<br />
Struktur“ sowie ” Organisationsstrategie“ subsumiert werden können.<br />
Der vorliegende Beitrag möchte darüber hinausgehen und die Wichtigkeit einer<br />
dritten Gruppe von Faktoren betonen, die ’ Komplexität der Arbeitsteilung‘.<br />
Diese spezielle dritte Klasse von Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> Organisationsinnovationen<br />
wird systematisch den bislang angehäuften Fundus an relevanten ’ Generatoren‘<br />
<strong>für</strong> die ’ Entstehung des Neuen‘ erweitern und abrunden.<br />
Innovation und Unternehmens-Organisation: Eine Übersicht<br />
Gerade die Innovationsforschung ermöglicht es, obschon sie in den letzten Jahrzehnten<br />
nicht zum unmittelbaren Kernbereich der Soziologie oder der historischen<br />
Sozialwissenschaften zählte, eine Vielzahl von überaus praktischen und<br />
theoretischen Problemen zu bündeln und zu fokussieren. Hier seien nur einige<br />
wichtige Beispiele genannt. So gehört es zu den immens praktischen Problemen<br />
und Herausforderungen <strong>für</strong> einzelne Länder, Regionen oder Städte, entsprechende<br />
’ Innovationspolitiken‘ zu entwickeln, da die Entwicklung neuer Produkte,<br />
neuer Verfahren, neuer Designs, aber auch neuer Organisationsformen von<br />
immer größerer ’ Standortrelevanz‘ wird. In ähnlich praktischer Manier lassen<br />
sich Innovations-Fragen nach der organisatorischen ’ Struktur wissenschaftlicher<br />
Revolutionen‘, nach der Weiterentwicklung militärischer wie ziviler Technologien,<br />
nach der Schaffung neuer interdisziplinärer Programme im <strong>Universität</strong>sbereich<br />
2 oder nach grundlegenden Reformen des Wohlfahrtsstaates stellen.<br />
Es ist keine Übertreibung zu behaupten, daß sich in der Analyse von organisatorischen<br />
Innovationen die zentralen praxisrelevanten Probleme und Herausforderungen<br />
gegenwärtiger Gesellschaften spiegeln. Aber auch aus theoretischer<br />
Sicht eröffnet der Bereich der organisatorischen Innovationen eine große<br />
Zahl an interessanten Problemfeldern wie beispielsweise theoretische Fragen<br />
nach den generellen Bedingungen und Konturen gesellschaftlicher Entwicklung<br />
1 Fariburz Damanpour, Organizational Innovation. A Meta-analysis of Effects of Determinants<br />
and Moderators, in: Academy of Management Journal 34 (1991), 555–590, sowie Raymond<br />
Zammuto u. Edward O’Connor, Gaining Advanced Manufacturing Technologies Benefits.<br />
The Role of Organizational Design and Culture, in: Academy of Management Review 17<br />
(1992), 701–728.<br />
2 Vgl. dazu Peter Blau, The Organization of Academic Work, New York 1973.<br />
68 ÖZG 11.2000.1
und institutionellen Wandels, nach der Dynamik von Wissensgesellschaften 3<br />
oder nach der Integration von Mikro- und Makroniveaus. Aber das Thema<br />
der organisatorischen Innovationen führt auch von seinen angestammten Disziplinen<br />
her weit aus der Soziologie heraus, da sich mit diesem Problem auch<br />
neue ’ Arenen‘ der ökonomischen Forschung unter den Schlagworten von ” Nationalen<br />
Innovationssystemen“ 4 oder von ” endogenen Wachstumstheorien“ 5 ergeben.<br />
Und auch <strong>für</strong> Wirtschafts-, Wissenschafts- oder Sozialhistoriker bietet<br />
diese Literatur mannigfaltige Anregungen, historische Entwicklungsprozesse in<br />
die passenden innovationstheoretischen Grundbegrifflichkeiten zu kleiden und<br />
’ einzubetten‘.<br />
Trotz der scheinbar selbstverständlichen Wichtigkeit des Themas und trotz<br />
der Beliebtheit der Redeweise von den ” kreativen, flexiblen, lernenden Organisationen“<br />
hat sich das Thema der organisatorischen Innovationen nie in<br />
den Vordergrund der einschlägigen Handbücher und Kompendien geschoben. 6<br />
Und doch zeigt sich gerade an den Innovationen in klarer Weise, wie Organisationen<br />
auf technologische oder marktmäßige Herausforderungen reagieren<br />
können – und reagieren. 7 Speziell der technologische Fortschritt bildet in immer<br />
stärkerem Ausmaß die Basis <strong>für</strong> die Konkurrenzfähigkeit einzelner Staaten<br />
oder Regionen. Um nur ein konkretes Beispiel zu bemühen, kann auf Raymond<br />
Zammuto und Edward O’Connor verwiesen werden, die den empirischen Nachweis<br />
geliefert haben, daß die allermeisten Systeme ’ flexibler Produktion‘, die<br />
in den Vereinigten Staaten als organisatorische Innovation eingeführt worden<br />
sind, einen sehr geringen Effekt auf die betriebliche Flexibilisierung ausübten<br />
und daß nur die Hälfte dieser organisatorischen Innovationen imstande war,<br />
entsprechende Produktivitätsfortschritte zu erzielen. Eine solche im Kern ge-<br />
3 Vgl. hier nur Daniel Bell, The Coming of Post-Industrial Society, New York 1973, sowie<br />
Jerald Hage u. Charles Powers, Post-Industrial Lives, Newbury Park u.a. 1992.<br />
4 Vgl. Bengt-Ake Lundvall, Hg., National Systems of Innovation. Towards a Theory of Innovation<br />
and Interactive Learning, London 1992, oder Richard R. Nelson, Hg., National<br />
Innovation Systems. A Comparative Analysis, New York 1993.<br />
5 So beispielsweise bei Philip Romer, Increasing Returns and Long-Run Growth, in: Journal<br />
of Political Economy 94 (1986), 1002–1037; ders., Endogenous Technological Change, in:<br />
Journal of Political Economy 98 (1990), 71–102, sowie Robert Solow, Siena Lectures on<br />
Endogenous Growth Theory, Siena 1992.<br />
6 Im Bereich der Textbücher siehe u. a. Robert Daft, Organizational Theory and Design, St.<br />
Paul 1989; Richard Hall, Organizations. Structure and Process, 5. Aufl., Englewood Cliffs<br />
1991; Richard H. Scott, Organizations. Rational, Natural and Open Systems, 3. Aufl., Englewood<br />
Cliffs 1992.<br />
7 Vgl. dazu bes. Reuven Brenner, Rivalry. In Business, Science, Among Nations, Cambridge<br />
1987; Benjamin Gomes-Casseres, Group vs. Group. How Alliance Networks Compete, in:<br />
Harvard Business Review 92 (1994), 62–66, Ken Smith, Curtis Grimm u. Martin Gannon,<br />
Dynamics of Competitive Strategy, Newbury Park u.a. 1992; Jerald Hage, Hg., The Futures<br />
of Organizations, Lexington 1988.<br />
ÖZG 11.2000.1 69
scheiterte Innovationsstrategie stellt gravierende Fragen nach dem Warum und<br />
nach den langfristigen Entwicklungsperspektiven in den Vereinigten Staaten.<br />
Unternehmen haben zunehmend die Bedeutung des Faktors Innovation‘<br />
’<br />
und Innovationsfähigkeit‘ als zentrales Moment im globalen Wettbewerb er-<br />
’<br />
kannt. Ein relativ neuer Bericht des britischen Handelsministeriums stellte<br />
beeindruckende Zahlen <strong>für</strong> die Forschungs- und Entwicklungsausgaben größerer<br />
Unternehmen zusammen, die unabhängig von den einzelnen Ländern –<br />
Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Schweden, die Vereinigten<br />
Staaten – sich in ähnlichen Größenordnungen bewegten: Vier bis fünf<br />
Prozent des Umsatzes werden <strong>für</strong> Forschung und Entwicklung (F E) in den<br />
Sektoren Automobile und Flugzeugindustrie reserviert, fünf bis acht Prozent<br />
in den drei Segmenten von Halbleitern/Computern, Elektroindustrie und Chemie<br />
sowie zehn bis fünfzehn Prozent bei den Clustern‘ medizinische Geräte,<br />
’<br />
Pharma und Software. Allein im Jahr 1998 stiegen die F E-Ausgaben der dreihundert<br />
weltweit größten Unternehmen um 12,8 Prozent, wobei die stärksten<br />
Zuwächse bei den rund hundert größten amerikanischen Konzernen verzeichnet<br />
wurden. Selbst wenn dieser Wert einen statistischen Ausreißer‘ darstellen soll-<br />
’<br />
te, kann im Falle amerikanischer Unternehmen auf den langfristigen Trend seit<br />
1975 mit einem inflationsbereinigten Wachstum von rund vier bis fünf Prozent<br />
verwiesen werden. 8<br />
Im Rahmen der bisherigen Übersichten wurden zwei zentrale Gruppen von<br />
’ Determinanten‘ <strong>für</strong> organisatorische Innovationen in den Vordergrund gerückt.<br />
Auf der einen Seite steht die Wichtigkeit einer ’ organischen Struktur‘ 9 und<br />
auf der anderen Seite die Bedeutung von ’ Wertorientierungen‘ in Richtung auf<br />
Veränderungen und Restrukturierungen oder auf ’ hochriskante Strategien‘. In<br />
den letzten Jahren wurden vor allem zwei größere ’ Meta-Analysen‘ zu den allgemeinen<br />
Mustern in der Innovationsforschung von Organisationen – hier allerdings<br />
eingeschränkt auf den Unternehmensbereich – vorgenommen, die im<br />
weiteren detailliert ausgebreitet werden sollen.<br />
Die Übersicht von Fariburz Damanpour beinhaltet eine ’ Meta-Analyse‘<br />
von 23 Studien, in denen vier Typen an unterschiedlichen Rahmenbedingungen<br />
– Organisationstyp, Innovationstyp, Adaptionsstufe und Reichweite von<br />
Innovationen – konstant gehalten werden, um den Effekt unterschiedlicher<br />
Strukturen und Strategien auf die Innovationsraten abzuschätzen. 10 Auf der<br />
Seite der strukturellen Größen untersuchte Damanpour den Effekt der ’ Spezialisierung‘<br />
(Anzahl von Berufen), der ’ funktionellen Differenzierung‘ (Anzahl<br />
von Abteilungen, Untereinheiten, etc.), der ’ Professionalisierung‘ (Aus-<br />
8 Nähere Angaben dazu in Hage u. Power, Lives, wie Anm. 2, 32.<br />
9 So bei Tom Burns u. George M. Stalker, The Management of Innovation, London 1961.<br />
10 Es sei angemerkt, daß dieses ’ Kontrollieren‘ die allgemeinen Zusammenhänge nicht außer<br />
Kraft setzte, sondern lediglich in einigen Fällen die entsprechenden Parameterwerte reduzierte.<br />
70 ÖZG 11.2000.1
ildungsgrade) und einer neuen Größe, die als technische und jobrelevante<br />
’ Wissensressource‘ bezeichnet wurde. Die ersten drei Faktoren besaßen eine<br />
signifikante Beziehung mit den Innovationsraten, wobei sich die Spezialisierung<br />
als vergleichsweise stärkste Größe herausstellte. Der vierte Faktor, die technischen<br />
Wissensressourcen, repräsentiert spezielle Arten von Humankapital oder<br />
Expertise. 11 Auch hier konnte eine positive Beziehung festgestellt werden, obwohl<br />
wegen der geringen Anzahl an Fallstudien nur einige der Kontrollvariablen<br />
berücksichtigt werden konnten. Aber gerade dieser Zusammenhang erweist sich<br />
in Übereinstimmung mit einer ganzen Reihe von Studien über organisatorische<br />
Innovationen. In einer Serie von britischen und deutschen Firmenvergleichen 12<br />
ergab sich, daß Firmen relativ langsam in ihren innovativen Anpassungsleistungen<br />
agierten, wenn die erforderliche technische Expertise nicht oder nur<br />
in unzureichendem Ausmaß gegeben war. Zwei weitere strukturelle Größen,<br />
die Damanpour untersuchte, betrafen die Bereiche von Zentralisierung‘ und<br />
’<br />
’ Formalisierung‘. Zentralisierung besaß eine sehr robuste negative Beziehung<br />
mit Innovationsraten, wogegen der Bereich der Formalisierung beziehungsweise<br />
Bürokratisierung ein inhomogenes Bild ergab, das je nach Kontrollgrößen<br />
wechselte. Die zentrale Strategiegröße bildeten ’ Managementeinstellungen <strong>für</strong><br />
den organisatorischen Wandel‘, die im großen und ganzen eine positive Beziehung<br />
mit den Innovationen aufwiesen, obschon in einem geringeren Ausmaß als<br />
die Zentralisierung oder die Spezialisierung.<br />
In der Übersichtsstudie von Raymond Zammuto und Edward O’Connor<br />
wird das Schwergewicht auf die Einführung flexibler Fertigungsprozesse gelegt.<br />
Mit Bezugnahme auf Untersuchungen in Großbritannien, 13 Japan, 14 Australien<br />
15 und in den Vereinigten Staaten 16 werden die weiteren Zusammenhänge<br />
zwischen der Einführung flexibler Fertigung, Arbeitslosigkeit und Lebensstan-<br />
11 So in klassischer Weise Gary Becker, Human Capital, New York 1964, sowie Theodore<br />
Schultz, Investment in Human Capital, in: American Economic Review 51 (1961), 1–16.<br />
12 Zu finden beispielsweise in Hilary Steedman u. Karin Wagner, A Second Look at Productivity,<br />
Machinery and Skills in Britain and Germany, in: National Institute Economic<br />
Review (1987), 84–95, sowie dies., Productivity, Machinery and Skills. Clothing Manufacture<br />
in Britain and Germany, in: National Institute Economic Review (1989) , 40–57.<br />
13 Vgl. John Bessant, The Integration Barrier. Problems in the Implementation of Adavanced<br />
Manufacturing Technology, in: Robotica 3 (1985), 97–103; Ingersoll Engineers, The<br />
FMS Reports, Kempston 1984; Peter Primrose, The Effect of AMT Investment on Costing<br />
Systems, in: Journal of Cost Management for the Manufacturing Industries 2 (1988), 27–30.<br />
14 Vgl. Ramchandran Jaikuman, Postindustrial Manufacturing, in: Harvard Business Review<br />
6 (1986), 69–76.<br />
15 Vgl. James Fleck, The Employment Effects of Robots, in: Tom Lupton, Hg., Proceedings<br />
of the First International Conference on Human Factors in Manufacturing, Kempston 1984,<br />
269–277.<br />
16 Vgl. neben Ramchandran Jaikumar, Manufacturing, wie Anm. 14, auch Chris A. Voss,<br />
Implementation. A Key Issue in Manaufacturing Technology. The Need for a Field Study, in:<br />
Research Policy 17 (1988), 55–63.<br />
ÖZG 11.2000.1 71
dards untersucht. 17 Das Hauptargument dieser Übersicht liegt darin, daß eine<br />
’ organische Organisation‘ sowie eine risikoorientierte Unternehmensstrategie‘<br />
’<br />
die besten Voraussetzungen <strong>für</strong> eine erfolgreiche Implementierung flexibler Fertigungstechniken<br />
darstellen, so daß die beiden vorrangigen Ziele einer Erhöhung<br />
in der Produktivität wie auch im Flexibilisierungsgrad erreicht werden können.<br />
Im Unterschied zur Studie von Damanpour ist die Untersuchung bei Zammuto<br />
und O’Connor qualitativ gehalten, aber sie besitzt den Vorteil, eine Reihe<br />
weiterer technologieorientierter Analysen berücksichtigen zu können, die nicht<br />
in die Damanpour-Studie aufgenommen werden konnten.<br />
Innerhalb ihrer Übersichtsanalyse erwähnen die beiden Autoren auch die<br />
Wichtigkeit des Faktors berufliche Komplexität‘, ein typisches Charakteristi-<br />
’<br />
kum einer neuen Form der Arbeitsteilung. Ihr Argument, wonach komplexere<br />
Berufe im Produktionsbereich innerorganisatorische Lernprozesse erleichtern,<br />
ähnelt der schon thematisierten Behauptung von der Wichtigkeit der Expertise<br />
und spezieller, weil professioneller Kompetenzen des Humankapitals‘. Diese<br />
’<br />
Wichtigkeit von komplexen Berufs-Profilen als erforderlicher Unterbau‘ <strong>für</strong> or-<br />
’<br />
ganisatorische Innovationen und <strong>für</strong> die Adaptierung neuer Technologien wird<br />
auch in einer Reihe von vergleichenden Unternehmensstudien unter Beweis gestellt,<br />
die aber nicht in die Untersuchung von Zammuto und O’Connor aufgenommen<br />
wurden. 18 So übt beispielsweise der deutsche Vorarbeiter Tätigkeiten<br />
aus, die in britischen Fabriken von mehreren Personen wahrgenommen werden.<br />
Dazu gehören die Verantwortung <strong>für</strong> die Qualitätskontrolle‘ ebenso wie Ablauf-<br />
’<br />
und Zeitentscheidungen über die Produktion, allesamt im übrigen Bereiche, die<br />
in amerikanischen Firmen dem Management oder den Technikern vorbehalten<br />
bleiben. Komplexere Berufe auf der untersten Ebene der Produktions- und<br />
Herstellungsprozesse selbst gingen im deutschen Fall mit einer viel größeren<br />
Flexibilität innerhalb der Beschäftigten wie auch mit der Fähigkeit <strong>für</strong> kun-<br />
’<br />
dennahe‘ Produkte einher. Deutsche Arbeiter waren in der Lage, ihre Maschinen<br />
selbständig zu reparieren, waren auch <strong>für</strong> ihre Instandhaltung verantwortlich<br />
und vermochten auf diese Weise, das Potential solcher Technologien voll<br />
17 Ein Hauptproblem der Untersuchung lag allerdings in der nur teilweisen Implementierung<br />
flexibler Fertigungstechniken. Denn wenige amerikanische Firmen erhöhten über diese organisatorische<br />
Innovation das Ziel höherer Flexibilität, und nur etwa die Hälfte verzeichneten<br />
einen Anstieg in ihrer Produktivität. Vor dem Hintergrund der Arbeiten von Piore und Sabel<br />
(Michael J. Piore u. Charles F. Sabel, The Second Industrial Divide. Possibilities for Prosperity,<br />
New York 1986) über die ’ zweite industrielle Revolution‘ fällt dieses Resultat doch<br />
einigermaßen störend und beunruhigend aus.<br />
18 Dazu zählen beispielsweise S. J. Prais, Hilary Steedman, Vocational Training in France<br />
and Britain in the Building Trades, in: National Institute Economic Review (August 1986);<br />
dies., Productivity and Vocational Skills in Britain and Germany. Hotels, in: National Institute<br />
Economic Review (November 1989), sowie Hilary Steedman, Geoff Mason u. Karin<br />
Wagner, Intermediate Skills in the Workplace. Deployment, Standards and Supply in Britain,<br />
France and Germany, in: National Institute Economic Review (Mai 1991).<br />
72 ÖZG 11.2000.1
auszuschöpfen. Dies vermag zum Großteil zu erklären, wie man im Kontext<br />
fortgeschrittener und hochentwickelter Produktionstechnologien Zuwächse an<br />
Produktivität wie auch an Flexibilität erzielen kann. Bei diesem Befund muß<br />
allerdings zugegeben werden, daß es sehr schwierig ist, die überlegene Form<br />
der technischen Ausbildung in Deutschland von den komplexen Berufs- und<br />
Tätigkeitsprofilen zu trennen, weil gerade im deutschen Fall beide Prozesse<br />
sich wechselseitig bedingen.<br />
Eine Studie aus dem Ende der achtziger Jahre 19 über die verschiedenen<br />
Formen flexibler Produktionssysteme in einer Reihe von wirtschaftlichen Sektoren<br />
in den Vereinigten Staaten erhärtet nochmals den Befund, daß solche<br />
flexiblen Produktionsformen dann erfolgreich adaptiert werden konnten, wenn<br />
sich die Berufsprofile innerhalb der Unternehmen als hinreichend komplex ausgewiesen<br />
haben. In dieser Untersuchung wurde das Ausmaß an Verschiedenheit<br />
von beruflichen Spezialisierungen als Komplexitätsmaß eingeführt und zudem<br />
der bisherige Stand an Automatisierung ’ kontrolliert‘, was im übrigen kaum<br />
eine der bisherigen Studien konsequent durchgeführt hat. Eines der beiden<br />
Hauptresultate aus der Untersuchung war zu erwarten: Je höher der ohnehin<br />
schon bestehende Automatisierungsgrad lag, desto geringer fiel die Bewegung<br />
in Richtung noch größerer Automatisierung aus. Aber das unerwartete zweite<br />
Hauptergebnis lag darin, daß auf den hohen Automatisierungsniveaus die berufliche<br />
Komplexität einen ’ Multiplikator-Effekt‘ <strong>für</strong> die weitere Anpassung in<br />
Richtung flexibler Produktionsprozesse ausübte.<br />
Zammuto und O‘Connor 20 erweiterten auch das Moment der ’ Dezentralisierung‘,<br />
indem sie die Wichtigkeit der Partizipation von Arbeitern in der Phase<br />
von Implementierungsprozessen betonen, sie erklären jedoch nicht, warum eine<br />
solche Beteiligung vorteilhafte Ergebnisse zeitigt. Gerade dieser Punkt verdeutlicht,<br />
daß ’ organische‘ betriebliche Strukturen – Dezentralisierung, horizontale<br />
Kommunikation und wechselnde Führungsrollen – Prozesse der Einführung<br />
neuer Technologien sehr erleichtern. Denn ’ organische Unternehmensstrukturen‘<br />
gestatten es, das inhärente Potential an Fähigkeiten, Begabungen und Expertisen<br />
zur Entfaltung zu bringen. Dies verdeutlicht auch ein Vergleich von amerikanischen<br />
und japanischen Industrien in einer Reihe verschiedener Branchen 21<br />
wie auch die Studie von Richard Walton 22 über die Einführung von Innovationen<br />
im Bereich der Schiffahrtsindustrien von Großbritannien, Deutschland, Japan,<br />
Norwegen und den Vereinigten Staaten. Die beständigen Produktivitäts-<br />
19 Paul Collins, Jerald Hage u. Frank Hull, Organizational and Technological Predictors of<br />
Change in Automaticity, in: Academy of Management Journal 3 (1987), 512–543.<br />
20 Vgl. Zammuto u. O’Connor, Gaining, wie Anm. 1, 717.<br />
21 Vgl. Jaikumar, Manufacturing, wie Anm. 14.<br />
22 Richard Walton, Innovating to Compete. Lessons for Diffusing and Managing Change in<br />
the Workplace, San Franciso 1987.<br />
ÖZG 11.2000.1 73
zuwächse bei inkrementalen Prozeßinnovationen durch die Organisation von<br />
’ Qualitätszirkeln‘ stützen diesen generellen Befund zusätzlich ab.<br />
Eine der großen Schwächen in den unterschiedlichsten Untersuchungen<br />
über die Zusammenhänge von Innovationen und Unternehmenszielen stellen<br />
die wechselhaften Definitionen des ’ Strategiekonzepts‘ dar. Was in den meisten<br />
Studien nicht explizit angesprochen wurde, das liegt im Grad der ’ Radikalität‘,<br />
den solche Strategien besitzen. Dieser Punkt ist umso bedauerlicher, weil in<br />
den Arbeiten von Michael Tushman und Paul Andersen 23 gerade diese Radikalität<br />
eine zentrale Rolle zu spielen scheint: So suchen sich dominante Firmen<br />
– Marktführer in ihren Bereichen – vornehmlich nicht-riskante Strategien aus,<br />
wogegen neue oder auch schwach positionierte Unternehmen weitaus häufiger<br />
riskante Strategien wählen.<br />
Obschon Damanpour sowohl, als auch Zammuto und O’Connor, verschiedene<br />
Aspekte von Arbeitsteilung als gewichtiges Element des Innovationsgrades<br />
von Organisationen betont haben, sind sie doch nicht zur Komplexität der Arbeitsteilung<br />
als der wichtigsten und kritischsten Innovationsgröße vorgestoßen.<br />
Vier der potentiellen sechs Faktoren bei Damanpour hatten direkt oder indirekt<br />
mit Arbeitsteilung zu tun: Spezialisierung, ’ Departmentalisierung‘, ’ Professionalisierung‘<br />
wie ’ technische Wissens-Ressourcen‘. Ein Schlüsselfaktor aus dem<br />
Bereich der Arbeitsteilung – ’ berufliche Komplexität‘ – fand sich in der Übersicht<br />
bei Zammuto und O’Connor. Aber keiner der Autoren hielt es <strong>für</strong> wert,<br />
beispielsweise das Vorhandensein einer eigenen Forschungs- und Entwicklungsabteilung<br />
als gewichtiges Merkmal komplexer Arbeitsteilungen ins Kalkül zu<br />
ziehen. Doch gerade das Ausmaß an innerbetrieblicher Forschung und Entwicklung<br />
sollte den offensichtlichsten Indikator <strong>für</strong> arbeitsteilige Komplexität und<br />
die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens darstellen. Dieser Punkt findet<br />
sich im übrigen auch im Rahmen der Arbeiten von Wesley Cohen und Daniel<br />
Levinthal 24 über die ’ Absorptionskapazitäten‘ von Unternehmen und im<br />
Kontext der mittlerweile vielfältigen Diskussionsstränge zu ’ lernenden Organisationen‘.<br />
Die Bedeutsamkeit des Faktors ’ komplexe Arbeitsteilung‘ kann nur<br />
angemessen eingeschätzt werden, wenn man solche Dimensionen wie eben das<br />
Ausmaß an innerbetrieblicher F E inkludiert.<br />
Ein sehr frühes Argument <strong>für</strong> die Wichtigkeit, arbeitsteilig ’ komplex‘ organisiert<br />
zu sein wurde vom Autor bereits 1965 25 formuliert und verweist darauf,<br />
daß eine komplexe Form der Arbeitsteilung ein deutlich höheres Maß an<br />
Adaptivität oder Flexibilität gegenüber Veränderungen in der Umgebung sol-<br />
23 Vgl. Michael Tushman u. Paul Andersen, Technological Discontinuities and Organizational<br />
Environments, in: Administrative Science Quarterly 31 (1986), 439–465.<br />
24 Vgl. Wesley Cohen u. Daniel Levinthal, Absorptive Capacity. A New Perspective on<br />
Learning and Innovation, in: Administrative Science Quarterly 35 (1990), 128–152.<br />
25 So schon sehr früh Jerald Hage, An Axiomatic Theory of Organizations, in: Administrative<br />
Science Quarterly 4 (1965), 289–320.<br />
74 ÖZG 11.2000.1
cher Organisationen bedingt. 26 Dieser Zusammenhang stützt sich auf mehrere<br />
unterschiedliche Argumentationsstränge: erstens auf den inversen Zusammenhang<br />
von arbeitsteiliger Komplexität und dem Zentralisierungs- und Formalisierungsgrad,<br />
d.h. dem Ausmaß an ’ Bürokratisierung‘; zweitens auf die Verschiebung<br />
in den strategischen Unternehmenszielen weg von reinen Effizienz-<br />
Kriterien in Richtung höherdimensionaler Bereiche. Beide Argumentationslinien<br />
werden noch durch weitere empirische Resultate verstärkt, beispielsweise<br />
durch eine (frühe) Studie des Autors und Michael Aikens, 27 wo die komparativen<br />
innerbetrieblichen Vorteile von Berufsprofilen <strong>für</strong> College-Absolventen aus<br />
unterschiedlichen kognitiven Feldern beschrieben werden. Eine solche hetero-<br />
gene Verteilung von Kompetenzen ist nämlich in der Lage, ein umfassenderes<br />
’ Monitoring‘ der betrieblichen Umwelt‘ durchzuführen – und dies sowohl in<br />
’<br />
Richtung neuer Problemlösungen als auch in Richtung von wahrscheinlichen<br />
Problemfeldern. Solche komplexen innerbetrieblichen Arbeitsteilungen gestatten<br />
auch ein weitaus komplexeres – und das heißt umfänglicheres – ’ Monitoring‘<br />
von innovativen Lösungen, von Lernpotentialen, von Fehlervermeidungen und<br />
anderen zentralen betrieblichen Aufgaben.<br />
Und warum sollte sich die komplexe Arbeitsteilung als vergleichsweise<br />
wichtiger herausstellen als die beiden anderen Faktorenbündel bei Fariburz Damanpour,<br />
nämlich die ’ organische Struktur‘ oder ’ hochriskante Unternehmensstrategien‘<br />
Nun, keine der beiden Faktorengruppen bezieht sich direkt oder<br />
indirekt auf die kognitiven Problemlösungsfähigkeiten oder die Lernkapazitäten<br />
innerhalb von Organisationen, 28 ganz zu schweigen von den inhärenten organisatorischen<br />
Kreativitätspotentialen. Die Integration verschiedenartiger heterogener<br />
Wissens- und Kompetenzkontexte gehört zu den Grundvoraussetzungen<br />
von jenen kreativen, komplexen und schnellen Problemlösungen, 29 wie sie im<br />
heutigen globalisierten Marktgeschehen immer stärker benötigt werden. 30<br />
’ Organische<br />
Strukturen‘ tragen dazu bei, diese Wissensformen zu mobilisieren und<br />
zu aktivieren. Strategien stellen Ziele und Motivationsanreize zur Fokussierung<br />
von Aktivitäten auf – und doch bildet das Verfügen über eine geeignete komplexe<br />
Wissensbasis erst die notwendige Voraussetzung, um solche innovativen<br />
Prozesse in Gang bringen zu können.<br />
An den beiden referierten Meta-Analysen fällt aber trotz des Fehlens der<br />
zentralen dritten Dimension die Kohärenz in der Art wie in der Richtung der<br />
26 Für eine neuere empirische Unterstützung dieser ” kühnen Vermutung“ vgl. u.a. Smith,<br />
Grimm u. Gannon, Dynamics, wie Anm. 7.<br />
27 So bei Jerald Hage u. Michael Aiken, Social Change in Complex Organizations, New York<br />
1970.<br />
28 Vgl. Cohen u. Levinthal, Absorptive Capacity, wie Anm. 24.<br />
29 So auch Smith, Grimm u. Gannon, Dynamics, wie Anm. 7.<br />
30 Vgl. ausführlicher Hage u. Powers, Lives, wie Anm. 3.<br />
ÖZG 11.2000.1 75
identifizierten Klassen von Schlüsselfaktoren ins Auge, welche <strong>für</strong> die Innovationsgrade<br />
von Firmen konstitutiv und bestimmend werden.<br />
Innovation und Forschungsorganisationen<br />
Die bisherigen Betrachtungen waren ausschließlich im Unternehmensbereich<br />
angesiedelt. Der bisherige ’ Dreitakt‘ von komplexer Arbeitsteilung, riskanten<br />
und komplexen Strategien und organischen Organisationskulturen als Garant<br />
<strong>für</strong> hohe Innovationspotentiale und hohe Innovationsgrade konnte sich empirisch<br />
auf sehr viele empirische Betriebs- und Managementanalysen gründen. In<br />
einem zweiten Schritt soll der bisherige Kernbereich verlassen werden und in<br />
ein anderes organisatorisches ’ Setting‘ gewechselt werden, nämlich weg von den<br />
Märkten und der Ökonomie und hin zur Wissenschaft.<br />
Im Kontext von ’ postindustriellen‘ oder von ’ wissensbasierten‘ Gesellschaften<br />
mit ihren hohen Raten an technischen Veränderungen und Produktinnovationen<br />
können ’ Forschungseinheiten‘ als die ’ Basiskomponenten‘ einer postindustriellen<br />
Wissens-Organisation bezeichnet werden. 31 Auf dem Mikro-Niveau<br />
solcher Forschungseinheiten existieren nun aber vielfältige Befunde der<br />
Wissenschaftsforschung, welche interessanterweise die bisherigen Innovations-<br />
Ergebnisse im Bereich der Unternehmen ergänzen, unterstützen und im wesentlichen<br />
zur selben Konfiguration an innovativen Schlüsselfaktoren führen.<br />
Eine herausragende Arbeit stellt dabei die Studie von Donald Pelz und<br />
Frank Andrews 32 dar, die zudem in einem eigenen Appendix den ’ persönlichen<br />
Faktor‘, nämlich die innovativen Fähigkeiten von Forschern und damit die individuelle<br />
Inputseite der Forschung zu kontrollieren suchte. Die beiden Autoren<br />
konstatieren, daß Wissenschaftler umso ’ produktiver‘ (Anzahl von publizierten<br />
Artikeln, von Forschungsberichten und anderem forschungsrelevantem Output)<br />
und ’ kreativer‘ (Qualität des wissenschaftlichen Outputs) operierten, wenn sie<br />
mit Forschern unterschiedlicher Richtungen und Perspektiven konfrontiert waren,<br />
an verschiedenartigen Forschungsprojekten arbeiteten und ihre Forschungen<br />
mit anderen Tätigkeiten wie Lehre aber auch Administration kombinierten.<br />
Der gemeinsame Nenner, der diese scheinbar heterogenen Ergebnisse in einer<br />
einheitlicheren Perspektive zusammenfaßt, könnte dann folgendermaßen formuliert<br />
werden: Wissenschaftliche Kreativität scheint mit dem Vorhandensein<br />
von komplexen kognitiven Strukturen zu wachsen. Anders ausgedrückt bedeutet<br />
eine komplexe Arbeitsteilung sowohl auf organisatorischer wie auf indivi-<br />
31 Ebd.<br />
32 Donald Pelz u. Frank Andrews, Scientists in Organizations. Productive Climates for Research<br />
and Development, 1. Aufl. New York 1966 (2. veränderte u. erw. Aufl. 1977).<br />
76 ÖZG 11.2000.1
dueller Ebene ein Mehr an ’ wissenschaftlicher Produktivität und Kreativität‘,<br />
obschon auf individuellem Gebiet diese Beziehung keine lineare zu sein scheint.<br />
Verschiedene Punkte lassen sich anführen, um dieses spezielle Ergebnis<br />
näher zu erläutern und abzustützen. Wahrscheinlich eines der erstaunlichsten<br />
Ergebnisse in der Arbeit von Pelz und Andrews liegt darin, daß Wissenschaftler<br />
weniger produzieren, wenn sie hundert Prozent ihrer Zeit der Forschung<br />
widmen können, als wenn sie nur zu achtzig Prozent mit Forschungsaktivitäten<br />
beschäftigt sind. Dieses Resultat erweist sich als hinreichend robust – es ist<br />
unabhängig vom Ort der Forschung, ob in der Industrie, an <strong>Universität</strong>en oder<br />
in staatlichen Stellen und auch unabhängig vom Typus der verbleibenden Aktivitäten.<br />
Ein anderes und speziell <strong>für</strong> das akademische Selbstverständnis mit<br />
seiner Betonung von der ’ Freiheit der Wissenschaften‘ gegenintuitive wie unbequeme<br />
Resultat liegt darin, daß volle akademische Freiheit sowohl die wissenschaftliche<br />
Produktivität – die Anzahl wissenschaftlicher Produktionen – als<br />
auch deren Kreativität – die Qualität des szientifischen Outputs – reduziert. 33<br />
Und so bindet sich denn auch im Bereich der Forschungsorganisation eine komplexe<br />
Arbeitsteilung innerhalb von Forschungseinrichtungen mit einem hohen<br />
Innovationsgrad im wissenschaftlichen Output.<br />
Zudem taucht in den Arbeiten von Pelz und Andrews ein Ergebnis auf, <strong>für</strong><br />
das schon die Folklore die geeigneten Redensarten in Gestalt von ’ Weniger ist<br />
besser‘ oder ’ Allzu viel ist ungesund‘ auf- und vorbereitet hat. Wissenschaftler,<br />
die sich in zu vielen Projekten engagieren oder sich allzu vielen und heterogenen<br />
Perspektiven aussetzen, weisen eine substantielle Reduktion sowohl in der<br />
Menge als auch in der Qualität ihrer wissenschaftlichen Arbeiten auf. Totaler<br />
Eklektizismus – das Bemühen, Elemente auch aus den kognitiv allerweitest<br />
entfernt liegenden Forschungsrichtung zu ’ integrieren‘, – scheint ebenso jenseits<br />
der kreativen Schwellenwerte zu liegen wie die völlig geschlossene Reproduktion,<br />
die sich in der Abwehr selbst des so naheliegenden Guten manifestiert.<br />
Es bedarf jedenfalls als Bedingung wissenschaftlicher Kreativität eines eigenen<br />
Standpunktes, einer ’ Eigen-Perspektive‘, einer Bereitschaft zu ’ konstruktivem<br />
Dialog‘ wie auch einer konstanten Bereitschaft zur Adaption, um kreative Leistungen<br />
auch zur Entfaltung zu bringen.<br />
Diese bisherigen Resultate gewinnen noch an Bedeutung, werden sie um die<br />
mikro- oder sozialpsychologischen Forschungen zur ’ Resistenz gegen Veränderungen‘<br />
erweitert. 34 Im allgemeinen wird in der entsprechenden ’ Bildungs-<br />
Literatur‘ schon seit Jahrzehnten der enge Zusammenhang von höherer Ausbil-<br />
33 Dieses Ergebnis scheint im übrigen noch immer von vielen professionellen akademischen<br />
Gesellschaften oder Assoziationen nicht hinreichend ernst genommen zu werden.<br />
34 Zu diesem Bereich vgl. Gerald Zaltman, Robert Duncan u. Jonny Holbek, Innovations<br />
and Organizations, New York 1973, 85–104 <strong>für</strong> die psychologische Theorie sowie Jerald Hage,<br />
Theories of Organizations. Form, Process, and Transformation, New York 1980, 224–239 <strong>für</strong><br />
die sozialpsychologische Seite.<br />
ÖZG 11.2000.1 77
dung und dem ’ Willen zum Wandel‘ hergestellt. 35 Aber es drängt sich noch ein<br />
anderer, gegenläufiger Konnex zwischen höherer Ausbildung und einer ’ Abneigung<br />
zu Wechseln‘ auf, der auch als ’ fortgeschrittene Sehschwäche‘ etikettiert<br />
werden könnte. Es wird in der Regel viel zu wenig berücksichtigt, daß der<br />
langjährige Ausbildungsprozeß im tertiären Bereich nicht nur ein entsprechendes<br />
Humankapital aufbaut, sondern jede Menge an kognitiven Routinisierungen<br />
und Standardisierungen mit sich bringt, welche an sich interessante Informationen<br />
von vorneherein ’ ausfiltern‘, andere Problemsichten versperren oder die<br />
Suche nach Alternativen gar nicht erst aktivieren. Und gerade diese Phänomene<br />
tragen ihren gewichtigen Teil dazu bei, daß Organisationen so träge auf<br />
den Wandel reagieren. In diesem Zusammenhang kann auch auf die Analysen<br />
von Chris Argyra und Donald Schoen 36 über einfaches und vernetztes Denken<br />
– ’ single loop‘ und ’ double loop-thinking‘ -verwiesen werden. Viele sind nur<br />
in der Lage, Probleme aus der Sicht jener Disziplin zu analysieren, in der sie<br />
ausgebildet wurden und erweisen sich als nicht imstande, ihre analytischen Modelle<br />
und ’ Rahmen‘ an neue Gegebenheiten anzupassen. Und so werden in einer<br />
Art ’ langerlernter Hilflosigkeit‘ Routinen und Heuristiken in Gang gesetzt, obwohl<br />
sie sich bekanntermaßen als ineffektiv erweisen und ins Leere gehen. Auch<br />
aus dieser Richtung erhält der Begriff der ’ kognitiven Komplexität‘ seine Berechtigung,<br />
um zwischen Personen zu differenzieren, die im Falle grundlegend<br />
neuer Herausforderungen auch mit grundlegend neuen Antworten – oder mit<br />
der versuchten ’ Wiederkehr von Gleichem‘ – reagieren.<br />
Da viele Wissenschaftler auch schon zur Zeit der ersten Studie von Donald<br />
Pelz und Frank Andrews aus dem Jahre 1966 in Teams arbeiteten, wurden auch<br />
die Konsequenzen der Teamarbeit wie auch der ’ Produktivitätszyklus‘ solcher<br />
Teams retrospektiv untersucht. Und hier fällt als wichtiges Ergebnis an, daß<br />
auch die Produktivität und die Kreativität innerhalb solcher Ensembles nach<br />
einer rund fünfjährigen Phase zu sinken beginnen. Einer der Gründe <strong>für</strong> diesen<br />
graduellen Niedergang liegt darin, daß die horizontale Kommunikation zwischen<br />
Teammitgliedern wie auch die vertikale Kommunikation mit dem Teamleiter<br />
nachläßt. Weiters wirkt sich die Tendenz in Richtung von vermehrter oder<br />
vertiefter Spezialisierung negativ aus, weil dadurch das Interesse an breiteren<br />
wie auch an teamspezifischen Fragestellungen abnimmt. Anders ausgedrückt<br />
ist die zeitliche Dauer solcher Teams mit Veränderungen in den individuellen<br />
Forschungsheuristiken ( ’ mehr Spezialisierung‘) und der internen Gruppenstrukturen<br />
( ’ weniger Kommunikation‘) verbunden. Dies wiederum führt vor Augen,<br />
daß ein moderater Wechsel in der personellen Zusammensetzung solcher Teams<br />
im Zeitablauf positive Konsequenzen mit sich bringen sollte. Und bei den bisherigen<br />
Resultaten spielt es keine Rolle, ob es sich um disziplinär zusammenge-<br />
35 Für eine Übersicht klassischer Arbeiten vgl. Hage u. Aiken, Social Change, wie Anm. 27.<br />
36 Chris Argyra u. Donald Schoen, Organizational Learning, Reading u.a. 1978.<br />
78 ÖZG 11.2000.1
setzte Gruppen oder um interdisziplinäre Teams handelt. Auch bei interdisziplinär<br />
arrangierten Ensembles lassen sich dieselben kognitiven wie kommunikativen<br />
Desintegrationsprozesse feststellen. Ohne zusätzlichen und neuen Input‘<br />
’<br />
von außen verwandeln sich diese Teams in ein Gehäuse disziplinärer – oder<br />
’<br />
interdisziplinärer – Hörigkeiten‘.<br />
Das Thema von kognitiven Strukturen‘ einer Wissensdisziplin, in die man<br />
’<br />
über ein Studium hineinsozialisiert‘ wird, kann um einen Schritt erweitert wer-<br />
’<br />
den, indem einschlägige wissenschaftshistorische Arbeiten – und hier speziell die<br />
Analysen von Terry Shinn37 – herangezogen werden. Bei Terry Shinn werden<br />
’ kühne Beziehungen‘ zwischen kognitiven und organisatorischen Strukturen in<br />
den Raum gestellt: In vornehmlich deduktiv organisierten Wissenschaftsfeldern<br />
wie beispielsweise der Physik tendiert auch die organisatorische Grundstruktur<br />
der entsprechenden Forschungseinheit dazu hierarchisch zu sein, in der beschränkte<br />
Kommunikation vornehmlich über vertikale Kanäle stattfindet. In<br />
dominant induktiven‘ Wissenschaftsfeldern wie beispielsweise den Computer-<br />
’<br />
wissenschaften scheint hingegen die Forschungsorganisation möglichst flach arrangiert<br />
zu sein und Kommunikationsprozesse sehr vielfältig und horizontal vor<br />
sich zu gehen. Eine wichtige Implikation dieser unterschiedlichen kognitiv- organisatorischen<br />
Strukturierungen liegt auch darin, daß verschiedene Disziplinfelder<br />
unterschiedliche Grade an Offenheit‘ gegenüber Veränderungen entwickeln.<br />
’<br />
’ Ältere‘ und stark organisierte Bereiche wie die Physik oder die Ökonomie zeigen<br />
eine starke Fokussierung auf ein spezielles Paradigma und damit erhöhte<br />
Resistenzen gegen neue Fakten. 38 Es versteht sich aber von selbst, daß über die<br />
Zusammenhänge und die möglichen ko-evolutiven Grundmuster von kognitiven<br />
und sozialen Organisationen ungleich mehr geforscht werden müßte als derzeit<br />
darüber vermutlich gewußt wird.<br />
Es gibt aber auch bedeutsame Verschiedenheiten in den individuellen Wis-<br />
’<br />
sensstilen‘ und in den persönlichen Offenheiten‘ im Informationsverhalten.<br />
’<br />
Einige Personen übernehmen die Rolle von Torwächtern‘ oder weniger de-<br />
’<br />
fensiv: von disziplinären Fensterguckern‘, welche aktiv nach neuen Informa-<br />
’<br />
tionen suchen und sie an andere Mitglieder der Profession‘ oder auch eines<br />
’<br />
Forschungslabors oder einer Forschungseinheit weitergeben. Daraus resultiert<br />
trivialerweise, daß die spezielle Art und Weise der kommunikativen Interaktion<br />
und der Informationsverbreitung einen gewichtigen Einfluß auf die kognitiven<br />
Routinen und Heuristiken der anderen Mitglieder einer Forschungseinheit<br />
ausübt. Und bislang noch sehr wenig untersucht und verstanden ist gene-<br />
37 Vgl. etwa Terry Shinn, Scientific Disciplines and Organizational Specialty. The Social<br />
and Cognitive Configuration of Laboratory Activities, in: Sociology of the Sciences 4 (1982),<br />
239–264.<br />
38 Zu diesem Punkt vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen,<br />
Frankfurt am Main 1973, sowie ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der<br />
Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 1978.<br />
ÖZG 11.2000.1 79
ell die Identifikation jener vielschichtigen Wissensstile und Rollenverteilungen,<br />
die speziell im Falle kreativer, innovativer wissenschaftlicher Problemlösungen<br />
benötigt werden. Louis Tornatsky und Mitchell Fleischer 39 legen in ihrer Zusammenschau<br />
über den Stellenwert von ’ Schlüsselrollen‘ ihr Hauptgewicht darauf,<br />
daß es ein differenziertes Rollenspiel zwischen ’ Fensterguckern‘ (<strong>für</strong> neue<br />
wissenschaftliche Ergebnisse, neue Produkte, neue Prozesse), ’ Ideengeneratoren‘,<br />
’ Problemlösern‘, ’ Produkt-Prozeß-Implementierern‘ und weiteren Rollen<br />
bedarf. Eine der interessantesten Rollenzuschreibungen liegt beispielsweise in<br />
der des F E-Strategen. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt verfügen wir über<br />
keine systematische Forschung über solche ’ wissenschaftlichen Entrepreneurs‘,<br />
die eine ’ große Vision‘ (Joseph A. Schumpeter) eines Forschungsprogramms sowie<br />
eine dynamische ’ Landkarte‘ mit neuartigen ’ Territorien‘ und ’ Forschungswegen‘<br />
entwickeln.<br />
Diese vielfältigen Untersuchungen im Feld der Wissenschaftsorganisation<br />
führen jedenfalls zu einer Reihe neuer Einsichten und Hypothesen, die in<br />
zukünftigen Analysen von Forschungsteams und Forschungseinheiten untersucht<br />
werden könnten – und sollten. Diese Ergebnisse legen es insgesamt nahe,<br />
daß Forschungsgruppen so zusammengesetzt sein sollten, daß die individuellen<br />
Forscher und Forscherinnen komplexe kognitive Strukturen aufweisen. 40<br />
Zumindest ein Gruppenmitglied sollte dabei spezielle Kenntnisse in der Informationsbeschaffung<br />
und im ’ Monitoring‘ neuer Informationen oder Wissenskomponenten<br />
besitzen, welche <strong>für</strong> die jeweilige Einheit als potentiell innovationsträchtig<br />
oder als kognitiv relevant gelten. Mit anderen Worten sollten Forschungseinheiten<br />
zumindest über einen kognitiven/innovativen ’ Fenstergucker‘<br />
verfügen. Im Zeitablauf sollten solche Forschungseinheiten einen graduellen<br />
Wechsel des Personals aufweisen, der grob den sich ändernden Forschungsprioritäten<br />
und Forschungszielen entsprechen sollte. Darüber hinaus müßten solche<br />
Forschungsteams mehrere distinkte kognitive Perspektiven und ’ Approaches‘<br />
aufweisen – und dies auch <strong>für</strong> den Fall, daß das Forschungsteam in einer einzelnen<br />
Disziplin beheimatet ist. Die wechselseitige ’ Befruchtung‘, das ’ Crossing<br />
over‘ von Ideen und Problemlösungen sollte sich in solchen Forschungseinheiten<br />
auf dreierlei Arten vollziehen: erstens über Kommunikations- und Austauschprozesse<br />
mit anderen Forschungseinheiten mit ähnlichen Zielsetzungen; 41<br />
zweitens über ’ verteilte‘ Entscheidungsprozesse innerhalb eines hochdimensionalen,<br />
komplexen Zielgefüges; und drittens über die Rekombination von For-<br />
39 Louis Tornatsky u. Mitchell Fleischer, The Processes of Technological Innovation, Lexington<br />
1990, 105–106.<br />
40 Zur Messung solcher ” komplexen kognitiven Strukturen“ vgl. auch den Artikel von Rogers<br />
J. Hollingsworth u. Ellen Jane Hollingsworth im vorliegenden Heft sowie die Studien des<br />
Autors im Kontext des gemeinsamen Projekts über Nobelpreisträger in der Bio-Medizin.<br />
41 Darin sollte im übrigen ein wichtiger Grund da<strong>für</strong> verborgen sein, warum Unternehmen<br />
mit hohen F E-Ausgaben über vergleichsweise höhere ’ Überlebenschancen‘ verfügen.<br />
80 ÖZG 11.2000.1
schungsaktivitäten mit anderen Arbeitsprozessen und damit auch mit anderen<br />
Denkstilen. Und schließlich läßt sich noch der funktionelle Bedarf nach<br />
’ Ideen-Generatoren‘ wie auch nach Problemlösern‘ anführen, der in solchen<br />
’<br />
innovativen Forschungsteams abgedeckt sein sollte, wollen sie ihre hohen Innovationspotentiale<br />
in vollen Zügen ausschöpfen.<br />
Innovation und Organisation: Eine Verallgemeinerung<br />
Die bisherigen Ausführungen erlauben es, ein generelleres Muster vorzuschlagen,<br />
das die Entstehung des Neuen‘ innerhalb von Organisationen reguliert und<br />
’<br />
steuert. So können nämlich jene drei großen Faktorenkomplexe aus dem Unternehmensbereich<br />
– komplexe Arbeitsteilung, riskante Strategien, organische<br />
’<br />
Strukturen‘ – generalisiert und zunächst auf vier unterschiedliche Organisationsformen<br />
– Unternehmen, wissenschaftliche Institute, Non-Profit-Organisationen<br />
und Bürokratien – ausgeweitet werden. In allen vier Bereichen sorgt, so die<br />
ihrerseits riskante Vermutung, ein spezifisches Zusammenspiel von komplexen<br />
Arbeitsteilungen, von riskanten Strategien wie auch von organischen‘ Organisa-<br />
’<br />
tionskulturen <strong>für</strong> schnelle und vielfältige Innovationen, während eine gegenläufige<br />
Zusammensetzung von einfachen Tätigkeitsprofilen, sicheren‘ und unterdi-<br />
’ ’<br />
mensionierten‘ Strategien42 wie auch von mechanischen‘ Merkmalen der Orga-<br />
’<br />
nisationsstrukturen wie beispielsweise einer hohen Standardisierung wenig Neues<br />
unter der organisatorischen Sonne hervorbringt. Für die nicht-innovatorische<br />
’ Beharrlichkeit‘ und Trägheit‘ von staatlichen Bürokratien scheint dieser inver-<br />
’<br />
se Zusammenhang hinreichend gesichert. Für den Unternehmensbereich wurde<br />
dieser Konnex über eine reichhaltige Palette an empirischen Studien und Ergebnissen<br />
aufgebaut. Für die Wissenschaften wurden ein solcher Zusammenhang<br />
über mehrere empirische Arbeiten und nicht zuletzt über die gemeinsamen Forschungen<br />
des Autors mit Rogers J. Hollingsworth und Ellen Jane Hollingsworth<br />
über die spektakulären bio-medizinischen Durchbrüche im zwanzigsten Jahrhundert<br />
festgestellt. Und die Inklusion von Non-Profit-Organisationen stützt<br />
sich unter anderem auf Studien über ihr Innovationsverhalten. Beispielsweise<br />
förderte eine Organisationsanalyse einer sehr großen <strong>österreichische</strong>n Non-<br />
Profit-Organisation im Innovationsverhalten genau jenes dreifache Faktorengerüst<br />
als Determinanten hoher Innovationsraten zu Tage. 43<br />
42 Als ” unterdimensioniert“ können Strategien dann qualifiziert werden, wenn sie (a) aus<br />
einem einzelnen Leitkriterium wie ’ Effizienz‘ oder ’ Gewinnmaximierung‘ bestehen oder (b) aus<br />
mehreren, aber ’ konservativen‘, ’ no change‘-Kriterien zusammengesetzt sind (z.B. Erhaltung<br />
von Marktanteilen, inkrementale Innovationen, etc.)<br />
43 Vgl. Giuseppe Colangelo, Bernhard Felderer, Maria Hofmarcher u. Karl H. Müller, Evaluationsstudie<br />
Österreichisches Rotes Kreuz, <strong>Wien</strong> 1998.<br />
ÖZG 11.2000.1 81
So wird schließlich ein genereller Überblick zum selbstähnlichen Format‘<br />
’<br />
dieser Faktorengruppe vermittelt, welche sich in scheinbar so unterschiedlichen<br />
Organisationsformen wie wirtschaftlichen Unternehmen, wissenschaftlichen Instituten<br />
oder Non Profit-Einheiten diesseits oder jenseits von Markt und Staat<br />
gleichermaßen manifestiert. Der Ausdruck der Selbstähnlichkeit‘, der ja aus<br />
’<br />
dem Bereich der Theorie dynamischer und komplexer Systeme stammt, 44 wurde<br />
hier nicht zufällig verwendet, denn es kann auf eine Reihe weiterer Merkmale<br />
hingewiesen werden, welche den dynamischen und hochkomplexen Kontext<br />
des Generalthemas von Innovationsprozessen innerhalb der organisierten<br />
’<br />
Welt‘ von Gesellschaften verdeutlichen. Denn neben der Selbstähnlichkeit‘, der<br />
’<br />
Wiederholung eines bestimmten Musters‘ oder Patterns‘ auf unterschiedlichen<br />
’ ’<br />
Ebenen, zeigen organisatorische Innovationen im Zeitablauf auch eine Reihe<br />
weiterer typischer komplexer und dynamischer Merkmale. Dazu gehören unter<br />
anderem<br />
’ Pfadabhängigkeiten‘ und Lock ins‘ – die praktische Unmöglichkeit von<br />
’<br />
Organisationen, einmal eingeschlagene Pfade‘ wieder zu verlassen und reversi-<br />
’<br />
bel zu gestalten;<br />
’ Sensitivitäten von Anfangsbedingungen‘ – die unter Umständen stark divergierenden<br />
Entwicklungspfade einzelner Organisationen bei scheinbar nahezu<br />
gleichen Startwerten‘;<br />
’<br />
’ Nicht-Linearitäten‘ – die mitunter ’ abrupten‘ und sprunghaften‘ Verände-<br />
’<br />
rungen innerhalb von Organisationen;<br />
’ Bewegungen fernab vom Gleichgewicht‘, der Pfeil‘ des organisatorischen<br />
’<br />
Innovationsverhaltens in Richtung des Aufbaus von mehr organisationsinterner<br />
Komplexität.<br />
Diese dynamische Eigenschaftspalette ließe sich noch um eine Reihe weiterer<br />
Merkmale vergrößern. 45 Aber mit und in solchen Charakteristika vollzogen<br />
sich in der Vergangenheit und gehen gegenwärtig wie auch in weiterer Zukunft<br />
jene Prozesse vor sich, die unter dem Generaltitel der Innovation von Organi-<br />
’<br />
sationen wie der Organisation von Innovationen‘ zusammengefaßt wurden.<br />
44 Vgl. zum Thema ’ Selbstähnlichkeit‘ Heinz-Otto Peitgen, Hartmut Jürgens u. Dietmar<br />
Saupe, Bausteine des Chaos. Fraktale, Berlin u.a. 1992, sowie Predrag Cvitanovic, Universality<br />
in Chaos, 2. Aufl., Bristol 1989.<br />
45 Vgl. dazu als Übersicht auch John H. Holland, The Global Economy as an Adaptive<br />
Process, in: Philip W. Anderson, Kenneth J. Arrow u. D. Pines, The Economy as an Evolving<br />
Complex System, Redwood City u.a. 1988, 117–124; ders., Keith J. Holyoak, Richard<br />
E. Nisbett u. Paul R. Thagard, Induction. Processes of Inference, Learning, and Discovery,<br />
Cambridge 1989, ders., Adaptation in Natural and Artificial Systems. An Introductory<br />
Analysis with Applications to Biology, Control, and Artificial Intelligence, Cambridge 1992,<br />
sowie ders., Hidden Order. How Adaptation Builds Complexity, Reading u.a. 1995.<br />
82 ÖZG 11.2000.1
Organisatorische Formen<br />
Schon in der Einleitung war von zwei großen Bedeutungsfeldern eines Artikels<br />
über ’ organisatorische Innovationen‘ die Rede, die einmal als interne Perspektive<br />
nach den innovativen Schlüsselfaktoren innerhalb bestehender Organisationen,<br />
einmal als Frage nach dem Wandel von Organisationsformen selbst auftritt.<br />
Und genau in dieser zweiten Sichtweise kann eine gewichtige weiterführende<br />
Problemstellung aufgerollt werden.<br />
Da wäre nämlich die Frage danach zu stellen, wie viele unterschiedliche<br />
’ Formen‘46 sich innerhalb der einzelnen organisationsökologischen ’ Nischen‘ versammeln.<br />
Und obschon eine rege Diskussion um die komparativen Vor- wie<br />
Nachteile von ’ Form-Veränderungen‘ und ihre Effekte auf die nachhaltige Überlebensfähigkeit<br />
von einzelnen Organisationen besteht, 47 lassen sich sehr wenige<br />
empirische Studien zu diesem Themenkomplex benennen. 48 Aber selbst die vorhandenen<br />
Arbeiten zum ’ Formwandel‘ stellten sich dem Thema nicht in jener<br />
Ausführlichkeit und Breite, die einem fundamentalen Wechsel von Technologien,<br />
Strukturen oder Kontrollen angemessen wäre.<br />
Tabelle 1: Die Organisation der Innovation in innovativen Organisationen: Drei<br />
Faktorgruppen, Dimensionen und mögliche Indikatoren<br />
A. Unternehmen<br />
I. Komplexität der Tätigkeiten: Vielfalt: (1) die Vielzahl von Unternehmens-Bereichen<br />
mit einer heterogenen Aufgaben- oder Kontrollpalette, (2) Anteile von Personen mit<br />
reichhaltigen Berufserfahrungen aus anderen Feldern; Wissensbasis: (1) ’ Tiefe‘ und<br />
(2) ’ Weite‘ an Expertise in jedem der relevanten Produktions- oder Service-Felder.<br />
Integrierte Aktivitäten und Operationen zwischen unternehmensspezifischen Bereichen:<br />
(1) die Häufigkeit und die Intensität von Interaktionen, (2) Gemeinsame Produktions-<br />
oder Service-Aktivitäten, (3) Vorhandensein einer interaktiven, kommunikationsfreundlichen<br />
’ Unternehmenskultur‘.<br />
46 Innerhalb eines der wichtigsten organisationssoziologischen Paradigmata, nämlich der Populationsökologie,<br />
werden Formen als ’ Kombinationen‘ von Technologie, Struktur, Kontrollmechanismen<br />
und Marktnischen definiert, vgl. dazu insbesondere Michel Hannan u. John<br />
Freeman, Organizational Ecology, Cambridge 1989, sowie Michael Hannan u. Glenn Carroll,<br />
Dynamics of Organizational Populations. Density, Legitimation, and Competition, New York<br />
1992.<br />
47 Vgl. dazu vor allem Michael Hannan u. John Freeman, Structural Inertia and Organizational<br />
Change, in: American Sociological Review 49 (1984), 149–164.<br />
48 Vgl. dazu u.a. Joel A. C. Baum, Inertia and Adaptive Patterns in the Dynamics of Organizational<br />
Change, in: Academy of Management Best Papers Proceedings (1990), 165–169;<br />
Dawn Kelly u. Terry Amburgey, Academy of Management Journal (September 1991), 591–612<br />
oder Jitendra V. Singh, R. House u. D. Tucker, Organizational Change and Organizational<br />
Mortality, in: Administrative Science Quarterly 31 (1986), 587–611.<br />
ÖZG 11.2000.1 83
II. Riskante, komplexe Strategien zur ’ Integration‘ unternehmerischer Vielfalt:<br />
(1) Strategische Vision zur Integration unterschiedlicher Unternehmens-Felder wie<br />
auch zur Formierung und ’ Besetzung‘ von Produkt- oder Service-Nischen, (2) Fähigkeit<br />
zur Sicherung ausreichender finanzieller Mittel <strong>für</strong> die Besetzung solcher Nischen,<br />
(3) Fähigkeit zur Rekrutierung eines hochqualifizierten, aber hinreichend diversifizierten<br />
Personals mit Kenntnis oder Zugang zum state of the art im relevanten<br />
Produktions- oder Servicebereich, (4) die Fähigkeit zu Adaptionen und Fehler-<br />
Korrekturen im Kontext einer innovationsfreundlichen, unterstützenden ’ Unternehmenskultur‘.<br />
III. ’ Organische Struktur‘ der Unternehmungen:<br />
Geringe Differenzierung: (1) Kleine Anzahl von Unternehmens-Abteilungen, (2) Beschränkte<br />
Autonomie auf der Ebene von Unternehmens-Abteilungen.<br />
Wenig hierarchische und bürokratische Koordination: (1) Geringe Standardisierung<br />
von Regeln und Abläufen, (2) zentrale Kontrollen von Budget- und Personalmanagement.<br />
Qualität: (1) Effiziente Qualitätskontrollen innerhalb von Unternehmen, (2) Externe<br />
Qualitätskontrollen und Schnittstellen zur weiteren Umgebung.<br />
B. Wissenschaftliche Institute 49<br />
I. Komplexität der Tätigkeiten: Vielfalt: (1) unterschiedliche Disziplinen und Sub-<br />
Disziplinen, (2) Anteile von Personen in einer Disziplin mit Forschungserfahrungen<br />
in anderen Disziplinen und/oder Paradigmen; Wissensbasis: Tiefe (1) und (2) ’ Weite‘<br />
an Expertise in jedem der Wissenschaftsfelder.<br />
Interdisziplinäre und integrierte Aktivitäten zwischen einzelnen Komponenten von<br />
Instituten: (1) die Häufigkeit und die Intensität von Interaktionen, (2) gemeinsame<br />
Forschungstätigkeiten (z.B. gemeinsame Publikationen von Artikeln), (3) Vorhandensein<br />
von ’ sozialen Räumen‘, (4) gemeinsame Mahlzeiten und Freizeitaktivitäten.<br />
II. Riskante, komplexe Strategien: ’ Leadership‘, die Fähigkeit zur Integration wissenschaftlicher<br />
Vielfalt: (1) Strategische Vision zur Integration unterschiedlicher Gebiete<br />
wie auch zur Formierung von Schwerpunktthemen, (2) Fähigkeit zur Sicherung ausreichender<br />
finanzieller Mittel <strong>für</strong> diese Schwerpunkte, (3) Fähigkeit zur Rekrutierung<br />
eines hochqualifizierten, aber hinreichend diversen Personals, so daß die einzelnen<br />
Forschungsgruppen ständig über den momentanen Stand an signifikanten und potentiell<br />
lösbaren Problemfeldern informiert sind, (4) die Fähigkeit zu harter Kritik im<br />
Kontext einer innovationsfreundlichen, unterstützenden Umgebung.<br />
III. ’ Organische Struktur‘ der Instituts-Organisation: Geringe Differenzierung: (1) Geringe<br />
Anzahl von Abteilungen und anderen Einheiten, (2) Beschränkte Autonomie auf<br />
der Ebene von Abteilungen oder anderen Untereinheiten.<br />
Wenig hierarchische und bürokratische Koordination: (1) Geringe Standardisierung<br />
von Regeln und Abläufen, (2) zentrale Kontrollen über Budget und Personal.<br />
Hohe Qualität: (1) Hoher Anteil von Wissenschaftlern an den landesweit angesehensten<br />
Wissenschaftsakademien, (2) hohe Forschungsmittel pro Wissenschaftler.<br />
49 Vgl. dazu ausführlicher den Artikel von Rogers J. Hollingsworth u. Ellen Jane Hollingsworth<br />
im vorliegenden Heft.<br />
84 ÖZG 11.2000.1
C. Non Profit-Organisationen<br />
I. Komplexität der Tätigkeiten: Vielfalt: (1) die Vielzahl von NP-Abteilungen mit<br />
einer heterogenen Aufgaben- oder Kontrollpalette, (2) Anteile von Personen mit<br />
reichhaltigen Berufserfahrungen aus anderen Feldern; Wissensbasis: (1) ’ Tiefe‘ und<br />
(2) ’ Weite‘ an Expertise in jedem der relevanten NP-Service-Felder.<br />
Integrierte Aktivitäten und Operationen zwischen NP-Abteilungen: (1) die Häufigkeit<br />
und die Intensität von Interaktionen, (2) Gemeinsame Service- und genereller: NP-<br />
Aktivitäten, (3) Vorhandensein einer interaktiven, kommunikationsfreundlichen NP-<br />
Organisationskultur.<br />
II. Riskante, komplexe Strategien zur Integration der bestehenden Vielfalt: (1) Strategische<br />
Vision zur Integration unterschiedlicher Gebiete wie auch zur Formierung<br />
und ’ Besetzung‘ von NP-Service-Nischen, (2) Fähigkeit zur Sicherung ausreichender<br />
finanzieller Mittel <strong>für</strong> die Besetzung solcher Nischen, (3) Fähigkeit zur Rekrutierung<br />
eines hochqualifizierten, aber hinreichend diversifizierten Personals, (4) die Fähigkeit<br />
zu Adaptionen und Fehler-Korrekturen im Kontext einer innovationsfreundlichen NP-<br />
Organisationskultur.<br />
III. ’ Organische Struktur‘ der Non Profit-Organisation:<br />
Differenzierung: (1) Anzahl von NP-Abteilungen, (2) Beschränkte Autonomie auf der<br />
Ebene von NP-Abteilungen.<br />
Wenig hierarchische und bürokratische Koordination: (1) Geringe Standardisierung<br />
von Regeln und Abläufen, (2) zentrale Kontrollen über Budget- und Personalmanagement.<br />
Qualität: (1) Effiziente Qualitätskontrollen innerhalb der NP-Organisation, (2) externe<br />
Qualitätskontrollen und Schnittstellen zur weiteren Umgebung.<br />
Der hauptsächliche Fokus der Studien zentrierte sich um die Frage nach dem<br />
Wechsel in den Strategien, die aber einen vergleichsweise untergeordneten Stellenwert<br />
einnimmt. Und das wahrscheinlich <strong>für</strong> die Gegenwart interessanteste,<br />
aber noch völlig ungelöste wie unentschiedene Problem dabei lautet, ob sich<br />
Organisationen form-gemäß von einem mechanischen‘ hin zu einem organi-<br />
’ ’<br />
schen‘ Arrangement verändern müssen, wenn sie das neuartige Spektrum an<br />
fortgeschrittenen Produktions- und Servicetechnologien in vollem Umfang nutzen<br />
wollen. Solch generelle Form-Wechsel betreffen die Kontrolle und Koordination<br />
von Teams, die Einführung von interorganisatorischen Feedbacks‘, die<br />
’<br />
Schaffung flacher Hierarchien‘, die Ermöglichung von horizontalen Kommuni-<br />
’<br />
kationen und vieles andere mehr.<br />
Wie immer die Frage nach der Vielheit von organisatorischen Formen analytisch<br />
aufbereitet und empirisch gelöst wird, es bleibt noch eine zweite fundamentale<br />
und offene Herausforderung <strong>für</strong> die Innovation von Organisationen wie<br />
’<br />
die Organisation von Innovationen‘ bestehen. Und dieser zweite Bereich resultiert<br />
daraus, daß immer mehr Organisationen sich auch untereinander vernetzen<br />
und vernetzen müssen, um in einer Welt globalen und rapiden Wandels präsent<br />
zu bleiben. Solche Vernetzungen können die Form von Informations-Netzen‘,<br />
’<br />
’ Joint Ventures‘, ’ Forschungskonsortien‘ oder systematischen Netzwerken‘ an-<br />
’<br />
ÖZG 11.2000.1 85
nehmen. Catherine Alter und der Autor50 unterschieden insgesamt zwölf systematische<br />
Formen organisatorischer Vernetzungen – und wahrscheinlich ließen<br />
sich noch viel mehr solcher Formen definieren, wenn man noch die Arten von<br />
bestehenden Organisationsformen und die Art und Weise ihrer Organisation –<br />
’ mechanisch‘ oder organisch‘ – in dieser Typologie berücksichtigte. Diese Er-<br />
’<br />
weiterungen in Richtung längerfristiger Organisationsvernetzungen‘ werden im<br />
’<br />
Rahmen des populations-ökologischen Paradigmas nicht vorgenommen – hier<br />
scheint selbst die Idee von symbiotischen Beziehungen‘ zwischen Organisatio-<br />
’<br />
nen aus dem Blickfeld gewichen zu sein. Aber diese Netzwerk- Abhängigkeiten<br />
bedeuten immerhin, daß in den post-industriellen Gesellschaften der Gegenwart<br />
nicht einmal organische Formen und Kulturen innerhalb von Organisationen<br />
hinreichen, um einen kontinuierlichen Strom an Innovationen zu generieren. Es<br />
bedarf auch der passenden Netzwerke mit der Umwelt, um den notwendigen<br />
Innovationsstrom innerhalb von Organisationen nachhaltig zu gewährleisten.<br />
Abschluß<br />
Mit dieser Ausschau in zukünftige organisationssoziologische Formen-Lehren‘<br />
’ 51<br />
und mit der gegenwartsbetonten Generalisierung einer selbstähnlichen‘ Dreier-<br />
’<br />
Faktorengruppe von arbeitsteiliger Komplexität‘, riskanten Strategien‘ und<br />
’ ’<br />
’ organischen Organisationskulturen‘ sollten, gestützt auf eine große Zahl an<br />
Studien aus der Organisations- und der Managementliteratur aber auch aus der<br />
Wissenschaftssoziologie, jene Wegweiser in Richtung verallgemeinerter Schlüsselkomponenten<br />
identifiziert worden sein, welche das Phänomen des Neuen‘<br />
’<br />
innerhalb der organisierten Welt aus der Ecke der völligen Unergründlichkeit<br />
bewegt und in einen wohldefinierten Bereich an normalwissenschaftlichen Erklärbarkeiten<br />
plaziert. Zwar wird ein unerfindlicher kreativer Rest‘ in alle Zu-<br />
’<br />
kunft bestehen bleiben – und speziell der Geist des Widerspruchs‘ wird über<br />
’<br />
den Wassern und anderswo noch immer wehen, wo und wie er will. Aber mag<br />
auch dieser unhintergehbare Rest‘ bestehen, über so viele andere Bereiche jen-<br />
’<br />
seits dieses Rests muß nicht geschwiegen werden. Und weil man so viel vom<br />
organisatorisch Neuen reden kann, wäre Schweigen nachgerade die gegenproduktivste<br />
Strategie.<br />
50 Catherine Alter u. Jerald Hage, Organizations Working Together, Newbury Park u.a.<br />
1993.<br />
51 In diesem Sinne steht übrigens eine ’ Axiomatik‘ – nämlich die (organisatorischen) ’ Gesetze<br />
der Form‘ (George Spencer-Brown) – noch weitestgehend aus.<br />
86 ÖZG 11.2000.1
Karl H. Müller<br />
Wie Neues entsteht<br />
Wem es gelang, den Knoten zu lösen, mit dem die Deichsel von König Gordias Streitwagen<br />
am Joch befestigt war, der würde, so das Orakel, Herrscher der Welt werden.<br />
Es wurden zwei Versionen erwähnt, wie Alexander der Große das getan haben soll.<br />
Natürlich die übliche: daß er ihn mit dem Schwert durchschlagen hat ... Der anderen<br />
zufolge hat er die Stange, die durch Joch und Deichsel führte, aus dem Knoten<br />
herausgezogen ... Er hat die Deichsel und das Joch voneinander getrennt, ohne den<br />
Knoten anzurühren: der fiel anschließend von allein auseinander.<br />
Harry Mulisch, Die Prozedur<br />
In den meisten der bisherigen Darstellungsweisen rückt das Phänomen der Neuheit<br />
in die Nähe jenes ’ blinden Flecks‘, 1 von dem nicht gesehen wird, daß man<br />
ihn nicht sieht: Die Objekte der Analysen scheinen immer schon so zureichend<br />
vorhanden, daß ihr einstiges, gegenwärtiges oder zukünftiges ’ Werden‘ nicht<br />
weiter beunruhigt. Was in diesem Artikel entwickelt werden soll, das liegt in<br />
einem allgemeineren ’ Rahmen‘ und neuartigen Heuristiken, Prozesse der ’ Entstehung<br />
des Neuen‘ in unterschiedlichen Räumen und Zeiten, solchen aus der<br />
∗<br />
Vgl. als gleichnamige Referenz die Artikelsammlung von Thomas S. Kuhn, Die Entstehung<br />
des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 1978.<br />
1 Ein blinder Fleck‘ wird allerdings überhaupt nur dann konstatierbar, wenn es auch ein<br />
’<br />
zumindest kleines sehendes Umfeld‘ gäbe. Dazu zählen heute noch lesenswerte Pionierarbei-<br />
’<br />
ten wie beispielsweise Norwood Russel Hanson, Patterns of Discovery. An Inquiry into the<br />
Conceptual Foundations of Science, London 1965. Zu den sehenswerten‘ Ausnahmen gehören<br />
’<br />
aber auch jene Labor-Studien‘, welche einzelne Wissenschaftsgruppierungen bei der Entste-<br />
’ ’<br />
hung des Neuen‘ begleiten; vgl. dazu besonders Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von<br />
Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt am Main 1984 (inklusive<br />
des illustrativen Leit-Cartoons, nämlich eines einzelnen Wissenschaftlers und einer Kette von<br />
’ Beobachtern‘, 5) oder dies., Epistemic Cultures. How the Sciences Make Knowledge, Cambridge,<br />
MA. 1999. Ebenfalls diesseits des Neuen‘ bewegen sich jene Analysen, die sich um<br />
’<br />
sehr langfristige zukünftige Schwerpunktverlagerungen von Wissenslandschaften bemühen,<br />
vgl. dazu u. a. Tierry Gaudin, 2100. Specie’s Odyssey, Montier 1995. Und auch direkt wie<br />
indirekt dem Neuem‘ erweisen sich jene Richtungen verbunden, die sich mit den Bereichen<br />
’<br />
von Heuristiken‘ und Wissens-Management‘ beschäftigen wie beispielsweise Robert Scott<br />
’ ’<br />
Root-Bernstein, Discovering, Cambridge MA. 1989; Herbert A. Simon, Models of Discovery<br />
and Other Topics in the Methods of Science, Dordrecht u. a. 1977 sowie Helmut Willke,<br />
Systemisches Wissensmanagement, Stuttgart 1998.<br />
ÖZG 11.2000.1 87
Vergangenheit wie auch in der Gegenwart, kognitiv aufregend, anregend und<br />
jedenfalls: hinreichend ’ beunruhigend‘ zu ’ arrangieren‘ beziehungsweise zu ’ rekombinieren‘.<br />
Pointiert zugespitzt soll sich in den nächsten Seiten so etwas wie<br />
eine ’ Übersichtlichkeit des Neuen‘ ausbreiten, die auch ihre zukunftsgewandten<br />
Aspekte kennt. Am Ende müßte sich ein Spektrum an tendenziell verbesserten<br />
Analysewegen versammelt finden, die Entstehung des ’ seinerzeitig Neuen‘ zu<br />
rekonstruieren, wie die Konstruktion des ’ derzeitig noch Ungekannten‘ systematisch<br />
zu verbessern. Zwar werden sich trotz alledem einige prinzipielle Limitationen<br />
finden, welche diese Forschungswege notwendigerweise begrenzen;<br />
ein unhintergehbarer Rest an ’ Offenheit‘, er bleibt. Aber die Forschungswege<br />
bis hin zu jenen prinzipiellen Grenzen, Schranken und Barrieren, sie sollten im<br />
weiteren deutlich verbreitet und ausgeweitet werden. 2<br />
Facetten des Neuen<br />
Seinen Anfang findet diese erstrebte Verbreiterung an ’ Neuheitsanalysen‘ mit<br />
den Kernbegriffen des ’ Neuen‘ oder der ’ Neuheit‘, die sich zudem in mancherlei<br />
begrifflichen Variationen ergehen und von der ’ Emergenz‘ 3 und vom plötzlichen<br />
’ Aufblitzen‘ und ’ Fulgurieren‘ 4 bis hin zu den spontanen Akten der ’ Kreativität‘<br />
wie auch des schöpferisch zerstörerischen Wirkens von ’ Innovationen‘ reichen. 5<br />
Der Begriff des ’ Neuen‘ kann unbeschadet seiner mitunter ’ hypertrophen‘<br />
und ’ spiritualistischen‘ Konnotationen 6 grundsätzlich wohl zweierlei bedeuten.<br />
2 Daß der vorliegende Artikel sich durchaus in schwierigen Gewässern‘ und nicht gerade<br />
’<br />
innerhalb eines Mainstream‘ bewegt, mag auch das nachstehende Zitat verdeutlichen: Denn<br />
’<br />
bei der Frage nach der Entstehung des Neuen‘ braucht man nur die Schwierigkeiten (be-<br />
’ ”<br />
denken), die unserem ohnedies nicht sehr ausgeprägten Verständnis <strong>für</strong> Qualitätswandel und<br />
Phasenübergänge verstärkt erwachsen; die Probleme mit den missing links‘, dem Werden von<br />
’<br />
Leben, Bewußtsein und Denken, jene Denaturierung unserer kindlichen Frage: wieviel Körner<br />
machen einen Haufen Man denke an das Zirkularitätsproblem, da Eigenschaften eine Klasse<br />
bestimmen sollen, die Klasse aber ihre Eigenschaften. Man bedenke nur das Definierbarkeitsund<br />
Begriffsschärfe-Ideal, das zum Wissenschaftsideal der formalisierten Systeme, der Logik<br />
führte.“ Rupert Riedl, Begriff und Welt. Biologische Grundlagen des Erkennens und Begreifens,<br />
Berlin u. Hamburg 1987, 101.<br />
3 Zu diesem Begriff vgl. hier nur John H. Holland, Emergence. From Chaos to Order, Reading,<br />
MA. 1998; und als Hinweis <strong>für</strong> die beschränkte Relevanz des Emergenzkonzepts innerhalb<br />
der sozialen Welt‘ vgl. u. a. Renate Mayntz, Individuelles Handeln und gesellschaftliche<br />
’<br />
Ereignisse: Zur Mikro-Makro-Problematik in den Sozialwissenschaften, Köln 1999.<br />
4 Zu dieser Variation vgl. speziell Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer<br />
Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München u. Zürich 1973, 48 ff.<br />
5 Für die weiteren Darstellungen sollen die Ausdrücke Neuheit‘, Neuerung‘, Innovation‘,<br />
’ ’ ’<br />
’ Kreativität‘ oder kreative Leistung‘ als äquivalent verstanden werden. Einzig der Begriff<br />
’<br />
der Emergenz‘ soll in einer speziellen Bedeutungsnuance verstanden sein, nämlich im Sinne<br />
’<br />
einer prinzipiellen Nicht-Vorhersehbarkeit.<br />
6 Zu derartigen mittlerweile fast klassischen‘ Gunst-Stücken‘ vgl. u. a. Peter A. Corning,<br />
’ ’<br />
88 ÖZG 11.2000.1
Für den ersten Fall wird es typisch, daß vor dem Hintergrund einer Wissensbasis<br />
Ψ ein möglichst allgemein gefaßtes ’ Ensemble‘ oder ’ System‘ σ innerhalb eines<br />
Zeitintervalls ∆t einen Wechsel in seinen Strukturen Ξ – seinen Eigenschaften,<br />
Relationen oder Prozessen – durchläuft: Etwas Neues ɛσ ist zum Zeitpunkt<br />
t ′ vorhanden, das innerhalb der bisherigen Eigenschaften, Relationen, Komponenten<br />
oder Umweltbeziehungen – ausgedrückt als Ωσ(t) – nicht gegeben<br />
war. Da<strong>für</strong> werden sinnvollerweise die folgenden zwei Bedingungen erfüllt sein<br />
müssen: 7<br />
Ξσ,t �= Ξσ,t ′(t′ > t) |Ψt<br />
ɛσ(t, t ′ ) = ∪ Ωσ(τ) − Ωσ(t) |Ψt<br />
t < τ ≤ t ′<br />
’ Neuheit‘ in dieser rundum sehr ähnlich beschriebenen Form besitzt aber neben<br />
dem genetischen‘ Bedeutungsfeld, dem Strukturwandel in der Zeit, noch eine<br />
’<br />
weitere gleich gewichtige Gebrauchsweise, die sehr anschaulich von Stephen J.<br />
Gould auf ihre Begriffe gebracht wurde. Es ist dies die Sichtweise einer Welt,<br />
constructed not as a smooth and seamless continuum, permitting simple extrapolation<br />
from the lowest level to the highest, but as a series of ascending levels, each bound<br />
to the one below it in some ways and independent in others. Discontinuities and<br />
seams characterize the transitions; ’ emergent‘ features not implicit in the operations<br />
of processes at lower levels, may control events at higher levels. 8<br />
In diesem Zitat wird auf einen intimen Zusammenhang von ’ Neuheit‘ und ’ Irreduzibilität‘<br />
oder ’ Nicht-Reduzierbarkeit‘ verwiesen. Und systematischer betrachtet<br />
läßt sich neben dem ’ Strukturwandel in der Zeit‘ auch ein zeitunabhängiger<br />
’ Strukturwandel in den Niveaus‘ aufbauen, der mit dem Label<br />
’ Neuheit2‘ versehen werden kann. Neuheit2 kommt, so scheint es, im Bereich<br />
komplexer und stratifizierter Systeme wie von selbst zustande; dann nämlich,<br />
wenn solche Hierarchien und Stufen sich nicht mehr sinnvollerweise auf eine<br />
einzige ’ basale‘ Ebene reduzieren lassen. In der zweiten Lesart <strong>für</strong> Neues wird<br />
somit von einem bestimmten Darstellungsniveau l’ <strong>für</strong> ein mehrstufiges Ensemble<br />
oder System σ ausgegangen, dessen Relationen, Eigenschaften, Prozesse<br />
und Umweltbeziehungen Ω nicht über eine einzige ’ Referenzebene‘ l* dar-<br />
The Synergism Hypothesis. A Theory of Progressive Evolution, New York 1983 sowie Ken<br />
Wilber, Hg., Das holografische Weltbild. Wissenschaft und Forschung auf dem Weg zu einem<br />
ganzheitlichen Weltverständnis. Erkenntnis der Avantgarde der Naturwissenschaften, Bern<br />
1986.<br />
7 Zu dieser speziellen Definition wie auch zum allgemeinen ’ systemischen‘ Hintergrund im<br />
vorliegenden Artikel vgl. insbesondere Mario Bunge, Treatise on Basic Philosophy. Ontology I:<br />
The Furniture of the World, Dordrecht u. a. 1977 sowie ders., Treatise on Basic Philosophy.<br />
Ontology II: A World of Systems, Dordrecht u. a. 1979.<br />
8 Stephen J. Gould, Is a New and General Theory of Evolution Emerging, in: J. Maynard<br />
Smith, Hg., Evolution Now. A Century after Darwin, London-Basingstoke 1982, 132.<br />
ÖZG 11.2000.1 89
gestellt werden können, sondern vielfältiger Beschreibungsniveaus mit jeweils<br />
neuen Aspekten bedarf.<br />
Ξσ,l ∗ �= Ξσ,l ′(l′ > l ∗ ) |Ψt<br />
ɛ σ(l,l ′ ) = ∪ Ωσ(τ) − Ωσ(l ∗ ) |Ψt<br />
l ∗ < τ ≤ l ′<br />
Im Prinzip können ’ neue‘ Eigenschaften oder Prozesse über drei Hauptveränderungen<br />
hervorgerufen werden: über intra- oder interstrukturelle Veränderungen<br />
der ’ Komponenten‘ oder der ’ Bausteine‘ solcher Ensembles, über deren<br />
zahlenmäßige Zu- oder Abnahmen sowie über Veränderungen mit oder in der<br />
Umwelt, welche zu anderen Verbindungen führen. Kurz, jedes ’ Anderswerden‘<br />
oder ’ Andersmachen‘ in der internen Komposition von Ensembles oder Systemen,<br />
in deren Zusammensetzung untereinander sowie in den Beziehungen mit<br />
der Umwelt führen dazu, daß von ’ Neuem‘ geredet werden kann. 9<br />
Kontexte des Neuen<br />
Mit den bisherigen Definitionsvorschlägen <strong>für</strong> Neues sind implizit einige weitere<br />
Charakteristika oder hintergründigeren Aspekte verbunden, die kurz erläutert<br />
werden sollen.<br />
Die ’ Wissensabhängigkeit‘ des Neuen: Die erste Besonderheit betrifft die<br />
Abhängigkeit des Neuen von den jeweils zuhandenen Wissensbasen. Viel an<br />
Neuem kann nur deswegen auftreten, weil sich die Beschreibungen von Ensembles<br />
und Strukturen im Lauf der Zeiten verschoben und in der Regel erweitert<br />
und vervielfältigt haben. Vielleicht klingt es zu trivial, um eigens betont zu werden:<br />
Doch verdanken sich viele ’ Neuheiten‘ und ’ spektakulären Durchbrüche‘<br />
in der Molekularbiologie der letzten fünfzig Jahre der Verankerung einer neuartigen<br />
Ebene mit neuen ’ Bausteinen‘ innerhalb der szientifischen Wisensbasen,<br />
nämlich der Entdeckung/Erfindung der vier Basen Adenin, Cytosin, Guanin<br />
9 Es sei hier auf die Schumpetersche Umschreibung von Innovationen hingewiesen, der von<br />
Innovationen als jedem ”’ Andersmachen‘ im Gesamtbereich des Wirtschaftslebens“ spricht,<br />
vgl. Joseph A. Schumpeter, Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische<br />
Analyse des kapitalistischen Prozesses, Bd. 1, Göttingen 1961, 91. Einzig eingeschränkt <strong>für</strong><br />
den Unternehmensbereich kann dieses ’ Andersmachen‘ entlang der folgenden Bereiche angesiedelt<br />
sein (vgl. dazu auch Helga Nowotny, The Dynamics of Innovation. The Multiplicity<br />
of the New, Budapest 1995): (1) entlang der ’ Input-Schnittstellen‘ (neue Rohstoffe, Vorprodukte,<br />
Beratungen ...); (2) innerhalb von Unternehmen (neue Organisationen, neue Prozeß-<br />
Technologien, neue IuK-Infrastrukturen, etc.); (3) entlang der ’ Output-Schnittstellen‘ (neue<br />
Produkte, neue Marketing- und Kunden-Netzwerke, etc.); (4) innerhalb von Unternehmens-<br />
Netzwerken (neue Gruppenbildungen, ’ strategische Allianzen‘, ’ Joint Ventures‘, etc.); (5) zwischen<br />
Unternehmens-Netzwerken und Umgebung (neue Netzwerke Wissenschaft-Wirtschaft,<br />
neue staatliche Regulationen oder Deregulationen, neue Konfigurationen in der ’ Triple-Helix‘,<br />
etc.<br />
90 ÖZG 11.2000.1
und Thymin und ihres Doppelhelix-Arrangements. Ohne derartige, erst nach<br />
und nach verankerte und mittlerweile fest eingebettete Bausteine‘<br />
’ 10 hätten sich<br />
viele der großen bio-medizinischen Durchbrüche“, von denen im Artikel der<br />
”<br />
beiden Hollingsworths berichtet wird, nicht als Neuheiten‘ ausbreiten können.<br />
’<br />
Und genau diese Bausteine und deren Grundarrangements waren zu anderen<br />
Zeiten genau genommen unbekannt und unspezifisch reine Spekulation.‘ Der<br />
’<br />
Redeweisen von kleinsten Erbträgern‘ oder kleinsten atomaren wie subatoma-<br />
’<br />
ren Bausteinen‘, von Bausteinen‘ hinter diesen Bausteinen oder von String-<br />
’ ’ ’<br />
Texturen‘ im Innersten, hätte sich vor rund zweihundert Jahren, ja selbst in<br />
Paris, London, Oxford oder <strong>Wien</strong> um 1900, nie und nimmer über den Status<br />
purer Science Fiction‘ hinausbewegt.<br />
’ 11<br />
Hintergrund des ’ bereits Gewußten‘, das den Horizont des Neuen begrenzt; wie<br />
das Meer die Konturen des Festlands. 12<br />
Die ’ Beobachterabhängigkeit‘ des Neuen: ’ Neuheit‘ besitzt aber weiters,<br />
worauf schon vor langer Zeit Carl Gustav Hempel hingewiesen hat 13 , einen<br />
10 Über das komplizierte ’ Werden‘ solcher späteren ’ Fix-Bausteine‘ vgl. den so interessanten<br />
Cartoon bei Bruno Latour über die ” historische Kontextualisierung“ einer mittlerweile<br />
unumstößlichen ’ harten Tatsache‘. Denn die vollzieht sich zunächst vom ” immerwährend subjektungebundenen<br />
kognitiven Öffentlichkeitsgut“ – ” The DNA molecule has the shape of a<br />
double helix“ – bis hin zur ’ Subjektivierung‘ dieses Sachverhalts und zum Zeitpunkt seiner<br />
erstmaligen Entstehung und seines weiteren Kontextes: ” If it had the shape of a double helix“,<br />
” Maybe it is a triple helix“, ” It is not a helix at all“, ” Why don’t you guys do something<br />
serious “ Und von hier aus wandert dieser Satz langsam, unter Vernachlässigung seiner damaligen<br />
Alternativen ( ” Watson and Crick have shown that the DNA molecule has the shape<br />
of a double helix“) herauf bis zu seiner festgefügten Verankerung im gegenwärtig zuhandenen<br />
Wissenskorpus. Zu finden ist diese ’ Re-Kontextualisierung‘ und ihr weitergehender Verlust<br />
in Bruno Latour, Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society,<br />
Cambridge 1987, 14.<br />
11 Vgl. die interessante Zusammenfassung über den unerwarteten wie unerwartbaren Charakter<br />
des wissenschaftlich Neuen am Beispiel des ” Wissenskorpus um 1900“ bei Sir John<br />
Maddox, The Unexpected Science to Come, in: Scientific American 12, 1999.<br />
12 Im übrigen mag der Hinweis intreressant sein, daß sich gegenwärtig drei grundverschiedene,<br />
konträre ’ Grundintuitionen‘ zum Verhältnis zwischen ’ Meer‘ und ’ Festland‘ beziehungsweise<br />
’ Altem‘ und ’ Neuem‘ oder ’ Gewußtem‘ und ’ Nicht-Gewußtem‘ finden. Auf der einen Seite<br />
steht die Annahme eines über die Jahrhunderte weitgehend festgelegten ’ Landbereichs‘, in<br />
dem keine spektakulären Zuwächse mehr erwartet werden können: Das Meer hat seine Größe<br />
und Wildheit und Weite verloren – so die ’ Vision‘ bei John Horgan, The End of Science.<br />
Facing the Limits of Knowledge in the Twilight of the Scientific Age, New York 1996. In der<br />
Mitte findet sich ein zyklisches Muster an Land-Meer-Relationen mit Phasen eines scheinbar<br />
endlosen Meeres, wie offener Horizonte und Perioden großen Landes und geschlossener Perspektiven<br />
– so das Grundmuster bei Nicholas Rescher in: ders., Wissenschaftlicher Fortschritt.<br />
Eine Studie über die Ökonomie der Forschung, Berlin 1982. Und am anderen Ende kann die<br />
gegenläufige ’ systemische‘ Vermutung verortet werden, daß jede erfolgreiche ’ Landnahme‘ das<br />
Meer nur umso größer erscheinen läßt: Mit jedem ’ Wissen‘ wächst auch das ’ Nicht-Wissen‘ –<br />
aber dies immer etwas mehr und stärker.<br />
13 Vgl. nur Carl G. Hempel, Aspects of Scientific Explanation and Other Essays in the<br />
Philosophy of Science, New York u. London 1965, 259–264.<br />
ÖZG 11.2000.1 91<br />
’ Neues‘ entsteht immer nur vor dem
unauslöschlich ’ beobachterabhängigen‘ Charakter, der unabhängig zu jedem<br />
vorrätigen Wissenskorpus besteht. Denn Neues bleibt auch von der genauen<br />
Spezifikation von Anfangsbedingungen und Kontexten abhängig, die vom jeweiligen<br />
Beobachter getroffen werden können. Neuheit sans phrase, das ’ Neue<br />
an sich‘, teilt da anscheinend mit manch ’ an sich‘ anderem das Schicksal prinzipieller<br />
Unerkennbarkeit.<br />
Diese ’ Beobachterabhängigkeit‘ soll an einem konkreten Beispiel verdeutlicht<br />
werden, nämlich am Strukturwandel der Güter und Dienstleistungen in<br />
der Moderne. Werden <strong>für</strong> solche Sektoren über die letzten Jahrhunderte ” evolutionär<br />
stabile Klassifikationen“ 14 wie ” primärer“, ” sekundärer“ oder ” tertiärer<br />
Sektor“ verwendet, dann ändern sich im langen Zeitablauf nur die numerischen<br />
Verteilungen – und nichts Neues in den Güter- und Dienstleistungsgruppen<br />
geschieht. Werden hingegen zeitlich ’ kurzlebigere‘ Beschreibungen wie EDV,<br />
Unternehmensberatungen, Automobil- und Kfz-Bereich oder Handwerke vom<br />
Schlage der Barometerherstellung, der Lumpensammlung, des Mühlenbaus,<br />
der Pechproduktion oder der Perückenmacherei 15 in den Vordergrund gerückt,<br />
dann entsteht mit und in der Zeit ungemein viel an ’ Neuheit‘: Neue ’ Markt-<br />
Nischen‘ und Geschäftsfelder – Informations-Design, Multi-Media-Integration,<br />
Internet-Consulting, e-commerce-Beratung – entstehen und diffundieren, bestehende<br />
Wirtschaftsbereiche verschwinden in die Marginalität oder gänzlich.<br />
’ Neuheit‘ bedarf daher immer einer beobachterabhängigen ’ Strukturbeschreibung‘,<br />
um solche Neuheiten auch zum Vorschein zu bringen. 16<br />
In einer wahrscheinlich bekannten Variation zu Humberto R. Maturana<br />
und Francisco J. Varela läßt sich diese ’ Beobachterabhängigkeit‘ auch so zusammenfassen:<br />
” Alles Neue ist von jemandem gesagt“. 17 Und vergessen soll<br />
auch der Foerstersche Zusatz nicht werden – ” alles Neue wird zu jemanden<br />
gesagt“. 18<br />
14 Über das Konzept von evolutionär stabilen Klassifikationen“ vgl. Günter Haag u. Karl<br />
”<br />
H. Müller., Employment and Education as Non-Linear Network Populations I, in: Günter<br />
Haag, Ulrich Mueller u. Klaus G. Troitzsch, Hg., Economic Evolution and Demographic<br />
Change. Formal Models in Social Sciences, Berlin u. a. 1992, 356–361. Im wesentlichen stellen<br />
” evolutionär stabile Klassifikationen“ ein festgefügtes Kategorien-Gerüst <strong>für</strong> einen langen<br />
Zeitraum dar, das sich nur hinsichtlich seiner numerischen Stärken, nicht aber hinsichtlich<br />
seiner Kategorien zu ändern vermag.<br />
15 So einige Beispiele aus Rudi Palla, Verschwundene Arbeit. Ein Thesaurus der untergegangenen<br />
Berufe, Frankfurt am Main 1994.<br />
16 Solche Beobachterabhängigkeiten in den Strukturbeschreibungen‘ gelten natürlich auch<br />
’<br />
<strong>für</strong> die zweite Version des Neuen, nämlich <strong>für</strong> die Neuheit2. Auch sie hängt von den präzisen<br />
Angaben des Systemniveaus ab und von den zweifachen Möglichkeiten und Potentialen einer<br />
vorhandenen Wissensbasis, verschiedenartige Niveaus auf der einen Seite zu identifizieren<br />
und sie auf der anderen Seite miteinander in Beziehung treten zu lassen.<br />
17 Humberto R. Maturana u. Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen<br />
Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern u. a. 1987, 32.<br />
18 Das Original lautet: Anything said is said to an observer“, zu finden beispielsweise in<br />
”<br />
92 ÖZG 11.2000.1
Die Seinsgebundenheit‘ des Neuen: Schon die beiden ersten Hinweise auf<br />
’<br />
die Wissens- und die Beobachterabhängigkeit des Neuen, so selbstverständlich<br />
sie auch sind, reichen hin, allzu ungebundene Sprechweisen über das Neue‘<br />
’<br />
hintanzuhalten. Eine dritte Besonderheit oder Facette des Neuen‘ besteht nun<br />
’<br />
darin, daß Neues in den meisten Fällen genau besehen immer schon vorhanden<br />
war. Damit wird nicht nur auf den Sachverhalt angespielt, daß ein Gutteil<br />
des Neuen oder von Innovationen darin besteht, aus anderen Kontexten re-<br />
”<br />
zipiert“, imitiert“ oder übernommen“ zu werden.<br />
” ” 19 Auch das Neue, das mit<br />
der Einzigartigkeit‘ von kopernikanischen Wenden‘ und revolutionären Um-<br />
’ ’ ’<br />
brüchen‘ assoziiert wird, beispielsweise Charles Darwins The Origin of Species<br />
by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races<br />
in the Struggle for Life aus dem Jahr 1859, war in vielfacher Hinsicht auch<br />
schon 1857 oder 1848 implizit‘ oder in Fragmenten vorhanden. Betrachtet man<br />
’<br />
nämlich die feinen Unterschiede“ in der langsamen Entstehungsgeschichte die-<br />
”<br />
ses Werks, dann wird man unter Umständen vielgestaltige, vieldimensionale<br />
’ Text-Erweiterungen‘ und Text-Transformationen‘ wahrnehmen, die von den<br />
’<br />
Notizen und Tagebüchern auf der Beagle bis hin zu den ersten Entwürfen sei-<br />
’<br />
ner Theorie‘ in den Notizbüchern und schließlich zur schnell fertiggestellten<br />
publizierten Endversion reichen. 20 Betrachtet man lediglich das veröffentlichte<br />
Endprodukt von 1859 und den Wissensstand‘ um 1800, so wird man in der<br />
’<br />
Tat radikal Neues‘ finden. Widmet man sich hingegen den unzähligen und jahr-<br />
’<br />
zehntelangen Transformations- und Bearbeitungsschritten, so wird man myriadenfache<br />
kleine Veränderungen, Hinzufügungen, Streichungen, Straffungen und<br />
einen graduellen Wechsel von alt zu neu wahrnehmen. In diesen Transformationen<br />
vollzieht sich das Neue‘, wie bei Transformationen üblich, als geordne-<br />
’<br />
ter Übergang. Selbst das einzigartig Neue‘ ist aus einer solchen Transforma-<br />
’<br />
tionsperspektive immer schon im Alten‘ enthalten; wenngleich nicht in seiner<br />
’<br />
schlußendlichen finalen Form‘.<br />
’<br />
Dimensionen des Neuen<br />
Neben den soeben geschilderten Facetten und Kontexten lassen sich auch mehrere<br />
Dimensionen des Neuen anführen, 21 von denen zwei besonders betont wer-<br />
Heinz von Foerster, Cybernetics of Cybernetics, in: Klaus Krippendorff, Hg., Communication<br />
and Control in Society, New York 1974, 5.<br />
19 So stellen an Hand der internationalen ’ Innovationssurveys‘ weit mehr als neunzig Prozent<br />
der in der Wirtschaft getätigten Innovationen solche Neuerungen dar, die nur neu <strong>für</strong> das<br />
Unternehmen oder neu <strong>für</strong> das jeweilige Land, nicht aber neu <strong>für</strong> die Welt insgesamt sind.<br />
20 Zur Primärorientierung vgl. die sehr illustrative Übersicht bei Enrico Bellone, Hg., Darwin.<br />
Ein Leben <strong>für</strong> die Evolutionstheorie, in: Spektrum der Wissenschaft, Biographie 2/1999.<br />
21 Weitere Dimensionen des Neuen, die nicht näher thematisiert werden, betreffen die Be-<br />
ÖZG 11.2000.1 93
den sollen. Diese zwei Grunddimensionen vermögen es, Phänomene des Neuen<br />
innerhalb von vier großen Feldern zu verorten‘ und zu lokalisieren. Diese beiden<br />
’<br />
Dimensionen betreffen auf der einen Seite die Erklär- und Prognostizierbarkeit‘<br />
’<br />
des Neuen und auf der anderen Seite seine Entstehungsart‘.<br />
’<br />
’ Emergenz – Vorhersagbarkeit‘: Die Entstehung oder Ausbreitung des Neuen<br />
kann in einem Kontinuum der Erklär- wie Prognostizierbarkeit auftreten,<br />
an deren Eckpunkten einerseits die vollständige Nicht-Vorhersagbarkeit oder<br />
’ Emergenz‘ und andererseits die vollständige Erwartbarkeit beziehungsweise<br />
Prognostizierbarkeit steht. Gemäß diesem terminologischen Vorschlag muß die<br />
’ Emergenz‘ daher, sehr lose formuliert, sich von der unvorhersehbaren Art dar-<br />
stellen und etwas überraschend Neues unter der Sonne sein – und scheinen.<br />
Um ein paradigmatisches Beispiel zu bemühen, läßt sich – teilweise im Anschluß<br />
an Peter Medawar oder Karl R. Popper – die Entwicklung des Gehirns<br />
als ’ emergenter‘ Prozeß apostrophieren, weil diese Form der neuronalen Organisation<br />
vor dem Hintergrund der seinerzeitig vorrätigen Wissensbasen völlig<br />
unbekannt und unvorhersehbar war. 22<br />
Variation – Innovation: Eine zweite Dimension <strong>für</strong> Neuheiten läßt sich dadurch<br />
gewinnen, daß sich der Mechanismus in der Entstehung des Neuen in<br />
einem Kontinuum von reinen Zufallsänderungen – ” blinder Zufall steuert Neuheit“<br />
– bis hin zur durchgeplanten Innovation – ” gezielte Neuheit kontrolliert<br />
den Zufall“ – bewegt. Im einen Extrem-Fall generiert ein ” blinder Mechanismus“<br />
eines ” blinden Uhrmachers“ (Richard Dawkins) ” blinde Variationen“. 23<br />
Im anderen Extrem findet sich eine genau beschriebene Zielvorgabe, beispielsweise<br />
ein neuartiges und in anderen Kontexten bereits getestetes Organisationsmodell,<br />
welches sukzessive implementiert und innerhalb eines vorgegebenen<br />
Zeit-Rahmens auch vollendet wird. Die Tabelle 1 faßt nochmals die wichtigsten<br />
reiche des Neuen ( ’ Input‘, ’ Withinput‘, Output, Kombinationen dieser Bereiche), Grade der<br />
Neuheit (neu <strong>für</strong> eine Organisation, Region, Land, Kontinent, Welt), oder auch die ’ Historizität‘<br />
des Neuen (weltgeschichtlich erstmalig, geschichtlich mehrmalig ... oftmalig verankert).<br />
22 Trotz alledem sollten auch ’ Emergenzphänomene‘ wie beispielsweise die nachstehende<br />
Darstellung bei Karl R. Popper mit den geforderten Spezifizierungsleistungen hinsichtlich<br />
der temporalen oder niveaumäßigen Kontexte unternommen werden. ” Zu den wichtigsten<br />
emergenten Ereignissen nach heutiger kosmologischer Auffassung zählen wohl die folgenden:<br />
die Emergenz des Bewußtseins, die Emergenz der menschlichen Sprache und des menschlichen<br />
Gehirns.“ Derlei emergent ’ Ungebundenes‘ findet sich etwa in Karl R. Popper u. John Eccles,<br />
Das Ich und sein Gehirn, München u. Zürich 1982, 50.<br />
23 Zwei interessante literarische Variationen zum Thema ” blinde Variation“ stellen auf der<br />
einen Seite der Swiftsche ” Ideen-Generator“ – ein Mechanismus zur zufälligen Aneinanderreihung<br />
von Silben – und auf der anderen Seite Louis Borges ” ungeheuer weiträumige“ Konzeption<br />
der ” Bibliothek von Babel“ dar, die bekanntermaßen jede elementarste Variation<br />
jedes möglichen Werkes enthält. Zum Swiftschen Modell aus der ’ Akademie von Lagado‘<br />
vgl. Jonathan Swift, Reisen in verschiedene ferne Länder der Welt von Lemuel Gulliver –<br />
erst Schiffsarzt, dann Kapitän mehrerer Schiffe, Stuttgart o. J., 280–282; zur ’ Bibliothek von<br />
Babel‘ vgl. Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel, Stuttgart 1974.<br />
94 ÖZG 11.2000.1
Tabelle 1: Dimensionen des Neuen<br />
Dimension1<br />
(Grade der Erklär- und Prognostizierbarkeit)<br />
Emergenz Vorhersagbarkeit<br />
’ Blinde Neues Ausbreitung<br />
Variation‘ Verhaltensmuster eines Verhaltensmusters<br />
Dimension2<br />
(Grade der ’ Zielvorgaben‘)<br />
Geplante Neues Prozeß-/Produkt-<br />
Innovation Produkt innovations-Zyklen<br />
Eckpunkte der bisherigen Diskussion zu den Dimensionen des Neuen zusammen.<br />
In dieser Zusammenstellung verliert die Neuheit viel von dem, was sie<br />
auf den ersten Blick charakterisiert; nämlich ihre subjektiv ’ freischwebende‘<br />
Ungebundenheit und ihren objektiv ’ nicht intelligiblen‘ Status.<br />
Ein Begriffs-Rahmen <strong>für</strong> ’ Neues‘<br />
Nach den verschiedenen Facetten, Kontexten wie Dimensionen des Neuen stehen<br />
im weiteren jene analytischen Bezugsgrößen am Programm, welche <strong>für</strong> das<br />
Leitthema, wie Neues entsteht“, von unmittelbarer Relevanz werden. Sie wer-<br />
”<br />
den in diesem Abschnitt unter den Labels von Bausteinen“, multiplen Ebe-<br />
” ”<br />
nen“, Design-Räumen“, Rekombinationen“, Rekombinations-Operatoren“,<br />
” ” ”<br />
Evaluationsmaßen“ eingeführt und bilden,<br />
” rekursiven Organisationen“ oder ”<br />
wie sich bald herausstellen wird, eine miteinander stark verbundene konzeptionelle<br />
Grund-Architektur in der Analyse dessen, wie Neues entsteht.<br />
Der wichtigste Baustein <strong>für</strong> einen neuartigen konzeptionellen Rahmen des<br />
Neuen ist der ’ Baustein‘ selbst, der in der evolutionstheoretischen Literatur<br />
an sich einen prominenten Stellenwert einnimmt. 24 Die zentrale Anforderung<br />
<strong>für</strong> solche ’ Bausteine‘ liegt darin, daß sie die folgenden vier Grundbedingungen<br />
erfüllen sollten. 25<br />
– Erstens müssen sich solche Bausteine als raum-zeitlich spezifizierbar und ein-<br />
24 Vgl. dazu beispielsweise Francois Jacob, Die Maus, die Fliege und der Mensch. Über<br />
die moderne Genforschung, Berlin 1998 sowie John H. Holland, Keith J. Holyoak, Richard<br />
E. Nisbett u. Paul R. Thagard, Induction. Processes of Inference, Learning, and Discovery,<br />
Cambridge, MA. 1989.<br />
25 Zum weiteren Hintergrund dieser Anforderungen vgl. auch Nelson Goodman, Sprachen<br />
der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie, Frankfurt am Main 1973.<br />
ÖZG 11.2000.1 95
grenzbar ausweisen. Mit anderen Worten muß operative Klarheit bestehen,<br />
was als Baustein gilt und ob eine bestimmte Konfiguration unter einen bestimmten<br />
Baustein zu subsumieren ist – oder nicht.<br />
– Bausteine sollen sich zweitens als kombinierbar‘ herausstellen. Als Baustei-<br />
’ ’<br />
ne‘ sollen nur solche Komponenten in Erscheinung treten, die sich unter<br />
Umständen zu umfangreichen und ausgedehnten Baustein-Ensembles‘ oder<br />
’<br />
’ Schemen‘ zusammenfügen lassen.<br />
– Drittens müssen sich diese Baustein-Kombinationen hinsichtlich ihrer komparativen<br />
Vorteile oder Nachteile im Prinzip als ’ evaluierbar‘ oder ’ bewertbar‘<br />
erweisen. Für solche ’ Baustein-Schemen‘ sollten sich vergleichsweise vorteilhafte<br />
oder nachteilige Merkmale und Charakteristika finden, welche schwache<br />
’ Rangordnungen‘ und ’ Abstufungen‘ solcher ’ Baustein-Schemen‘ ermöglichen.<br />
– Und viertens müssen solche Bausteine und Baustein-Kombinationen dynamisch<br />
in weitere ’ Umgebungen‘ eingebettet sein und innerhalb dieser ’ Environments‘<br />
ihrerseits Veränderungen unterliegen. Bausteine und vor allem:<br />
Bausteinkombinationen tragen keinen Anspruch auf Unveränderbarkeit; gerade<br />
darin liegt der Grund, sie als ’ Bausteine‘ zu klassifizieren.<br />
Die Tabelle 2 offeriert eine Reihe von konkreten Anwendungsfällen möglicher<br />
Bausteine, die von verschiedenartigen ’ Komponenten‘ eingebetteter Code-Systeme<br />
– des genetischen Codes 26 , des neuronalen Codes 27 , von linguistischen<br />
Codes 28 , des Maschinen-Codes oder von Regel-Codes – bis hin zu den ’ Bausteinen‘<br />
von Maschinen, Instrumenten 29 oder anderen Akteur-Netzwerken reichen.<br />
Ein gewichtiges Merkmal solcher Bausteine und ihrer Arrangements liegt<br />
weiters darin, daß sie auf mehreren, in der Regel auf viele Ebenen verteilt<br />
sind. Sprach-Bausteine lassen sich als Buchstaben, Silben, Wörter, Sätze oder<br />
höherstufige Komponenten über verschiedene Niveaus distribuieren. Ein illustratives<br />
Bild <strong>für</strong> diese Viel-Ebenen-Architektur im Bereich der Sprache liefert<br />
Daniel C. Dennett mit der Leitmetapher eines ” Pandämoniums von Wort-<br />
Dämonen“, wo jeder ” linguistische Dämon“ auf der Ebene von Buchstaben-,<br />
Silben-, Wort- oder Satzkombinationen rekursiv auf der Suche nach einem ” passenden<br />
Satz“ beteiligt ist. 30 Aus der Tabelle 2 wird leicht ersichtlich, daß alle<br />
26 Vgl. dazu Steve Jones, The Language of Genes. Solving the Mysteries of Our Genetic<br />
Past, Present and Future, New York 1993.<br />
27 Zum Thema ’ neuronaler Code‘ vgl. u. a. William C. Calvin, The Cerebral Code. Thinking<br />
a Thought in the Mosaics of the Mind, Cambridge MA. 1998.<br />
28 Siehe dazu auch Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972 sowie ders.,<br />
Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt am Main 1981.<br />
29 Zu solchen ’ Baustein-Zugängen‘ im Bereich von Technologien vgl. u. a. Stuart Kauffman,<br />
At Home in the Universe. The Search for the Laws of Selt-Organization and Complexity, New<br />
York 1995, 273–304; Edward Tenner, Why Things Bite Back. Technology and the Revenge<br />
Effect, London 1997.<br />
30 Vgl. Daniel C. Dennett, Consciousness Explained, Boston 1991, 237 f. Aus informations-<br />
96 ÖZG 11.2000.1
der angeführten Beispiele im Rahmen von Viel Ebenen-Architekturen‘ darge-<br />
’<br />
stellt werden sollten – und in der Regel dargestellt werden müssen. Fokussierungen<br />
darauf, daß sich die Sprache des Gehirns‘ nur als Sprache der einzel-<br />
’<br />
nen Neuronen und Neuronenverbindungen analysiert werden dürfte, 31 erweisen<br />
sich als ähnlich sinnvoll wie die Sprach-Wissenschaft einzig und allein aus der<br />
Verbindung von Buchstaben und den feststellbaren Mustern an Buchstabenfrequenzen<br />
aufzubauen. Vom begrifflichen Instrumentarium scheint es jedenfalls<br />
wichtig, zwischen mehreren oder vielen distinkten Ebenen‘ solcher Bausteine<br />
’<br />
zu unterscheiden. An oberster Stelle stehen, wie im weiteren Artikel noch kurz<br />
ausgeführt, jene Top-Arrangements‘, die <strong>für</strong> Fragen der Zielbildung und der<br />
’<br />
Kontrolle von Relevanz werden. An unterster Stelle finden sich jene Bausteine<br />
wieder, deren Veränderungen beziehungsweise Rekombinationen erst die Entstehung<br />
des Neuen effektiv ermöglichen und bedingen. Es sollte allerdings eigens<br />
betont werden, daß sich oben‘ und unten‘ erst nach Maßgabe von Bausteinen<br />
’ ’<br />
und den jeweiligen Erkenntnisinteressen festlegen läßt: Zwei Untersuchungen<br />
über die Entstehung einer wissenschaftlichen Theorie können sich durch deutlich<br />
anders gesetzte basale‘ Bausteinwahlen auszeichnen, indem die eine auf<br />
’<br />
der Ebene der Buchstaben und der Wörter, die andere hingegen viel weiter<br />
’ oben‘, nämlich an größeren thematischen Blöcken ansetzt.<br />
Zentrale Eigenschaften, Strukturen oder Prozesse solcher auf mehreren<br />
Ebenen arrangierten Baustein-Kombinationen lassen sich nun ihrerseits so charakterisieren,<br />
daß sie sich innerhalb eines wohldefinierten ’ Raumes‘ beziehungsweise,<br />
um einen Ausdruck von Daniel C. Dennett hereinzubringen, innerhalb<br />
von ’ Design-Räumen‘ 32 ereignen. Solche ’ Räume‘ oder ’ Design-Räume‘ können<br />
aufgespannt werden, indem man zunächst Mengen und eine eigene ’ Metrik‘<br />
beziehungsweiße ’ Distanzmaße‘ spezifiziert. 33 Ausgehend von einer solchen elementaren<br />
Raum-Definition aus Mengen und Distanzen werden besonders jene<br />
Konstellationen von Interesse, in denen sich n-dimensionale Räume gleich<br />
auf zwei oder mehreren Ebenen finden. Solche Raum-Architekturen werden<br />
vor allem deswegen so wichtig, weil sich dadurch eine funktionale Differenzie-<br />
theoretischer Sicht offeriert auch John Campbell eine Vier-Ebenen-Architektur an Regeln<br />
der Buchstaben-Kombinatorik, um zu ’ normalsprachlichen Aussagen‘ zu gelangen, vgl. John<br />
Campbell, Grammatical Man. Information, Entropy, Language, and Life, Harmondsworth<br />
1984.<br />
31 So noch in den 1970er Jahren die als ’ zentrales Theorem‘ der Neuro-Wissenschaft gehandelte<br />
Barlow-Doktrin von der beschränkten Souveränität der Forschung auf Neuronen-Muster<br />
als einzige und ausschließliche Untersuchungsebene. Konkret zu finden in H. B. Barlow, Single<br />
Units and Sensation. A Neuron Doctrine for Perceptual Psychology In: Perception 1 (1972),<br />
371–394.<br />
32 Vgl. Daniel C. Dennett, Darwin’s Dangerous Idea. Evolution and the Meanings of Life,<br />
New York 1995.<br />
33 Zum formalen Konzept von Räumen, Distanzen und Metriken vgl. Michael Barnsley,<br />
Fractals Everywhere, Boston u. a. 1988, 6–42.<br />
ÖZG 11.2000.1 97
Tabelle 2: ’ Bausteine‘ des Neuen – eine Übersicht<br />
BEREICH BESTIMMUNGSSTÜCKE BAUSTEIN-TYPEN<br />
Spezifizierung Vier Basen: A, C, G, T(U)<br />
Genetischer Code Kombination Triplets, (Doppel-)Helix-Muster<br />
Komparative Vorteile<br />
’ Genetische Fitneß‘<br />
Einbettung Organismen<br />
Spezifizierung Neuronen<br />
Gehirn Kombination<br />
’ Neuronale Gruppen‘<br />
Komparative Vorteile<br />
’ Neuronale Stärken‘<br />
Einbettung Organismen<br />
Spezifizierung Buchstaben<br />
Sprache Kombination Silben, Worte, ’ Sätze‘ u. a.<br />
Komparative Vorteile Performanz-Kriterien<br />
Einbettung Menschliche Gesellschaften<br />
Spezifizierung 0,1<br />
Maschinen-Code Kombination 01-Sequenzen<br />
Komparative Vorteile Performanz-Kriterien<br />
Einbettung<br />
’ Turing-Maschinen‘<br />
Spezifizierung Regeln<br />
Regel-Systeme Kombination Regel-Sequenzen<br />
Komparative Vorteile Performanz-Kriterien<br />
Einbettung Menschliche Gesellschaften<br />
Spezifizierung Maschinen-Bausteine<br />
Maschinen Kombination Maschinelle Kombination<br />
Komparative Vorteile Performanz-Kriterien<br />
Einbettung Sozio-technische ’ Environments‘<br />
Spezifizierung Instrumenten-Bausteine<br />
Instrumente Kombination Instrumenten-Kombination<br />
Komparative Vorteile Performanz-Kriterien<br />
Einbettung Sozio-instrumentelle Umgebungen<br />
Spezifizierung Gestaltungs-Operationen<br />
Kunst-Stile Kombination Werk-Komposition<br />
Komparative Vorteile Stil/Ästhetik-Kriterien<br />
Einbettung Kunst-Systeme von Gesellschaften<br />
Spezifizierung Routinen, Tätigkeiten<br />
Organisationen Kombination Tätigkeits-Abläufe<br />
Komparative Vorteile Performanz-Kriterien<br />
Einbettung Organisations-Ökologie<br />
Spezifizierung Organisations-Komponenten<br />
Organisations- Kombination Organisations-Formen<br />
Formen Komparative Vorteile Performanz-Kriterien<br />
Einbettung Organisations-Ökologien<br />
98 ÖZG 11.2000.1
ung der einzelnen ’ Design-Räume‘ vollziehen und sich verschiedene ’ Kontroll-<br />
Beziehungen‘ zwischen ’ unteren‘ und ’ oberen‘ Niveaus herausbilden können.<br />
Ein kurzer Blick auf die Tabelle 2 sollte genügen, daß sich alle ’ Bausteine<br />
des Neuen‘ innerhalb einer solchen komplexen Mehr Ebenen-Konfiguration befinden.<br />
Vom genetischen Code, von der ’ Sprache des Gehirns‘, von der Sprache<br />
der Menschen oder von Regelsystemen bis hin zur Welt der Maschinen oder<br />
der Organisationsformen hat man es mit Baustein-Arrangements zu tun, die<br />
sowohl innerhalb einer einzelnen Ebene nach mehreren Dimensionen beschreibbar<br />
als auch auf zumindest zwei unterschiedlichen Ebenen angesiedelt werden<br />
können.<br />
Solche multi-dimensionalen und auf mehreren Ebenen verorteten ’ Design-<br />
Räume‘ können ihrerseits auch ’ dynamisch‘ betrachtet werden, indem nach charakteristischen<br />
’ Bewegungen‘ und ’ Veränderungen‘ im Zeitablauf innerhalb oder<br />
zwischen einzelnen Ebenen gesucht wird. Beliebige ’ Neuheiten‘ ’ bewegen‘ sich<br />
in der Zeit innerhalb solcher Design-Räume und entwickeln, um in ein Bild bei<br />
Humberto R. Maturana einzuschwenken, so etwas wie eine jeweils eigenständige<br />
” Drift“. 34 Diese Bewegungen erfolgen in der Regel nach einem einfachen<br />
schrittweisen oder rekursiven Grundschema: Bestimmte Veränderungen werden<br />
immer wieder und immer wieder wiederholt, bis sie zu einem ausgezeichneten<br />
Zustand vorstoßen, an dem diese Operationen nur noch diesen speziellen<br />
Zustand reproduzieren. 35<br />
Und demgemäß ruht ein weiterer Baustein im ’ konzeptionellen Rahmen‘<br />
<strong>für</strong> das Neue in der ’ rekursiven Organisation‘, mit der sich solche Bewegungen<br />
innerhalb von Design-Räumen vollziehen. Die zentrale Komponente dieser<br />
rekursiven Organisation wird durch eine distinkte Menge an rekursiven Operatoren<br />
markiert, welche verschiedene ’ Generatoren‘ <strong>für</strong> die Transformationen<br />
innerhalb solcher Design-Räume umfassen. Dazu zählen in einer typischen Variation<br />
beziehungsweise Rekombination zu einer Liste bei Douglas R. Hofstadter<br />
36 die folgenden Operatoren aus der Tabelle 3.<br />
Eine der Merkwürdigkeiten oder der ’ seltsamen Attraktivitäten‘ des soeben<br />
tabellarisch vorgestellten Rekombinations-Rahmens liegt unter anderem darin,<br />
daß drei an sich unterschiedliche ’ Mechanismen‘ in der Entstehung des Neuen<br />
im Rahmen der Genetik, der Mathematik und der Logik völlig zwanglos in die<br />
neue Sprache der ’ Rekombinations-Operatoren‘ übersetzt werden können.<br />
So setzt sich der Code der RNA aus ’ Triplets‘ der vier Basen-Bausteinen<br />
34 Über den Begriff der ” Drift“ vgl. Maturana u. Varela, Baum, wie Anm. 17.<br />
35 Solche ’ ausgezeichneten Zustände‘ oder ’ Eigen-Zustände‘ dynamischer Systeme lassen sich<br />
in einer Systematik von John L. Casti in die folgenden Hauptgruppen einteilen: in Fix-Punkte,<br />
in Grenzzyklen, in ’ seltsame Attraktoren‘ und in quasi-periodische Bahnen, vgl. John L. Casti,<br />
Reality Rules, Bd. 2, New York 1992, 344.<br />
36 Douglas R. Hofstadter, Fluid Concepts and Creative Analogies. Computer Models of the<br />
Fundamental Mechanisms of Thought, New York 1995, 77.<br />
ÖZG 11.2000.1 99
Tabelle 3: Rekombinations-Operatoren<br />
<strong>für</strong> die Transformationen ’ alt → neu‘<br />
– Adding, d. h. das Hinzufügen neuer Bausteine oder Schemen in ein bestehendes<br />
Schema (A → AB)<br />
– Deleting, d. h. das Entfernen bestehender Bausteine oder Schemen aus einem bestehenden<br />
Schema (AB → A)<br />
– Replacing, d. h. die Ersetzung eines Bausteins oder eines Schemas durch eine Alternative<br />
(AB → AC)<br />
– Duplication, d. h. das Verdoppeln bestehender Bausteine oder Schemen (AB →<br />
ABAB)<br />
– Shortening, d. h. das Verkürzen eines bestehenden Schemas (ABB... → AB)<br />
– Lengthening, d. h. das Verlängern eines bestehenden Schemas (AB → ABB...)<br />
– Inverting, d. h. die Umkehrung eines bestehenden Schemas (ABC → CBA)<br />
– Swapping, d. h. das Vertauschen zweier Bausteine oder Schemen in Schemen (ABC)<br />
(DEF) → (ABD) (CEF)<br />
– Crossing-Over, d. h. das ’ Kreuzen‘ zweier Schemen (ABCD) (EFGH) → (ABGH)<br />
(EFCD)<br />
– Merging, d. h. die Integration bislang getrennter Schemen in ein neues Schema (AB)<br />
(CD) → (ABCD)<br />
– Breaking, d. h. die Differenzierung eines Schemas in disjunktive Schemen (ABCD)<br />
→ (AB) (CD)<br />
– Moving, d. h. die horizontale Bewegung von einem Baustein oder Schema zum<br />
nächsten<br />
– Shifting, d. h. das vertikale Transponieren von einem Niveau Li zu einem davon<br />
verschiedenen Level Lj<br />
Adenin, Cytosin, Guanin und Uracil zusammen, die sich zu Bausteinen oder<br />
Schemen der Art UUU, GGG, AUU, CCU, uws. binden. Solche Triplets bilden<br />
ihrerseits die Basis zur Bildung von insgesamt zwanzig verschiedenen Aminosäuren<br />
wie Glycin, Alanin, Leicin, Serin, Arginin, Prolin, usw. 37 Dieser ge-<br />
’<br />
netische Code‘ besitzt keine Kommas, Leerzeichen oder Rufzeichen, wohl aber<br />
’ Ende-Symbole‘, die ihrerseits als Triplets gehalten sind und – wie im Falle von<br />
UAA, UAG oder UGA - zumeist mit Uracil beginnen. Und schließlich stellt<br />
sich der ’ genetische Code‘ nahezu als kontextfrei dar und ’ codiert‘ bis auf ganz<br />
wenige Ausnahmen 38 mit denselben Triplets dieselben Aminosäuren.<br />
Bezüglich seines Rekombinations-Repertoires lassen sich die folgenden Rekombinations-Operatoren<br />
bemühen, wenn es um die Variationsbreite des genetischen<br />
Code geht. 39<br />
37 Es sollte noch hinzugefügt werden, daß sich der genetische Code im technischen Wortsinne<br />
als ’ degeneriert‘ darstellt, da Triplets wie GGU, GGC, GGA und GGG die Produktion von<br />
Glycin ’ codieren‘ oder GCU, GCC, GCA, GCG die Herstellung von Alanin bewirken können.<br />
38 So fungieren beispielsweise in der mitochondrialen DNA von Menschen AGA and AGG,<br />
welche ansonsten die Produktion von Arginin ’ codieren,‘ als ’ Stop-Symbol‘.<br />
39 Vgl. dazu auch Wolfgang Hennig, Genetik, Berlin u. a. 1995, 485.<br />
100 ÖZG 11.2000.1
– Crossing over, das Spalten zweier Chromosomenstränge und ihre Zusammensetzung<br />
in neue Stränge<br />
– Deletion, die Entfernung eines speziellen Bausteins von einem bestehenden Schema<br />
– Duplication, die ein- oder mehrmalige Einfügung eines identischen Bausteins oder<br />
Schemas<br />
– Inverting, die Schaffung von Kopien mit einer gegenläufigen Folge von Bausteinen<br />
– Merging oder Fusion, die Zusammenführung zweier getrennter Schemen in ein neues<br />
– Moving oder Transposition, den Transport von Bausteinen hin zu neuen Plätzen<br />
Auch Turing-Maschinen, immerhin der Grundmechanismus <strong>für</strong> alle berechenbaren<br />
Funktionen, erweisen sich über die Rekombinationsoperatoren aus der<br />
Tabelle 3 als geschlossen rekursiv organisiert. Denn gegeben eine Standardkonfiguration<br />
von Turing-Maschinen mit = ( , Σ, Γ, δ, 0, , ) 40 bestehen<br />
die wichtigsten Operationen eines Turing-Rechners in der Verwendung der folgenden<br />
vier Rekombinations-Operatoren, welche die ’ effektive Berechenbarkeit‘<br />
von Funktionen rekursiv sicherstellen.<br />
– Moving, d. h. die horizontale Bewegung von einem Baustein zum nächsten<br />
– Deleting, d. h. das Entfernen eines bestehenden Bausteins<br />
– Adding, d. h. das Hinzufügen eines Bausteins<br />
– Replacing, d. h. die Ersetzung eines Bausteins durch einen anderen<br />
Schließlich stellt sich, worauf allerdings nicht mehr näher eingegangen wird,<br />
auch die Logik in der ’ operativen‘ Fassung von Spencer-Brown so dar, daß<br />
ihre Grundoperationen mit einer Untermenge aus der Tabelle 3 zusammengefaßt<br />
werden können. 41 Das Interessante an dieser beispielhaften Aufzählung lag<br />
vor allem darin, daß drei bekannte ’ Mechanismen‘ zur Erzeugung des Neuen<br />
in sehr unterschiedlichen Bereichen mit dem neuen Begriffswerkzeug auf eine<br />
einheitliche und homogene Weise dargestellt werden können.<br />
Als letztes konzeptionelles Element müssen noch ’ Evaluations- oder Bewertungsmaße‘<br />
eingeführt werden, die folgende Grundeigenschaft besitzen: Sie<br />
vermögen die ’ Zwischenprodukte‘ in der Transformation von ’ alt‘ nach ’ neu‘ zu<br />
40 So zu finden beispielsweise in John E. Hopcroft u. Jeffrey D. Ullman, Einführung in die<br />
Automatentheorie, formale Sprachen und Komplexitätstheorie, Bonn u. a. 1990, 159. Die<br />
Symbole stehen <strong>für</strong>: Q bezeichnet eine endliche Menge von Zuständen, Σ die Menge der<br />
Eingabesymbole, Γ eine endliche Menge von erlaubten Bandsymbolen ein, δ eine Übergangsfunktion,<br />
B das Blank, ein Symbol aus Γ, q0 den Anfangszustand und F die Menge der<br />
Endzustände (F Q).<br />
41 Über die Grund-Operation des ’ Breaking‘, die Schaffung einer Unterscheidung im leeren<br />
Raum, über die Operation des ’ Shortening‘, über ein Axiom <strong>für</strong> das ’ Breaking‘ ( ” Wieder-<br />
Kreuzen ist nicht Kreuzen“, so George Spencer-Brown, Laws of Form. Gesetze der Form,<br />
Lübeck 1997 [Erstausgabe 1969], 2.) sowie über die Festlegung von ’ Bausteinen‘ (Token, Arrangement<br />
oder Ausdruck) läßt sich nach und nach der Spencer-Brownsche Kalkül aufbauen<br />
und ’ rekombinativ‘ darstellen.<br />
ÖZG 11.2000.1 101
ewerten und vor allem zwischen komparativ vorteilhafteren von relativ benachteiligten<br />
Varianten zu differenzieren. Solche Evaluationsmaße sind speziell<br />
in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Domänen in einer bunten Vielzahl<br />
zugegen, und reichen allein im Falle der Bewertung einer wissenschaftlichen<br />
Hypothese von induktiven Bestätigungsgraden, statistischen Stützungsmaßen,<br />
Konfirmationsgraden, einem ’ Korroborationsmaß‘ (Karl R. Popper) bis hin zu<br />
eher diffus definierten Maßen wie ’ Problemlösungsfähigkeit‘, ’ Einfachheit‘, ’ Erklärungstiefe‘<br />
und anderem mehr.<br />
Mit den Evaluationsmaßen <strong>für</strong> vielstufig distribuierte Baustein-Schemen,<br />
die rekursiv über Rekombinations-Operatoren innerhalb von ’ Design-Räumen‘<br />
immer wieder, round and round, verändert werden, kann die Kurz-Übersicht zu<br />
den neuen Begrifflichkeiten <strong>für</strong> die Entstehung des Neuen abgeschlossen werden.<br />
Um einen Augenblick hier zu verweilen: Die Sicht der Dinge, oder besser:<br />
Prozesse, welche durch die bisherigen Darlegungen zum Begriff der Neuheit<br />
nahegelegt wird, lädt ein zu Bildern ineinander verwobener, größtenteils irreduzibler<br />
’ Landschaften‘ an evolutionären Ensembles auf den unterschiedlichsten<br />
raum-zeitlichen Niveaus, mit Inseln vergleichsweise höchster Komplexität, beispielsweise<br />
dem menschlichen Gehirn, und viel an kontingenten Bindungen und<br />
Zerfall im Drumherum: zu Bildergalerien großer Ketten des Werdens – und des<br />
Vergehens. 42 Und vor diesem Hintergrund sollen im nächsten und <strong>für</strong> diesen<br />
Artikel wohl zentralen Abschnitt Schlüsselheuristiken <strong>für</strong> die Erklärung des<br />
Neuen bis hin zu einer ’ generativen Tiefengrammatik‘ Stück um Stück aufgebaut<br />
und vorgestellt werden. Damit werden <strong>für</strong> vier unterschiedliche Kontexte<br />
jeweils einheitliche Erklärungs-Rahmen und zum Teil auch passende Modellierungsformen<br />
bereitgestellt, die sich <strong>für</strong> eine Vielzahl sehr unterschiedlicher<br />
gesellschaftlicher, technologischer oder wissenschaftlicher Bereiche gleichermaßen<br />
eignen.<br />
Analyse-Felder <strong>für</strong> Neues<br />
Nach den Facetten, Kontexten wie den Dimensionen des Neuen und nach einem<br />
Begriffs-Rahmen <strong>für</strong> die Untersuchung des Neuen werden im fünften Abschnitt<br />
vier zentrale Analyse-Kontexte aufgespannt, innerhalb deren sich gegenwärtig<br />
und wohl auch zukünftig das ’ Erkenntnisinteresse‘ am Neuen entfalten kann.<br />
Wiederum sollen da<strong>für</strong> zwei unterschiedliche Dimensionen bemüht werden, um<br />
42 Zu ähnlichen Visionen von Ordnungs/Welt-Konstruktionen vgl. u. a. William H. Calvin,<br />
The Cerebral Symphony. Seashore Reflections on the Structure of Consciousness, New York<br />
u. a. 1990; Heinz von Foerster, Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen. Eine<br />
Selbsterschaffung in sieben Tagen, hg. von Albert Müller u. Karl H. Müller, <strong>Wien</strong> 1997; Lynn<br />
Margulis, Symbiotic Planet. A New Look at Evolution, New York 1998 sowie Milan Zeleny,<br />
Hg., Autopoiesis, Dissipative Structures, and Spontaneous Social Orders, Boulder 1980.<br />
102 ÖZG 11.2000.1
Tabelle 4: Vier Analyse-Felder des Neuen<br />
EINBETTUNG/UMGEBUNG NEUHEIT<br />
EXTERN Kontext-Veränderungen bei Diffusion des Neuen<br />
der Diffusion des Neuen (Feld I) (Feld II)<br />
INTERN Kontext-Transformationen Transformationen<br />
’ alt → neu‘ (Feld III)<br />
’ alt → neu‘ (Feld IV)<br />
zu einer elementaren ’ Vierfelder-Wissenschaft‘ der Analysen von Neuheit vorzustoßen.<br />
Die erste der beiden Dimensionen orientiert sich daran, ob der Transformationsprozeß<br />
der ’ Entstehung des Neuen‘ von ’ überkommenen‘ Anfangszuständen<br />
hin zu einem ’ Endzustand‘ des Neuen im Zentrum des Interesses<br />
stehen soll – oder nicht. Demgemäß werden als ’ intern‘ solche Analysen gewertet,<br />
welche die Feinstrukturen und Abläufe solcher Veränderungs- und Transformationsprozesse<br />
zum Ziel erheben. Als ’ extern‘ gelten demgemäß solche Untersuchungen,<br />
welche vor dem Hintergrund von etwas Neuem nach dessen weiterer<br />
Diffusion wie Rezeption fragen und primär an der Art der Ausbreitung<br />
von Neuem orientiert sind. Die zweite Dimension stellt den Gegenstand der<br />
Analyse in den Vordergrund und differenziert in erster Linie danach, ob das<br />
Neue selbst oder dessen Umgebung oder sein Kontext im Brennpunkt der Untersuchung<br />
stehen. 43 Demgemäß gelten als typisches Beispiel von ’ Umgebungsfragen‘<br />
die Beziehungen von Forschungsorganisationen und wissenschaftlichen<br />
Innovationen, wogegen die Analysen von neuen Theorien, neuen Modellen, neuen<br />
Heuristiken oder von neuen Organisationsformen unter die Rubrik ’ Neuheit‘<br />
zu subsumieren sind.<br />
Im weiteren werden diese vier Analyse-Felder näher in ’ normalwissenschaftlicher‘<br />
Manier aufbereitet und erläutert – und das heißt in bearbeitungsfähigen<br />
Erklärungs- oder Prognose-Kontexten dargestellt. Der Weg dieser Darstellung<br />
wird in allen vier Feldern über dieselben ’ Etappen‘ führen und von<br />
den Kern-Fragen und den zentralen Forschungsproblemen des jeweiligen Bereiches<br />
zu einigen empirisch abgesicherten ’ Heuristiken‘ vorstoßen. Diese sollen<br />
ihrerseits dann generalisiert und zu ’ Leitheuristiken‘ <strong>für</strong> die Kernfragen des<br />
jeweiligen Feldes aufgebaut werden. Das Überraschendste – und damit wohl<br />
auch: das Neuartige - an diesen vier zu präsentierenden Kontexten liegt in zweierlei.<br />
Auf der einen Seite können jeweils klar ausformulierte verallgemeinerte<br />
43 Diese Dimension ließe sich auch als ’ Luhmann-Dimension‘ etikettieren, da dort bekanntermaßen<br />
die Trennung von ’ Sprache/Kommunikation‘ und ’ Umwelt‘ als Leitdifferenz firmiert<br />
und ’ psychische Systeme‘ zur ’ Umwelt‘ gerechnet werden, vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme.<br />
Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, 346.<br />
ÖZG 11.2000.1 103
’ Erklärungs-Sketches‘ und in zwei Feldern auch die dazu stimmigen komplexen<br />
Modellierungen präsentiert werden, die im Zentrum des jeweiligen Feldes<br />
stehen und ihrerseits sowohl erklärenden wie prognostischen Charakter tragen<br />
können. Und das zweite neuartige Charakteristikum ist darin zu suchen, daß<br />
diese komplexen Modelle oder Proto-Modelle‘ in unterschiedlichsten Gegen-<br />
’<br />
standsbereichen verwendet werden können und sich im Bereich der Ökonomie<br />
nicht anders darstellen als auf wissenschaftlichen Feldern, in sozio-technischen<br />
Domänen oder innerhalb von verschiedenartigen Computerwelten‘. Die Ent-<br />
’<br />
stehung des Neuen folgt damit, etwas anders ausgedrückt, in scheinbar sehr<br />
heterogenen Domänen einem sehr ähnlichen Grundmuster. Und man wäre speziell<br />
bei den beiden Feldern III und IV fast geneigt, von einer ebenso univer-<br />
’<br />
sellen‘ wie generativen‘ Tiefen-Grammatik‘ <strong>für</strong> die Entstehung des Neuen zu<br />
’ ’<br />
sprechen, die speziell in den letzten Passagen dieses Artikels entgegentreten<br />
wird.<br />
Die konkrete Abfolge der einzelnen Analyse-Kontexte erfolgt im Ausmaß<br />
der in diesem Heft versammelten Erklärungs-Rahmen und wird sich darum ganz<br />
in der Reihenfolge von Tabelle 4 bewegen: Die Kontext-Veränderungen <strong>für</strong> das<br />
extern betrachtet Neue‘ (Feld I) wurden innerhalb dieses Journals vergleichs-<br />
’<br />
weise gut kognitiv gemeistert – und auch die so interessanten Übersichten, die<br />
Albert Müller zum Foersterschen Biological Computer Laboratory präsentiert,<br />
folgen weitgehend diesem Kontext. Die zentralen Fragen des gesamten Heftes<br />
nach der Entstehung des Neuen, speziell nach den Fein-Analysen der viel- und<br />
mannigfaltigen Rekombinationen‘ auf dem Weg zum Neuen (Feld IV) wurden<br />
’<br />
hingegen bisher nur in Spuren und Ansätzen gestreift. Dieser Prozeß gehört<br />
nach wie vor zu den am wenigsten verstandenen und erklärbaren Phänomenen;<br />
er blieb auch innerhalb dieser Ausgabe vorerst noch ein hartnäckig weißer‘,<br />
’<br />
’ dunkler‘ oder blinder‘ Fleck auf den kognitiven Landkarten dieser Journal-<br />
’<br />
nummer.<br />
Analyse-Feld I: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> ein hohes Potential an Neuem<br />
Im ersten Feld geht es primär um den Zusammenhang von hohen Innovationsgraden,<br />
hohen kreativen Leistungen mit ihren organisatorischen ’ Environments‘.<br />
Gesucht wird hier nach jenen ’ Schlüsselfaktoren‘ und vor allem nach<br />
jenen Organisations-Mustern, die mit der Entstehung vieler oder wichtiger neuer<br />
Phänomene verbunden sind: organisatorische Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> wissenschaftliche<br />
Durchbrüche und Revolutionen, eine Fragestellung, die Rogers und<br />
Ellen Jane Hollingsworth sehr ausführlich innerhalb dieses Heftes zur Sprache<br />
brachten; Organisations-Formen, die <strong>für</strong> das Zustandekommen hoher unternehmerischer<br />
Innovationsleistungen vorrangig werden – das Kernthema in Jerry<br />
104 ÖZG 11.2000.1
Hages Artikel in dieser Ausgabe. Wo immer das Problem des Zusammenhangs<br />
von hohen Innovationspotentialen, markanten ’ Kreativitätsausbrüchen‘ und seinem<br />
weiteren organisatorischer Kontext auftaucht, da wird das Analysefeld I<br />
unmittelbar und zentral angesprochen.<br />
Und eine der bemerkenswertesten Konvergenzen im gesamten vorliegenden<br />
Heft hat sich genau bei den Analysen jener ’ Umgebungen‘ vollzogen, welche<br />
<strong>für</strong> einen hohen Grad an ’ extern‘ betrachteter Neuheit verantwortlich zeichnen.<br />
Denn ein starkes Ausmaß an Innovationen entlang der unterschiedlichsten Bereiche,<br />
in wissenschaftlichen Instituten, 44 in Unternehmen 45 oder in verwandten<br />
Organisations-Formen, stellt sich, so die bisherigen Analysen bei Rogers und Ellen<br />
Jane Hollingsworth oder Jerry Hage, dann her, wenn die folgenden drei Faktorengruppen<br />
simultan sich entfalten und verstärken können: riskante Strategien,<br />
Komplexität der Tätigkeiten sowie ’ organische‘ Organisationsmerkmale. 46<br />
Die bisherige Palette an Schlüsselfaktoren kann interessanterweise nach<br />
’ oben‘ hin nochmals erweitert und ausgebaut werden. In einer früheren Arbeit<br />
in dieser Zeitschrift über wichtige Eigenschaften und Charakteristika im sehr<br />
kreativen sozialwissenschaftlichen Netzwerk der <strong>Wien</strong>er Zwischenkriegszeit47 war ebenfalls von Schlüsselfaktoren‘ die Rede, die seinerzeitig zwar nicht in<br />
’<br />
diese Dreier-Gruppe verpackt waren, die aber bruch- und nahtlos in das bisherige<br />
Faktoren-Terzett integriert werden können. Dort war von einem Netzwerk‘<br />
’<br />
stark interagierender interdisziplinärer Gruppen – allen voran Ensembles wie<br />
der <strong>Wien</strong>er Kreis‘, der Austro-Liberalismus‘, der Austro-Marxismus‘ und an-<br />
’ ’ ’<br />
deren die Rede, welche weitgehend abseits der etablierten Stätten der Wissen-<br />
’<br />
schaften‘ – der <strong>Universität</strong>en – eine hoch innovative wissenschaftliche Kultur‘<br />
’<br />
pflegten und bis weit in die Mitte der 1930er Jahre auch erhalten konnten. Die<br />
wichtigsten Merkmale des seinerzeitigen urbanen Netzwerks‘ lassen sich wie<br />
’<br />
folgt dem bisherigen Trio von Schlüsselfaktoren zuordnen.<br />
– Komplexität der Arbeitsteilung: Komplexe Persönlichkeiten mit einer gegenwärtig<br />
erstaunlich anmutenden kognitiven ’ Weite‘ und ’ Tiefe‘ 48 ; komplexe Tätigkeits- und<br />
Diskussionsfelder, da die einzelnen Gruppen sich durch eine hohe disziplinäre Vielfalt<br />
auszeichneten u. a. m.<br />
44 Vgl. den Artikel der beiden Hollingsworths in dieser Ausgabe.<br />
45 Siehe den Artikel von Jerry Hage in diesem Band.<br />
46 Man könnte weiters einige der Ausführungen bei Albert Müller über das BCL als ’ implizite<br />
Unterstützung‘ anführen; und Christian Flecks sehr breit angelegte ’ Organisationsstudie‘<br />
kann nachgerade als Muster da<strong>für</strong> herhalten, warum bei Vernachlässigung einiger zentraler<br />
Schlüsselfaktoren wissenschaftlich Neues nicht sich zu bilden vermag.<br />
47 Vgl. Karl H. Müller, Sozialwissenschaftliche Kreativität in der Ersten und in der Zweiten<br />
Republik, in: Österreichische Zeitschrift <strong>für</strong> Geschichtswissenschaften 1, 1996, 9–43.<br />
48 Zu näheren Details sei auf den Artikel selbst verwiesen, aber auch auf Friedrich Stadler,<br />
Studien zum <strong>Wien</strong>er Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus<br />
im Kontext, Frankfurt am Main 1997.<br />
ÖZG 11.2000.1 105
– Strategische Visionen‘: Riskante‘ kognitive Gruppenziele, die unmittelbar mit der<br />
’ ’<br />
Produktion von Neuheit gekoppelt waren; 49 eigenständige lokale Traditionen‘ wie<br />
’<br />
etwa der Austro-Lioberalismus‘ oder der Austro-Marxismus‘ mit ebenfalls einer<br />
’ ’<br />
’ riskanten Weite‘ an unterschiedlichen Themen u. a. m.<br />
– Organische Organisation‘: Zivile Selbst-Organisation‘ der vielfältigen Gruppen-<br />
’ ’<br />
treffen jenseits von bürokratischen und standardisierten Routinen – und vor allem<br />
auch jenseits der traditionellen <strong>Universität</strong>en; enger Zusammenhang von ziviler<br />
’<br />
Selbst-Organisation‘ und horizontalen Begegnungsformen sowie dichtestgedrängte<br />
Kommunikations- und Austauschbeziehungen u. a. m.<br />
Nur unter der simultanen und ’ an sich‘ seltenen Gegebenheit aller drei Faktorengruppen<br />
konnte sich jenes hochinnovative ’ <strong>Wien</strong>er Netzwerk‘ in der Zwischenkriegszeit<br />
bis zu dem Zeitpunkt entfalten und etablieren, bis es durch<br />
den inner<strong>österreichische</strong>n Austrofaschismus und durch den außer<strong>österreichische</strong>n<br />
Nationalsozialismus vollends und nachhaltig zerstört wurde; als wär’s<br />
nie ein Stück von <strong>Wien</strong> gewesen. 50<br />
Damit liegen mittlerweile hinreichend viele empirisch abgestützte Erklärungs-Muster<br />
vor, die sich als verallgemeinerungsfähig ausweisen. Ein generalisierter<br />
Erklärungs-Sketch <strong>für</strong> den Analyse-Kontext I, <strong>für</strong> die Schlüsselfaktoren<br />
<strong>für</strong> ein hohes Umgebungs-Potential von Neuheit, könnte demnach in folgender<br />
Form präsentiert werden.<br />
Generalisierte Erklärungs-Skizze <strong>für</strong> das Feld I: Evolutionäre Ensembles wie Organisationen<br />
(Unternehmen, wissenschaftliche Institute, Bürokratien, intermediäre Organisationen,<br />
etc.) oder Regionen von einzelnen Städten bis hin zu ganzen Staaten<br />
besitzen ein hohes und nachhaltiges Innovations- oder Kreativitätspotential, wenn sie<br />
über das folgende Faktorengeflecht simultan verfügen und dieses zudem dauerhaft<br />
verbinden können: komplexe Formen der Arbeitsteilung (Faktorengruppe I), eine<br />
dauerhaft riskante Strategie (Faktorengruppe II) und eine organische Organisation<br />
(Faktorengruppe III). Wegen der vielfältigen positiven Relationen zwischen Innovationserfolgen<br />
und Größenwachstum einerseits [Innovationserfolge ↔ Größenwachstum<br />
( )], [Innovationserfolge ↔ Attraktivität <strong>für</strong> außen ( )], etc. und wegen der inver-<br />
49 Die Psycho-Analyse sollte beispielsweise entlang der ’ Schnittstelle‘ von Medizin, Machscher<br />
Mechanik, Psychologie und Psychiatrie wachsen, der <strong>Wien</strong>er Kreis sich im ’ Interface‘<br />
von ’ neuer Logik‘, Wissenschaftsanalyse, Philosophie und Sprachkritik entwickeln; der Austroliberalismus<br />
setzte sich die Ausarbeitung einer komplexen Handlungstheorie mit einem<br />
sehr differenzierten Güterkosmos zum Zielpunkt einer möglichst umfassenden Sozio-Ökonomie,<br />
etc.<br />
50 Man möchte verallgemeinernd hinzufügen: Nur unter einem ähnlichen Zusammenwirken<br />
dieser drei Gruppen an regionalen Schlüsselfaktoren vermögen sich auch gegenwärtig kreative<br />
wissenschaftliche Netzwerke aufzubauen und zu reproduzieren; momentan beispielsweise jene<br />
im Umkreis von Santa Fe oder um Boston. Und es würde zu den wissenschaftshistorisch<br />
spannungsgeladenen Forschungsfragen gehören, ob sich ’ Edinburgh um 1750‘, ’ Paris um 1750‘<br />
oder ’ Berlin um 1920‘ aus einer ähnlichen Faktorenkonstellation begreifen und ansatzweise<br />
erklären lassen.<br />
106 ÖZG 11.2000.1
sen Beziehungen zwischen Größenzuwächsen und organischen Strukturen andererseits<br />
[Größe ↔ Standardisierung ( )],[Größe ↔ Bürokratisierung ( )] [Größe ↔ horizontale<br />
Kommunikationen (-)], [Größe ↔ Hierarchiebildungen ( )], etc. unterminiert<br />
ein hohes Innovationspotential auf die Dauer die Grundlagen seiner Existenz.<br />
Formale Modelle, welche diesen allgemeinen Erklärungs-Sketch reproduzieren<br />
könnten, sind nicht unmittelbar gegeben – und würden an dieser Stelle auch<br />
kaum von unmittelbarem Nutzen sein. Denn die wichtigen Datenquellen <strong>für</strong><br />
diese allgemeine Erklärungs-Skizze lassen sich hauptsächlich über den Weg von<br />
qualitativen Erhebungen, Expertengesprächen oder Organisationsanalysen aufbauen.<br />
Und diese vornehmlich ’ weichen Daten‘ besitzen in der Regel eine starke<br />
Resistenz gegenüber weiterführenden Modellierungen. Summarisch eröffnet sich<br />
aber in Gestalt von Tabelle 5 eine überraschend homogene und empirisch vielfach<br />
gestützte ’ selbstähnliche‘ 51 Heuristik von kontextuellen Schlüsselfaktoren<br />
<strong>für</strong> hohe Innovationspotentiale in so unterschiedlichen Bereichen wie Wissenschaft,<br />
Ökonomie oder einem ’ intermediären Sektor‘ und <strong>für</strong> so divergierende<br />
Niveaus wie <strong>für</strong> einzelne Organisationen oder Regionen.<br />
Damit wäre ein erster Erklärungskontext mit einem allgemeinen Erklärungs-Sketch<br />
gewonnen, der zudem durch mehrere Beiträge in diesem Heft<br />
empirisch abgesichert werden konnte.<br />
Analyse-Feld II: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> die Ausbreitung des Neuen<br />
Ein zweites großes Analyse-Feld, auf dem sich zudem vielfältige empirische<br />
Erfahrung wie Erklärung angesammelt hat, liegt in der Schnittstelle von extern<br />
vorgegebenen Neuheiten und ihrer Diffusion. Die zentralen Fragestellungen<br />
zielen hier nach dem Ausbreitungs-Muster ebendieser Neuheit, die verschiedenartigste<br />
Formen beinhalten. Einerseits kann ’ Neuheit‘ vielerlei bedeuten:<br />
ein neues Produkt, einen neuen Prozeßablauf, eine neue Organisationsweise im<br />
Wirtschaftsleben, eine neue Theorie, ein neues Modell im Wissenschaftsbereich,<br />
neue Instrumente, neue Moden, neue ’ Lifestyle-Trends‘, ein neues literarisches<br />
Werk und vieles, vieles andere mehr; andererseits kann sich Neues schnell, zyklisch,<br />
linear, regional konzentriert, zeitverzögert, geplant, oder auch gar nicht<br />
verbreiten. Wo immer sich das Erkenntnisinteresse an der Ausbreitung oder<br />
auch der Nichtausbreitung neuartiger Phänomene festsetzt, da wird im Kern<br />
das Analyse-Feld II berührt.<br />
51 Der Ausdruck der ’ Selbstähnlichkeit‘ soll allerdings nur dann verwendet werden, wenn sich<br />
ein- und dasselbe ’ Faktorengeflecht‘ auf unterschiedlichen Ebenen – auf solchen der Regionen,<br />
der Staaten oder der Organisationen - applizieren läßt. ’ Selbstähnlichkeit‘ ist auf diese Weise<br />
untrennbar mit einem Niveauwechsel, nicht einem Bereichswechsel verknüpft.<br />
ÖZG 11.2000.1 107
Tabelle 5: ’ Selbstähnliche‘ Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> hohe Kreativitätsund<br />
Innovationspotentiale von Organisationen, urbanen Räumen oder Regionen<br />
BEREICHE FAKTORENGRUPPEN INDIKATOREN<br />
WISSENSCHAFTL.<br />
’ Komplexität der Vielfalt (Heterogenität von Dis-<br />
INSTITUTE Tätigkeiten‘ ziplinen; multi-disziplinäre Kompe-<br />
’<br />
tenzen), Tiefe‘ (Größe und Weite)<br />
’ Riskante‘<br />
’ Leadership‘: Strategische Vision,<br />
Strategien Rekrutierung; Ressourcen; inno-<br />
’<br />
vationsfreundliche Atmosphäre<br />
’ Organische Strukturen‘ Geringer Grad an Differenzierung,<br />
Hierarchisierung und Standardisierung;<br />
horizontale Kommunikationsprozesse<br />
UNTERNEHMEN<br />
’ Komplexität der Komplexe Arbeitsteilungen; kom-<br />
Tätigkeiten‘ plexe Berufs- und Tätigkeitsprofile<br />
u. a.<br />
’ Riskante Strategien‘<br />
’ Leadership‘: Unternehmensvision<br />
<strong>für</strong> Markt-Nischen u. a.<br />
’ Organische Strukturen‘ Relativ geringer Grad an Differenzierung,<br />
Bürokratisierung, etc.<br />
INTERMEDIÄRE<br />
’ Komplexität der Komplexe Arbeitsteilungen; kom-<br />
ORGANISATIONEN Tätigkeiten‘ plexe Berufs- und Tätigkeitsprofile<br />
u. a.<br />
’ Riskante Strategien‘<br />
’ Leadership‘: Visionen <strong>für</strong> die<br />
Umstrukturierung einer Organisation<br />
in intermediäre Nischen<br />
’ Organische Strukturen‘ Relativ geringer Grad an Differenzierung,<br />
Bürokratisierung, etc.<br />
REGIONEN<br />
’ Komplexität der Kognitive ’ Weite‘ und ’ Tiefe‘<br />
(Stadt, Region Tätigkeiten‘ von Personen; Heterogenität von<br />
Staat) Disziplinen in den Gruppen<br />
’ Riskante Strategien‘<br />
’ Leadership‘ : Risikoreiche<br />
Wissenschaftsprogramme<br />
mit genuinem Neuheitswert;<br />
Schaffung passender Organisations-Formen<br />
u. a.<br />
’ Organische Strukturen‘<br />
’ Zivile‘ Selbst-Organisation;<br />
geringer Grad an Standardisierung;<br />
hohes Ausmaß an horizontaler<br />
Kommunikation, etc.<br />
Im Falle des kreativen <strong>Wien</strong>er Netzwerks braucht nur auf ’ Leit-Figuren‘ wie beispielsweise<br />
Sigmund Freud, Alfred Adler, Ludwig von Mises, Otto Neurath oder Moritz Schlick verwiesen<br />
werden.<br />
108 ÖZG 11.2000.1
Für diese ’ Diffusion des Neuen‘ sind im Wissenschaftsbereich völlig unabhängig<br />
voneinander zu zwei verschiedenen Zeitpunkten und zudem <strong>für</strong> verschiedene<br />
Bereiche zwei Erklärungsskizzen entworfen worden. Die erste Version<br />
wird im Bereich der Ökonomie entwickelt und von Joseph A. Schumpeter seit<br />
dem Jahre 1912, dem Erscheinungsdatum seiner ’ Volkswirtschaftlehre‘ immer<br />
mehr verfeinert. 52 Bezogen auf langfristige Produkt-Innovationen liest sich der<br />
Schumpetersche Sketch ungefähr wie folgt.<br />
Zu Beginn zeichnet sich ein Marktsystem – und dies markiert den Beginn seiner ’ Prosperitätsphase‘<br />
– durch eine rasche Diffusion einer Basis-Produktinnovation 53 und<br />
der dadurch induzierten sekundären, tertiären usw. Anpassungsprozesse aus. Weil die<br />
Erträge und Chancen von Kapazitätsausweitungen im neuen Verbund dieser Basis-<br />
Produktinnovation aber im Lauf der Zeit abnehmen stoßen, wird das ökonomische System<br />
insgesamt in die Gegend von ’ Sättigungsgrenzen‘ getrieben. Mit dem Erreichen<br />
solcher Grenzen wandelt sich – und dies markiert den Beginn der ’ Depressionsphase‘ –<br />
der Zustand des ökonomischen Systems. Es kommt, so sich dazu die Möglichkeiten offerieren,<br />
zur Verbreitung von Basis-Prozeßinnovationen, welche aber ihrerseits durch<br />
abnehmende Grenzerträge charakterisierbar sind. Durch die mit der Zeit auch schwindenden<br />
Attraktivitäten von Basis-Prozeßinnovationen und dem parallel damit zunehmenden<br />
Aufbau einer neuen Basis-Produktinnovation wird das ökonomische System<br />
wiederum, und diesmal deshalb, weil während der Depression die Wahrscheinlichkeit<br />
<strong>für</strong> die Suche nach gänzlich anderen Alternativen zunimmt und eine erfolgreiche Basis-<br />
Produktinnovation inmitten einer wenig gewinnträchtigen Umgebung vergleichsweise<br />
schnell imitiert wird, in eine Umgebung voll von ’ offenen Möglichkeiten‘ getrieben.<br />
Nach einer kurzen ’ Scramble‘-Periode, in der sich eine Basis-Produkt-Innovation als<br />
die vergleichsweise stärkste herausstellen muß, kann sich eine neuerliche Aufschwungperiode<br />
entfalten, innerhalb der – aber damit wären wir wiederum beim Anfang zu<br />
diesem Sketch angelangt, der sich im übrigen, weil eine große Zahl der beteiligten<br />
Unternehmensgruppen unkoordiniert, aber gebunden rational entscheidet, auf diese<br />
Weise ad infinitum fortsetzt.<br />
Die Abbildung 1 führt nochmals das Schema einer solchen quasi-zyklischen<br />
’ Schumpeter-Uhr‘ vor Augen, in der einzelne Unternehmen sich im Zeitablauf<br />
einer von insgesamt sechs Netzwerk-Gruppen zuordnen können: CE (core/expansiv)<br />
steht dabei <strong>für</strong> Produkt-Innovationen im Bereich von Schlüsseltechnologien<br />
oder Leitsektoren‘, CR (core/rationalisierend) <strong>für</strong> Prozeß-Innovationen<br />
’<br />
wiederum bei Schlüsseltechnologien, PE (peripher/expansiv) <strong>für</strong> Produktinnovationen<br />
in speziellen Marktnischen, PR (peripher/rationalisierend) <strong>für</strong> Prozeß-<br />
52 Vgl. Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung<br />
über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 3. Aufl.,<br />
München 1931 (1. Aufl. 1912).<br />
53 In historischer Reihenfolge lautet die Sequenz dieser Leit- und Schlüsselsektoren: Textilindustrie,<br />
Eisenbahnen, Chemie-/Elektroindustrie, Automobile, IuK-Technologien, vgl. dazu<br />
auch W. W. Rostow, The World Economy. History Prospect, Austin 1978.<br />
ÖZG 11.2000.1 109
Abbildung 1: Eine Netzwerk-Darstellung der ’ Schumpeter-Uhr‘<br />
Innovationen innerhalb von Marktnischen, CI (core/indifferent) <strong>für</strong> keinerlei<br />
Innovationstätigkeit bei Schlüsseltechnologien oder Leitsektoren und PI (peripher/indifferent)<br />
<strong>für</strong> keinerlei Innovationstätigkeiten innerhalb einzelner Marktnischen.<br />
Eine Art ’ Zyklus‘ wird bei diesem Netzwerk dann dadurch hergestellt,<br />
daß sich in ’ periodischen‘ Abständen relativ starke Konzentrationen innerhalb<br />
des CE-Bereichs – die Stunde der neuen Leitsektoren – mit stärkeren Ballungen<br />
im CR-Segment – die Tage der großen Rationalisierungen – ablösen. Interessanterweise<br />
wurde nun dieser ’ Erklärungs-Sketch‘ zur Ausbreitung des Neuen<br />
innerhalb des Feldes II nochmals erfunden; aber diesmal ereignet sich diese<br />
Diffusions-Geschichte innerhalb eines ganz anderen Gebietes außerhalb der<br />
Ökonomie. Seltsamerweise wurden trotz oder vielleicht: wegen dieser ’ Parallelaktion‘<br />
beide Versionen unabhängig voneinander in ihren jeweiligen Ursprungsdomänen<br />
äußerst populär und avancierten dort nachgerade zu ’ Klassikern‘. In<br />
der Wissenschaftsforschung, da liest sich jedenfalls diese ’ Diffusions-Geschichte‘<br />
mit veränderten Akteuren und anderen Objekten strukturähnlich – so.<br />
Zu Beginn der Geschichte zeichnet sich ein wissenschaftliches Feld – und dies markiert<br />
den Beginn seiner revolutionären Phase – durch eine rasche Diffusion eines innovativen<br />
wissenschaftlichen Grundlagenprogramms – eines ’ Paradigmas‘ – und der<br />
dadurch induzierten sekundären, tertiären usw. Anpassungsprozesse aus. Weil die<br />
Chancen von Applikationsausweitungen im neuen Verbund dieses innovativen Basis-<br />
Programms aber im Lauf der Zeit abnehmen, wird das betreffende Feld insgesamt in<br />
die Gegend von ’ Sättigungsgrenzen‘ und einer Anhäufung von ’ Anomalien‘ getrieben.<br />
110 ÖZG 11.2000.1
Mit dem Erreichen solcher Grenzen‘ wandelt sich – und dies markiert den Beginn<br />
’<br />
einer Periode der Krise‘ – der Zustand des betreffenden Feldes. Es kommt, so sich dazu<br />
’<br />
die Möglichkeiten offerieren, zur Verbreitung von ad hoc-Programmen‘, welche aber<br />
’<br />
ihrerseits durch abnehmende Grenzerträge charakterisierbar sind. Durch die mit der<br />
Zeit auch schwindenden Attraktivitäten von solchen ad hoc-Programmen‘ und dem<br />
’<br />
parallel damit zunehmenden Aufbau neuer Basisprogramme oder Paradigmen wird<br />
aber ein wissenschaftliches Feld wiederum, und diesmal deshalb, weil während der Krisen<br />
die Wahrscheinlichkeit <strong>für</strong> die Suche nach gänzlich anderen Alternativen zunimmt<br />
und erfolgreiche innovative Basisprogramme inmitten einer wenig problemlösungsreichen<br />
Umgebung vergleichsweise schnell imitiert werden, in die Umgebung voll von<br />
’ offenen Möglichkeiten‘ bewegt. Nach einer kurzen Scramble-Periode‘, in der sich ein<br />
’<br />
spezielles Paradigma als das vergleichsweise stärkste herausstellen muß, kann sich<br />
eine neuerliche Revolutionierung‘ entfalten, innerhalb der – aber damit wären wir<br />
’<br />
wiederum beim Anfang zu diesem Sketch angelangt, der sich im übrigen, weil eine<br />
große Zahl der daran beteiligten Forschungseinheiten unkoordiniert, aber gebunden<br />
rational entscheidet, auf diese Weise ad infinitum fortsetzt ...<br />
Und weil ein Erklärungs-Sketch von seinen Grundstrukturen her in zwei sehr<br />
unterschiedlichen Metiers auf nahezu identische Weise entwickelt wurde, sollen<br />
die bisherigen zwei ’ Erklärungs-Rahmen‘ ihrerseits ’ generalisiert‘ und in einen<br />
weiteren Diffusions-Kontext gestellt werden, der solche ’ quasi-zyklischen‘ Muster<br />
als echte Teilmenge enthält.<br />
Generalisierte Erklärungs-Skizze <strong>für</strong> das Feld II: Als Anfangsbedingung zeichnet sich<br />
ein beliebiges Gesamt-System – ökonomische, soziale oder andersgelagerte Akteur-<br />
Netzwerke samt ihren eingebetteten Code-Systemen - durch das Auftauchen eines<br />
neuen Elements – einer Eigenschaft, einer Struktur, eines neuen Bausteins‘, einer<br />
’<br />
Gruppe neuer Bausteine‘ – aus. Diese Neuheit ist an irgendeinem Punkt dieses<br />
’<br />
Gesamt-Systems entstanden und wird wegen ihrer komparativen Vorteile‘ – bewertet<br />
’<br />
an einem einfachen oder zusammengesetzten Evaluationsmaß – vergleichsweise schneller<br />
reproduziert‘, imitiert‘ und in alle mögliche Richtungen rekombinativ erweitert,<br />
’ ’<br />
verbessert und ergänzt. In dieser Phase werden überdies durch die schnellen Imitationen<br />
wie Replikationen sekundäre, tertiäre, quartäre ... Anpassungsprozesse ausgelöst,<br />
welche das Gesamt-System insgesamt stark verändern. Weil aber die Expansionspotentiale<br />
dieses neuartigen Ensembles im Laufe der Zeit abnehmen und nur in den<br />
allerseltensten Fällen einen eliminativen und umgebungsräumenden‘ Charakter be-<br />
’<br />
sitzen, werden weitere Diffusionen an Sättigungsgrenzen‘ stoßen. Es verbreiten sich<br />
’<br />
in der Folge solche Veränderungen, welche das neue Ensemble optimieren‘ und sei-<br />
’<br />
nem dominanten Design‘ nähern. Je nach Art der Umgebung und der Koordination<br />
’<br />
lassen sich diese Diffusionen einerseits in Form von Uhrwerken‘ als quasiperiodi-<br />
’ ’<br />
sche Phasen‘ beschreiben, in denen ein endogenes Faktorengeflecht eine regelmäßige<br />
Sequenz von Expansionsphasen‘, Optimierungszeiten‘ und neuerlichen Expansions-<br />
’ ’ ’<br />
phasen‘ garantiert. Das andere Format <strong>für</strong> Ausbreitungen ist nicht zyklisch gehalten,<br />
sondern in Form von spontanen Bubbles‘ arrangiert, die durch unregelmäßige,<br />
’<br />
a-zyklische Abfolgen von Expansionsphasen‘, Optimierungszeiten‘ und neuerlichen<br />
’ ’<br />
’ Expansionsphasen‘ beschrieben werden können.<br />
ÖZG 11.2000.1 111
Für diesen generellen Erklärungs-Sketch steht gleich eine Reihe an ’ komplexen<br />
Modellierungsstrategien‘ offen, die von der ’ Populations-Dynamik‘ bis hin zu<br />
Diffusions-Gleichungen oder nicht-linearen ’ Räuber-Beute-Modellen‘ reichen. 54<br />
Heuristisch sollte es sich aber vor allem als fruchtbar erweisen, die Diffusionsgeschichte<br />
des Neuen innerhalb von beliebigen Umgebungen – innerhalb<br />
von Akteur-Netzwerken mit ihren eingebetteten Code-Systemen in der Ökonomie,<br />
der Wissenschaften, der Politik oder anderer Bereiche – nach dem ’ Erklärungs-Muster‘<br />
von ’ Mastergleichungen‘ aufzubauen, die eine hinreichend flexible<br />
Modellierungs-Sprache‘ <strong>für</strong> unterschiedlichste Bereiche aufweisen. 55 Für<br />
die ’ Schumpeter-Uhr‘ mit ihren Zuständen von Basis-Produkt-Innovationen,<br />
Basis-Prozeß-Innovationen, <strong>für</strong> die in den Raum gestellte ’ Kuhn-Uhr‘ mit ihren<br />
alten und neuen Paradigmata und <strong>für</strong> ähnlichgelagerte ’ Innovations-Uhren‘ läßt<br />
sich das folgende Modellierungsschema aufbauen, das in vier Grundgleichungen<br />
separiert werden kann. Die erste Gleichung ist eine Art von ’ Bilanzgleichung‘, in<br />
der die Übertrittswahrscheinlichkeit p <strong>für</strong> den Wechsel zwischen verschiedenen<br />
’ Zuständen‘ oder Populationen‘ im Zentrum steht: <strong>für</strong> die Wahrscheinlichkeit<br />
’<br />
des Wechsels eines Unternehmens von einem indifferenten Peripheriebereich<br />
(PI) in ein innovatives Kernsegment (CE), <strong>für</strong> die Änderung einer Wissenschaftlergruppe<br />
von einem alten Paradigma hin zu einem neuen, usw. Diese<br />
Wahrscheinlichkeit hängt, abgesehen von einem generellen Mobilitätsterm‘<br />
’<br />
ν, im wesentlichen von zwei Faktorengruppen ab, nämlich von den Attrakti-<br />
’<br />
vitäten‘ a und den inhärenten Netzwerkbarrieren‘ f.<br />
’ 56 Diese Barrieren können<br />
nun ihrerseits nach mehreren Faktoren aufgesplittet‘ werden. Wichtig wird hier<br />
’<br />
vor allem, daß solche Barrieren oder Constraints je nach untersuchtem Bereich<br />
54 Zu solchen Ansätzen vgl. überblicksweise Josef Hofbauer u. Karl Sigmund, Evolutionstheorie<br />
und dynamische Systeme. Mathematische Aspekte der Selektion, Berlin 1984 sowie<br />
Manfred Peschel u. Werner Mende, The Predator-Prey Model. Do We Live in a Volterra<br />
World, <strong>Wien</strong> u. New York 1986.<br />
55 Zu diesen Master-Gleichungen vgl. u. a. Hermann Haken, Synergetik. Eine Einführung,<br />
Berlin u. a. 1982, ders., Advanced Synergetics. Instability Hierarchies of Self-Organizing Systems<br />
and Devices, Berlin u. a. 1983; Wolfgang Weidlich u. Günter Haag, Concepts and<br />
Models of a Quantitative Sociology. The Dynamics of Interacting Populations, Berlin u. a.<br />
1983; dies., Hg., Interregional Migration. Dynamic Theory and Comparative Analysis, Berlin<br />
u. a. 1988; Günter Haag, Dynamic Decision Theory. Applications to Urban and Regional<br />
Topics, Dordrecht u. a. 1989; Karl H. Müller u. Günter Haag, Hg., Komplexe Modelle in den<br />
Sozialwissenschaften, Sonderausgabe von WISDOM (1994).<br />
56 Bezogen auf die bisher skizzierten Erklärungs-Sketches läßt sich formulieren: Der Wechsel<br />
<strong>für</strong> ein Unternehmen hin zu einer neuen Produkt-Innovation (<strong>für</strong> eine Wissenschaftlergruppe<br />
hin zu einem ’ neuen Paradigma‘) ist umso größer, je attraktiver diese Neuheit klassifiziert<br />
werden kann und je weniger an ’ Constraints‘ oder Barrieren‘ <strong>für</strong> einen solchen Wechsel vorhanden<br />
sind. Die Grundgleichung lautet dabei:<br />
p α ij = ν α (t)f α ijexp [a α i ( −→ n ) − a α j ( −→ n )], i �= j (1.1)<br />
112 ÖZG 11.2000.1
verschieden ausfallen können. 57 In der Gleichung (1.2) wird beispielsweise davon<br />
ausgegangen, daß zwei wichtige Constraints‘, aufgebaut als Distanzen‘ δ<br />
’ ’<br />
zwischen den einzelnen Netzwerkpopulationen, die Bewegungen innerhalb des<br />
Netzwerks erschweren, verlangsamen oder behindern. 58 Damit kann zur Seite<br />
an Attraktivitätsfaktoren‘ übergeschwenkt und wiederum zwischen zwei un-<br />
’<br />
terschiedlichen Gruppen differenziert werden. 59 Auf der einen Seite, den s, stehen<br />
systemische‘ Attraktivitätsfaktoren oder sogenannte Synergie-Parameter‘,<br />
’ ’<br />
die in solchen Akteur-Netzwerken in unterschiedlichem Ausmaß wirken können<br />
und die auf zwei wichtige nicht-lineare Prozesse abzielen: einmal auf die schnelle<br />
Ausbreitung und Auffüllung‘ eines besonders attraktiven Zustands, ein Phäno-<br />
’<br />
men, das auch als Tauben-, Bandwagon- oder Agglomerations-Effekt‘ bekannt<br />
’ ’<br />
ist; und einmal auf jene Sättigungsgrenzen‘ und Schwellen‘, welche solche<br />
’ ’<br />
schnellen Agglomerationsprozesse begrenzen. Unter der Rubrik e können im<br />
Kontext von Gleichung (1.3) dann jene Faktoren spezifiziert werden, welche <strong>für</strong><br />
’ komparative Vorteile‘ abseits der beiden systemischen Größen verantwortlich<br />
zeichnen. Schließlich wird die genaue Formalisierung der beiden Synergiepara-<br />
’<br />
meter‘ so vorgenommen, daß der erste Parameter κ den Tauben‘-, Bandwa-<br />
’ ’<br />
gon‘- oder Agglomerations-Effekt‘ beschreibt und die zweite Größe σ die Sätti-<br />
’ ’<br />
gungsgrenzen‘ zum Ausdruck bringt. 60 Aus den bisherigen Darstellungen – den<br />
beiden Erklärungs-Skizzen <strong>für</strong> die Struktur ökonomischer wie wissenschaftlicher<br />
Revolutionen, aus der Abbildung 1, dem generalisierten Erklärungs-Sketch sowie<br />
aus der Skizzierung eines einzelnen komplexen und nicht-linearen Modells –<br />
kann zur Tabelle 6 übergeleitet werden, in der sich die wichtigsten Schlüsselfak-<br />
’<br />
toren‘ <strong>für</strong> die Ausbreitung des Neuen in unterschiedlichen Domänen versammelt<br />
57 Beispielsweise wird sich der Übergang von einem ’ alten Paradigma‘ zu einem ’ neuen‘ <strong>für</strong><br />
einzelne Wissenschaftsgruppierungen dann als schwierig herausstellen, wenn sich die notwendige<br />
maschinelle oder instrumentelle Infrastruktur <strong>für</strong> die Arbeit im Kontext des neuen<br />
Paradigmas als sehr kostspielig herausstellt, wenn sie deutlich größere Teams erfordert, wenn<br />
sie seltene Kompetenzen verlangt usw.<br />
58 Formal lassen sich diese Barrieren in die folgende Gleichungsform bringen:<br />
59 Formal bedeutet dies nichts anderes als:<br />
f α ij = exp (−µ α δ 1,α<br />
ij − ραδ 2,α<br />
ij<br />
) (1.2)<br />
a α i = s α i + e α i (1.3)<br />
60 Formalisiert lassen sich diese ’ Synergie-Parameter‘ auf die folgende Art wiedergeben:<br />
s α i =<br />
P�<br />
β=1<br />
P�<br />
β�<br />
k αβ n β<br />
i + σ<br />
β=1 γ=1<br />
αβγ n β<br />
i nγi<br />
+ ... (1.4)<br />
ÖZG 11.2000.1 113
finden. Im wesentlichen können zwei verschiedene Gruppen an ’ Schlüsselfaktoren‘<br />
bemüht werden.<br />
Die erste Faktorengruppe – die Faktoren <strong>für</strong> ’ komparative Vorteile‘ – fassen<br />
jene Bestimmungsgrößen zusammen, welche das Neue in seinem Umfeld als<br />
vergleichsweise ’ besser‘, ’ attraktiver‘, ’ nützlicher‘ o. a. m. erscheinen lassen. 61<br />
Im Prinzip können solche ’ komparativen Vorteile‘ in zwei unterschiedlichen Bereichen<br />
liegen, nämlich einerseits im ’ Neuen‘ selbst und andererseits in seinen<br />
Verbindungen und Beziehungen zu seiner ’ Umwelt‘. 62<br />
Und das zweite Faktorenset konzentriert sich auf solche Größen, welche den<br />
Transfer und die Bewegung innerhalb der großen Akteur-Netzwerke behindern,<br />
restringieren und einschränken. So mag es zwischen einer alten und einer neuen<br />
Technologie ganz klare Unterschiede an ’ komparativen Vorteilen‘ geben, allein<br />
der Wechsel kann sich wegen vielfältiger Lock-in-Phänomene‘ – zu geringes<br />
’<br />
’ Know how‘, zu unterschiedliche Größenverhältnisse u. v. a. m. – verzögern oder<br />
überhaupt ganz ausbleiben.<br />
Aus der Tabelle 6 wird zudem auch ersichtlich, daß beide Gruppen an<br />
Schlüsselfaktoren imstande sind, jeweils besondere Dynamiken in der Ausbreitung<br />
des Neuen erzeugen zu können. Ausbreitungs-Uhren‘ stellen jedenfalls nur<br />
’<br />
eines von vielen Diffusions-Mustern‘ des Neuen dar. Insgesamt warten aber<br />
’<br />
im Feld II gleich mehrere ähnlichgelagerte Modelle mit zwei Klassen an erklärungsrelevanten<br />
Schlüsselfaktoren‘ darauf, beliebige Fragestellungen in der<br />
’<br />
Ausbreitung von Neuheiten in einen zwar komplexen, aber durchaus normalwissenschaftlichen<br />
Erklärungs- und Prognose-Rahmen zu überführen. 63<br />
61 Hier wird es wichtig, auf die Kontextgebundenheit solcher ’ komparativen Vorteile‘ eigens<br />
hinzuweisen. Etwas Neues, das in einer speziellen Umgebung starke komparative Vorteile<br />
besitzt, kann sie in anderen Kontexten vollends verlieren, vgl. John Maynard Smith, Evolution<br />
and the Theory of Games, 3. Aufl., Cambridge 1985 sowie Karl Sigmund, Games of Life.<br />
Explorations in Ecology, Evolution and Behaviour, Harmondsworth 1995.<br />
62 Mit diesem Punkt wird auch das technologiehistorisch immer wieder ausgeführte Phänomen<br />
angesprochen, daß ein neues Produkt oder eine neue Technologie auf der Ebene der Performanzen<br />
deutlich besser abschnitt und sich dennoch, wegen seiner fehlenden oder schlechteren<br />
’ Umfeld-Linkages‘, nicht durchsetzen konnte. Zu diesem Punkt besonders James M.<br />
Utterback, Mastering the Dynamics of Innovation. How Companies Can Seize Opportunities<br />
in the Face of Technological Change, Boston 1994; und als Stück subversiver Wissenschaftsliteratur<br />
über die Zentralität solcher ’ Umfeld-Linkages‘ vgl. Bruno Latour, The Pasteurization<br />
of France, Cambridge, MA. 1988.<br />
63 Es sollte eigens betont werden, daß <strong>für</strong> alle der in der Tabelle 6 angeführten Bereiche<br />
bereits komplexe Modelle mit vollständigen empirische Anwendungen vorliegen, vgl. dazu<br />
die Literatur aus Anm. 54 sowie Karl H. Müller u. Günter Haag, Complex Modeling with<br />
NIS-Data. The Austrian Innovation System, Bd. 5, <strong>Wien</strong> 1996.<br />
114 ÖZG 11.2000.1
Tabelle 6: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> die Ausbreitung des Neuen<br />
in Wissenschaft, Ökonomie und Gesellschaft<br />
BEREICHE FAKTORENGRUPPEN INDIKATOREN<br />
PRODUKT- Attraktivitäten Komparative Vorteile des neuen<br />
INNOVATIONEN Produkts; komparative Vorteile<br />
seiner Netzwerkmerkmale<br />
Barrieren Netzwerkhemmnisse durch unterschiedliche<br />
Größenverhältnisse,<br />
technologische Ausstattung, Qualifikationen<br />
u. a.<br />
Dynamik<br />
’ Quasi-periodisch‘<br />
PROZESS- Attraktivitäten Komparative Vorteile einer neuen<br />
INNOVATIONEN Prozeß-Technologie; komparative<br />
Vorteile mit ihrer Umgebungen<br />
Barrieren Netzwerkhemmnisse über unterschiedliche<br />
Größenverhältnisse,<br />
technologische Ausstattung, Qualifikationen<br />
u. a.m.<br />
Dynamik<br />
’ Quasi-periodisch‘<br />
” NEUE Attraktivitäten Komparative Vorteile eines neuen<br />
PARADIGMEN“ Paradigmas; komparative Vorteile<br />
seiner Netzwerkmerkmale<br />
Barrieren Hemmnisse durch unterschiedliche<br />
Größenverhältnisse, Qualifikation,<br />
’ Glaubensstärken‘ u. a.<br />
Dynamik<br />
’ Quasi-periodisch‘ oder kontextabhängig<br />
NEUE POLITISCHE Attraktivitäten Komparative Vorteile einer neuen<br />
PARTEIEN politischen Partei; komparative<br />
Vorteile ihrer Vernetzungsmerkmale<br />
Barrieren Netzwerkhemmnisse über unterschiedliche<br />
sozio-ökonomische,<br />
sozio-demografische oder kognitive<br />
Verteilungen<br />
Dynamik Kontextabhängig<br />
NEUE Attraktivitäten Komparative Vorteile eines neuen<br />
BESCHÄFTIGUNGS- Sektors; komparative Vor-<br />
SEKTOREN teile seiner Vernetzungsmerkmale<br />
Barrieren Netzwerkhemmnisse über unterschiedliche<br />
sozio-ökonomische,<br />
sozio-demografische oder qualifikatorische<br />
Verteilungen<br />
Dynamik Komplexe ’ Räuber-Beute-Muster‘<br />
u. a. m.<br />
ÖZG 11.2000.1 115
Analyse-Feld III: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> die ’ Transformatoren‘ des Neuen<br />
Mit dem Feld III wechselt die bisherige Betrachtungsweise von einer exter-<br />
’<br />
nen‘ in eine interne‘ Perspektive: Es geht um die Abfolgen, Sequenzen, Stufen,<br />
’<br />
Transformationen, Veränderungen, welche die Entstehung des Neuen aus dem<br />
Blick ihrer jeweiligen unmittelbaren Umgebungen‘ heraus untersuchen.<br />
’<br />
Zur Verdeutlichung der speziellen Perspektive im Feld III sei das Beispiel<br />
der wissenschaftlichen Revolutionen und Durchbrüche herangezogen. Worin<br />
unterscheiden sich Feld I-Zugänge, beispielsweise der Approach bei den beiden<br />
Hollingsworths, von einer Feld III-Analyse Nun, der Fokus im Feld III<br />
richtet sich von seinen zentralen Forschungsfragen her auf die wissenschaftlichen<br />
Revolutionäre‘ und Durchbrecher‘ in der Phase ihrer Revolutionen und<br />
’ ’<br />
Durchbrüche: einerseits auf den Theoretiker, die Methodikerin, den Konstrukteur<br />
oder unter Umständen auch auf die Kleingruppe, welche diese spektakulär<br />
neuwertige Theorie, Methode oder jenes radikale Konstrukt geschaffen haben;<br />
und andererseits auf die Orte und die Zeiten, in denen dieser Wechsel von<br />
’ alt‘ zu neu‘ passierte. Es geht somit nicht um die gesamte Geschichte dieser<br />
’<br />
Personen, sondern vielmehr um jene distinkten Kompetenzen‘ und jene fei-<br />
’ ’<br />
nen Veränderungen‘, die sich während und im Vollzug der Schaffung des Neuen<br />
ereignet haben. Eine zentrale Forschungsfrage könnte daher lauten, welche<br />
Schlüsselfaktoren und Schlüsselkompetenzen einzelne Personen oder Umgebungen<br />
aufweisen müssen, um eine konkrete innovative oder kreative Leistung im<br />
Wissenschaftsbereich erfolgreich durchzuführen und zu Ende zu bringen.<br />
An dieser Stelle sei aber gleich hinzugefügt, daß diese Umgebungen‘ oder<br />
’<br />
die Transformatoren‘ mittlerweile nicht mehr einzig und allein auf menschliche<br />
’<br />
Individuen oder Gruppen beschränkt bleiben. Environments‘ <strong>für</strong> das Neue wer-<br />
’<br />
den seit den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend auch<br />
in den Bereichen der Artificial Intelligence, 64 des Artificial Life, 65 oder im Bereich<br />
intelligenter Maschinen‘<br />
’ 66 geschaffen, in denen sich in verstärktem Maße<br />
’ Lern- und Adaptionsprozesse‘ ereignen und damit Neues entsteht. Denn wo<br />
das Lernen in sein Recht tritt, da ist in der Regel das Neue mit im Spiel.<br />
Innerhalb des konkreten Feldes III stehen daher jene detaillierten Folge-<br />
’<br />
oder Sequenz-Analysen‘ am Programm, wie von einzelnen Umgebungen‘ – Per-<br />
’ ’<br />
sonen, Computer, artifizielle Lebewesen, Roboter u. a. – eine bestehende An-<br />
’<br />
fangskonstellation‘ in etwas Neues‘ transformiert wird. Auf den ersten Blick<br />
’<br />
64 Vgl. als Einblick Edward A. Feigenbaum u. Julian Feldman, Hg., Computers and Thought,<br />
Menlo Park 1995.<br />
65 Vgl. dazu lediglich Chris G. Langton, Hg., Artificial Life, Redwood City 1989; ders. u. a.,<br />
Hg., Artificial Life II, Redwood City 1992 sowie ders., Hg., Artificial Life III, Redwood City<br />
1994.<br />
66 Vgl. Ray Kurzweil, Homo S piens. Leben im 21. Jahrhundert – Was bleibt vom Menschen<br />
, Köln 1999.<br />
116 ÖZG 11.2000.1
könnte an dieser Stelle nochmals das Terzett an Schlüsselfaktoren aus dem<br />
Feld I auch dazu verwendet werden, Kreativitäts- und Innovationspotentiale<br />
von Personen 67 , Gruppen oder von anderen ’ Environments‘ in der Genese des<br />
Neuen zu benennen. Beschreibungen wesentlicher Merkmale ’ kreativer Personen‘<br />
wie die nachstehende drängen sich geradezu auf, dem bestehenden Set an<br />
Schlüsselfaktoren aus dem Feld I zugeordnet zu werden.<br />
Originality, articulate and verbally fluent, thinks metaphorically, uses wide categories<br />
and images, flexible and skilled decision maker, makes independent judgements, builds<br />
new structures, finds order in chaos, questions norms and assumptions, alert to novelty<br />
and gaps in knowledge, uses existing knowledge as base for new ideas ... 68<br />
Aus dieser Aufzählung kann nun tatsächlich – als anfängliche Heuristik – eine<br />
konkrete Liste mit ’ Schlüsselfaktoren‘ und wesentlichen Indikatoren zusammengestellt<br />
werden, die <strong>für</strong> kreative Personen oder Kleinteams in unterschiedlichen<br />
Bereichen – in der Wissenschaft, in der Technik u. a. – konstitutiv werden.<br />
Komplexität der Tätigkeiten: Hohe Kompetenz und Vertrautheit mit dem<br />
jeweiligen state of the art; große kognitive Neugierde; hohe verbale Kompetenz<br />
im jeweiligen Bereich, metaphorisches Denken im jeweiligen Feld, Gebrauch<br />
breiter ( ’ lateraler‘) Analogien und Bilder, schneller Aufbau neuer kognitiver<br />
Strukturen, leichte Entdeckung von kognitiven ’ Ordnungen im Chaos‘, Autonomie<br />
in kognitiven Entscheidungen u. a. Riskante Strategien: Unabhängigkeit<br />
in strategischen Entscheidungen; hohe verbale Kompetenz im Strategiebereich;<br />
metaphorisches Denken in Strategie-Feldern; flexibel und kompetent in der<br />
Strategiefindung und im Schaffen neuer Strukturen; leichte Entdeckung von<br />
strategischen ’ Ordnungen im Chaos‘; große strategische ’ Neugierde‘ u. a. ’ Organische‘<br />
Organisation: Unabhängigkeit in der Implementation von Entscheidungen;<br />
flexibel und kompetent in der Strategie-Umsetzung; hohe Kompetenz<br />
in der Verfolgung und Erhaltung neuer Strukturen u. a.<br />
67 Vgl. dazu u. a. Margaret A. Boden, The Creative Mind. Myths and Mechanisms, London<br />
1990; Ronald A. Finke, Thomas B. Ward u. Steven M. Smith, Creative Cognition. Theory,<br />
Research, and Applications, Cambridge MA 1992; Howard Gardner, Creating Minds. An<br />
Anatomy of Creativity Seen through the Lives of Freud, Einstein, Picasso, Stravinsky, Eliot,<br />
Graham, and Ghandi, New York 1993, 359–405; Douglas R. Hofstadter, Metamagical Themas.<br />
Questing for the Essence of Mind and Pattern, New York 1985; Pat Langley, Herbert A. Simon<br />
and Gary L. Bradshaw, Jan M. Zytkow, Scientific Discovery. Computational Explorations of<br />
the Creative Processes, Cambridge MA. 1987; Robert J. Sternberg u. Peter A. Frensch, Hg.,<br />
Complex Problem Solving. Principles and Mechanisms, Hillsdale 1991; Robert J. Sternberg u.<br />
Richard K. Wagner, Hg., Mind in Context. Interactionist Perspectives on Human Intelligence,<br />
Cambridge MA. 1994 oder Thomas G. West, In the Minds Eye. Visual Thinkers, Gifted People<br />
with Learning Difficulties, Computer Images, and the Ironies of Creativity, Buffalo 1991.<br />
68 Twila Z. Tardif u. Robert J. Sternberg, What Do We Know about Creativity , in: Robert<br />
J. Sternberg, Hg., The Nature of Creativity. Contemporary Psychological Perspectives,<br />
Cambridge MA. 1988, 434.<br />
ÖZG 11.2000.1 117
Aber damit wäre, selbst wenn man diese Schlüsselfaktoren‘ generalisierte<br />
’<br />
und sie <strong>für</strong> beliebige Environments‘ gestaltete, noch keine interne Perspekti-<br />
’ ’<br />
ve‘ erreicht, sondern der externe Blick‘ auf seine größtmögliche Weite gebracht.<br />
’<br />
Diese Schlüsselfaktoren können als konstitutiv <strong>für</strong> ein hohes Innovations- oder<br />
Kreativitätspotential <strong>für</strong> Personen oder kleine Teams genommen werden. Am<br />
ehesten ließe sich behaupten, daß damit eine hohe Wahrscheinlichkeit da<strong>für</strong><br />
verbunden ist, neue Elemente innerhalb eines bestimmten Bereiches erfolgreich<br />
’ generieren‘ zu können. Auf diese Weise kann zudem ein direkter und unmittelbarer<br />
Zusammenhang zwischen den externen Schlüsselfaktoren aus dem Bereich<br />
I und den weiterhin vorzustellenden internen Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> die<br />
Umgebungen im Bereich III hergestellt werden. Aber <strong>für</strong> die konkreten Forschungsfragen<br />
und Probleme, welche Umgebungs-Faktoren‘ während und in<br />
’<br />
und durch die Erschaffung von Neuem‘ konstitutiv werden, vermögen diese<br />
’<br />
’ Potential-Größen‘ allerdings kein substantielles Schlaglicht zu werfen. Als Leit-<br />
Motiv <strong>für</strong> eine solche interne‘ Umgebungs-Perspektive mag die nachstehende<br />
’<br />
Äußerung Hofstadters bemüht werden, der die folgenden Bestimmungsstücke‘<br />
’<br />
<strong>für</strong> eine interne‘ Umgebungs-Theorie der Entstehung des Neuen versammelt.<br />
’<br />
Full-scale creativity consists in having a keen sense for what is interesting, following<br />
it recursively, applying it at the meta-level, and modifying it accordingly. 69<br />
In weiterer Folge werden nun die Bestimmungsstücke aus dem Hofstadter-Zitat<br />
sequentiell herangezogen und zu Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> Umgebungen transformiert,<br />
in denen unmittelbar Neues erzeugt wird. Denn mit diesen Grundfestsetzungen<br />
wird auf ein Insgesamt an drei Bereichen verwiesen, welche ein ’ kreativer<br />
Akteur‘ – Personen, Computer, artifizielles Lebewesen, ’ intelligente Maschinen‘<br />
– zu erfüllen hat. Am Beispielfall der ’ wissenschaftlichen Kreativität‘ von Personen<br />
lassen sich diese Schlüsselfaktoren folgendermaßen konkretisieren. Um mit<br />
dem ersten Punkt zu beginnen, nämlich einem ’ keen sense for what is interesting‘,<br />
so bedeutet dieser zunächst das Verfügen von ’ kognitiven Orientierungs-<br />
Mustern‘ oder von ’ kognitiven Karten‘ 70 über szientifische Räume 71 . Solche<br />
69 Hofstadter, Fluid Concepts, wie Anm. 36, 313.<br />
70 Zu diesem Konzept vgl. ursprünglich Edward C. Tolman, Cognitive Maps in Rats and<br />
Man, in: Psychological Review 55 (1948), 189–208 sowie überblicksartig Roger M. Downs<br />
u. David Stea, Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen, New York u. a. 1982. Solche<br />
’ kognitiven Karten‘ lassen sich aber leicht auf Bereiche wie kognitive Räume‘ ausdehnen.<br />
’<br />
Demnach läßt sich als Ausgangspunkt jede Top-Level-Skizze‘, d. h. jedes sprachliche oder<br />
’<br />
grafische Konstrukt auf wenigen Seiten eines größeren Werkes – z. B. eines Buches – als<br />
’ Proto-Version‘ einer kognitiven Karte‘ qualifizieren. Von einem solchen Grundverständnis<br />
’<br />
aus führen sehr rasch die Wege in subtilere Formen des kognitiven Kartografierens‘ im ko-<br />
’<br />
gnitiven Bereich. Zu einer besonders interessanten Karte‘ vgl. u. a. Douglas R. Hofstadter,<br />
’<br />
Gödel, Escher, Bach. An Eternal Golden Braid, 4. Aufl., Harmondsworth 1982, 370.<br />
71 Zum Begriff von intellektuellen‘ oder kognitiven Räumen‘, vgl. Steven Shapin u. Simon<br />
’ ’<br />
118 ÖZG 11.2000.1
’ kognitiven Karten‘ bedeuten Orientierungen auf sehr hoher Abstraktionsstufe<br />
und können deswegen als Top Level-Beschreibungen‘ bezeichnet werden.<br />
’<br />
’ Kognitive Karten‘ mit einer besonderen Betonung von Neuem werden sich in<br />
der Regel durch jene drei Haupteigenschaften auszeichnen sollten, wie sie im<br />
nachstehenden Zitat aufgezählt werden.<br />
First, one may be faced with conflict between staying with tradition and breaking<br />
new ground ... Second, tension may lie in the ideas themselves ... Finally, it may exist<br />
in the constant battle between unorganized chaos and the drive to higher levels of<br />
organization and efficiency.‘ 72<br />
Der ” keen sense for what is interesting“ kann durch solche ’ kognitiven Karten‘<br />
geweckt, angeregt und ausgedrückt werden, die sich durch eine oder mehrere der<br />
folgenden drei Charakteristika auszeichnen: durch das Vorhandensein großer,<br />
aber erreichbarer ’ weißer‘ ( ’ dunkler‘) Flecken und unerforschter Gegenden ( ” explorations<br />
in cognitive space“), durch widersprüchliche Problemlösungen, Theorien,<br />
Modelle, welche eine Klärung erfordern ( ” dissonance in cognitive space“),<br />
oder durch ’ neue Unübersichtlichkeiten‘, welche eine ’ übersichtlichere‘ Rekonfiguration<br />
dieses kognitiven Raumes anregen ( ” ordering of cognitive space“).<br />
Für kreative Leistungen bedarf es, nochmals zusammengefaßt, solcher kognitiver<br />
’ Top Level-Orientierungen‘, in denen das potentiell Neue einen klaren Stellenwert<br />
besitzt. Die zweite Gruppe an Schlüssel-Faktoren verlangt nach einem<br />
ebenso kompetenten wie effizienten Umgang mit Rekombinations-Operatoren,<br />
etwas, das als ’ komplexe Kompetenzen <strong>für</strong> Rekombinationen‘ vorgestellt werden<br />
kann. Diese müssen sich auf die Fähigkeit zu simultanen Rekombinationen<br />
auf verschiedenen Ebenen, auf die Verwendung vielfältiger Operatoren, auf die<br />
passenden Kombinationen solcher Operatoren, auf ihre oftmalige Anwendung<br />
etc. erstrecken. Die Faktorengruppe drei setzt eine effiziente rekursive Organisation<br />
voraus, die sich durch mehrere Eigenschaften auszeichnet: durch eine<br />
hinreichende ’ Flexibilität‘ in der Rekombination von Zwischenlösungen – ’ modifying<br />
it accordingly‘; in den Annäherungen an die Zieldomänen rekursiver<br />
Transformationen sowie durch eine ’ Erfolgskontrolle‘, welche die bisher realisierten<br />
rekombinativen Zwischenschritte in der zuhandenen ’ kognitiven Karte‘<br />
abzubilden und zu verfolgen vermag – ’ applying it at the meta-level‘. Bislang<br />
war die Diskussion der umgebungsrelevanten Schlüssel-Faktoren einzig auf den<br />
Wissenschaftsbereich beschränkt. Doch diese drei Faktorengruppen ermöglichen<br />
es, zu einem verallgemeinerten ’ Erklärungs-Sketch‘ <strong>für</strong> Innovationen und<br />
Kreationen in unterschiedlichen Domänen synthetisiert zu werden.<br />
Schaffer, Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton<br />
1985, 332 ff.<br />
72 Tardif u. Sternberg, Creativity, wie Anm. 68, 431.<br />
ÖZG 11.2000.1 119
Generalisierte Erklärungs-Skizze <strong>für</strong> das Feld III: Umgebungen, in denen Neues unmittelbar<br />
erzeugt wird – Personen, ’ Turing-Maschinen‘, ’ Artificial Life-Kreaturen‘ oder<br />
andere lernfähige dynamische ’ Environments‘ mit einem hohen und nachhaltigen Potential<br />
<strong>für</strong> Neuheit – vollziehen ihre innovativen oder kreativen Leistungen durch<br />
das simultane Zusammenwirken folgender Schlüsselfaktoren: Zunächst zeichnen sich<br />
solche Umgebungen durch ein hohes Ausmaß an Kompetenzen im ’ kognitiven Kartografieren‘<br />
aus, speziell aber durch eine erfolgreiche Top Level-Verortung von ’ riskanten<br />
Neuheiten‘ wie durch die Bewertung ihrer möglichen Relevanzen (Faktorengruppe<br />
I). Durch dieses ’ riskante Kartografieren‘ wird ’ top-down‘ ein Zielfindungs-Prozeß<br />
in Gang gesetzt, der durch vielfältige und komplexe Rekombinations-Kompetenzen<br />
vorangetrieben wird (Faktorengruppe II). Wegen eines hohen Ausmaßes an Adaptivität<br />
und Bereitschaft zu Modifikationen zwischen den ’ kognitiven Ziel-Karten‘ und<br />
der zu gestaltenden Neuheit (Faktorengruppe III) kann dieser seinerseits ’ riskante‘<br />
Herstellungsprozeß auch zu einem zielgerichteten Ende gebracht werden. Wegen der<br />
vielfältigen positiven Relationen zwischen Innovationserfolgen und den zum Zug kommenden<br />
Heuristiken einerseits [Innovationserfolge ↔ verwendete Heuristiken ( )] und<br />
wegen der positiven Beziehungen zwischen Erfolgen und kognitiven Karten andererseits<br />
[Innovationserfolge ↔ kognitiven Karten ( )] andererseits kann eine dauerhaft<br />
hohe Innovationsleistung über sehr unterschiedlichen Bereiche mit divergierenden<br />
Lösungswegen als sehr unwahrscheinliches Ereignis gelten.<br />
Aus diesem Set an Schlüsselfaktoren sowie aus der Aufzählung in der Tabelle<br />
7 ergibt sich klar, daß dynamische kreative Umgebungen speziell <strong>für</strong> die<br />
Neuheiten auf wissenschaftlichen, technologischen oder künstlerischen Feldern<br />
noch lange Zeit auf den Personenbereich beschränkt sein müssen. Für andere<br />
lernfähige ’ Environments‘ – Computer, ’ intelligente Maschinen‘ oder artifizielle<br />
Kreaturen – sind die da<strong>für</strong> notwendigen Kompetenzen auf den beiden<br />
Hauptebenen, dem ’ Top-Level‘ wie der ’ Bottom-Line‘, noch extrem restringiert<br />
und bestenfalls marginal zuhanden. Auf der ’ Bottom-Line‘ erweisen sich die rekombinativen<br />
Kompetenzen bisher auf wenige Operationen eingeschränkt; und<br />
Top-Level ’ riskantes‘ kognitives Kartografieren so komplexer Domänen wie eben<br />
der wissenschaftlichen, technologischen oder künstlerischen Felder kommt gegenwärtig<br />
nicht einmal ansatzweise zum Zuge.<br />
Auf einen Punkt sei noch verwiesen: ’ Kognitive Karten‘, ’ Rekombinationskompetenzen‘<br />
und flexible rekursive Organisationen gelten auf wissenschaftlichtechnischen<br />
Gebiet nicht nur auf der Ebene der Produktion des ’ explizit‘ neuen<br />
Wissens, sondern auch <strong>für</strong> neues ’ implizites Wissen‘. 73<br />
73 Vgl. vor allem Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt am Main 1985, und Michael<br />
Gibbons u. a., The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in<br />
Contemporary Societies, London 1994. Wichtig ist vor allem ein Hinweis: ’ Explizites Wissen‘<br />
und ’ implizites Wissen‘ sind von ihren Baustein-Architekturen her ungleich stärker getrennt<br />
als es die Bezeichnung naheliegen würde. Die Bausteine im ’ expliziten Wissen‘ stellen Buchstaben,<br />
Silben, Sätze, mithin sprachliche Elemente dar; als Bausteine des ’ impliziten Wissens‘<br />
firmieren hingegen – Operationen, Routinen, Tätigkeiten und deren besondere Sequenzen.<br />
120 ÖZG 11.2000.1
Tabelle 7: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> innovative Transformationsprozesse<br />
bei Menschen, Computern, Maschinen oder künstlichen Kreaturen<br />
BEREICHE FAKTORENGRUPPEN INDIKATOREN<br />
PERSONEN<br />
’ Kognitive Karten‘ Riskantes Kartografieren von<br />
Problemen at the edge of chaos“<br />
”<br />
Rekombinations-Kompetenzen Hochdimensionale Rekombinationsfähigkeiten<br />
Rekursive Organisation Flexible Modifikation von Top-<br />
Level-Beschreibungen und Bottom-<br />
Level-Rekombinationen<br />
Geeignete Abbruchbedingungen<br />
<strong>für</strong> Erfolg‘ oder Mißerfolg‘<br />
’ ’<br />
COMPUTER Kognitive Karten‘<br />
’ ’ Riskante Heuristiken‘ <strong>für</strong><br />
neue Programmfelder nur in ganz<br />
eng begrenzten Feldern<br />
Rekombinations-Kompetenzen Nur in einfachen Versionen<br />
erreichbar<br />
Rekursive Organisation Flexible Modifikation von Top-<br />
Level-Beschreibungen und Bottom-<br />
Level-Rekombinationen kaum<br />
realisierbar<br />
ROBOTICS<br />
’ Kognitive Karten‘<br />
’ Riskante Suchstrategien‘<br />
<strong>für</strong> neue tasks‘ oder drafts‘<br />
’ ’<br />
Rekombinations-Kompetenzen Nur innerhalb sehr einfacher Felder<br />
möglich<br />
Rekursive Organisation Flexible Modifikation von Top-<br />
Level-Beschreibungen und Bottom-<br />
Level-Rekombinationen kaum<br />
umsetzbar<br />
ARTIFICIAL<br />
’ Kognitive Karten‘<br />
’ Riskante Suchstrategien‘<br />
LIFE <strong>für</strong> neue Bereiche‘ nur<br />
’<br />
KREATUREN in artifiziell beschränkten Domänen<br />
Rekombinations-Kompetenzen Nur in elementarer Form<br />
exekutierbar<br />
Rekursive Organisation Flexible Modifikationen von Top-<br />
Level- und Bottom-Level-<br />
Beschreibungen kaum vorhanden<br />
Analyse-Feld IV: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> die Transformation des Neuen<br />
Das letzte Feld <strong>für</strong> die Entstehung des Neuen‘, zudem das wichtigste <strong>für</strong> dessen<br />
’<br />
Genese, liegt in den genauen Transformationsprozessen im Wechsel von alt‘ zu<br />
’<br />
’ neu‘. Im Zentrum von Feld IV stehen damit jene neuen Theorien, Methoden<br />
ÖZG 11.2000.1 121
oder andersgeartete Konstrukte (Technologien, Moden etc.), die sich nach so<br />
und so vielen Zwischenschritten aus einem gegebenen Anfangszustand heraus<br />
in ihre neuartigen Formen transformiert haben. Es ist an dieser Stelle wichtig,<br />
den Schwerpunkt der Feld IV-Betrachtungen möglichst klar zu umreißen. Als<br />
illustrativ und beispielhaft sollte es sich herausstellen, wenn mit einer gehörigen<br />
Portion ’ Selbstreferenz‘ der vorliegende Artikel selbst unter eine solche<br />
Feld IV-Transformations-Perspektive getaucht wird. Dann liest sich eine ’ kurze<br />
Entstehungs-Geschichte‘ der vorliegenden Arbeit – so.<br />
Der Anfang wurde durch eine Top-Beschreibung‘ beziehungsweise durch eine erste<br />
’<br />
’ kognitive Karte‘ gesetzt, nämlich durch rund dreiseitige handschriftliche Notizen, in<br />
denen in einem mehrstündigen Verfahren die konstitutiven Themen-Bausteine‘ <strong>für</strong><br />
’<br />
diese Arbeit zunächst additiv aneinandergereiht und dann in ihrer Reihenfolge rekombiniert<br />
wurden. In einem weiteren Schritt wurden aus teilweise veröffentlichten,<br />
teilweise unveröffentlichten Arbeiten mehrere Baustein-Gruppen‘ zusammengefügt,<br />
’<br />
welche damit vollständig den rund fünfzehnseitigen Anfangszustand‘ dieser Arbeit<br />
’<br />
beschreiben. Der Weg zu jenem Produkt, das Sie gerade lesen, erfolgte dann über einen<br />
mehrere Wochen dauernden Prozeß, in dem vor allem auch in der Top-Beschreibung‘<br />
’<br />
immer wieder gravierende Veränderungen vorgenommen worden sind. 74 Erst in den<br />
letzten Tagen vor der Abgabe wurde die kognitive Karte‘ so rekonfiguriert, daß darin<br />
’<br />
im wesentlichen nur noch einzelne Haupteigenschaften wie Begriffs-Gerüste des Neuen<br />
und vier gleichartig strukturierte Erklärungs-Kontexte <strong>für</strong> unterschiedliche Bereiche<br />
von Neuerungen aufschienen. 75 Die folgende symmetrische Skizze offeriert einen Überblick<br />
in die Grundstruktur dieses Artikels, die sich im übrigen sehr deutlich von der<br />
’ Anfangskarte‘ abhebt.<br />
Facetten Kontexte Feld I Feld II<br />
↑ ↑ ↑ ↑<br />
Begriffliches Heuristisches<br />
↓ ↓ ↓ ↓<br />
Dimensionen Grundbegriffe Feld III Feld IV<br />
Zu Beginn war nämlich expressis verbis beziehungsweise kartografisch weitaus mehr<br />
von den ’ Grenzen des Neuen‘, von ’ Fallbeispielen‘ oder auch von der ’ Reduktions-<br />
Thematik‘ die Rede. Auch die anfänglich zuhandenen Baustein-Gruppen aus anderen<br />
Kontexten wurden in diesem Rekombinations-Prozeß nahezu vollständig entfernt, so<br />
74 ‘Ursprünglich‘, im Anfangszustand waren beispielsweise mehrere Fallbeispiele aus der<br />
Wissenschafts- und Technologiegeschichte geplant, die im Laufe der Transformationen immer<br />
stärker reduziert und schließlich nur mehr auf ein einzelnes längeres Beispiel ausgedünnt<br />
wurden, das aber dann aus Platzgründen rund zwei Wochen vor Fertigstellung dieses Artikels<br />
seinerseits mit der Rekombinations-Operation ’ delete‘ vollständig entfernt wurde.<br />
75 Nochmals tief in das ’ Werkbiografische‘ dieses Artikels getaucht sollte erst über die Übersetzungen<br />
der Arbeit der Hollingsworths und jener von Hage der Punkt mit der ’ Universalität‘<br />
in der Entstehung des Neuen immer mehr an Bedeutung gewinnen.<br />
122 ÖZG 11.2000.1
daß aus der hier vorgestellten Rekombinations-Perspektive eine hohe Vielfalt, oder<br />
anders formuliert, ein komplexes Rekombinations-Design erforderlich wurde. Die einzelnen<br />
Zwischenschritte und Zwischenprodukte drifteten‘ in dieser Zeit, bewertet an<br />
’<br />
den Qualitäts- und Bewertungsstandards <strong>für</strong> wissenschaftliche Artikel, entlang einer<br />
’ ansteigenden Linie‘. Vielleicht sollte eigens auf die immense Zahl an solchen Zwischenprodukten<br />
hingewiesen werden: Denn die kleinste diskrete Einheit der Rekombination<br />
stellt der einzelne Buchstabe, das Leerzeichen oder das Sonderzeichen dar. In diesem<br />
Sinne bedeutet bereits das Weglassen eines Leerzeichens oder die Ersetzung eines<br />
einzelnen Buchstaben ein neues Zwischenergebnis. Und erst recht führt das Einfügen<br />
eines Wortes, die Umstellung eines Satzes, die Verschiebung eines Absatzes zu jeweils<br />
neuen Zwischenresultaten, die genau genommen erst mit der endgültigen Drucklegung<br />
zur Endversion‘ und zur Ruhe kommen. Beendet wurden diese Rekombinationen in<br />
’<br />
dem Augenblick, wo die kognitive Schluß-Karte‘ mit allen Ingredienzien und Details,<br />
’<br />
mit den Tabellen, bibliografischen Hinweisen, Zwischentexten, hinreichend erfüllt und<br />
vollendet war. 76<br />
Diese selbstreferentielle Erzählung führt deutlich vor Augen, wie ungewohnt<br />
eine solche Transformations-Perspektive in der Genese eines wissenschaftlichen<br />
Textes ausfällt – und wie weit derzeit noch die Entfernungen zu einer Ära<br />
wissenschaftlicher Artikel im Zeitalter ihrer maschinellen Produzierbarkeiten<br />
gehalten sind. Die generative Erklärung neuer wissenschaftlicher Theorien, Modelle,<br />
aber auch neuer technologischer Systeme aus dem Geist der rekombinativen<br />
Selbstorganisation steckt derzeit bestenfalls in ihren Anfangsstadien. Und<br />
doch finden sich mittlerweile einige Modelle, in denen rekursiv die Entstehung<br />
des Neuen erprobt, simuliert werden kann. Sie sollen zur weiteren Einführung<br />
in die Feld IV-Kontexte dienen.<br />
Der eine Modellierungsstrang, welcher diese Transformation von alt‘ zu<br />
’<br />
’ neu‘ über Rekombinations-Operatoren‘ bewerkstelligt, liegt bei den sogenann-<br />
’<br />
ten genetischen Algorithmen‘ oder Klassifikationssystemen‘, so wie sie in den<br />
’ ’<br />
letzten Jahrzehnten von John H. Holland und vielen anderen aufgebaut worden<br />
sind. 77 Vor dem Hintergrund des hier eingeführten begrifflichen Apparats<br />
lassen sich diese Systeme folgendermaßen beschreiben.<br />
’ Bausteine‘ solcher Systeme stellen Regel-Teile dar, die <strong>für</strong> sich genommen<br />
einerseits aus Umweltbedingungen‘, andererseits aus Aktionen‘ bestehen. Sol-<br />
’ ’<br />
76 Aus der Rekombinations-Perspektive sei noch ein Hinweis angebracht: Der ÖZG-Modus<br />
der Qualitätskontrolle – mehrere Personen lesen konsekutiv einen prospektiven Zeitschriften-<br />
Artikel – garantiert zudem, daß alle Endversionen von ÖZG-Arbeiten ihrem ’ lokalen Optimum‘<br />
sehr nahegerückt sind, da weitere Lese-Kontrollen wahrscheinlich nur mehr zu wenigen<br />
oder gar keinen Veränderungen führen würden.<br />
77 Zu solchen ’ Classifier-Systems‘ beziehungsweise ’ genetischen Algorithmen‘ vgl. neben Holland<br />
u. a., Induction, wie Anm. 24, auch ders., Adaptation in Natural and Artificial Systems.<br />
An Introductory Analysis with Applications to Biology, Control, and Artificial Intelligence,<br />
Cambridge MA. 1992; ders., Hidden Order. How Adaptation Builds Complexity, Reading<br />
MA. 1995.<br />
ÖZG 11.2000.1 123
che Regeln können somit zwanglos zu ’ Wenn-dann Regeln‘ kombiniert werden<br />
und besitzen typischerweise die Form: Wenn ein Objekt mit den Eigenschaften<br />
’ sehr groß‘, ’ gestreift‘, ’ knurrend‘ ’ nahe‘ erscheint (Umweltteil), dann ’ Flucht‘<br />
(Aktionsteil). Die Architektur dieser ’ Classifier-Systeme‘ ist mehrstufig aufgebaut,<br />
weil sich neben den einzelnen rekombinationsfähigen Regeln auch fixe und<br />
unveränderliche ’ operative Prinzipien‘ finden, welche den Prozeß der Regel-<br />
Kombinationen hintergründig koordinieren. 78 Bewertet werden diese Regeln<br />
über ein ’ Evaluationsmaß‘, das sich aus insgesamt drei unterschiedlichen Bewertungen<br />
zusammensetzt. Diese drei Bewertungsdimensionen betreffen erstens<br />
den Grad an ’ Konkretheit‘ einer Regel – konkrete und situationsspezifische<br />
Regeln werden allgemeineren und unspezifischen Regeln vorgezogen. Zweitens<br />
werden Regeln nach ihrem Nutzen in der Vergangenheit bewertet. Und schließlich<br />
wird drittens das Ausmaß an ’ Einbettung‘ oder ’ Unterstützung‘ einer Regel<br />
durch andere Regeln bewertet. Der genaue Modus in der Entstehung des Neuen<br />
bedient sich des ’ Crossing over‘ als Rekombinationsoperator, wodurch sich ein<br />
Austausch der nachstehenden Art vollzieht: Der Wenn-Teil der ersten Regel<br />
wird mit dem Dann-Part der zweiten Regel kombiniert und der Wenn-Teil der<br />
zweiten mit dem Aktions-Teil der ersten.<br />
(R1W R1D), (R2W R2D) → (R1W R2D), (R2W R1D)<br />
Das Interessante an diesen ’ genetischen Algorithmen‘ in der Hollandschen Version<br />
liegt vor allem darin, daß sich bei konkreten Anwendungen eine Transformation<br />
eines anfänglich unspezifischen Regelsets in eine immer spezifischere<br />
und kontextabhängige Regelmenge vollzieht. Das ’ Neue‘ entsteht mit der Zeit<br />
rekombinativ aus dem ’ Alten‘.<br />
Eine zweite Gruppe von Transformationsschemen liegt in Gestalt ’ evolutionsstrategischer<br />
Modelle‘ (ES-Modelle) vor, die sich von den genetischen<br />
Algorithmen in einigen wichtigen Punkten unterscheiden. 79 Von der Grundarchitektur<br />
finden sich hier nicht spezifische Regeln als Bausteine, sondern beliebige<br />
Populationen, die unterschiedlichste Bereiche repräsentieren können. Diese<br />
Bausteine vermögen sich im Zeitablauf zu reproduzieren und werden über<br />
ein Bündel an Eigenschaften als Vektoren reeller Zahlen ’ codiert‘. Ein zentrales<br />
Feature stellt wiederum die Rekombination solcher Bausteine dar, die sich<br />
im einfachsten Fall über die zufällige Variation einer Eigenschaft oder mehrerer<br />
solcher Eigenschaften vollzieht. Und auch hier sorgen die Evaluationsmaße<br />
da<strong>für</strong>, daß einzelne der neuen Rekombinationen unterschiedlich bewertet wer-<br />
78 Zu solchen höherstufigen ’ Inferenzregeln‘ und ’ operativen Prinzipien‘ vgl. Holland u. a.,<br />
Induction, wie Anm. 24, 43–46.<br />
79 Vgl. zur Übersicht Eberhard Schöneburg, Frank Heinzmann u. Sven Feddersen, Genetische<br />
Algorithmen und Evolutionsstrategien. Eine Einführung in Theorie und Praxis der<br />
simulierten Evolution, Bonn u. a. 1994.<br />
124 ÖZG 11.2000.1
den können und über den Weg ihrer Reproduktion sich stärker, schwächer<br />
oder gar nicht auszubreiten vermögen. Über die Architektur dieser ES-Modelle<br />
läßt sich ebenfalls, wie im Falle der genetischen Algorithmen, über sehr viele<br />
Zwischenschritte eine alte‘ Ausgangskonfiguration in einen neuen Endzu-<br />
’ ’<br />
stand‘ transformieren, der zudem schwachen oder starken Optimalitätskriterien<br />
genügt.<br />
Mit den beiden an sich ähnlichen Modell-Beispielen soll nun ein riskanter<br />
Schritt in Richtung einer Generalisierung unternommen werden. Denn auch<br />
<strong>für</strong> das Feld IV kann ein universeller Modus generativen Operierens‘ unter-<br />
’<br />
stellt werden, der entlang der verschiedenartigsten Bausteine aus der Tabelle 2<br />
mit Hilfe desselben Rekombinations-Repertoires aus der Tabelle 3 von einer<br />
’ alten‘ Ausgangslage nach so und so vielen rekombinativen Zwischenschritten<br />
ein neues‘ Endprodukt erzeugt. Durch die rekursive Anwendung dieser<br />
’<br />
Rekombinations-Vielfalt taucht bei beliebigen Bausteinen‘: bei Regelsystemen,<br />
’<br />
bei Programmen, bei Theorien, bei Modellen oder bei andersgelagerten Ensembles<br />
mit der Zeit das Neue hervor. 80 Die passende verallgemeinerte Erklärungs-<br />
Skizze könnte demgemäß so gestaltet sein.<br />
Generalisierte Erklärungs-Skizze <strong>für</strong> das Feld IV: Neue Ensembles wie neue Theorien,<br />
neue Modelle, neue Methoden, neue Technologien, neue Moden, neue Kunst-Stile oder<br />
andere neuerungsfähige Bereiche entstehen durch das simultane Zusammenwirken der<br />
folgenden drei Gruppen von Schlüsselfaktoren: Gegeben eine Anfangskonfiguration<br />
werden durch eine unter Umständen sehr hohe Vielfalt und eine sehr große Zahl an<br />
Rekombinations-Operationen (Faktorengruppe I) Zwischen-Produkte generiert, die<br />
sich, verglichen mit dem Anfangszustand durch deutliche komparative Vorteile auszeichnen,<br />
wenn sie an den da<strong>für</strong> notwendigen Bewertungsmaßen evaluiert werden<br />
(Faktorengruppe II). Durch die Konservierung besser bewerteter Zwischenlösungen<br />
wird im Zeitablauf eine charakteristische ’ Drift‘ (Faktorengruppe III) erzeugt, die an<br />
einem besonderen Punkt der ’ Zielnähe‘ oder der ’ Zielerreichung‘ terminiert werden<br />
kann – und soll.<br />
Mit diesem generalisierten Erklärungs-Sketch kann wiederum in die Tabelle 8<br />
übergeschwenkt werden, welche dieses Set an Schlüsselfaktoren an mehreren<br />
Beispielen auflistet.<br />
Auch an der Tabelle 8 wird nochmals deutlich, daß zum gegenwärtigen<br />
Zeitpunkt das genaue Verständnis der Rekombinations-Prozesse von alt‘ zu<br />
’<br />
’ neu‘ außerhalb sehr enger und extrem eingegrenzter künstlicher Welten‘ weit-<br />
’<br />
gehend fehlt. Andererseits konnten immerhin die Grundarchitekturen wie auch<br />
die Richtungen, wo und wie danach zu suchen wäre, klar benannt werden.<br />
80 Als weitere Modell-Unterstützung kann auch auf die sogenannten ’ Lindenmayer-Systeme‘<br />
verwiesen werden, in denen sich rekursiv die ’ algorithmische Schönheit neuer Pflanzen‘ entfalten<br />
kann, vgl. Przemyslaw Prusinkiewicz u. Aristid Lindenmayer, The Algorithmic Beauty<br />
of Plants, New York u. a. 1990.<br />
ÖZG 11.2000.1 125
Tabelle 8: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> innovative Transformationsprozesse von<br />
Regelsystemen, Programmen, Theorien, Modellen oder technologischen Systemen<br />
BEREICHE FAKTORENGRUPPEN INDIKATOREN<br />
CLASSIFIER Rekombinations-Vielfalt Crossing-over, Adding, Deleting,<br />
SYSTEME Replacing<br />
Komparative Vorteile Zusammengesetztes Evaluationsmaß<br />
(vergangene Nützlichkeit,<br />
Spezifiziät, int. Verbundenheit)<br />
’ Driften‘ Zunehmende ” Spezifizität“<br />
und interne Verbundenheit von<br />
Regeln und Regelsequenzen<br />
EVOLUTIONS- Rekombiations-Vielfalt Adding, Deleting, Replacing<br />
STRATEGIEN Komparative Vorteile Zus.-ges. Evaluationsmaße (kontextabhängig)<br />
’ Driften‘ Weg zu einem lokalen oder globalen<br />
’ Optimum‘<br />
COMPUTER- Rekombinations-Vielfalt Komplexe Rekombination auf mehreren<br />
PROGRAMME Programm-Ebenen<br />
Komparative Vorteile Zus.-ges. Evaluationsmaß über<br />
Performanz-Indikatoren<br />
’ Driften‘ Höhere Feature-Integration, größere<br />
Geschwindigkeit in den Abläufen, usw.<br />
THEORIEN Rekombinations-Vielfalt Komplexe Rekombinationen auf<br />
mehreren Theorie-Ebenen<br />
Komparative Vorteile Zus.-ges. Evaluationsmaß (Erklärungsrelevanz,<br />
Einfacheit, empir.<br />
Support u. a.)<br />
’ Driften‘ Höhere Bereichsintegration,<br />
höhere Generalisierung, höhere<br />
Formalisierung, etc.<br />
MODELLE Rekombinations-Vielfalt Komplexe Rekombination auf mehreren<br />
mehreren Modell-Ebenen<br />
Komparative Vorteile Zus.-ges. Evaluationsmaß (Modellrelevanz,<br />
Einfachheit, empir. Support<br />
u. a.)<br />
’ Driften‘ Höhere Bereichsintegration,<br />
höhere Generalisierung,<br />
höhere Komplexität, etc.<br />
TECHNOLOG. Rekombinations-Vielfalt Komplexe Rekombinationen auf mehreren<br />
SYSTEME System-Ebenen<br />
Komparative Vorteile Zus.-ges. Evaluationsmaß über Performanzindikatoren<br />
’ Driften‘ Zunehmende Leistunsfähigkeit,<br />
Nutzungsgrad, Nachhaltigkeit‘,<br />
’<br />
interne Linkages (z. B. mit dem IuK-<br />
Bereich, etc.) u. a.<br />
126 ÖZG 11.2000.1
Grenzen der Erkennbarkeit des Neuen<br />
Über die Tabelle neun lassen sich nochmals die Schlüsselfaktoren‘ in der Entste-<br />
’<br />
hung des Neuen, aufgeteilt nach den vier möglichen Analyse- und Erklärungsfeldern,<br />
rekapitulieren und zusammenfassen. Aus dieser Tabelle stechen die<br />
relativ homogenen Konstellationen quer über die einzelnen Bereiche hervor,<br />
die sich ungeteilt vom Faktoren-Netzwerk des Feldes I bis hin zur generativen<br />
’ Tiefengrammatik‘ des Neuen im Feld IV erstrecken.<br />
Tabelle 9: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> die Entstehung des Neuen<br />
EINBETTUNG/UMGEBUNG NEUHEIT<br />
EXTERN Riskante Strategien Komparative Vorteile<br />
Komplexität der Arbeitsteilung Wenig Constraints<br />
’ Organische‘ Organisation Eigen-Dynamiken<br />
INTERN Riskantes Kartografieren‘<br />
’<br />
Komplexes Rekombinationspotential<br />
Komparative Vorteile<br />
Rekombinations-Vielfalt<br />
Rekursive Organisation<br />
’ Driften‘<br />
Eine weitere Besonderheit an der Tabelle 9 – Neuheit wäre ebenfalls eine passende<br />
Zuschreibung – liegt daran, daß diese Faktoren-Geflechte auf eine Vielzahl<br />
an konkreten Bereichen und auf unterschiedliche Niveaus appliziert werden<br />
können. Die mannigfaltigen empirischen Beispiele, die innerhalb dieses Heftes<br />
ausgeführt wurden oder auf die innerhalb dieses Artikels hingewiesen wurde,<br />
lassen es jedenfalls als zwar riskante aber lohnende Strategie erscheinen, die<br />
Schlüssel-Heuristiken und Erklärungs-Rahmen <strong>für</strong> die vier Felder an beliebigen<br />
gesellschaftlichen Bereichen zu erproben, in denen sich ein hinreichend starkes<br />
Erkenntnisinteresse an der Entstehung des Neuen‘ geltend macht.<br />
’<br />
Eine Einschränkung sei aber zum Ausklang angeführt, welche eine logische<br />
Grenze in der Erkennbarkeit‘ des Neuen zieht. Denn speziell die Erklärungs-<br />
’<br />
kontexte III und IV, die direkt und unmittelbar mit der Entstehung des Neuen‘<br />
’<br />
gekoppelt sind, besitzen eine unhintergehbare Barriere, die aus der folgenden<br />
Zuspitzung oder Paradoxie resultiert: Neues, aber speziell neues Wissen‘ kann,<br />
’<br />
so vor allem Karl R. Popper, nicht vorhergesagt werden, weil es sonst schon bekannt<br />
wäre: 81 Zukünftiges Wissen ist – in einer Variation zu Johann Nepomuk<br />
Nestroy – gegenwärtig gar keines. Der wahrscheinlich wichtigste Grund <strong>für</strong> diese<br />
’ Asymmetrie des Neuen‘ konnte über den allgemeinen Erklärungs-Rahmen <strong>für</strong><br />
81 Die interessantesten Popperschen Argumentationen dazu finden sich in Karl R. Popper,<br />
The Open Universe. An Argument for Indeterminism. From the ’ Postscript to the Logic of<br />
Scientific Discovery‘, Totowa 1982.<br />
ÖZG 11.2000.1 127
das Feld IV mitgeliefert werden. Das Neue bedarf, als seine Geburtsbescheini-<br />
’<br />
gung‘, eines vielfältigen Rekombinations-Prozesses, der seinen Ausgangspunkt<br />
von bestehenden Ensembles nimmt. Werden diese Rekombinations-Schritte,<br />
Zwischenlösungen und Rekonfigurationen‘ nicht getätigt, so kann auch nicht<br />
’<br />
von Neuem die Rede sein. Was dann möglich bleibt, sind bestenfalls prognostische<br />
Wegweiser, in welchen Richtungen sich Neues wahrscheinlich stark und<br />
in welchen relativ schwach entwickeln wird. Aber das Aufstellen von Wegweisern<br />
ist die eine Sache; die konkreten Wege zum Ziel unter rekombinativen<br />
Umständen und Driften‘ eine ganz andere.<br />
’<br />
Dasselbe Argument von der gegenwärtigen Unzulänglichkeit des zukünftig<br />
Neuen kann, mutatis mutandis, auf andere Bereiche ausgedehnt werden. Eine<br />
zukünftige Technologie kann deswegen prinzipiell nicht präzise prognostiziert‘<br />
’<br />
oder beschrieben‘ werden, weil da<strong>für</strong> alle notwendigen Rekombinationsprozes-<br />
’<br />
se bereits gesetzt sein müssen. Damit wäre aber sie, die Technologie, bereits<br />
zuhanden und nicht länger zukünftig neu‘. Und genau besehen gilt dieses Ar-<br />
’<br />
gument auch <strong>für</strong> zukünftig neue Kunststile oder Moden‘, die alle erst ihre<br />
’<br />
konstitutiven Rekombinationsprozesse zu durchlaufen haben. Neue Horizonte<br />
an Beschreib- und Darstellbarkeiten eröffnen sich erst, wenn die Wege dorthin<br />
beschritten und auch die passenden Umgebungen da<strong>für</strong> aufgebaut worden<br />
sind. An diesem Punkt mag ein Zitat von Ludwig Wittgenstein weiterhelfen:<br />
” Wer träumend sagt Ich träume‘, auch wenn er dabei hörbar redete, hat so-<br />
’<br />
wenig recht, wie wenn er im Traum sagt Es regnet‘, während es tatsächlich<br />
’<br />
regnet. Auch wenn sein Traum wirklich mit dem Geräusch des Regens zusammenhängt.“<br />
82 Rekombinativ umgestellt und in den Kontext der Entstehung<br />
’<br />
des Neuen‘ transferiert, heißt dies: Wer vorausschauend sagt Ich kenne das<br />
’<br />
Wissen der Zukunft‘, auch wenn er dabei prognostiziert, hat sowenig recht,<br />
wie wenn er prognostisch sagt So wird es sein‘ und sich alle daran orientieren.<br />
’<br />
Auch wenn seine Prognose mit dem weiteren Gang des Erkenntnisfortschritts‘<br />
’<br />
übereinstimmt.<br />
Die Gestalten der kognitiven, wissenschaftlichen, technologischen, artistischen<br />
Landschaften der Zukunft werden erst dann klarer erkennbar, wenn man<br />
rekombinativ mitten unter ihnen weilt. Von vorne herein wird immer nur in<br />
grauen Ansätzen von solchen grünen Feldern der Zukunft zu berichten sein.<br />
Das Neue, es entsteht rekombinativ mit der Zeit; und nicht schon davor.<br />
82 Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, Frankfurt am Main 1971, 174, ÜG 676.<br />
128 ÖZG 11.2000.1
Christian Fleck<br />
Wie Neues nicht entsteht<br />
Die Gründung des Instituts <strong>für</strong> Höhere Studien in <strong>Wien</strong> durch Ex-Österreicher und<br />
die Ford Foundation<br />
I.<br />
The first few years of the Institute’s life were a total disaster. The director (...) did<br />
not have the vaguest notion of what the Institute was supposed to be doing, and the<br />
general atmosphere of the Institute was a mixture of Balkan intrigue, considerable<br />
graft and generally lacking in intellectual content.<br />
Peter E. de Janosi, 10. September 1973<br />
Am 12. Februar 1956 schrieb F. A. Hayek, wie sich Friedrich August von Hayek<br />
seit seiner Berufung im Jahr 1931 an die London School of Economics and Political<br />
Science nannte, einem noch Berühmteren einen Brief. Artig stellte er sich<br />
Henry Ford II 1 als Autor von Road to serfdom vor, an das sich Herr Ford viel-<br />
∗ Ich bin den folgenden Institutionen, die mir Archivmaterial zugänglich machten bzw. deren<br />
Bibliotheken ich benutzen konnte, zu Dank verpflichtet: Rockefeller Archive Center, Pocantico<br />
Hill, NY; Harvard Archives, Harvard University, Cambridge, MA; The New York Public<br />
Library, Rare Book and Manuscript Library der Columbia University, ’ Ford Foundation‘, alle<br />
in New York; London School of Economics and Political Science und Internationales Institut<br />
<strong>für</strong> Sozialgeschichte, Amsterdam. Vorarbeiten zu dieser Studie wurden finanziell unterstützt<br />
vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), <strong>Wien</strong>, Projekt P 10061-<br />
Soz und vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank, <strong>Wien</strong>, Projekt 6773. Die<br />
Aufenthalte im Rockefeller Archive Center, Tarrytown, NY und an der London School of<br />
Economics and Political Science wurden mir durch ein Special Grant for Research in the<br />
History of the Social Sciences bzw. EUSSIRF Grant (European Union Social Science Information<br />
Research Facility) ermöglicht. Dieser Aufsatz wurde während meines Aufenthalts als<br />
Fellow am Center for Scholars and Writers der New York Public Library fertiggstellt.<br />
1 Henry Ford II (1917–1987) übernahm nach einem nicht vollendeten Soziologiestudium in<br />
Yale als 25-Jähriger die Leitung der von seinem Großvater gegründeten Firma und reorganisierte<br />
das Unternehmen nach Kriegsende unter Beiziehung von Management-Experten<br />
erfolgreich. Im Unterschied zum autoritären und antisemitischen Firmengründer bemühte<br />
sich dessen Enkel um gute Beziehungen zu den Gewerkschaften, zur Stadt Detroit und war<br />
als Philanthrop tätig.<br />
ÖZG 11.2000.1 129
leicht noch erinnern werde, habe dieses Buch doch einige Aufmerksamkeit auf<br />
sich gezogen. Seit langem habe er gehofft, eine Gelegenheit zu finden ihn, Ford,<br />
zu treffen, um ihm vorzuschlagen, doch der leader of a Detroit Movement‘“ zu<br />
” ’<br />
werden, which in the same manner as the Manchester Movement of last cen-<br />
”<br />
tury could bring the cause of free trade to victory and thus do much to ensure<br />
prosperity and peace.“ 2 Heute wende er sich in einer anderen Sache an Ford<br />
und ersuche ihn um the opportunity of a personal interview.“ Es gehe um die<br />
”<br />
<strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> und darum, den Niedergang der westlichen Zivilisation und<br />
Gelehrsamkeit aufzuhalten. Er habe darüber ein Memorandum verfaßt, über<br />
das er auch schon mit Funktionären der Ford Foundation und der Rockefeller<br />
Foundation gesprochen habe. In beiden Fällen hätten die Gesprächspartner<br />
seiner Einschätzung zugestimmt, allein die Größe seines Plans übersteige nach<br />
Meinung der Stiftungsmitarbeiter ihre Möglichkeiten bei weitem. Es helfe nur<br />
noch der direkte Weg zu Henry Ford II.<br />
Mir ist nicht bekannt, ob es zu dem Treffen kam. Das Projekt, das Hayek<br />
vor Augen hatte, war tatsächlich groß. Den siebzehnseitigen Text, in dem er seinen<br />
Vorschlag erläuterte, überschrieb er mit Memorandum on Conditions and<br />
Needs of the University of Vienna. Die <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong>, eines der größten Zentren<br />
der Wissenschaft, das in den letzten drei oder vier Generationen eine große<br />
Zahl original thinkers“ hervorgebracht habe, sei in Gefahr. Sie sei auf einen<br />
”<br />
” inferior rank“ abgesunken und die intellectual community“ sei zermürbt.<br />
”<br />
The significance of this for the world is not very different from what it would be if<br />
the University of Oxford, or the University of Paris, or the University of Göttingen,<br />
had been devastated by an natural catastrophe and most of the best men of such<br />
a University been dispersed all over the world. If this had happened in Vienna no<br />
doubt help of the scale required could be found. Yet the difference is merely that in<br />
the case of Vienna the same result has been brought about not by a sudden event but<br />
by a slow process extending over twenty years and no less due to irresistible external<br />
forces.<br />
Der Abzug der sowjetischen Truppen aus Österreich, so Hayek weiter, erfolge<br />
gerade rechtzeitig, um noch Hilfe leisten zu können, da ohne Unterstützung<br />
von außen eine ” reconstruction“ nicht möglich sein werde, weil die in <strong>Wien</strong><br />
verbliebenen Kräfte zu erschöpft seien. Auch sei ein erheblicher Teil der <strong>Universität</strong>sangehörigen<br />
nicht aus ” altem Holz“, einige seien über die Jahre hinweg<br />
in ihrem Kampf gegen politische Vorurteile verbittert, andere, ” solid but not<br />
very distinguished men“, hätten nach Jahren der tatsächlichen oder eingebildeten<br />
politischen Verfolgung endlich höhere Positionen erreicht, die sie nun<br />
2 Hayek an Henry Ford II, 12. Februar 1955, Kopie unter Grant number 63-193, Microfilm<br />
reel 2574, Archiv der Ford Foundation. Die im Folgenden zitierten Dokumente befinden sich<br />
unter der zitierten Grant Nummer auf dieser und zwei weiteren Mikrofilmrollen.<br />
130 ÖZG 11.2000.1
eifersüchtig verteidigten; und schließlich habe die Unterrichtsverwaltung ihrerseits<br />
zum Verfall beigetragen, habe sie doch das alte System aufgelassen, jedes<br />
wichtige Fach mit zumindest zwei Lehrstühlen auszustatten, um die Konkurrenz<br />
und damit den Leistungswillen zu erhöhen. Der <strong>Wien</strong>er Lehrkörper könnte<br />
seine alte Blüte wieder erlangen, würde man seine ehemaligen über die ganze<br />
westliche Welt verstreuten Mitglieder wieder einsammeln. Man bräuchte nur<br />
entsprechende finanzielle Mittel, um innerhalb von fünfundzwanzig Jahren das<br />
frühere Ansehen wiederzuerlangen.<br />
Bevor Hayek seinen Rettungsplan näher erläutert, gibt er einen knappen<br />
Überblick über <strong>Wien</strong>s vergangene Größe. 3 Er zitiert Daten, die ihn selbst überrascht<br />
hätten, nennt die Zahl der <strong>österreichische</strong>n Nobelpreisträger bis 1950<br />
und schließt die Vermutung an, daß in Relation zur Bevölkerungszahl <strong>Wien</strong><br />
weltweit an erster Stelle liegen müßte. 4 Für jene Wissenschaften, mit denen<br />
er hinreichend vertraut sei, stellt er drei Generationen nebeneinander: <strong>Wien</strong>er<br />
Gründerväter wie Boltzmann, Brentano, Freud, Lammasch, Mach und Menger;<br />
deren Schüler, die in der Zwischenkriegszeit noch zur Blüte <strong>Wien</strong>s beigetragen<br />
hätten, 5 und jene Generation, die heute vor allem im Ausland tätig<br />
sei. 6 Danach spricht Hayek über <strong>Wien</strong>s Rolle an der Grenze der beiden widerstreitenden<br />
politischen Systeme, seine Ausstrahlung nach dem Osten und<br />
andere Klischees, und behauptet, daß ” massive help extending over a long period<br />
would be likely to bring exceptionally large returns.“ Mit der Hälfte des<br />
Jahresbudgets einer großen amerikanischen <strong>Universität</strong> könne man jedenfalls<br />
eines der größten Zentren der Gelehrsamkeit wieder auf seine Füße stellen.<br />
Hayek schwebte ein ” concerted move“ der Ex-<strong>Wien</strong>er an den Dr. Karl Lueger-<br />
Ring vor. Vierzig neue Professuren in allen vier Fakultäten würden ausreichen,<br />
3 Zu dieser Zeit war Hayek auch damit beschäftigt, eine Liste amerikanischer Wissenschaftler<br />
<strong>österreichische</strong>r Herkunft zusammenzustellen, vgl. Brief Hayek an Dear colleagues vom<br />
Juni 1957, Ford Foundation. An dieser als Hayek/Stourzh Liste bekannt gewordenen Aufstellung<br />
ist bemerkenswert, daß in ihr Opfer der Nazis und Anhänger dieser Partei nebeneinander<br />
stehen. Kopie im Dokumentationsarchiv des <strong>österreichische</strong>n Widerstandes (DÖW,<br />
Akt Nr. 6217).<br />
4 Hayek behauptet, daß bis 1950 zehn Österreicher, 34 Deutsche, 28 Briten, 27 Amerikaner<br />
und je sieben Schweden und Schweizer einen der drei Wissenschaftspreise erhalten hätten.<br />
Eine Überprüfung dieser Angaben ergab nur kleine Abweichungen von Hayeks Zählung;<br />
http://nobel.sdsc.edu/cgi-bin/laureate-search, 12. Februar 2000.<br />
5 Hayek teilt hier wider besseres Wissen jenen Mythos, der seither in alpenländischen Selbstbeschreibungen<br />
einen Stammplatz gefunden hat, gleichgültig, ob sich diese auf Geldscheinen<br />
oder in der Bezeichnung von Wissenschaftspreisen zeigt: Man schmückt sich mit den Namen<br />
jener, die zu Lebzeiten keinen oder nur einen marginalen Platz im kulturellen und wissenschaftlichen<br />
Leben hatten (hier: Alfred Adler, Ludwig Wittgenstein, Joseph Schumpeter).<br />
6 Die Liste ist lang und enthält alle bekannten Namen von Carnap, Gödel, Gombrich, Haberler,<br />
Lazarsfeld, Machlup, Menger, Popper, Weisskopf, aber auch Otto Brunner, Karl Frisch,<br />
Ludwig Bertalanffy und Hans Sedlmayr, deren Abwesenheit von <strong>Wien</strong> bekanntlich andere<br />
Gründe hatte, über die sich Hayek allerdings ausschweigt.<br />
ÖZG 11.2000.1 131
um the decline towards a provincial atmosphere“ umzukehren. Über dreißig<br />
”<br />
Jahre hinweg würden da<strong>für</strong> rund fünfundzwanzig Millionen Dollar nötig sein.<br />
Das kam dann sogar Hayek etwas viel vor, weswegen er hinzusetzte, daß er<br />
nicht glaube, diese Summe von nur einer Stiftung erhalten zu können. Hayeks<br />
Vorschlag erreicht einen absurden Höhepunkt, als er behauptet, first class<br />
”<br />
men“ nur rekrutieren zu können, wenn ihnen im Fall politischer Veränderungen<br />
eine Weiterbeschäftigung außerhalb Österreichs garantiert werde, sie also<br />
eine Art schnelle akademische Eingreiftruppe bilden sollten, die sich von der<br />
’ Front‘ wieder zurückzieht, falls sich herausstellte, daß die gegnerischen Kräfte<br />
stärker sind.<br />
Dieses Memorandum, dessen vertraulichen Charakter Hayek abschließend<br />
betont, war natürlich nicht einmal Wunschdenken eines Mannes, der als Mittfünfziger<br />
schon an die Zeit nach seiner Pensionierung dachte und diese offenbar<br />
gern als Chairman der von ihm ” provisorisch“ so benannten ” Vienna University<br />
Foundation“ verbringen wollte. Kurioserweise bildet Hayeks Memorandum<br />
aber zumindest chronologisch den Anfang der Gründungsgeschichte, die im folgenden<br />
zu erzählen ist. Denn Henry Ford II leitete das Schreiben offenbar an<br />
seine Stiftung weiter, wo zu dieser Zeit massive Anstrengungen unternommen<br />
wurden, die Sozialwissenschaften in Europa zu stärken. 7<br />
Kurze Zeit nach Beginn des ” Tauwetters“ in den kommunistischen Ländern<br />
entsandte der in der Ford Foundation die Abteilung <strong>für</strong> internationale Beziehungen<br />
leitende Shepard Stone 8 eine Delegation nach Polen, um ” promising young<br />
men“ 9 zu finden, denen man Stipendien <strong>für</strong> einen Aufenthalt in den USA anbieten<br />
könne. Die Delegation stand unter Leitung von Frederick Burkhardt 10 und<br />
ihr gehörte auch der Professor <strong>für</strong> Soziologie der Columbia University, Paul F.<br />
Lazarsfeld an. Später weitete die Ford Foundation dieses Programm auch auf<br />
Jugoslawien aus. Lazarsfeld erinnert sich:<br />
7 Vgl. Giuliana Gemelli, Hg., The Ford Foundation and Europe (1950s–1970s). Cross-fertilization<br />
of Learning in Social Science and Management, Brüssel 1998.<br />
8 Stone (1908–1990) war ein exzellenter Kenner Europas, wo er vor dem Zweiten Weltkrieg<br />
als Reporter der New York Times und nach dem Krieg als Leiter der Öffentlichkeitsarbeit<br />
des U.S. High Commissioner for Germany arbeitete. 1953–1968 leitete er die Abteilung <strong>für</strong><br />
internationale Beziehungen der Ford Foundation und gründete danach das Aspen Institut<br />
Berlin. Zu Stone vgl. Volker R. Berghahn, Shepard Stone and the Ford Foundation, in:<br />
Gemelli, Ford Foundation, wie Anm. 7, 69–95.<br />
9 Paul F. Lazarsfeld, The Pre-history of the Vienna Institute for Advanced Studies, 2; Paul F.<br />
Lazarsfeld Papers, Columbia University, Rare Book and Manuscript Library, Box 19.<br />
10 Frederick H. Burkhardt (geb. 1912), Ph.D. Columbia University 1940, danach Assistant<br />
Professor <strong>für</strong> Philosophie an der University of Michigan, ab 1943 zuerst ’ Research Analyst‘<br />
<strong>für</strong> Mitteleuropa im ’ Office of Strategic Services‘, danach im Außenministerium in der Forschungsabteilung<br />
<strong>für</strong> Europa, ab 1947 Präsident des Bennington College, 1950/51 Mitarbeiter<br />
Stones in der Öffentlichkeitsarbeit des U.S. High Commissioner for Germany, 1957–74 Präsident<br />
des ’ American Council of Learned Societies‘, danach Mitherausgeber der Werke William<br />
James’ und der Korrespondenz von Charles Darwin.<br />
132 ÖZG 11.2000.1
While I didn’t know the history of Yugoslavia as well as that of Poland I was surprised<br />
how many good people could be found there (...). I asked Stone to send me on a<br />
similar mission to Austria because I thought I might be able to help some of my<br />
former students and associates. However, I did not find younger people who would<br />
live up to the standards which the Ford Foundation had set up for the granting of<br />
these fellowships. This impression was gained when, in January 1958, I spent ten days<br />
in Vienna. Upon my return I sent a very long Report on Austria to Dr. Stone. 11<br />
Dieser Report on Austria bildet den sachlichen Ausgangspunkt <strong>für</strong> die Bemühungen<br />
der Ford Foundation, in <strong>Wien</strong> ein Institut zu gründen. Auf den ersten<br />
fünf Seiten skizziert Lazarsfeld den ” General Background“. 12 Um die Schwierigkeiten<br />
der <strong>österreichische</strong>n <strong>Universität</strong>en zu verstehen, sei es nötig, drei Tatsachen<br />
zu berücksichtigen: ” Die anti-intellektuellen Auswirkungen der jüngsten<br />
Geschichte Österreichs, die Besonderheiten der gegenwärtigen <strong>österreichische</strong>n<br />
Politik und die Beziehung der Katholischen Kirche zu den Sozialwissenschaften.“<br />
1918 habe <strong>für</strong> <strong>Wien</strong> bedeutet, nicht mehr die Metropole eines beinahe<br />
sechzig Millionen Menschen umfassenden Reiches, sondern die Hauptstadt eines<br />
kleinen Staates von sieben Millionen Einwohnern zu sein. Während seine ” intelligentsia“<br />
früher aus Deutschen, Slawen, Ungarn und Juden bestand, habe nach<br />
1918 ” langsam eine Abwanderung der Intellektuellen“ nach Deutschland und in<br />
die Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches eingesetzt. Dennoch habe es in den<br />
zwanziger Jahren intellektuelles Leben gegeben, zum einen wegen der ” vigorous<br />
activities“ der Gemeinde <strong>Wien</strong>, die Lazarsfeld mit dem zehn Jahre später beginnenden<br />
New Deal in den USA vergleicht, und zum anderen, weil die ” very<br />
intense political battles gave opportunities to prominent men on both the Conservative<br />
and the Social Democratic sides.“ 1934 sei der ” zweite Schock“ erfolgt,<br />
als ein ” faschistische(s) Regime nach italienischem Vorbild“ <strong>Universität</strong>sprofessoren<br />
und andere Intellektuelle entlassen oder in die Emigration getrieben habe.<br />
In dieser Zeit sei der Antisemitismus noch nicht stärker gewesen als in früherer<br />
Zeit; soziale Diskriminierung der Juden habe es immer schon gegeben. 1938<br />
seien dann alle Juden vertrieben worden, und nach dem Ende des Krieges habe<br />
eine vierte ” decimation of talent“ stattgefunden. ” While the denazification<br />
of Austria was politically desirable and carried out more thouroughly than in<br />
Western Germany it cannot be denied that it led to the elimination of what<br />
had remained of intellectual talent between 1918 and 1945.“<br />
11 Lazarsfeld, Pre-history, wie Anm. 9. – Dieses 1973 verfaßte Manuskript hätte den Anfang<br />
einer wissenschaftshistorischen Studie bilden sollen, blieb aber ohne Folgen. Lazarsfeld hatte<br />
vorgeschlagen, seine Dokumentation durch die anderer und durch Oral history zu ergänzen.<br />
Die ’ Pre-history‘ ist im Ton diplomatisch und weniger detailliert als der ’ Report on Austria‘,<br />
aus dem ich hier ausführlich zitiere.<br />
12 Paul F. Lazarsfeld, Report on Austria, Lazarsfeld Papers, Box 38. Daraus alle folgenden<br />
Zitate.<br />
ÖZG 11.2000.1 133
So fragwürdig der Vergleich mit Westdeutschland ist, so richtig dürfte der<br />
Hinweis auf die Auswirkungen der Entnazifizierung auf das geistige Leben sein.<br />
Man dürfe aus dem Umstand, daß in <strong>Wien</strong> bestimmte kulturelle Aktivitäten –<br />
Oper, Theater und Konzerte – gedeihen, nicht auf andere schließen. Darstellende<br />
Kunst sei etwas anderes als kreative Fähigkeiten. Zwar seien <strong>österreichische</strong><br />
Schauspieler im gesamten deutschen Sprachraum gefragt, aber über Jahrzehnte<br />
hinweg habe kein <strong>österreichische</strong>r Schriftsteller ein ” acceptable play“ zustandegebracht.<br />
” University life, which of course requires creative skill, shows the<br />
decline of intellectual level most acutely.“ Die Lage werde durch die aktuellen<br />
politischen Verhältnisse – wir befinden uns im Jahr 1958 – noch verschlimmert.<br />
Die Koalition zwischen ÖVP und SPÖ funktioniere zwar und habe dem Land<br />
auch zu annehmbarem Wohlstand verholfen, aber das intellektuelle Leben leide<br />
darunter. Wichtige Fragen würden, um die Koalition nicht zu gefährden, gar<br />
nicht diskutiert, und Politik bestehe nur in Verhandlungen der Parteien über<br />
Postenvergaben, was Auswirkungen auf junge Leute habe, die nur reüssieren<br />
könnten, wenn sie von einer der beiden Parteien unterstützt würden, der sie<br />
dann ihren Dank abzustatten hätten. Die empirischen Sozialwissenschaften litten<br />
unter diesen Umständen weit mehr als andere intellektuelle Aktivitäten.<br />
The Catholic Church is suspicious of them (i. e. empirical social sciences) for a variety<br />
of reasons: Substantive findings might come in conflict with certain dogmatic<br />
positions; quantitative methods do not seem congenial to a spiritual outlook of life.<br />
Beyond this there is the church’s inclination to favor traditional procedures: philology<br />
is preferable to comparative studies of literature; experimental psychology to psychoanalysis.<br />
It is doubtful whether the ruling bureaucracy in the S.P. has a very genuine<br />
understanding of what empirical social research could do for their cause; but even if<br />
they had they would not put up a major fight for it because they do not want to rock<br />
the boat.<br />
Sozialwissenschaftlich beachtenswert seien nur das Institut <strong>für</strong> Wirtschaftsforschung,<br />
das auf hohem Niveau arbeite, sei ihm versichert worden, und in Linz<br />
gebe es einen Bürgermeister, der eine <strong>Universität</strong> <strong>für</strong> social and political sciences<br />
gründen wolle. 13 Vor diesem Hintergrund seien die Treffen zu sehen, über die<br />
er im zweiten Teil seines Report on Austria berichte.<br />
13 Heinrich Drimmel, der 1973 Lazarsfelds ’ Pre-history‘ mit der Bitte um Ergänzungen und<br />
Kommentare aus seiner Sicht zugesandt bekommen hatte, erklärte, keine Aufzeichnungen<br />
darüber zu haben und daher nur über seine persönliche Sicht schreiben zu können. Obiger<br />
Darstellung Lazarsfelds über die <strong>österreichische</strong>n sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen<br />
widersprach Drimmel heftig: ” Demnach existierten damals außer dem Institut <strong>für</strong><br />
Wirtschaftsforschung (aus dem Kamitz hervorgegangen ist) nur noch 2 (in Worten: zwei) wissenschaftlich<br />
relevante Instanzen in Österreich: die Hochschule in Linz (bei deren Gründung<br />
die Exponenten der SPÖ immer mehr hervortraten) und die ein [!] Gruppe von Linkskatholiken<br />
um Friedrich Heer.“ Drimmel an Gerhart Bruckmann, Direktor des IHS, 8. April 1973,<br />
im Anhang zu Lazarsfeld, Pre-history, wie Anm. 9.<br />
134 ÖZG 11.2000.1
Mit dem Unterrichtsminister Heinrich Drimmel, dessen Karriere Lazarsfeld<br />
knapp schildert 14 und von dem er sagt, daß die ” weit nach rechts gerückten“<br />
Sozialisten am liebsten mit ihm kooperierten, habe er eineinhalb Stunden<br />
lang gesprochen. Drimmel sei sich des Niedergangs der <strong>Universität</strong>en völlig bewußt,<br />
um es aber ändern zu können müßte man, so Lazarsfeld, eine andere<br />
Persönlichkeit als Drimmel sein. Lazarsfeld habe Drimmel über die Arbeitsweise<br />
einer amerikanischen Stiftung aufklären müssen, da dieser sich anläßlich<br />
eines früheren Gesprächs mit Stone davon ein völlig falsches Bild gemacht habe:<br />
” Drimmel (...) expected that one day a check from the Ford Foundation<br />
would arrive“ 15 – und er habe versucht, Drimmels ” European stereotype of the<br />
materialistic Americans“ zu zerstreuen. ” He thinks that we do not appreciate<br />
the spiritual values of the Austrian tradition (and) he felt that Americans are<br />
much more likely to help Germans because they too are materialistic.“ Ausführlich<br />
sei dann darüber gesprochen worden, wie man die Verhandlungen mit der<br />
Ford Foundation führen solle. Drimmel habe vorgeschlagen, den Akademischen<br />
Rat – ” the Council, however, had never been active for reasons I do not quite<br />
understand“ – damit zu beauftragen. Nachdem sich herausgestellt habe, daß<br />
dieser Rat über keinerlei ” administrative machinery“ verfüge, sei man übereingekommen,<br />
zwei ” assistent professors, Rosenmayr and Topitsch“ – ” they both<br />
had been in America on fellowships“ 16 – als ” executive secretary“ zu engagieren,<br />
” to make an inventory of worthwhile projects and to enable the Council to<br />
express preferences.“ Doch noch während seines Aufenthalts in <strong>Wien</strong> sei diese<br />
Idee zugunsten eines eigens eingesetzten Komitees verworfen worden.<br />
Drimmel habe Hayeks ” idea to create in Vienna an Institute of Advanced<br />
Studies which would be free of University supervision“ gekannt und sehr begrüßt,<br />
auch wenn er erkannt habe, daß dies finanziell ” almost impossible“ sei.<br />
Der <strong>österreichische</strong> Unterrichtsminister hoffe, daß ” Dr. Stone or I or somebody<br />
else would find some solution for the intellectual impasse“. Allerdings drückte<br />
14 Drimmel widerspricht Lazarsfelds Charakterisierung seiner politischen Vergangenheit und<br />
schreibt dazu: ” Was meine Person betrifft, so möchte ich feststellen, daß ich im Jahr 1957/58<br />
eine Politik mit dem Einsatz von ’ Privatarmeen‘ längst hinter mir hatte. Das aber ändert<br />
nichts an meiner Wertschätzung <strong>für</strong> Engelbert Dollfuß, der als einziger Regierungschef im<br />
Kampf gegen Hitler gefallen ist.“<br />
15 Das gleiche Mißverständnis drückte der damalige Außenminister Leopold Figl in einem<br />
Brief vom 4. Februar 1958 an Lazarsfeld aus, in welchem er darum bat, die ’ Ford Foundation‘<br />
möge die Einrichtung eines <strong>Wien</strong>er Komitees annehmen, aber nichts darüber sagte, wo<strong>für</strong><br />
man denn nun eigentlich Geld haben möchte. Der Brief ist im Anhang zum ’ Report on<br />
Austria‘ wiedergegeben.<br />
16 Leopold Rosenmayr (geb. 1925) und Ernst Topitsch (geb. 1919) waren 1951 und 1953 ein<br />
Jahr lang als Rockefeller Fellows in den USA gewesen; nach ihrer Rückkehr arbeiteten sie<br />
als <strong>Universität</strong>sassistenten an der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong>. Topitsch taucht später noch einige Male<br />
in den Akten der Rockefeller Foundation und der ’ Ford Foundation‘ auf, übernahm aber nie<br />
eine organisatorische Funktion, vgl. Fellowship Card, RAC.<br />
ÖZG 11.2000.1 135
er diese Hoffnung erst aus, als ihm Lazarsfeld versicherte, daß die Aktivitäten<br />
der Stiftung would not endanger what he considers basic Austrian values. He<br />
”<br />
is also hoping that some intervention from outside would set things into motion.“<br />
Welche <strong>österreichische</strong>n Werte“ nicht gefährdet werden dürften, wird an<br />
”<br />
dieser Stelle des Reports nicht ausgeführt. Was in den folgende Jahren geschah,<br />
ist allerdings durchaus geeignet, sie gleichsam an der Arbeit zu sehen.<br />
Lazarsfeld bezeichnete Drimmel zu Recht als Schlüsselfigur. Warum er<br />
auch zur Ansicht kam, daß fortunately he would undoubtedly also be a good<br />
”<br />
person to work with“, scheint mir jedoch kaum nachvollziehbar. Wahrscheinlich<br />
gelangte er zu dieser Auffassung nach dem Gespräch mit der von ihm auf<br />
Seiten der SPÖ identifizierten Schlüsselfigur: dem damaligen Staatssekretär im<br />
Außenministerium, Bruno Kreisky, by far the most promising combination of<br />
”<br />
personal ability and power.“ Kreisky erzählte Lazarsfeld, daß er sich wöchentlich<br />
mit Drimmel treffe – Kreisky and Drimmel are in some way personal<br />
”<br />
friends and cry on each other’s shoulders about the shortcomings of the political<br />
machines with which they are allied.“<br />
Im dritten Teil seines Report on Austria behandelt Lazarsfeld die Frage,<br />
” how to organize a request for funds.“ Tatsächlich kreisten alle seine Gespräche<br />
in <strong>Wien</strong> darum, wie man die Eingabe“ anlegen sollte. I want to stress the<br />
” ”<br />
paradoxical element in these discussions. Austria has always had a strong bureaucracy<br />
and one of the standard jokes is the role of the petition‘ – Eingabe<br />
’<br />
– in the life of each citizen. It struck many of us as funny that the central<br />
problem of my ten days in Vienna was how I could help the Austrians to draft<br />
an eingabe to the Ford Foundation.“ In ermüdender Ausführlichkeit schildert<br />
Lazarsfeld seine Odyssee durch die Vor- und Hinterzimmer der <strong>österreichische</strong>n<br />
Innenpolitik und die unzähligen Intrigen und koalitionären Junktims: Der <strong>für</strong><br />
Wissenschaften zuständige SPÖ-Abgeordnete Karl Mark war nur unter der Bedingung<br />
bereit, den Akademischen Rat zu akzeptieren, wenn im Gegenzug sein<br />
seit drei Jahren im Nationalrat liegender Antrag auf Gründung eines national<br />
”<br />
scientific council“ behandelt würde. Viel besser wäre es allerdings, gleich diese<br />
neue Institution mit der Planung des neuen Zentrums zu beauftragen. Der eine<br />
” real power in University politics“ darstellende Professor Hubert Rohracher,<br />
der Lazarsfeld den unzutreffenden Eindruck vermitteln konnte, free from po-<br />
”<br />
litical affiliations“ zu sein, lehnte diesen Vorschlag umgehend ab, weil er gegen<br />
die Gründung eines Wissenschaftsförderungsfonds sei, in dem die politischen<br />
Parteien gegenüber den Vertretern der <strong>Universität</strong>en in der Überzahl wären.<br />
Stattdessen schlug er die Befassung der Akademie der Wissenschaften vor, was<br />
allerdings wiederum bei Lazarfeld auf wenig Gegenliebe stieß, sei das doch eine<br />
Institution, die vornehmlich aus old emeriti professors“ bestehe, die weder<br />
”<br />
Einfluß auf noch Wissen über moderne Entwicklungen hätten und von einem<br />
Präsidenten geleitet werde, an den er sich noch aus seiner <strong>Wien</strong>er Studienzeit<br />
136 ÖZG 11.2000.1
als ” very insignificant professor“ erinnern könne, der obendrein in der Lage<br />
gewesen sei, unbeschadet die verschiedenen politischen Wechsel zu überleben,<br />
obwohl er sehr katholisch sei. ” At this point, then, three proposals regarding the<br />
agency to deal with the (Ford) Foundation had been made: the inactive Academic<br />
Council, the non-existing national scientific council and the insignificant<br />
Academy of Science.“<br />
Er habe, berichtet Lazarsfeld weiter, auch noch verschiedene andere mit<br />
Bildung befaßte Einrichtungen kontaktiert, vor allem wolle er aber Stones Aufmerksamkeit<br />
auf eine Gruppe linker Katholiken lenken, die ihm im ” rather<br />
dreary intellectual picture of Vienna“ in der Lage schienen, ” to exercise some<br />
intellectual initiative.“ Ihr ” main spokesman“ sei ein ” unattached historian,<br />
(Friedrich) Heer, who has published many books and who edits a weekly<br />
newspaper, Die Furche, (...) by far the best written and most civilized newspaper<br />
in Austria.“ Diese Gruppe fände ein wenig ” academic support through the<br />
only so-called professor of sociology at the University of Vienna, (August M.)<br />
Knoll.“ Dieser sei ” essentially an historian of Catholic social thought“, werde<br />
aber von Leopold Rosenmayr, dem einzigen, der in <strong>Wien</strong> ” seriously concerned<br />
with empirical social research“ sei, ” fairly“ unterstützt. Daneben gebe es noch<br />
eine Gruppe junger Männer um den Assistenten an der Psychiatrischen Klinik,<br />
Hans Strotzka, die eine Art ” unofficial seminar“ eingerichtet hätten, um ” empirical<br />
social research“ zu diskutieren. Sie dächten sogar daran, ” some studies“ im<br />
Bereich der Industriesoziologie und der Erforschung der öffentlichen Meinung<br />
durchzuführen. Stone möge bei seinem nächsten Besuch in <strong>Wien</strong> diese Gruppe<br />
kontaktieren, um zu sehen, ob ihre Pläne ein realistisches Stadium erreicht<br />
hätten. Beide Gruppen würden es wohl begrüßen, wenn die Verhandlungen<br />
mit der Ford Foundation nicht völlig unter dem Einfluß der beiden regierenden<br />
Parteien gerieten.<br />
Nach ungefähr vierzig Besprechungen, schreibt Lazarsfeld resignierend,<br />
kenne er sich kaum noch aus und be<strong>für</strong>chte, daß jeder versuchen werde, ” to<br />
quote me in the way most suitable for his prejudices.“ 17 Doch trotz aller negativen<br />
Erfahrungen rafft er sich auf, die sich selbst gestellte Frage zu beantworten:<br />
” What can money do in a situation where there is no strong intellectual<br />
initiative from within “ Man könne, erstens, mehrjährige Stipendien an Assistenten<br />
vergeben. Obwohl in <strong>Wien</strong> kaum ein bedeutender Lehrer vorhanden sei,<br />
könne man, wenn einem Professor fünf Assistenten zur Seite gestellt würden,<br />
erwarten, daß einige aus dieser Gruppe ” would go beyond their teachers and<br />
form a kind of internal pressure group for higher academic standards“. Außerdem<br />
sei es nicht unmöglich, daß einige dieser Assistenten ” would broaden their<br />
interests and do better work.“ Ohne diesen Plan zu detaillieren, würde er zu<br />
17 Lazarsfeld deponierte aus diesem Grund in <strong>Wien</strong> eine offizielle Version seiner Absichten<br />
in schriftlicher Form, welche im Anhang zum ’ Report on Austria‘ wiedergegeben ist.<br />
ÖZG 11.2000.1 137
seinen Gunsten argumentieren. Zweitens könnte man <strong>für</strong> die zeitweilige Rückkehr<br />
von Emigranten Gastprofessuren errichten. Friedrich Hacker habe kürzlich<br />
in <strong>Wien</strong> gelehrt, und Lazarsfeld habe sich von der positiven Wirkung, die das<br />
gehabt habe, überzeugen können. Konkret denke er an seine frühere Lehrerin<br />
Charlotte Bühler und an Adolf Sturmthal, 18 die vermutlich beide gewillt<br />
wären, in <strong>Wien</strong> vorübergehend zu lehren. Und er habe gehört, daß auch Hayek<br />
an einer Rückkehr interessiert sei und darüber mit dem (ressortunzuständigen)<br />
Finanzminister Kamitz in Verhandlungen stehe. 19 Drittens könnte man<br />
den Plan unterstützen, in Linz eine neue <strong>Universität</strong> zu errichten, wo eine<br />
Gruppe von ausländischen Beratern das Curriculum, das jetzt ” somewhat oldfashioned“<br />
sei, verbessern helfen könnte. Viertens könnte man ein Institut <strong>für</strong><br />
Osteuropastudien fördern, an dessen Errichtung ein junger <strong>Wien</strong>er Professor,<br />
Stephan Verosta, interessiert sei. 20 Fünftens könnte man bei bestimmten klar<br />
umrissenen Problemen helfen. So sei etwa das Niveau der Tageszeitungen ” especially<br />
bad“ und eine Journalistenschule könnte nützen. Sechstens könnte man<br />
statt der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> die anderen <strong>Wien</strong>er Hochschulen oder die <strong>Universität</strong>en<br />
in der Provinz fördern. Siebentens könnte man den Bibliotheken unter<br />
die Arme greifen, die sich in einem ” deplorable state“ befänden, was ein weiterer<br />
Grund sei, warum ” academic life is at such a low level“. Achtens könnte die<br />
Ford Foundation einen Zuschuß zu den Fulbright-Stipendien leisten, da derzeit<br />
wegen der geringen Stipendienhöhe das Niveau der Bewerber außerordentlich<br />
niedrig sei. Lazarsfeld beendet seinen Report on Austria mit zwei Hinweisen: Er<br />
werde ihn anderen ehemaligen Österreichern in den USA zur Kenntnis bringen,<br />
die alle mit dem Problem beschäftigt seien, und er beschwört die Ford Foundation<br />
geradezu, etwas <strong>für</strong> Österreich zu tun, da es sich nur um ein ” temporary<br />
weakening of intellectual morale“ handle.<br />
18 Adolf F. Sturmthal (1903–1986) war nach Abschluß seines Studiums mehr als zehn Jahre<br />
lang Mitarbeiter Friedrich Adlers in der Sozialistischen Internationale, deren Nachrichtendienst<br />
er edierte. Lazarsfeld wiederum stand Adler nahe, war dieser doch über Jahrzehnte<br />
der Liebhaber seiner Mutter. Sturmthal flüchtete 1938 in die USA, wo er an verschiedenen<br />
<strong>Universität</strong>en lehrte, ehe er ab 1960 eine Professur <strong>für</strong> ’ Labor and Industrial Relations‘ an<br />
der University of Illinois übernahm. Adolf F. Sturmthal, Democracy Under Fire: Memoirs of<br />
a European Socialist, hg. v. Suzanne Sturmthal Russin, Durham 1989.<br />
19 Reinhard Kamitz war als Mitarbeiter des Instituts <strong>für</strong> Konjunkturforschung 1938 ein<br />
Rockefeller Fellowship zugesichert worden, scheint aber auf dieses zu Gunsten des Aufstiegs<br />
im führungslosen Institut verzichtet zu haben, Rockefeller Foundation, R. G. 1.1. General<br />
Correspondence 2-1937, series 705, box 152, folder 1123, sowie General Correspondence 2-<br />
1938, Series 705, box 167, folder 1213, RAC.<br />
20 Schon 1952 hatten Richard Blühdorn und Alfred Verdross versucht, bei der ’ Ford Foundation‘<br />
Geld <strong>für</strong> die Gründung eines Instituts <strong>für</strong> internationale Beziehungen, das der Ausbildung<br />
von Diplomaten und Mitarbeitern internationaler Organisationen dienen sollte, zu<br />
bekommen. Ihr Antrag wurde abgelehnt, weil die ’ Ford Foundation‘ damals noch nicht in<br />
Österreich tätig werden wollte, vgl. Frederick C. Lane, Tagebuch, 10. Oktober 1952, 425,<br />
RAC.<br />
138 ÖZG 11.2000.1
Lazarsfelds Report wurde hier so ausführlich referiert, weil er weitestgehend<br />
zutreffend die politischen Verhältnisse und die Lage der (sozial-)wissenschaftlichen<br />
Forschung in Österreich Ende der fünfziger Jahre schildert. Er mag<br />
sich in der Beurteilung einzelner Personen hinsichtlich ihres Interesses und ihrer<br />
Fähigkeit, an den Verhältnissen etwas zu ändern, geirrt haben, als Sittenbild<br />
des geistigen Lebens der frühen Zweiten Republik kann man diesen Report getrost<br />
an die Seite jenes stellen, der seither zum Synonym des Österreichertums<br />
dieser – und nicht nur dieser – Jahre wurde: Carl Merz’ und Helmut Qualtingers<br />
Der Herr Karl, uraufgeführt 1961, schildert diesselben Verhältnisse und<br />
porträtiert im Souterraine der sozialen Schichtung jenen Sozialcharakter, dem<br />
Lazarsfeld in deren Belles etages begegnete. Die Frage, die zu beantworten die<br />
folgenden Zeilen nicht in der Lage sein werden, die sich allerdings geradezu<br />
unabwendbar stellt, ist: Warum kehrte Paul F. Lazarsfeld nach diesen Erfahrungen<br />
noch einmal nach <strong>Wien</strong> zurück 21 Denn er kehrte zurück, nicht um in<br />
<strong>Wien</strong> Musik zu hören, sondern um ein Institut gründen zu helfen.<br />
Der Report zirkulierte in den USA, wie angekündigt, unter ehemaligen<br />
Österreichern. Im Dezember 1958 berichtete Lazarsfeld an Stone über die Reaktionen<br />
und listete Personen auf, mit denen Stone über die <strong>österreichische</strong>n<br />
Aktivitäten konferieren sollte: Charlotte Bühler, F. A. Hayek, Adolf Sturmthal<br />
und Ludwig Wagner. Wünschenswert wäre es, auch noch einen ” respectable Catholic<br />
refugee“ beizuziehen. 22 Die Konferenz fand Ende März 1959 in Stones<br />
New Yorker Büro unter Teilnahme von Lazarsfeld, Hayek, Sturmthal, Klemens<br />
von Klemperer und Erich Hula statt. Lazarsfeld hatte eine überarbeitete Version<br />
seiner Vorschläge vom Vorjahr vorbereitet. 23 Die Versammelten einigten sich<br />
auf zwei Vorschläge: Die Ford Foundation sollte in <strong>Wien</strong> ein Zentrum <strong>für</strong> ” ad-<br />
21 Im Unterschied zu manchem anderen Emigranten, hatte Lazarsfeld weder Interesse noch<br />
Not an einer ständigen Rückkehr nach <strong>Wien</strong>, wie er in einem der Briefe an Stone unmissverständlich<br />
und ohne Koketterie festhielt: ” to avoid misunderstandings, I have to add a<br />
word about myself. I would be most eager to help in the organization of the projects (...) but<br />
as I told you and everyone else concerned before, it would not be possible for me to join the<br />
faculty (...) as an ex-Austrian, I have, of course, a great desire to relieve the intellectual plight<br />
prevailing now in Vienna. But my commitments in this country [USA] are now so ramified,<br />
that I could not possibly stay away for a long time.“ Lazarsfeld an Stone, 15. Oktober 1960.<br />
22 Lazarsfeld an Stone, 23. Dezember 1958. Charlotte Bühler schrieb am 23. März 1959 an<br />
Stone einen Brief, worin sie bedauert, wegen einer anderen Verpflichtung an dem Treffen nicht<br />
teilnehmen zu können. Sie erklärt sich darin auch bereit, nach <strong>Wien</strong> zu gehen, ” however, I<br />
would of course have to have a reasonable degree of security and the certainty that this<br />
position is at least to degrees equivalent to what I give up.“ Grant number 63-193, reel 2574,<br />
Ford Foundation.<br />
23 Auf dieses Papier wurde später öfters als ” the document“ Bezug genommen. In ’ Prehistory‘<br />
erläutert Lazarsfeld: ” It is my guess that I wrote this memo as a kind of general<br />
summary for Dr. Stone. I consider it quite possible that he collaborated on the wording and<br />
that I also had the help of some other associates. The style of the memo is somewhat more<br />
formal than I am used to writing.“ Lazarsfeld, Pre-history, wie Anm. 9, 6.<br />
ÖZG 11.2000.1 139
vanced teaching and research“ gründen und einigen der existierenden <strong>Wien</strong>er<br />
Einrichtungen Mittel zur Verfügung stellen, um zusätzlich Ausländer anstellen<br />
zu können. Das Zentrum sollte sich mit zwei Aktivitäten befassen: Forschung<br />
über Österreich und Osteuropa und Lehre jener Disziplinen, die an den <strong>Universität</strong>en<br />
nicht oder unzureichend vertreten waren: ” modern social psychology,<br />
empirical study of politics, industrial relations, etc.“ Der Lehrkörper sollte<br />
sich aus ” highly-qualified ex-Austrians returning from America and West European<br />
countries“ und Österreichern zusammensetzen, die am Programm des<br />
Zentrums speziell interessiert und geeignet seien. ” The visiting faculty members<br />
should stay if possible for several years. In exceptional cases life tenure might<br />
be negotiated.“ Ausländische Assistenten und Österreicher, die davor bei ihren<br />
prospektiven Professoren im Ausland studiert haben sollten, könnten weiteres<br />
Personal bilden. Für die Studenten müsse sichergestellt werden, daß ihre<br />
Studien von den <strong>Universität</strong>en anerkannt werden. Absolventen des Zentrums<br />
sollten im öffentlichen Dienst privilegiert, oder ihnen spezielle Assistentenstellen<br />
an den <strong>Universität</strong>en offeriert werden. Die Leitung des Instituts sollte ein<br />
paritätisch aus Österreichern und Amerikanern zusammengesetztes Gremium<br />
übernehmen, dem der Direktor verantwortlich sei. Von Österreich erwarte man<br />
ein geeignetes Gebäude. 24<br />
Im Frühsommer 1959 reiste Lazarsfeld wieder nach Europa, im Juni kam er<br />
nach <strong>Wien</strong>, von wo er an Stone drei lange Briefe schickte. 25 Der Besuchstermin<br />
war, wie Lazarsfeld berichtet, mit Blick auf die <strong>österreichische</strong>n Verhältnisse<br />
nicht gerade gut gewählt, war doch nach der Nationalratswahl Anfang Mai,<br />
die der SPÖ die Stimmen-, aber keine Mandatsmehrheit gebracht hatte, immer<br />
noch keine Regierung gebildet und im vergangenen Jahr war wegen des bevorstehenden<br />
Wahlkampfes in Sachen Institutsgründung nichts weitergegangen.<br />
Die ” famous personal lunches“ von Drimmel und Kreisky seien im beginnenden<br />
Wahlkampf eingestellt worden. ” As a result the plans I had worked last<br />
year got all messed up and I have to start practically from the beginning.“<br />
Neuerlich führte Lazarsfeld ein eineinhalbstündiges Gespräch mit dem voraussichtlich<br />
weiterhin als Unterrichtsminister tätigen Drimmel, um ihm klar zu<br />
24 Inter Office Memorandum, 6. April 1959 und ’ Confidential‘ Protokoll, 30. März 1959,<br />
verfaßt von Lazarsfeld, Ford Foundation.<br />
25 Im ersten Brief entschuldigt er sich bei Stone <strong>für</strong> die äußere Form: ” please remember that<br />
since I came to this country (USA this is) I always had a secretary, so I never learned to<br />
spell let alone to type. But I hope you will get the gist of this first progress report nevertheless.“<br />
12. Juni 1959, Ford Foundation. In Lazarsfelds ’ The pre-history of the Vienna Institute<br />
for Advanced Studies‘, Lazarsfeld Papers Columbia University, bezieht er sich auf deren Inhalt,<br />
notiert allerdings in einer Fußnote auf S. 7: ” I will put these letters into a sealed envelope<br />
for the time being because they contain some remarks on political personalities which should<br />
not be divulged at this moment.“ Stone hatte allerdings Abschriften dieser Briefe herstellen<br />
lassen, von denen sich Kopien zum Teil wiederum unversiegelt in den Lazarsfeld Papers in<br />
der Columbia University finden. Das versiegelte Kuvert scheint verschwunden zu sein.<br />
140 ÖZG 11.2000.1
machen, daß ohne einen von Österreich ausgearbeiteten und der Ford Foundation<br />
übermittelten Vorschlag nichts gehe. Drimmel habe sich wieder <strong>für</strong> die<br />
Verzögerung entschuldigt und ihm versichert, weiterhin an diesem Zentrum interessiert<br />
zu sein: Zum Teil aus patriotischen Gründen, zum Teil um in Österreich<br />
” den Westen“ zu stärken, und schließlich auch wegen der ” few eggheads<br />
in his party“. ” Inversely he is afraid that the socialists – who have a few more<br />
eggheads, although not very many or good ones – will run away with the<br />
Center. When Pittermann came back from NY he boasted how he had good<br />
contacts in the USA and this created great anxiety on the other side. (...) I shall<br />
ask Kreisky tonight (...) to assure Drimmel that the Ford Foundation is not<br />
an agent of Pittermann.“ Lazarsfeld habe Drimmel versichert, er werde da<strong>für</strong><br />
sorgen, daß nicht Pittermann, sondern Kreisky sein Verhandlungspartner auf<br />
Seiten der Sozialisten sei, dessen Außenministerium nach dem Wahlerfolg der<br />
SPÖ nun auch <strong>für</strong> die kulturellen Beziehungen mit dem Ausland zuständig war.<br />
Drimmel habe dann eingestanden, daß er in seiner eigenen Partei Probleme habe.<br />
Hayek, der sich auch gerade in <strong>Wien</strong> befinde, werde nochmals mit Drimmel<br />
reden und ihm die Unterstützung von Kamitz zusagen müssen. 26<br />
Zehn Tage später folgte der nächste Bericht aus <strong>Wien</strong>. Bei einem weiteren<br />
Gespräch mit Drimmel sei es um die akademische Anerkennung der am neuen<br />
Zentrum absolvierten Studien gegangen. Da dies in die autonome Kompetenz<br />
der <strong>Universität</strong> falle, könne diese Frage allerdings nicht vom Ministerium entschieden<br />
werden. 27 In der Zwischenzeit hätten die beiden Parteien auch jemanden<br />
gefunden, dem sie die Koordination der <strong>österreichische</strong>n Seite übertragen<br />
wollten. Lazarsfeld äußerte sich darüber sehr erfreut, weil er Stephan Verosta<br />
von früher kannte und ihn <strong>für</strong> eine gute Wahl hielt. Was er nicht realisierte<br />
war, daß Verosta vor allem damit beschäftigt war, die Balance zwischen den<br />
Parteien zu wahren und dem eigentlich Nötigen, nämlich endlich ein Papier<br />
darüber zu verfassen, wo<strong>für</strong> die Österreicher von der Ford Foundation Geld haben<br />
wollten, weniger Aufmerksamkeit schenken konnte. Verosta fügte dem wissenschaftlichen<br />
Profil des zu gründenden Zentrums eine neue Seite hinzu. War<br />
Hayeks Plan einfach nur groß und Lazarsfelds bisherige Pläne auf eine Aus-<br />
26 ” The problem with Hayek is that he has only a shadowy idea of what it is all about<br />
because he is so involved in his own affaires. Fortunately I had ’ the document‘ with me<br />
and I made him reread it very carefully so that he sticks to the party line.“ In ’ Pre-history‘<br />
drückt sich Lazarsfeld noch deutlicher aus: ” Hayek himself wanted to return to Austria and<br />
concentrated increasingly on his personal plans“. Lazarsfeld, Pre-history, wie Anm. 9, 5.<br />
27 Dieser Hinweis ist <strong>für</strong> die Vorgangsweise des Unterrichtsministeriums gegenüber Uninformierten<br />
geradzu typisch: Was mitgeteilt wird, ist nicht falsch, aber unvollständig, weil<br />
natürlich das Parlament, in welchem ja die beiden Parteien nahezu ohne Opposition waren,<br />
entsprechende Beschlüsse fassen hätte können. Zu früheren irreleitenden Auskünften vgl.<br />
Christian Fleck, Rückkehr unerwünscht. Der Weg der <strong>österreichische</strong>n Sozialforschung ins<br />
Exil, in: Friedrich Stadler, Hg., Vertriebene Vernunft I. Emigration und Exil <strong>österreichische</strong>r<br />
Wissenschaft 1930–1940, <strong>Wien</strong> 1987, 182– 213.<br />
ÖZG 11.2000.1 141
ildungseinrichtung <strong>für</strong> empirische Politik- und Sozialforschung ausgerichtet,<br />
wozu Lazarsfeld als dankbarer Schüler von Charlotte Bühler die Psychologie<br />
anfügte, reklamierte Verosta seine ” hobbies – especially the study of contemporary<br />
history with emphasis on the collection of documents“ in das Konzept. 28<br />
Falls denn überhaupt ein Vorschlag nach New York gelangen werde, warnte Lazarsfeld<br />
Stone, dann werde er eine lange Liste von Forschungsfeldern umfassen<br />
und es sei dann an ihm, sich in den konkreten Verhandlungen durchzusetzen.<br />
The areas which the proposal will stress are likely to be: social research, political<br />
science, contemporary history, and something which has not yet a name but which<br />
is important for Austria, a kind of sophisticated social work, an anthropological approach<br />
to family, youth, and old age, etc. with a sprinkling of social psychiatry – a<br />
term very fashionable here. Oh, and of course industrial sociology and labor relation –<br />
thus altogether five divisions, which don’t need to be started all at once. The question<br />
of economics as a sixth area was under discussion when I left and so I don’t know<br />
how it will turn out. I am against it for various reasons but I try never to inject my<br />
own opinions; and so Hayek, who is still here and with whom Verosta will talk some<br />
more might talk them into it. 29<br />
Ende Juli 1959 schickte Lazarsfeld aus seinem Urlaubsort Opatija einen dritten<br />
Bericht an Stone. Österreich habe eine neue Regierung, sodaß man weiter mit<br />
Drimmel und Kreisky verhandeln könne, und das ” Verosta team is their offical<br />
representative“. Das sei die gute Nachricht, doch die Aussichten auf einen<br />
ordentlichen Antrag stünden schlecht. ” It is just unbelievable for us how inexperienced<br />
the Austrians are in laying out a persuasive and concrete program<br />
of action.“ Dabei handle es sich aber nicht um ein generelles europäisches Unvermögen,<br />
weil beispielsweise die Jugoslawen große Fähigkeiten ” in discussing<br />
and formulating administrative projects“ bewiesen hätten. Er glaube, das Unvermögen<br />
der Österreicher sei das Resultat der allgemeinen Lethargie im Land,<br />
wo Politik vollkommen eine Sache der Aufteilung bestehender Posten geworden<br />
sei, ” instead of developing new ideas.“ 30 Deswegen schlage er vor, die Ford<br />
Foundation möge den Österreichern einen ” initial grant“ geben, damit sie herausfänden,<br />
was sie eigentlich mit dem Zentrum wollten. Lazarsfeld spaßte nicht,<br />
wie aus seiner detaillierten Erläuterung hervorgeht: Stefan Verosta sollte drei<br />
Monate mit Hilfe eines Assistenten und einer Sekretärin ” put his legal mind<br />
to think through all the implications“, um ein gutes Ergebnis zu erzielen. Der<br />
neue Vorgesetzte Verostas, Außenminister Kreisky, unterstütze diesen Plan.<br />
28 Über ein derartiges Institut wurde in <strong>Wien</strong> auch schon lange geredet. F. C. Lane berichtet,<br />
daß er im Dezember 1952 von Drimmel, der damals noch Beamter in jenem Ministerium war,<br />
das er wenig später leiten sollte, über einen derartigen Plan informiert wurde; Lane, Tagebuch,<br />
11. Dezember 1952, 484.<br />
29 Lazarsfeld an Stone, 22. Juni 1959.<br />
30 Lazarsfeld an Stone, 23. Juli 1959.<br />
142 ÖZG 11.2000.1
Mit nochmaliger Hilfe Lazarsfelds 31 schafften es die genannten Personen<br />
schließlich, an die Ford Foundation ein Papier zu schicken, über das dann Ende<br />
Oktober 1959 Stone mit Drimmel in <strong>Wien</strong> verhandelte. Ein Monat nach<br />
der Aussprache sandte ein Sektionschef des Unterrichtsministeriums an Stone,<br />
dessen Vornamen er konsequent falsch schrieb, dessen Titel er aber allesamt<br />
anführte, eine ” Niederschrift“ über die beiden Besprechungen in <strong>Wien</strong>,<br />
zuerst ohne und dann mit Drimmel. Dieses gleichsam amtliche Protokoll ist<br />
nicht nur wegen seines Amtsdeutsch, sondern auch wegen seines Inhalts ein<br />
Stück Realsatire. 32 Drimmel erklärt dem Emissär amerikanischer Philanthropie<br />
rundheraus, daß er dessen Geld nur nehmen würde, wenn daraus kein Unternehmen<br />
entstünde, in dem ein ” sozialistisches Übergewicht“ herrsche. Die<br />
Rechtsform sei nicht entscheidend, aber es gehe nicht an, daß neben einem<br />
schwarzen und einem roten Minister auch noch die Stadt <strong>Wien</strong> eine Rolle spiele.<br />
Interessiert zeigt er sich ” begreiflicherweise“ daran, wer an diesem neuen<br />
Institut beschäftigt sei; eine ” Anrechnung der am Institut verbrachten Zeit<br />
als Vordienstzeit“ müsse zur gegebenen Zeit mit den zuständigen Stellen verhandelt<br />
werden. Auf <strong>österreichische</strong>r Seite, heißt es am Ende von Drimmels<br />
Einleitung, sei vom Gesichtspunkt der Unterrichtsverwaltung als erste Voraussetzung<br />
<strong>für</strong> eine Aktivierung des geplanten Instituts eine Koordinierung der<br />
Auffassung zwischen ihm, Bundesminister Drimmel, und dem Bundesminister<br />
<strong>für</strong> Auswärtige Angelegenheiten, Kreisky, erforderlich. Statt auch nur auf einen<br />
Punkt dessen, was Stone anschließend sagte, einzugehen, erklärt Drimmel abschließend,<br />
daß die Realisierung des Projekts von den Antworten auf drei Fragen<br />
abhängig sei:<br />
1. Kann durch Vereinbarungen zwischen Unterrichtsverwaltung und Außenministerium<br />
als tragende öffentliche Faktoren des Projekts ein haltbares Team gebildet werden<br />
2. Kann es in Kürze gelingen, die von der Ford Foundation erwartete <strong>österreichische</strong><br />
Beitragsleistung – Räume sowie Budget <strong>für</strong> das nicht-wissenschaftliche Personal und<br />
den administrativen Dienst – aufzubringen<br />
3. Welche Persönlichkeiten sollen im Institut die Headmasters sein und wie ist ihre<br />
geistige Haltung 33<br />
31 Dieses ” Expose entstand im Einvernehmen mit den Professoren Verdross, Hantsch und<br />
Rohracher, sowie dem <strong>Universität</strong>sdozenten Dr. Rosenmayr und Dr. (Fritz) Fellner und Dr.<br />
(Ernst) Glaser“, gibt Verosta später zu Protokoll, vgl. Anm. 32.<br />
32 Bundesministerium <strong>für</strong> Unterricht an Stone, 18. November 1959, Niederschrift, Betrifft:<br />
Errichtung eines Österreichischen Instituts <strong>für</strong> Sozialwissenschaften und Zeitgeschichte, Ford<br />
Foundation.<br />
33 Ebd., Lazarsfeld interpretiert in Pre-history, 13 den dritten Punkt als Ausdruck des Mißtrauens<br />
gegen die amerikanische Invasion, obwohl es vermutlich als Umschreibung der Zugehörigkeit<br />
zur richtigen Fraktion zu deuten sein dürfte. Im Anhang befindet sich ein Brief<br />
Drimmels, der um eine Stellungnahme zu dem Manuskript gebeten wurde. Wenigstens zweimal<br />
betont er darin den Unterschied zwischen seiner Auffassung ( ” was meine Person betrifft,<br />
ÖZG 11.2000.1 143
Stone hatte klar gemacht, daß er vor der nächsten Sitzung des Board of Trustees<br />
der Ford Foundation Ende Jänner 1960 einen Vorschlag aus <strong>Wien</strong> erhalten<br />
wollte; Anfang Februar entschuldigte sich Verosta in einem privaten Brief bei<br />
Stone und erklärte, daß vor dem Sommer nicht mit einer Einigung zu rechnen<br />
sei, und ohne jede Spur von Ironie fügte er hinzu, daß eben eine Kommission<br />
eingesetzt worden sei, die die Konstruktion eines neuen Rates <strong>für</strong> die kulturellen<br />
Beziehungen zum Ausland besprechen solle. ” In diesem Rahmen dürfte<br />
auch der Herr Unterrichtsminister nicht abgeneigt sein, sich mit der Unterrrichtsverwaltung<br />
an dem Institut <strong>für</strong> Sozialwissenschaften und Zeitgeschichte<br />
zu beteiligen. Leider wird das noch einige Zeit brauchen.“ 34 Einige Tage später<br />
schrieb Lazarsfeld an Stone: ” I have a copy of Verosta’s letter (...) to you. By<br />
now I feel guilt of association for even having been born in Austria. It is really<br />
an impossible situation.“ 35<br />
In der ersten Jahreshälfte 1961 ergreift Stone die Initiative und schlägt<br />
dem Board of Trustees seiner Stiftung ohne weitere Konsultationen mit <strong>österreichische</strong>n<br />
Stellen die Gründung eines ” Institute for Advanced Studies in Vienna“<br />
vor. Für eine fünfjährige Gründungsphase solle eine Million Dollar zur<br />
Verfügung gestellt werden. Das dreiseitige Dokument unterscheidet sich nur in<br />
wenigen Details von Lazarsfelds früherem Report on Austria und den dort<br />
gemachten Empfehlungen. Es betont die Rolle <strong>Wien</strong>s zwischen den beiden<br />
Blöcken und die sich daraus ergebenden politischen Möglichkeiten – ganz im<br />
Sinn dessen, was in den siebziger Jahren Kreisky zu realisieren versuchte:<br />
Expertentreffpunkt, Studienmöglichkeiten, internationale Agenturen. Über die<br />
<strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> ist Stone keineswegs zurückhaltender als es Lazarsfeld in seinem<br />
Report und in seinen Briefen war: Dort herrsche Mittelmaß, und eben<br />
deshalb scheue man die Rückberufung jener Köpfe, die nun zur Stärke der<br />
amerikanischen, britischen und europäischen <strong>Universität</strong>en beitragen würden.<br />
so möchte ich feststellen, daß ich um 1957/58 eine Politik mit dem Einsatz von ’ Privatarmeen‘<br />
längst hinter mir hatte. Das aber ändert nichts an meiner Wertschätzung <strong>für</strong> Engelbert Dolfuß,<br />
der als einziger Regierungschef im Kampf gegen Hitler gefallen ist.“) und der Reinhard<br />
Kamitz, ” dessen vom Wirtschaftsliberalismus getragenen Ansichten gewissen Erwartungen<br />
weit besser entgegenkamen als die meinigen.“ Heinrich Drimmel an den Direktor des IHS,<br />
8. April 1973, Lazarsfeld papers.<br />
34 Stephan Verosta an Stone, 6. Februar 1960, Ford Foundation.<br />
35 Lazarsfeld an Stone, 15. Februar 1960, Ford Foundation. In seinem Rückblick auf die<br />
<strong>Wien</strong>er Institutsgründung meint Lazarsfeld, sie beide seien Anfang 1960 übereingekommen,<br />
daß weitere Verhandlungen sinnlos seien. Man werde abwarten und zugleich versuchen, die<br />
Schwierigkeiten, die niemand ausdrücklich benannt hat, besser zu verstehen. Der abschließende<br />
Satz gibt die Stimmung des Jahres 1960 wohl besser wieder: ” The year 1960 thus was<br />
devoted to the paradoxical situation that an officer and a consultant of the richest American<br />
foundation in the world looked for some way to have the authorities of a small country to<br />
accept a million dollar grant in support of its professional development.“ Lazarsfeld, Prehistory,<br />
wie Anm. 9, 14.<br />
144 ÖZG 11.2000.1
Zwar hätten die Mitarbeiter und Konsulenten der Stiftung in den letzten beiden<br />
Jahren versucht, die <strong>Universität</strong> dazu zu bringen, sich an die Spitze eines<br />
” reinvigoration process“ zu setzen, aber with reluctance the conclusion has<br />
”<br />
been reached unanimously that the University, for reasons indicated earlier<br />
and owing to almost absolute control by mediocre faculties, is not in a position<br />
to assume the role.“ Deshalb sollte nun ein von der <strong>Universität</strong> unabhängiges<br />
Institut gegründet werden, an dem ” primarily the cultural and social sciences,<br />
including contemporary history, industrial relations and economics, the empirical<br />
study of politics, and modern social psychology“ vertreten sein sollten.<br />
Man beachte, daß die Soziologie hier in ” social sciences“ aufgeht und die Ökonomie<br />
nur im Tandem mit einem Spezialgebiet genannt wird. ” Realistic problems“<br />
Österreichs und Osteuropas sollten an diesem Institut untersucht werden,<br />
dessen Lehrer vor allem ehemalige, emigrierte Österreicher sein würden,<br />
die <strong>für</strong> mehrere Jahre oder sogar auf Dauer nach <strong>Wien</strong> zurückkehren sollten.<br />
Unter anderem hätten sich bereits F. A. Hayek, Karl Popper, Adolf Sturmthal<br />
und Charlotte Bühler an diesem Offert interessiert gezeigt. Ausführlich diskutiert<br />
Stone dann auch die delikate Beziehung zur <strong>Universität</strong> und wie diese auf<br />
längere Sicht verbessert werden könnte. Ausgezeichnete Professoren könnten<br />
am Institut vortragen, was impliziert, daß nicht daran gedacht war, sie in den<br />
regulären Lehrkörper aufzunehmen; hingegen sollten Absolventen des Instituts<br />
in der <strong>Universität</strong> Anstellungen finden, und ” the most distinguished University<br />
professsors“ sollten ins ” advisory council of the Institute“ aufgenommen<br />
werden. Innerhalb eines Jahrzehnts könnte so eine Erneuerung der <strong>Universität</strong><br />
erreicht werden.<br />
Sei es des Abbaus von Schuldgefühlen wegen oder aus welchem Grund auch<br />
immer, Lazarsfeld konnte es nicht lassen 36 und sandte ein halbes Jahr danach<br />
ein langes Schreiben an Stone, der eben dabei war, nach Europa zu fahren, um<br />
ihm nochmals die <strong>Wien</strong>er Sache ans Herz zu legen. Im darauffolgende Sommer<br />
– wir schreiben mittlerweile das Jahr 1961 und das vierte Jahr der Verhandlungen<br />
darüber, wie der reiche Onkel aus Amerika sein Geld in <strong>Wien</strong> los werden<br />
könnte – schickt Lazarsfeld Stone den Entwurf <strong>für</strong> einen Text, den er benutzen<br />
könne, falls er es schon leid sei, allen, die ihn danach fragten, immer die<br />
ganze Geschichte erzählen zu müssen. Den Text könne er auch vertraulich zirkulieren<br />
lassen, um das künftige Lehrpersonal zu rekrutieren. 37 Zwei Wochen<br />
danach erhält Lazarsfeld in seinem Sommerdomizil in Vermont ein Telegramm<br />
aus <strong>Wien</strong>:<br />
36 Später vermutete er, daß ein Teil des <strong>österreichische</strong>n Widerstands auf seine sozialdemokratische<br />
Vergangenheit und darauf zurückzuführen sei, daß einige beteiligte Österreicher<br />
dachten, er wolle selbst nach <strong>Wien</strong> zurückkommen; Lazarsfeld, Pre-history, wie Anm. 9, 15.<br />
37 Lazarsfeld an Stone, o. D. (Monday night) received July 5, 1961. In dem beiliegenden<br />
Memorandum findet sich die Soziologie wieder ausdrücklich genannt.<br />
ÖZG 11.2000.1 145
MINISTERS COUNCIL TODAY APPROVED REPORT ON FORDFOUNDATION PROJECT IN<br />
VIENNA (...) AM VERY OPTIMISTIC STOP SHALL BE BACK IN VIENNA BEGINNING<br />
OF SEPTEMBER = BRUNO KREISKY. 38<br />
Die Eile der Informationsübermittlung kontrastiert merkwürdig mit der Länge<br />
des Urlaubs. Im September 1961 informiert Lazarsfeld Stone dann über seinen<br />
jüngsten Aufenthalt in <strong>Wien</strong>. Diesmal sei es die sozialistische Seite, die Schwierigkeiten<br />
mache. Kreisky habe seine Parteikollegen nicht informiert, und die<br />
Kämpfe zwischen verschiedenen Fraktionen in der SPÖ führten dazu, daß sich<br />
nun sogar der Vorsitzende des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, Franz<br />
Olah, mit Fragen der Wissenschaftspolitik befasse. 39 Der <strong>Wien</strong>er Finanzstadtrat<br />
Felix Slavik habe ihm, Lazarsfeld, erklärt, die Stadt <strong>Wien</strong> würde nichts<br />
unterstützen, wogegen Olah opponiere. Mehrere Tage hinweg habe es Verhandlungen<br />
darüber gegeben, ob Olah ihn empfangen würde. Eines Tages habe<br />
er um neun Uhr morgens einen Anruf der Sekretärin des Gewerkschaftspräsidenten<br />
bekommen: Olah habe um neun Uhr dreißig einige Minuten <strong>für</strong> ihn<br />
Zeit – ” and then he spent two hours with me.“ Bei der ganzen Aufregung<br />
der Sozialisten sei es darum gegangen, daß Kreisky den ÖVP-Politiker Reinhard<br />
Kamitz als Vorsitzenden des zu bildenden Kuratoriums des noch nicht<br />
gegründeten Instituts akzeptiert hätte und andere Sozialisten dies aus verschiedenen<br />
Gründen mißbilligten: die einen, weil sie glaubten, Kamitz bastle<br />
an seiner Machtübernahme in der ÖVP, die anderen, weil sie Kreisky ähnliches<br />
in der SPÖ unterstellten. 40 Inzwischen war Oskar Morgenstern zur Gruppe der<br />
amerikanischen Berater gestoßen und fungierte als Verbindungsmann zur ÖVP,<br />
weil er als ehemaliger Leiter des Instituts <strong>für</strong> Konjunkturforschung mit Kamitz,<br />
der ihm in der Leitung dieses Instituts nachgefolgt war, eine gute Gesprächsbasis<br />
hatte. Lazarsfeld riet Stone, Morgenstern zu bitten, sich bei Kamitz zu<br />
erkundigen, wie dieser Olah beruhigen könnte, damit jener nicht weiter gegen<br />
Kreisky querschieße – ” I think he should remember the Theory of Games and<br />
apply it to the present situation“, schrieb Lazarsfeld maliziös. 41<br />
Mit der Gründung des Instituts schien es langsam ernst zu werden, jedenfalls<br />
begannen sich die ersten Interessenten anzustellen. Bevorzugte Makler<br />
waren jene Ex-Österreicher, die einen direkten Draht zur Ford Foundation hatten,<br />
weil die Prätendenten offenbar der Meinung waren, die bezahlende Stif-<br />
38 Lazarsfeld, Pre-history, wie Anm. 9, 17a.<br />
39 Olah scheint auch noch einige Zeit später Interesse an Wissenschaftspolitik gehabt zu<br />
haben; ob das so war, weil er meinte, unter diesem Titel verberge sich ein weiteres Sonderprojekt,<br />
läßt sich nur vermuten. Jedenfalls kontaktierte er während eines USA-Aufenthalts<br />
Anfang 1962 auch Vertreter der Ford Foundation.<br />
40 Lazarsfeld an Stone, 16. September 1961.<br />
41 Ebd. Lazarfeld behauptet, daß er Morgenstern wegen dessen politischer Nützlichkeit vorgeschlagen<br />
habe, Pre-history, 15.<br />
146 ÖZG 11.2000.1
tung würde bei der Stellenvergabe ein Wort mitzureden haben. 42 Aber nicht<br />
nur stellen- und geldhungrige junge <strong>Wien</strong>er brachten sich ins Spiel, auch ein<br />
alter Bekannter trat an Stone heran und erkundigte sich – wieder ” confidential“<br />
– nach Möglichkeiten, von der Ford Foundation unterstützt zu werden.<br />
F. A. Hayek stand in Chicago vor der Pensionierung und erkundete künftige<br />
Möglichkeiten. 43 Das <strong>Wien</strong>er Ministerium habe ihm kürzlich eine Professur <strong>für</strong><br />
Sozialphilosophie an der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> angeboten, ” which apparently would<br />
give me almost unlimited scope to do what I regard most important.“ Er habe<br />
sich, da die Details nicht klar seien, noch nicht entschieden, wolle aber bei<br />
Stone anfragen, ob im Falle, daß das Ministerium ihm finanziell zuwenig biete,<br />
das neue Institut ihm eine zusätzliche Anstellung offerieren könne. ” I shall not<br />
be surprised“, setzt er hinzu, ” if to this you can not give me an answer.“ Noch<br />
wichtiger als diese persönliche Angelegenheit sei ihm allerdings etwas anderes.<br />
Er habe eine ” enormous library, comprising close to 6000 volumes and covering<br />
a great part of the social sciences“ und wäre bereit, diese dem neuen Institut<br />
zur Verfügung zu stellen, wenn die Transportkosten von Chicago nach <strong>Wien</strong><br />
übernommen würden. Ein Freund von ihm, es war wohl Eric Voegelin, habe<br />
eine vergleichbare, wenn auch kleinere Bibliothek anläßlich seiner Berufung<br />
von Louisiana nach München gebracht, und die Transportkosten von ungefähr<br />
5.500 Dollar habe das bayrische Ministerium übernommen. Da er annehme, daß<br />
das <strong>Wien</strong>er Ministerium nicht so großzügig sein werde, biete er die Bibliothek<br />
dem neuen Institut an. Er habe auch ein Offert der <strong>Universität</strong> Freiburg im<br />
Breisgau, aber falls er überhaupt nach Europa übersiedle, würde er <strong>Wien</strong> den<br />
Vorzug geben. 44<br />
Hayeks Bibliothek landete nicht in <strong>Wien</strong>. Statt sich um den billigen Erwerb<br />
einer hervorragend sortierten Privatbibliothek zu kümmern, feilschte man<br />
Anfang 1962 in <strong>Wien</strong> um die Zahl der Posten und deren Besetzung im neuen<br />
Institut und benutzte dazu wie gewohnt auch die Presse, die bereitwillig<br />
mitspielte. Kamitz, mittlerweile Ex-Minister und Präsident der Nationalbank<br />
und des Kuratoriums, und sein Stellvertreter Kreisky stritten darum, ob ein<br />
Direktor ausreiche oder doch zwei nötig seien. Naturgemäß setzte sich der Proporzgedanke<br />
durch. 45 Nun mußte man Kandidaten <strong>für</strong> zwei Direktorenposten<br />
42 Es würde dem Bedürfnis manchen Lesers einer wissenschaftlichen Zeitschrift nach Abwechslung<br />
in Form der Lektüre erbaulicher Gerüchte entgegenkommen, all die Namen anzuführen,<br />
die genannt und wieder verworfen wurden, aber der Platz würde nicht ausreichen.<br />
Als Faustregel kann man formulieren, daß der Name nahezu jedes damals in <strong>Wien</strong> lebenden<br />
Geistes- und (so weit vorhanden) Sozialwissenschaftlers mit oder ohne <strong>Universität</strong>sabschluß<br />
genannt wurde.<br />
43 Hayeks zweite Frau Helene, eine gebürtige <strong>Wien</strong>erin, habe ihn gedrängt, nach Österreich<br />
zurückzukehren. John Cassidy, The Price Prophet, in: The New Yorker, 7.2.2000, 44–51.<br />
44 Hayek an Stone, 11. Februar 1962, Ford Foundation.<br />
45 Einer der Zeitungsartikel erschien bezeichnenderweise unter dem Titel ’ Proporz <strong>für</strong> Ford<br />
Institut‘, in: Die Presse, 10.3.1962, 10.<br />
ÖZG 11.2000.1 147
egutachten, was die Bestellung des ersten Direktors hinauszögerte, weil der erste<br />
nicht ohne den zweiten bestellt werden konnte. Aussichtsreichster Kandidat<br />
<strong>für</strong> den Posten des Direktors war Slawtscho D. Sagoroff. 46 Als ihm beigeordneter<br />
Direktor war Adolf Kozlik vorgesehen. Zuvor hatte sich Lazarsfeld darum<br />
bemüht, andere Kandidaten zur Bewerbung <strong>für</strong> das Direktorat zu überreden.<br />
Von den berühmten Ex-Österreichern war allerdings nicht mehr die Rede. Wer<br />
Sagoroff als erster ins Spiel brachte, läßt sich nicht mehr feststellen – Lazarsfeld<br />
konnte das schon 1973 nicht mehr herausfinden. Eine zumindest vermittelnde<br />
und verbindende Rolle kam nach Lazarsfelds Erinnerung Leopold Rosenmayr<br />
zu, der mit Assistenten des von Sagoroff geleiteten Instituts <strong>für</strong> Statistik der<br />
<strong>Wien</strong>er <strong>Universität</strong> kooperierte. 47 Die Entscheidung lag bei Kamitz und Stone;<br />
nach einer zwei Tage dauernden Diskussion mit Sagoroff empfahl auch Lazarsfeld<br />
diesen an Stone.<br />
Der zu dieser Zeit in den USA lehrende <strong>Wien</strong>er Psychologe Walter Toman,<br />
48 der seit 1961 zum Beraterstab der Ford Foundation gehörte, hatte Sagoroff<br />
schon davor getroffen und darüber ebenfalls an Stone berichtet:<br />
I learned from Sagoroff that he was the last director of the Rockefeller Institute for<br />
Economic Research in Sofia, then a special ambassador to the King of Bulgaria in<br />
Berlin until 1942 and according to his account successful in preventing Bulgaria from<br />
participating in the War against Russia and the Allies and from having to deliver any<br />
Bulgarian jews to the Nazis. After Bulgaria had declared war against Germany he<br />
was interned in Bavaria until the American troops arrived. He worked for Botschafter<br />
Murphy in Frankfurt, later moved to Switzerland and Stanford University, before<br />
accepting the Ordinariat at the Statistical Institute of the University of Vienna. His<br />
wife died in America. He has two daughters, one married in Switzerland, the other<br />
in the U.S. and a son who is an engineer in Boston, a graduate of M.I.T. Sagoroff<br />
is an Austrian citizen now, with no political connections whether to Bulgaria or the<br />
Bulgarian exile government. 49<br />
Die bunte Karriere des 1898 geborenen Sagoroff, der sein Doktorat in Leipzig<br />
erworben hatte, 1933/34 mit einem Rockefeller-Stipendium in den USA unter<br />
anderem bei Schumpeter studiert und von der Rockefeller Foundation 1937<br />
noch einmal ein Stipendium <strong>für</strong> Studien in England, der Schweiz und Österreich<br />
erhalten hatte, ist auch insofern beachtlich, als er 1955 als Arbeitsloser<br />
46 Er selbst buchstabierte seinen Namen Zagoroff und unterschrieb auch so, vgl. Rockefeller<br />
Foundation, R. G. 1.2, series 704, box 10, folder 84, RAC.<br />
47 Diese Zusammenarbeit wurde den Statistikern von Mitarbeitern der sozialwissenschaftlichen<br />
Abteilung der Rockefeller Foundation zugute gehalten; vgl. Rockefeller Foundation,<br />
R. G. 1.2, series 705, box 10, folder 84, RAC.<br />
48 In seiner Autobiografie erwähnt er diese Aktivitäten und die folgende Tätigkeit am ’ Ford<br />
Institut‘ nicht, vgl. Walter Toman, Selbstdarstellung, in: Ernst G. Wehner, Hg., Psychologie<br />
in Selbstdarstellungen, Bern 1992, Bd. 3, 329–366.<br />
49 Toman an Stone, 27. März [1962]. Ein ’ Rockefeller Institut‘ gab es in Bulgarien nicht.<br />
148 ÖZG 11.2000.1
zum Ordinarius <strong>für</strong> Statistik und Nachfolger Wilhelm Winklers an der <strong>Universität</strong><br />
<strong>Wien</strong> ernannt worden war. 50 Gleich nach seiner Ernennung unternahm er<br />
einige Anstrengungen, in das Förderungsprogramm der Rockefeller Foundation<br />
aufgenommen zu werden. Im Frühjahr wollte er den Assistenten des <strong>Wien</strong>er Instituts<br />
zu Stipendien verhelfen und erkundete Möglichkeiten, den Ankauf eines<br />
” electronic computer“ subventioniert zu erhalten. Wie üblich zog die Rockefeller<br />
Foundation Erkundigungen ein. Gerhard Tintner, ein gebürtiger Österreicher,<br />
der als Statistiker und Ökonom aus dem <strong>Wien</strong>er Institut <strong>für</strong> Konjunkturforschung<br />
kam und 1934–36 mit einem Fellowship der Rockefeller Foundation in<br />
den USA und in England studiert hatte und ab 1937 Professor in Iowa51 war,<br />
antwortete am ausführlichsten. Die <strong>Wien</strong>er Professur <strong>für</strong> Statistik sei zuerst<br />
ihm angeboten worden – but unfortunately did not feel able to take it“ –<br />
”<br />
und das vergangene Jahr habe er als Gastprofessor in <strong>Wien</strong> gelehrt. Während<br />
” the general standard of economics and related social sciences (much to my<br />
dismay) had declined substantially at the University since my student days“,<br />
seien die Statistiker dort dank des Wirkens von Wilhelm Winkler viel besser<br />
als in Deutschland oder der Schweiz. Sagoroff sei kein ” outstanding theoretical<br />
statistician (...) but quite competent and very good in his specialization on economic<br />
statistics.“ Eine Unterstützung des Instituts sei zu be<strong>für</strong>worten, würden<br />
dessen Mitarbeiter doch auch ” giving consulting services to people interested in<br />
econometric, medical and industrial research.“ 52 Aus Stanford, der zeitweiligen<br />
Wirkungsstätte Sagoroffs, traf eine knappere und weniger vorteilhafte Stellungnahme<br />
ein: Sagoroff hätte dort eine Zeitlang dem ” staff of the Food Research<br />
Institute“ angehört, seine Arbeit über ” agriculture in World War II (...) was<br />
not considered outstanding“ und er sei ” reasonably intelligent but certainly not<br />
a trained statistician in the modern sense.“ Die Veröffentlichungen der <strong>Wien</strong>er<br />
Assistenten befänden sich hingegen auf dem Niveau vergleichbarer Arbeiten in<br />
den USA. 53 Eine dritte Stellungnahme wurde offenbar mündlich abgegeben;<br />
ihr Inhalt findet sich auf einem stiftungsinternen Memo: ” Zagoroff had grant<br />
at Stanford, FRI, for study which ended in 1954. He was then out of job –<br />
MKBennett did not wish to keep him on as he felt he was not suitable for the<br />
FRI. Evidently he has ended up as the Director in Vienna!“ 54<br />
50 Rockefeller Foundation, Directory of Fellowship Awards for the Years 1917–1950.<br />
51 Tintner, Fellowship Card, RAC.<br />
52 Tintner an Erskine McKinley, 8. Jänner 1958, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705,<br />
box 10, folder 84, RAC.<br />
53 Albert H. Bowker an Erskine W. McKinley, 6. Februar 1958, Rockefeller Foundation,<br />
R. G. 1.2, series 705, box 10, folder 85, RAC.<br />
54 PH an Norman S. Buchanan 6/1; Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705, box 10,<br />
folder 84, RAC. In den Erläuterungen zum folgenden ’ grant-in-aid‘ heißt es: ” 1953/4 grant<br />
to Stanford University provided 7.500 for use by its Food Research Institute in support of<br />
Professor S. Zagoroff’s research on national energy input in the United States and Russia<br />
since 1900“.<br />
ÖZG 11.2000.1 149
Im Frühjahr 1958 genehmigte die Rockefeller Foundation 80.350 US-Dollar<br />
<strong>für</strong> den Ankauf eines Burroughs Datatron computer.“ Der erste in Öster-<br />
”<br />
reich der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung stehende Computer wurde<br />
faktisch nur von der Rockefeller Foundation finanziert, da die zweite Hälfte<br />
des Anschaffungspreises von der Herstellerfirma als educational grant“ nicht<br />
”<br />
in Rechnung gestellt wurde und Österreich nur <strong>für</strong> die Transportkosten aufkommen<br />
mußte. Wo keine <strong>österreichische</strong>n Werte“ bedroht schienen und die<br />
”<br />
” geistige Haltung“ nicht einer eingehenden Prüfung unterzogen werden mußte,<br />
durfte eine amerikanische Stiftung Österreich sogar etwas schenken.<br />
Der seit Hayeks Memorandum gehegten Hoffnung, man könne erstklassige<br />
Wissenschaftler nach <strong>Wien</strong> zurückbringen, wenn nur die Bezahlung stimme,<br />
entsprach die Bestellung Sagoroffs wohl nicht. Lazarsfelds Prognose, the choice<br />
”<br />
of the Director will, of course, be crucial“, stellte sich bald als richtig heraus.<br />
Auch über sein Gespräch mit Sagoroffs Co-Direktor Kozlik berichtete Toman<br />
ausführlich an Stone:<br />
Dr. Kozlik sent me a mimeographed curriculum vitae. Born 1912 in Vienna, Dr.<br />
of law at University of Vienna, including political sciences and economics. Work at<br />
Austrian Institute for Trade Cycle Research until 1938, assistant to Röpke in Geneva,<br />
Assistant Professor for Economics at Iowa State College, research in level of living and<br />
production on Europe for League of Nations at Princeton until 1942, director of Office<br />
of European Economic Research (35 employees and research assistants) until the<br />
Office was absorbed by OSS. Then research in ethnology and work for private firms in<br />
Mexico from 1944 to 1949, with lectures and some editing on the side. During 1949/50<br />
he lectured at University of Vienna on ’ modern economic thought ’ and supervised the<br />
economics curriculum of the Sozialakademie (der Arbeiterkammer). 1951–59 he was<br />
consultant for market research in Mexico City where he also had two businesses of his<br />
own (printing, pharmaceutics). Then he returned to Vienna and worked as economic<br />
adviser to the Länderbank before becoming director of the Urania.<br />
He speaks German, English, Spanish and French perfectly, Russia and Czech<br />
adequately. He reads Italian, Romanian, Portuguese, Dutch, Swedish, Danish, Norwegian,<br />
Polish, Bulgarian, Serbo-Croatian.<br />
His publication in economics and sociological journals are concentrated between<br />
1937 and 1943. He is co-author of books on war economics, level of living in Europe,<br />
monopoles in Austria. Most recently: Volkshaushalt und dein Haushalt, Vienna 1961.<br />
I had already learned from my interview with him that he is a Mexican citizen,<br />
married to a Spanish woman who lived in Mexico, no children. 55<br />
Tomans Bericht über Kozlik ist, soweit sich die Angaben heute noch überprüfen<br />
lassen, zutreffend. Läßt man die ein wenig zu umfangreich wirkende Liste der<br />
55 Toman an Stone, 27. März 1962, Ford Foundation. Die Angaben entsprechen denen, die<br />
Kozlik 1942 im Mitgliederverzeichnis der ’ American Economic Association‘ abdrucken ließ.<br />
Directory of the American Economic Association, in: The American Economic Review 32<br />
(1942), 1–126.<br />
150 ÖZG 11.2000.1
Sprachen unberücksichtigt, genügt der Rest <strong>für</strong> einen Endvierziger zwar auch<br />
nicht, um an die all die Jahre beschworenen Erstklassigen heranzureichen, aber<br />
zum ” beigeordneten Direktor“, wie sein Titel lautete, sollte es wohl reichen. 56<br />
Wie sich jedoch bald herausstellte, hatten beide Personalentscheidungen geradezu<br />
katastrophale Folgen <strong>für</strong> das neue Institut.<br />
Noch aber standen dem ” Institut <strong>für</strong> fortgeschrittene Studien“ 57 mehr<br />
als eineinhalb Jahre Vorgeschichte bevor, ehe es im Herbst 1963 offiziell zwar<br />
nicht seine Pforten öffnete, aber die erste Zahlung der Ford Foundation in<br />
Empfang nahm. Bis dahin setzte sich fort, was Lazarsfeld, Stone und andere<br />
mit ungläubigem Staunen verfolgten: Untätigkeit, Intrigen und Postenschacher.<br />
Doch trotz gelegentlicher Verzweiflungsanfälle hielten die Verantwortlichen der<br />
Ford Foundation weiter am Projekt fest. 58 Von der ursprünglichen Absicht der<br />
Initiatoren blieb aber nicht allzu viel übrig: Die Unabhängigkeit von der <strong>Universität</strong><br />
<strong>Wien</strong>, deren niedriges Niveau ja erst den Anstoß gegeben hatte, an<br />
die Gründung eines außeruniversitären Instituts zu denken, wurde vereitelt,<br />
indem mit Sagoroff jemand als Direktor akzeptiert wurde, der dieses Amt neben<br />
seiner Professur auszuüben gedachte. Die Lehrtätigkeit von erstklassigen<br />
Ex-Österreichern schien ferner denn je. Und die Konstruktion eines von Spitzenpolitikern<br />
der Regierungsparteien besetzten Aufsichtsgremiums ( ” Kuratorium“)<br />
garantierte, daß die Kuratoren dem Institut wenig Zeit widmen, umso<br />
mehr auf Zuträgerdienste angewiesen und Intrigen ausgeliefert sein würden. 59<br />
Die Schwammigkeit und wiederholte Änderung des inhaltlichen Profils sowie<br />
die Rücksichtnahme auf den Parteien-Proporz ließen eine gezielte Auswahl der<br />
<strong>für</strong> Leitungspositionen am besten geeigneten Kandidaten nicht zu. Paul F. La-<br />
56 Natürlich stand von vornherein fest, daß die Sozialisten nur Anspruch auf den nachgereihten<br />
beigeordneten Direktor erheben konnten. Monatelang wurde darüber gestritten, was<br />
er, wenn er weder Mitsprache- noch Vetorecht haben werde, denn überhaupt dürfe. Die jenseits<br />
aller Proporzpolitik wichtigen Standesdünkel hielt Kamitz in einem Protokoll fest: Als<br />
”<br />
Geschäftsführer kommt nur ein Wissenschaftler im Range eines <strong>Universität</strong>sprofessors in Frage,<br />
da dieser die Möglichkeit haben muß, Einladungen und Absagen so zu begründen, daß<br />
diese Begründungen auch zur Kenntnis genommen werden.“ Kamitz an Kreisky, 15. März<br />
1962, Ford Foundation.<br />
57 Leopold Rosenmayr an Reinhard Kamitz, 26. März 1962, Ford Foundation.<br />
58 So schrieb Lazarsfeld am 2. Mai 1962 an den damaligen Justizminister Christian Broda:<br />
” I realize that you do not like to get mixed up with topics which are not part of your official<br />
duties. I do want, however, to bring to your attention how badly the plan of the Viennese<br />
Ford Center is developing. (...) It seems to me perfectly grotesque that a practically unlimited<br />
supply of funds for social science work in Austria should got lost just because an amount of<br />
confusion has been created which hardly can be understood from here let along be remedied.“<br />
59 Eines der Kuratoriumsmitglieder, Franz Josef Mayer-Gunthof, erklärte seinem von der<br />
’ Ford Foundation‘ nominierten Kollegen in diesem Gremium unumwunden: On the Institute<br />
”<br />
he had fairly little to say. He relies on Kamitz and trusts him.“ Frederick Burkhardt, A<br />
Journal of a Visit to Vienna, June 17–28, 1963 as a Consultant to the Ford Foundation‘ on<br />
’<br />
the Institute for Advanced Studies‘, 19. Ford Foundation, reel 2574.<br />
’<br />
ÖZG 11.2000.1 151
zarfeld, der in diesen Jahren über einen Mangel an Aufgaben nicht zu klagen<br />
hatte, investierte weiterhin eine Menge Zeit und Energie, um das Institut zu<br />
gründen und auf das richtige Gleis zu setzen. Als jemand, der jeweils nur ein<br />
paar Tage in <strong>Wien</strong> war und hier von einem Treffen zum anderen hastete, irrte<br />
er sich mehr als einmal in der Beurteilung von Personen und deren Interessen<br />
an der Gründung des Instituts. An der Misere trug er dennoch die geringste,<br />
wenn überhaupt irgendeine Schuld. Hayek nicht allein die Initiative zu überlassen<br />
und auch später zu versuchen, den Schwerpunkt auf Lehre und Forschung<br />
im Bereich der empirischen Sozial- und Politikforschung zu legen und andere<br />
Fächer an den Rand zu drängen, machte durchaus Sinn, waren doch Nationalökonomie<br />
und Geschichtswissenschaften an der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> vertreten,<br />
während zu dieser Zeit weder Soziologie noch Politikwissenschaften an einer<br />
<strong>österreichische</strong>n <strong>Universität</strong> gelehrt wurden.<br />
Die Absichten der Ford Foundation und jener, die sie berieten, hätten<br />
nur dann erfolgversprechend verwirklicht werden können, wenn nahezu alle<br />
Bedingungen günstig gewesen wären. Doch wann ist das schon der Fall Der<br />
wohlmeinende Plan, die in Österreich wenig entwickelten Sozialwissenschaften<br />
aufzumöbeln, wurde in <strong>Wien</strong> vereitelt, weil die Bürgerkriegsgegner von einst<br />
einander immer noch derart mißtrauten, daß jede Partei nahezu alles tat, um<br />
der anderen auch nur den kleinsten Erfolg zu vermiesen, wozu weitestgehende<br />
Informationskontrolle über die Pläne und Schritte der anderen Seite die<br />
Voraussetzung war. 60 Insofern hatte Lazarsfeld mit seinem Hinweis auf die<br />
Spieltheorie mehr als recht. In <strong>Wien</strong> waren beide politischen Parteien an sich<br />
wiederholenden nicht-kooperativen Spielzügen interessiert und es hätte keiner<br />
Vorlesung Morgensterns bedurft, um zu erkennen, wohin eine derartige Strategie<br />
führen wird. Das Vorhaben scheiterte aber auch daran, daß niemand gefunden<br />
werden konnte, der sowohl das Vertrauen der amerikanischen Geldgeber<br />
und Berater hatte als auch eine organisatorische Struktur schaffen konnte,<br />
die gegenüber Einmischungen eifersüchtiger universitärer Konkurrenten und<br />
argwöhnischer Politiker abgeschirmt hätte werden können. Schließlich war in<br />
dieser ’ de-novativen‘ – oder wie sonst soll man das Gegenteil von Innovation<br />
nennen – Lage die Etablierung einer neuen Lehr- und Forschungseinrichtung<br />
einfach zu ambitiös. Wie kann man einer Stadt, die in selbstzufriedener Provinzialität<br />
verharrt, klar machen, daß ihr etwas zur Wiedererlangung vergangener<br />
Größe fehlt<br />
Lazarsfeld hatte in seinen Urteilen immer dann recht, wenn es nicht um<br />
Personen, sondern um strukturelle Zusammenhänge ging: ” I do know that the<br />
future of new institutions is mainly decided by the decisions which are made<br />
60 Rudolf Blühdorn erklärte schon 1952 dem Mitarbeiter der ’ Rockefeller Foundation‘, Frederic<br />
C. Lane, wenn man in Österreich etwas Neues machen wolle, ginge das nur, wenn beide<br />
Parteien eingebunden würden. Lane, Tagebuch, December 11, 1952, 483, RAC.<br />
152 ÖZG 11.2000.1
during the first few months.“ 61 Wohl deshalb kam nicht nur er, sondern auch<br />
Frederick Burkhardt noch vor der offiziellen Eröffnung des Institut <strong>für</strong> Höhere<br />
Studien nach <strong>Wien</strong>, um nach dem Rechten zu sehen. Burkhardt, der seit längerem<br />
mit der <strong>Wien</strong>er Gründung nichts mehr zu tun gehabt hatte, nun aber als<br />
Vertreter der Ford Foundation in das Kuratorium entsandt worden war, hielt<br />
sich im Juni 1963 elf Tage in <strong>Wien</strong> auf und verfaßte darüber ein Protokoll. Die<br />
meiste Zeit verbrachte er mit den beiden neuen Direktoren Sagoroff und Kozlik,<br />
die, obwohl sie sehr gut entlohnt wurden, 62 ihre früheren Stellen behielten.<br />
Sagoroff erledigte seine Aufgaben als Professor <strong>für</strong> Statistik an der <strong>Universität</strong><br />
<strong>Wien</strong> nach eigener Aussage in vier Stunden pro Woche. Der Umgang beider<br />
Direktoren miteinander war von Anfang an nicht friktionsfrei, was angesichts<br />
der Bestellungsprozedur auch nicht verwundern kann. In solchen Situationen<br />
entwickelt sich kooperatives Handeln höchst selten, weil die Zukunft der Institution<br />
und ihrer Funktionsträger nicht von persönlicher Leistung, sondern von<br />
politischen Kräften abhängt, die sie nicht beeinflussen können. Gemeinsames<br />
Handeln der beiden Direktoren hätte die politischen Parteien, die sie entsandt<br />
hatten, wahrscheinlich sogar argwöhnisch werden lassen. Dies alles zementierte<br />
die Abhängigkeit der Direktoren von ihren Protektoren. So betrachtet, war<br />
es aus ihrer Sicht auch nicht unvernünftig, ihre früheren Stellen zu behalten.<br />
Keiner der beiden konnte wissen, ob sich das politische Tauschgeschäft nicht<br />
unversehens gegen ihn wenden würde.<br />
In nur zehn Tagen gewann Burkhardt – unabhängig von Lazarsfeld – ein<br />
annähernd vollständiges Bild: Die Politiker hatten <strong>für</strong> ihn kaum Zeit – Österreich<br />
erlebte gerade die sogenannte Habsburg-Krise –, waren schlecht informiert<br />
und verließen sich jeweils auf ihren Vertrauensmann im Kuratorium. Die bislang<br />
engagierten Mitarbeiter – neben den beiden Direktoren eine Generalsekretärin<br />
und einige Assistenten – wußten nicht so recht, wo<strong>für</strong> sie engagiert worden<br />
waren. Zu einer gemeinsamen Planung der Instituts-Tätigkeit konnten sie sich<br />
nicht aufraffen. Außerhalb des ” Ford-Instituts“, wie das Institut anfangs meist<br />
genannt wurde, warteten einige darauf, an die Futtertröge der finanzierenden<br />
Foundation heranzukommen; andere langten bereits kräftig zu. Im Vier-Augen-<br />
Gespräch, so Burkhardt, ” the dam burst right away“ und zum Vorschein kam,<br />
was Peter de Janosi 1973 in seinem Abschlußbericht über die Erfahrungen der<br />
Ford Foundation in <strong>Wien</strong> zu jenem vernichtenden Urteil veranlaßte, das diesem<br />
Beitrag vorangestellt ist. 63<br />
61 Lazarsfeld an Stone, 5. Oktober 1962, Ford Foundation.<br />
62 Sagoroff bekam 12.000 und Kozlik 11.000 als Jahresgehalt.<br />
63 Peter de Janosi (geb. 1928), Studium der Nationalökonomie in Wesleyan und Michigan,<br />
Mitarbeiter der ’ Ford Foundation‘. Die Zitate sind der ’ Final Evaluation‘ entnommen, September<br />
10, 1973, Ford Foundation, reel 2574.<br />
ÖZG 11.2000.1 153
II.<br />
Im Mittelpunkt von Aufmerksamkeit, Neid und Hoffnung vieler stand in diesen<br />
Jahren Leopold Rosenmayr, jener junge <strong>Wien</strong>er Dozent, von dem Lazarsfeld<br />
hoffte, er würde der von ihm bevorzugten empirischen Sozialforschung in <strong>Wien</strong><br />
zur Etablierung verhelfen. Am 23. Juli 1959 schrieb Lazarsfeld an Stone:<br />
Rosenmayr is about the only Austrian who really knows his way around; but he is<br />
scared of all his superiors and envelops himself in a vague talk of an Austrian ’ Geist‘<br />
which at the long run would deteriorate his work. Still you were quite right when you<br />
decided to give him special support. I intimated to him your good will but did not<br />
know whether you had made any final decision. I shall see him at the International<br />
Congress on September 8th and if you could let me know your plans about his application<br />
by then it would help. Incidentally I made Horkheimer in Frankfurt offer him<br />
a job and as a result R(osenmayr) will probably be made Extraordinarius next fall. I<br />
strongly urged him to stay in Austria and to use the Frankfurt offer only as blackmail<br />
with the Vienna authorities.<br />
Ein anderer zeitweiliger Protege Lazarsfelds, Terry N. Clark, beschrieb kürzlich<br />
in wenig freundlicher Weise das akademische Verhalten seines Lehrers an<br />
der Columbia University unter dem Begriff ’ Patronage‘. 64 Hätte Clark Rosenmayrs<br />
Karriere gekannt, hätte er wohl eine Dimension beachtet, die bei ihm<br />
völlig fehlt: daß nämlich die Protegierten ihre eigenen Strategien verfolgen und<br />
dabei manchmal der Protektor zur Marionette wird. Um das zu zeigen, müssen<br />
wir jedoch an den Beginn von Rosenmayrs Beziehungen zu amerikanischen<br />
Stiftungen zurückgehen.<br />
Der 26-jährige Leopold Rosenmayr verbrachte das Studienjahr 1951/52<br />
dank eines Stipendiums der Rockefeller Foundation in den USA. Zwei Jahre davor<br />
hatte er in <strong>Wien</strong> mit einer den damaligen Standards durchaus genügenden<br />
65-seitigen Dissertation promoviert und das Jahr darauf sich mit Jobs in der Industrie<br />
und beim Gewerkschaftsbund durchgebracht. 65 Leland DeVinney, 66 ein<br />
64 Terry N. Clark, Paul Lazarsfeld and the Columbia Sociology Machine, in: Jacques Lautman<br />
u. Bernard-Pierre Lecuyer, Hg., Paul Lazarsfeld (1901–1976). La sociologie de Vienne<br />
a New York. With Annotations, Comments, and Alternative Interpretations by Robert K.<br />
Merton, John Meyer, Immanuel Wallerstein, Hans-Dieter Klingemann, Bernard Barber, Allen<br />
H. Barton, Andrew M. Greeley, Guido Martinotti, Elizabeth Noelle-Neumann, David L.<br />
Sills, Harriet Zuckerman u. Robert B. Smith, Paris 1998, 289–360.<br />
65 Leopold Rosenmayr, Wissenssoziologische Kritik an Adolf von Harnacks Beurteilung der<br />
altchristlichen Geistesentwicklung, ungedruckte phil. Diss., <strong>Wien</strong> 1949.<br />
66 Leland DeVinney, geb. 1906, Studium University of Wisconsin, MA 1933 und University<br />
of Chicago, PhD 1941, instructor in Chicago, Associate Professor an der University of<br />
Wisconsin, ab 1946 Lecturer und Associate Director des Laboratory of Social Science Relations,<br />
Harvard; während dieser Zeit Mitarbeiter an der <strong>für</strong> die Entwicklung der empirischen<br />
Sozialforschung bahnbrechenden Studie ’ The American Soldier‘; ab 1948 in der ’ Division of<br />
154 ÖZG 11.2000.1
amerikanischer Soziologe, der als Mitarbeiter der Rockefeller Foundation 1951<br />
Europa bereiste und dabei auch <strong>Wien</strong> besuchte, berichtete über Rosenmayr und<br />
dessen Professor, August M. Knoll, ausführlich in seinem offiziellen Tagebuch.<br />
Über Knolls Interessen und Arbeitsschwerpunkte notierte er zutreffend:<br />
He is working on the relation of theological and legal conceptions of commercial<br />
regulation. He is also interested in the sociology of religion and has published a study<br />
of the controversy between Jesuits and Dominicans over the taking of tributes from<br />
the people. He has attempted to explain the opposing views of these two orders on<br />
the basis of their differing histories and organizational structures. He gives general<br />
lectures on sociology to students of law and lectures on the sociology of religion and<br />
the history of sociological thought to students of philosophy. 67<br />
In Knolls Seminar würden Scheler, Mannheim, Weber diskutiert und ihre Schriften<br />
im Lichte des sozialen Hintergrundes interpretiert, der in ihren Biographien<br />
gefunden werde. Knoll ermuntere Studenten auch zu empirischen Arbeiten, aber<br />
diese schienen DeVinney ” exclusively bibliographical and highly theoretical. No<br />
statistics is taught in the faculty of philosophy at all, and there appears to be no<br />
interest in genuine empirical research.“ Rosenmayr habe als Dissertation eine<br />
Literaturarbeit, eine ” library study“, durchgeführt und arbeite gegenwärtig an<br />
einem weiteren Buch, das er zu veröffentlichen hoffe. ” This is an analysis of<br />
liturgical hymns produced during the first five centuries of the Christian era<br />
and an attempt to relate differences between them to differing social factors<br />
revealed in biographical information about their authors.“ Gegenwärtig habe<br />
Rosenmayr keine reguläre <strong>Universität</strong>sstelle, er hoffe aber, seinen Amerikaaufenthalt<br />
dazu benutzen zu können, eine Studie fertigzustellen, die er als Habilitation<br />
einreichen könne. Mehr noch: Knoll und Rosenmayr hofften, daß an<br />
der Philosophischen Fakultät eine Professur <strong>für</strong> Soziologie eingerichtet werden<br />
würde, die Rosenmayr bekommen sollte. Über die politische Orientierung und<br />
die Arbeitspläne des künftigen Professors heißt es dann:<br />
R(osenmayr) is a member of the left or liberal wing of the People’s (Catholic) Party.<br />
He is currently working on the preparation of a social exposition being prepared<br />
jointly by the Arbeiter Kammer (an official body representing all employees) and the<br />
Confederation of Trade Unions. This is to be a graphical presentation of the struggle<br />
of Austrian labor from early in the nineteenth century to the present time, showing<br />
their gains and setbacks and present goals. The main theme, as R(osenmayr) hopes,<br />
will be to show that the major advances during the nineteenth century were made by<br />
Social Science‘ bei der ’ Rockefeller Foundation‘ tätig, zuerst als Assistant Director, 1950–54<br />
Associate Director, Acting Director 1954/55, Associate Director 1955–62, Deputy Director<br />
Humanities and Social Science 1962–64, Associate Director Social Science 1964–71.<br />
67 DeVinney, Tagebuch, 19.–21. Juli 1951, 131 [Kopie unvollständig]. Daraus auch die folgenden<br />
Zitate.<br />
ÖZG 11.2000.1 155
the Christian Democrats, the main advances during the twenties were made by the<br />
Socialists, the losses suffered during the Nazi regime and the war were suffered by both<br />
groups, and the present is the period of combined effort of the two groups together.<br />
R(osenmayr), who is a devout Catholic but embarrassed by some of the reactionary<br />
actions of the Dollfuss regime, is deeply concerned to find ways to eliminate the<br />
anticlerical feelings in the socialist and labor groups and to bring about a genuine<br />
alliance between the Catholic and Social Democratic groups in Austria.<br />
Rosenmayr wolle in Harvard vor allem bei Pitirim Sorokin 68 studieren. DeVinney<br />
rät ihm, sich doch auch mit den Forschungen anderer Mitglieder seines<br />
ehemaligen Department vertraut zu machen und vor allem deren Methoden<br />
kennenzulernen. Rosenmayr, heißt es abschließend, ” appears to be an intelligent,<br />
able, and quite intense young man. It is rather doubtful, however, in<br />
view of his background and training and the circumstances at the University<br />
of Vienna that he will shift his interests from theoretical and literary studies<br />
to empirical research.“ In letzterem Punkt sollte sich DeVinney – vorerst –<br />
nicht irren, obwohl es in der ersten Eintragung auf Rosenmayrs Fellowship<br />
Card heißt, daß er sich in Harvard mit den ” jüngsten methodologischen Entwicklungen<br />
in der Soziologie und Sozialpsychologie“ vertraut machen wolle. 69<br />
Das Jahr verbrachte er dann allerdings vor allem in Harvards Widener Library,<br />
wie DeVinney anläßlich eines Besuches in Cambridge, Massachusetts, feststellen<br />
mußte: ” LR has done no formal work and regards Professor Talcott Parsons<br />
as his chief advisor (TP later reported to LCD that he had not had more than<br />
5 conferences with LR during the year and knew little about the work he had<br />
done). (...) He (i. e. Rosenmayr) has not exposed himself to any empirical work<br />
or research methods. LCD is somewhat disappointed.“ 70 Rosenmayr teilte De-<br />
Vinney mit, daß er <strong>für</strong> das darauffolgende Studienjahr eine Stelle als Instructor<br />
an der katholischen Fordham University in New York angeboten bekommen<br />
habe, danach wolle er nach <strong>Wien</strong> zurückkehren, um seine Habilitationsschrift<br />
zu verfassen.<br />
Im Jänner 1953 traf Rosenmayr den Assistant Director der sozialwissenschaftlichen<br />
Abteilung der Rockefeller Foundation, Frederic C. Lane und unter-<br />
68 Rosenmayr konnte vermutlich nicht wissen, daß sich der Stern Sorokins bereits im Abstieg<br />
befand, seit er sich der Erforschung des Altruismus widmete. Barry V. Johnston, Introduction,<br />
in: Pitirim A. Sorokin, On the Practice of Sociology, Chicago 1998.<br />
69 Rosenmayr hat seine Jugend in drei autobiographischen Beiträgen geschildert: Josef Langer,<br />
Hg., Geschichte der <strong>österreichische</strong>n Soziologie. Konstituierung, Entwicklung und europäische<br />
Bezüge, <strong>Wien</strong> 1988; Christian Fleck, Hg., Wege zur Soziologie nach 1945. Autobiographische<br />
Notizen, Leverkusen 1996, sowie Karl Marin Bolte u. Friedhelm Neidhardt, Hg.,<br />
Soziologie als Beruf. Erinnerungen westdeutscher Hochschulprofessoren der Nachkriegsgeneration,<br />
Baden-Baden 1998.<br />
70 De Vinney, Tagebuch, 19. Mai 1952, sowie Fellowship Card, wo nur der letzte Satz eingetragen<br />
wurde. LCD steht <strong>für</strong> Leland C. DeVinney.<br />
156 ÖZG 11.2000.1
hielt sich mit ihm über seine Zukunft. Lane hatte einige Zeit in <strong>Wien</strong> studiert<br />
und an der Stadt Gefallen gefunden. 71 In einer detaillierten Tagebucheintragung<br />
hielt er das Gespräch mit Rosenmayr über dessen geplante Rückkehr nach<br />
<strong>Wien</strong> fest. Dieser wolle sich dort um einen ” job in the industry or in the People’s<br />
Party“ umschauen, weil er als junger Vater <strong>für</strong> eine Familie zu sorgen habe,<br />
und daneben versuchen, seine Habilitation – ” his statement of its theme was<br />
cloudy“ – fertigzustellen, ” but he seemed much pleased that our talk opened<br />
a possibility of his receiving a living wage while staying in academic life.“ Im<br />
Gespräch habe Rosenmayr dann einige Themen genannt, die er zu untersuchen<br />
sich vorstellen könne. ” I (i. e. Lane) said that the Rockefeller Foundation<br />
would wish more specific definition of problems and especially description of<br />
the method of research to be used, and told him to write me a letter about that<br />
and also about the amount of support that would be needed, for himself and<br />
student research assistants.“ 72 Im März 1953 schickte Rosenmayr ein langes<br />
Schreiben an Lane, in dem er sein künftiges Forschungsvorhaben erläuterte.<br />
Seine Habilitation solle den theoretischen Teil der Studie darstellen, anschließend<br />
wolle er empirisch untersuchen, wie sich die ” verschiedenen Schichten der<br />
<strong>Wien</strong>er Bevölkerung mit Österreich identifizieren“. 73 Das umfangreiche Expose<br />
Rosenmayrs scheint unter dem Titel ” Studies under the direction of Dr. Leopold<br />
Rosenmayr of factors which contribute to the basic social, economic, and<br />
political views of major groups in Vienna“ in der folgenden Zeit in den internen<br />
Dokumenten der Rockefeller Foundation auf. Rosenmayr schlug darin vor,<br />
71 Frederic C. Lane (1900–1984) studierte 1923–24 in Europa, Ph.D. Harvard 1930, lehrte<br />
ab 1928 bis zu seiner Emeritierung 1966 an der Johns Hopkins University in Baltimore,<br />
unterbrochen durch die Tätigkeit als Assistant Director Social Science Division Rockefeller<br />
Foundation 1951–54; Lane war Spezialist <strong>für</strong> venetianische Geschichte, Präsident der ’ American<br />
Economic History Association‘ (1956–58), der ’ International Economic History Association‘<br />
(1965–68) und der ’ American Historical Association‘ (1965), Herausgeber des ’ Journal<br />
of Economic History‘ 1943–51.<br />
72 Lane, Tagebuch, 9. Jänner 1953, 7 f. Dem Offert an Rosenmayr war ein Gespräch mit<br />
Knoll in <strong>Wien</strong> vorausgegangen (Lane, Tagebuch, 9. Dezember 1952, 477), über das Lane<br />
während eines Staff Meetings am 7. Jänner 1953 in New York berichtete. Der Soziologe<br />
unter den Rockefeller Foundation-Mitarbeitern und Lanes Vorgesetzter, DeVinney, äußerte<br />
sich über Rosenmayr deutlich skeptisch: ” LCD thinks that if Rosenmayr wants to return<br />
to Vienna, either we should put more money into his training or count the money invested<br />
in his year’s fellowship lost.“ Minutes DSS Staff Meeting 141, 7. Jänner 1953, Rockefeller<br />
Foundation, R. G. 1.2, series 705, box 9, folder 80, RAC.<br />
73 Das klingt ein wenig nach den damals beliebten Nationalcharakterstudien, könnte aber<br />
auch der Lektüre von ” Lonely Crowd“ zu verdanken sein: David Riesman in Collaboration<br />
with Reuel Denney and Nathan Glazer, The Lonely Crowd: A study of the Changing<br />
American Character, New Haven 1950. In dem Gespräch Anfang Jänner hatte Rosenmayr<br />
spontan noch andere Themen genannt: Beispielsweise eine Studie über den sinkenden ’ class<br />
status‘ und die Situation der ” lower bourgeoisie (...) somewhat like Mills’ study“. Bei letzterem<br />
dürfte es sich um die folgende Studie gehandelt haben: C. Wright Mills, White Collar.<br />
The American Middle Classes, New York 1951.<br />
ÖZG 11.2000.1 157
nach seiner Rückkehr und nach Abschluß der halbjährigen Arbeit an der Habilitation<br />
zuerst eine einjährige Pilot-Studie und danach ein Projekt mit zweibis<br />
dreijähriger Laufzeit durchzuführen. Lane äußerte in seiner be<strong>für</strong>wortenden<br />
Stellungnahme Kritik an der Breite des Projekts und bezweifelte, ob Rosenmayr<br />
methodologisch ausreichend ausgebildet sei, um diese Untersuchung<br />
durchführen zu können. Er gab zu bedenken, ob man nicht einen amerikanischen<br />
Experten zu seiner Hilfe nach <strong>Wien</strong> senden sollte, wie man das auch<br />
schon bei vergleichbaren Studien in Deutschland gemacht habe. 74 Ohne Rosenmayrs<br />
weitreichende Vorhaben als Ganzes zu genehmigen, sollte man die<br />
Pilotstudie fördern, sei Rosenmayr doch derzeit der einzige in <strong>Wien</strong>, der derartige<br />
Methoden ausprobiere. Außerdem habe er die Unterstützung des Rektors<br />
und August M. Knolls, was beide schriftlich und mündlich zum Ausdruck gebracht<br />
hätten. 75 Diese offizielle Unterstützung war von entscheidender Bedeutung,<br />
weil die Rockefeller Foundation Förderungen nur an Institutionen, und<br />
nicht an Personen vergab.<br />
Im Mai 1953 genehmigte der Direktor der Social Science Division fünfhundert<br />
US-Dollar, damit Rosenmayr nach seiner Rückkehr, ohne sich materielle<br />
Sorgen machen zu müssen, seine Habilitationsschrift, wie angekündigt,<br />
bis Jahresende fertig stellen könne. 76 Etwa ein Monat später wurde auch die<br />
Pilotstudie genehmigt. Rosenmayrs Zukunft war damit bis ins Frühjahr 1955<br />
hinein gesichert. Sein Projektleiterhonorar betrug 1.560 US-Dollar – oder nach<br />
dem Umrechnungsschlüssel, den er in einem seiner Schreiben erläuterte, das<br />
Doppelte eines <strong>Wien</strong>er Assistentengehalts. Am 28. August 1953 beendete Rosenmayr<br />
seinen zweijährigen Aufenthalt in den USA und kehrte an Bord der<br />
SS Liberte nach Europa zurück, wie die Fellowship Card der Rockefeller Foundation<br />
penibel festhält.<br />
In den nächsten Monaten ist im Schriftverkehr Rosenmayrs mit Funktionären<br />
der Rockefeller Foundation von den Habilitationsplänen nichts mehr zu<br />
74 Lane erwähnt ausdrücklich die sog. Darmstadtstudie, wo Nels Anderson von der ’ Rockefeller<br />
Foundation‘ als Konsultant nach Deutschland entsandt wurde. Raffaele Rauty, Introduction,<br />
in: Nels Anderson, On Hobos and Homelessness, Chicago 1998.<br />
75 Lane, Recommendation, 22. April 1953, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705,<br />
box 9, folder 80, RAC; dort befindet sich auch das Schreiben von Rektor Alfred Verdross und<br />
August M. Knoll an den Direktor der ’ Social Science Division‘ der ’ Rockefeller Foundation‘<br />
Joseph H. Willits vom 17. Juni 1953, worin es einleitend heißt: ” im Sinne des traditionellen<br />
Interesses der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> am Ausbau der Sozialwissenschaften“ und später wird<br />
Rosenmayrs Forschungsvorhaben so charakterisiert: ” Diese Forschung setzt sich zum Ziel<br />
die Analyse der wichtigsten öffentlichen und privaten Gruppen, mit denen sich die <strong>Wien</strong>er<br />
Bevölkerung identifiziert, und strebt darnach, die Prozesse solcher Identifizierung und die<br />
Auswirkungen derselben auf die breitere <strong>österreichische</strong> Bevölkerung zu ermitteln.“<br />
76 Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705, Box 9, folder 80, RAC. Nach Rosenmayrs<br />
eigenen Berechnungen verfügte er damit über ein Monatseinkommen in vier- bis sechsfacher<br />
Höhe der Bezüge einer Wissenschaftlichen Hilfskraft bzw. um über die Hälfte mehr als ein<br />
<strong>Universität</strong>sassistent in diesen Jahren verdiente.<br />
158 ÖZG 11.2000.1
lesen. Nach Ablauf des halbjährigen Sonderzuschusses wendet er sich energisch<br />
der Pilotstudie zu, worüber er gemeinsam mit Knoll im April 1954 Lane gesprächsweise<br />
berichtet. Lane notiert in seinem Tagebuch, dies sei jene Studie<br />
” for which Rockefeller Foundation made a grant-in-aid, with high hopes (...)<br />
All the work this coming year will focus on home life; attitudes towards work<br />
will be left for future study.“ Über die Studie selbst weiß Lane nicht viel mehr<br />
zu berichten. Andere Fragen nehmen hingegen breiten Raum ein: Rosenmayrs<br />
ungesicherte Stellung an der <strong>Universität</strong>, die Möglichkeiten, weiter Geld von<br />
der Rockefeller Foundation zu bekommen, die Nennung der Namen potentieller<br />
Stipendienbezieher, und abschließend der Hinweis Rosenmayrs, daß er zwar<br />
” strongly attached to Vienna“ sei, aber sollte es disheartening“ werden, wol-<br />
”<br />
le er sich in den USA um einen Job umsehen. 77 Ein Viertel Jahr später wird<br />
Rosenmayr Lanes Vorgesetztem De Vinney gegenüber deutlicher:<br />
After I have been able to build up the Research Laboratory with the help of some<br />
excellent collaborators against prejudice I now feel free to ask you to write a few lines<br />
to Prof. Knoll which will be instrumental in his hands in keeping up the decision of<br />
the Law Faculty to have me appointed by Jan. 1 t , 1954 ( , vermutlich 1955).<br />
Dr. Heinz Drimmel who is responsible for University affairs in the Ministry of<br />
Education has promised to support Prof. Knoll from the budgetary angle.<br />
My habilitation thesis has been delayed by the complicated negotiations and<br />
organizational work that had to be done a long time before the official start of the<br />
project.“ 78<br />
Rosenmayr war offenbar der Meinung, daß die Gründung eines Vereins als Nachweis<br />
wissenschaftlicher Tätigkeit genüge und die von der Rockefeller Foundation<br />
<strong>für</strong> die Fertigstellung der Habilitationsschrift genehmigte Summe da<strong>für</strong><br />
auch gut angelegt sei. Sein Versuch, die amerikanische Stiftung dazu bringen,<br />
ihn bei seinem Bemühen, sich eine fixe Anstellung an der <strong>Universität</strong> zu sichern,<br />
zu protegieren, wurde in einem höflichen aber unzweideutigen Antwort-<br />
77 Lane, Tagebuch, 1. u. 2 April 1954, 29.<br />
78 Rosenmayr an DeVinney o. D. [Juli 1954]. Drimmel war damals als Ministerialrat <strong>für</strong> die<br />
Hochschulen zuständiger Beamter. Als Beilagen sandte Rosenmayr einen Artikel aus ’ Die<br />
Presse‘ vom 7. Juli 1954 mit, der berichtet, daß mit stadtsoziologischen Untersuchungen<br />
begonnen worden sei. ” Die Soziologen der <strong>Wien</strong>er <strong>Universität</strong> haben Psychologen, Ärzte,<br />
Volkskundler, Statistiker und Juristen als ständige Mitarbeiter herangezogen. Sie sind mit<br />
den neuesten erpobten sozialwissenschaftlichen Methoden, wie sie im Ausland angewendet<br />
werden, vertraut, gehen aber von den <strong>Wien</strong>er Verhältnissen aus.“ Rockefeller Foundation,<br />
R. G. 1.2 series 705, box 9, folder 80, RAC. Der ebenfalls mitgesandte Fragebogen der schriftlichen<br />
Befragung mußte einem Soziologen wie DeVinney, der tatsächlich mit den neuesten<br />
sozialwissenschaftlichen Methoden vertraut war, die Haare aufstellen: Mehrdeutige Frageformulierungen<br />
und dichotome Klassifikationen über Wohnverhältnisse und -wünsche, wie z. B.<br />
die Frage nach dem Grund, warum jemand einen Beruf ausübt ( ” aus finanziellen Gründen,<br />
aus Freude am Beruf oder warum “).<br />
ÖZG 11.2000.1 159
ief zurückgewiesen und stattdessen die Frage aufgeworfen, wie es um seine<br />
Habilitation stehe. 79 Diese Frage ließ Rosenmayr unbeantwortet und sandte<br />
stattdessen vierteljährlich zwei- bis dreiseitige Briefe an DeVinney. Später reklamierte<br />
er diese Schreiben als ” progress reports“. Nach einem halben Jahr<br />
Arbeit an der Pilotstudie warf er die Frage der Fortsetzung der Finanzierung<br />
auf. Nach DeVinneys Antwort, <strong>für</strong> die Weiterfinanzierung werde auch nach<br />
dem Stand seiner Habilitation gefragt werden, sandte er in deutscher Sprache<br />
mit beigeschlossener englischer Übersetzung eine Bestätigung der beiden ” Vertreter<br />
von Dr. Rosenmayrs Habilitation“ und des Dekans der philosophischen<br />
Fakultät, wonach ” deren Einreichung demnächst bevorsteht.“ 80 Das Antwortschreiben<br />
war knapp gehalten: Sollte die Habilitation nicht bald abgeschlossen<br />
und das Verfahren positiv erledigt sein, werde die Rockefeller Foundation die<br />
weitere Finanzierung einstellen. 81 Alarmiert schreibt Rosenmayr, seit Anfang<br />
1955 Wissenschaftliche Hilfskraft an der Lehrkanzel <strong>für</strong> Soziologie, im Jänner<br />
1955 einen langen Brief an DeVinney und erklärt die Verzögerung bei der Habilitation<br />
mit den allgemeinen Widrigkeiten in <strong>Wien</strong>: ” Not even a typewriter“ sei<br />
am Institut vorhanden; er berichtet von den Widerständen gegen die empirische<br />
Soziologie und einem Motorradunfall, den er im Jahr davor gehabt habe.<br />
Zum Schluß gibt er dem Brief jene persönliche Note, die alle seine Schreiben<br />
charakterisiert: ” It is with great pleasure that I am able to add to this letter<br />
a personal message. My little American daughter received an Austrian brother,<br />
Stephen Leopold, on December 23, 1954. With the very best wishes to<br />
you and Mrs. DeVinney (...)“ 82 Schon davor, Mitte Dezember 1954, hatte Rosenmayr<br />
den Abschlußbericht über die Pilotstudie nach New York geschickt.<br />
Auf der Suche nach den ” factors which contribute to the basic social, economic,<br />
and political views of major groups“, die Rosenmayr bekanntlich studieren<br />
hatte wollen, kam er über Zwischen-Etappen, wo er realisierte, ” that I could<br />
not use any verified hypotheses or empirical generalizations as points of departure“<br />
und daß ” so far no empirical attitude research on a broad basis had been<br />
carried through“, zur Entscheidung ” to limit the study to the exploration of<br />
79 DeVinney an Rosenmayr, 20. Juli 1954, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705,<br />
box 9, folder 80, RAC.<br />
80 A. M. Knoll und Leo Gabriel an DeVinney, 13. Dezember 1954. Das Schreiben wurde<br />
vom Dekan der Philosophischen Fakultät, Karl M. Swoboda, vidiert: Zl. 1236/1 aus 1954/55,<br />
obwohl das Institut <strong>für</strong> Soziologie und Knolls Professur an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen<br />
Fakultät lokalisiert waren. Rosenmayr habilitierte sich dann auch zwei Mal:<br />
1955 <strong>für</strong> Sozialphilosophie an der Philosophischen und 1959 <strong>für</strong> Soziologie an der Rechtsund<br />
Staatswissenschaftlichen Fakultät. Der feine Unterschied scheint vielen, vor allem allen<br />
im Ausland, entgangen zu sein.<br />
81 DeVinney an Rosenmayr, 1. Oktober 1954, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2 series 705,<br />
box 9, folder 80, RAC.<br />
82 Rosenmayr an DeVinney, January 10, 1955. Rockefeller Foundation, R. G. 1.2 series 705,<br />
box 9, folder 81, RAC.<br />
160 ÖZG 11.2000.1
the attitude of Vienna society toward the home and life. This way we could<br />
concentrate on a changing sociological problem rooted in the stable necessity<br />
to have a place to live in.“ Die folgende Präsentation der vorläufigen Resultate<br />
hätte dann auch jemandem, der mit den Methoden der Sozialforschung nicht<br />
vertraut war, die Augen da<strong>für</strong> öffnen müssen, daß die ganze Studie nicht mehr<br />
war als die Sammlung einiger Daten über Wohnverhältnisse und Wohnwünsche,<br />
die höchst willkürlich mit ein paar pseudosoziologischen Konzepten verknüpft<br />
wurden. 83 Am Ende des fünfseitigen Briefes kündigt Rosenmayr eine 200 Seiten<br />
starke Publikation an und ersucht um die Fortsetzung der Finanzierung in<br />
Höhe von 9.820 US-Dollar. 84<br />
Im Frühjahr 1955 treffen in New York Briefe verschiedener Förderer Rosenmayrs<br />
ein, die alle die baldige Fertigstellung der Habilitation ankündigen<br />
und die rasche Erledigung des Habilitationsverfahrens in Aussicht stellen. 85<br />
Am 1. Juli 1955 kann Rosenmayr schließlich erleichtert berichten, daß seine<br />
Habilitation angenommen worden sei und er ab Wintersemester als Dozent Vorlesungen<br />
halten werde. 86 Die Erlangung der Lehrfreiheit setzt bei Rosenmayr<br />
auch Energien <strong>für</strong> andere Unternehmungen frei. Er nimmt sich der darniederliegenden<br />
Österreichischen Gesellschaft <strong>für</strong> Soziologie (ÖGS) an, deren inaktiver<br />
Präsident zu dieser Zeit Knoll war. 87 Tom Bottomore, Sekretär der International<br />
Sociological Association, der die ÖGS unmittelbar nach ihrer Gründung<br />
1950 beigetreten war, an die sie aber nie die Mitgliedschaftsbeiträge überwiesen<br />
hatte, überredet Rosenmayr, aus der korporativen eine individuelle Mitgliedschaft<br />
zu machen. Vier Jahre später, 1959, schlägt er während des in Stresa<br />
abgehaltenen World Congress of Sociology vor, die korporative Mitgliedschaft<br />
wieder zu erneuern, weil ” the basis of the Austrian Sociological Society has<br />
83 Beispielsweise suchte Rosenmayr nach einer Erklärung <strong>für</strong> die geringe Kinderzahl und<br />
behaupte sie im Wertesystem gefunden zu haben, in welchem Kinder keinen hohen Wert<br />
darstellten. Das meiste erklärte er allerdings aus dem Vorhandensein eines ” negativen Individualismus“,<br />
ein Terminus, der sich auch in den folgenden Berichten prominent findet.<br />
84 Die Studie ’ Wohnen in <strong>Wien</strong>. Ergebnisse und Folgerungen aus einer Untersuchung von<br />
<strong>Wien</strong>er Wohnverhältnissen, Wohnwünschen und städtischer Umwelt‘ erschien in ’ Der Aufbau‘<br />
als Band 8, und das <strong>Wien</strong>er Stadtbauamt zeichnet als Verfasser des 108 Seiten umfassenden<br />
Berichts.<br />
85 Dekan Karl M. Swoboda am 2.3.1955, Richard Meister, Präsident der Akademie der Wissenschaften<br />
am 4.3., Leo Gabriel am 5.3., Rektor Johann Radon am 5.3., August M. Knoll<br />
o. D.; Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705, box 9, folder 81, RAC.<br />
86 Rosenmayr an DeVinney, 1. Juli 1955. Leopold Rosenmayr, Soziologie der Vorstellungen<br />
und Werte. Eine Darstellung der Wechselwirkungen zwischen Vorstellungen und Werten und<br />
den Strukturen der Gesellschaft, mit einem geschichtlichen Überblick und unter Berücksichtigung<br />
neuerer empirischer Forschungen, unveröffentlichte masch. Habilitationsschrift, <strong>Wien</strong><br />
1955.<br />
87 Rosenmayr berichtet darüber auch DeVinney am 31. August 1955: ” Inside Austria the<br />
Sociological Society is in the process of being revived also with the purpose to make known results<br />
of current research to wider circles of the population.“ Rockefeller Foundation, R. G. 1.2,<br />
series 705, box 9, folder 81, RAC.<br />
ÖZG 11.2000.1 161
een broadened considerably during the last two years“, so there ” is no danger<br />
that the neglect (of paying the fees) will reoccur.“ 88 Auch auf anderen internationalen<br />
Bühnen, wie beispielsweise der UNESCO, wird Rosenmayr in den<br />
folgenden Jahren aktiv und etabliert damit nicht nur viele neue internationale<br />
Kontakte, sondern zementiert auch den Eindruck, in Österreich der einzige<br />
Soziologe zu sein.<br />
War es Rosenmayr zwischen 1953 und 1957 gelungen, von der Rockefeller<br />
Foundation Gelder in Höhe von insgesamt 22.320 US-Dollar einzuwerben<br />
– was ungefähr vierzehn Mannjahren jenes Gehalts entspricht, das er im ersten<br />
Antrag <strong>für</strong> sich veranschlagt hatte 89 – bemühte er sich 1958/59 darum,<br />
<strong>für</strong> ein zweijähriges Projekt weitere 24.700 US-Dollar zu erhalten. Die ersten<br />
fünfhundert Dollar hatte Rosenmayr noch aufgrund der alleinigen Fürsprache<br />
Knolls erhalten. Gleichzeitig mit dem Bemühen um Förderer seiner Habilitation<br />
rekrutierte er einige prominente Professoren als Unterstützer seiner Anträge<br />
an die Rockefeller Foundation, was deren Mitarbeiter in den Erläuterungen zu<br />
den Anträgen, die sie übergeordneten Instanzen der Stiftung zur Genehmigung<br />
vorzulegen hatten, hervorhoben. Zur gleichen Zeit versuchen Stiftungsmitarbeiter<br />
gemäß einer alten Tradition, Urteile kompetenter internationaler Kollegen<br />
einzuholen. Die Angeschriebenen kennen Rosenmayr, können aber über ihn<br />
und seine Kompetenzen meist nicht sehr detailliert Auskunft geben. 90 Trotz<br />
aller Bedenken und nachdem Rosenmayr die beantragte Summe auf die Hälfte<br />
reduziert hat, weil ihm die Rockefeller Foundation mitgeteilt hatte, eine weitere<br />
Finanzierung sei nur dann zu erwarten, wenn auch <strong>österreichische</strong> Stellen<br />
begännen, seine Forschung zu finanzieren, wird seinem Wunsch Rechnung getragen<br />
und er erhält <strong>für</strong> eine ” study of the influences of changing family structure<br />
on the behavior of adolescent youth“ <strong>für</strong> eine zweijährige Laufzeit den genannten<br />
Betrag. 91 In der Begründung <strong>für</strong> die Genehmigung des Antrags heißt<br />
es 1959: Als im Jahr 1954 die Sozialwissenschaftliche Forschungsstelle an der<br />
<strong>Wien</strong>er Lehrkanzel <strong>für</strong> Soziologie gegründet wurde, unternahm es seit ” Marie<br />
Jahoda’s and Paul Lazarsfeld’s now famous analysis of a suburban community<br />
88 International Sociological Association (ISA) Archive, diverse Schreiben in boxes 24.2.<br />
Austria, 30.1 Collective members, 37.2 Individual membership; Internationales Institut <strong>für</strong><br />
Sozialgeschichte, Amsterdam.<br />
89 Aus <strong>Wien</strong>er Quellen erhielt Rosenmayr Zuwendungen in der Höhe von 4.600. Genehmigungsschreiben,<br />
17. Mai 1956. Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705, box 9, folder 80,<br />
RAC.<br />
90 Lane, Tagebuch, 13. April 1959. Zur Rockefeller Foundation internen Kritik an Rosenmayr<br />
siehe Lane, 28. Dezember 1954, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2., series 705, box 9, folder 80,<br />
RAC, und den Eintrag auf seiner Fellowship Card unter 6/9/58, wo es heißt: Reprint received<br />
”<br />
’ Befragung der <strong>Wien</strong>er Verkehrspolizisten‘ this is a Soziologische Erkenntnisse!“<br />
91 Executive Committee, 22. Mai 1959, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705, Box 9,<br />
folder 80, RAC. Erskine W. McKinley bezeichnete Rosenmayrs Plan im April 1959 noch als<br />
” pretty weak“, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705, box 9, folder 82, RAC.<br />
162 ÖZG 11.2000.1
during the depression of the late twenties“ – wie es wenig zutreffend formuliert<br />
wurde – ” the first study in empirical sociology“. Ausgehend von einem ” deep<br />
concern about severe postwar desillusionment, embittered cleavages among social<br />
groups, and widespread lack of interest in national unity and welfare which<br />
pervaded Vienna, Dr. Rosenmayr embarked on a study of fundamental convictions<br />
and values of major groups in Vienna and the factors which seemed<br />
to account for them.“ Zuerst habe er sich dem Studium des Familienlebens<br />
gewidmet, und prompt seien Regierungsstellen an ihn herangetreten, um weitere<br />
Studien in Auftrag zu geben. Er habe es dennoch zustande gebracht, diese<br />
angewandten Forschungen mit grundlegenden Forschungsfragen zu verbinden.<br />
Seine Veröffentlichungen hätten Aufmerksamkeit und günstige Kommentare<br />
in europäischen und amerikanischen wissenschaftlichen Zeitschriften erhalten.<br />
Tatsächlich erschienen über Rosenmayrs Wohn-Studie Besprechungen auch in<br />
den beiden führenden soziologischen Zeitschriften Amerikas. Auffälligerweise<br />
lauten die ersten paar Sätze der Besprechung von Morris Janowitz auf Wort<br />
und Irrtum fast gleich wie der Text, mit welchem innerhalb der Rockefeller<br />
Foundation 1959 der Verlängerungsantrag begründet wurde. 92<br />
Wie schon <strong>für</strong> andere Rezensenten 93 liegt es nahe, die beiden einzigen, aus<br />
Mitteln der Rockefeller Foundation mitfinanzierten <strong>österreichische</strong>n soziologischen<br />
Forschungseinheiten und ihre Resultate zu vergleichen. Die Höhe der <strong>für</strong><br />
die Marienthal-Studie Lazarsfelds gewährten Zuschüsse der Arbeiterkammer,<br />
der <strong>österreichische</strong>n Regierung und aus dem fluid grant, der den Bühlers zur<br />
Verfügung stand, läßt sich nicht mehr genau feststellen, dürfte aber über den<br />
Zeitraum von zwei Jahren nicht mehr als den Gegenwert eines Jahresgehalts<br />
eines Assistenten ausgemacht haben. Dem stehen im Fall von Rosenmayrs Forschungsstelle<br />
über den allerdings auch viel längeren Zeitraum von acht Jahren<br />
Mittel in Höhe von etwa dreißig Mannjahren oder pro Jahr etwa vier bezahlte<br />
Mitarbeiter gegenüber. Die Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle unter<br />
Lazarsfeld produzierte neben Die Arbeitslosen von Marienthal (1933) einige<br />
Aufsätze, und man könnte noch die eine oder andere Dissertation im Umfeld<br />
92 Morris Janowitz, Besprechung von Wohnen in <strong>Wien</strong>, in: American Journal of Sociology 63,<br />
1957, 236 f. Bei Janowitz heißt es, Rosenmayrs Studie sei nach Marienthal ” one of the first<br />
studies in empirical sociology (...) in Austria“ gewesen. Es ist nicht entscheidbar, wer <strong>für</strong> die<br />
Übernahme des historischen Rückblicks aus Janowitz’ Besprechung in den formalen Antrag<br />
der ’ Rockefeller Foundation‘ verantwortlich war. Üblicherweise bauten die Förderungsanträge<br />
auf den Informationen auf, die die Förderungswerber zur Verfügung stellten. Rosenmayr<br />
jedenfalls griff den historischen Hinweis wenig später auf: Leopold Rosenmayr, Vorgeschichte<br />
und Entwicklung der Soziologie in Österreich bis 1933, in: Zeitschrift <strong>für</strong> Nationalökonomie 26<br />
(1966), 268–282.<br />
93 Kurt B. Mayer, in: American Sociological Review 22 (1957), 610 f. und noch Jahre später<br />
E. K. Francis, in: American Journal of Sociology 71 (1965), 360 f., anläßlich einer Besprechung<br />
einer weiteren Rosenmayr-Studie über Familienbeziehungen und Freizeitgewohnheiten<br />
jugendlicher Arbeiter.<br />
ÖZG 11.2000.1 163
anführen. Rosenmayr veröffentlichte in den acht Jahren, in denen die Rockefeller<br />
Foundation seine Sozialwissenschaftliche Forschungsstelle förderte, zwei<br />
selbständige Forschungsberichte, schrieb seine unveröffentlichte Habilitationsschrift<br />
und publizierte sechs Aufsätze. 94 Während Marienthal zum Klassiker<br />
wurde, verblich der Ruhm von Rosenmayrs Veröffentlichungen aus diesen Jahren<br />
innerhalb jener Frist, die mit dem unzutreffenden Bild der Halbwertszeit<br />
wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu bestimmen versucht wurde. Aus der<br />
Gruppe um Lazarsfeld gingen trotz der Widrigkeiten, die ihre Mitglieder im Zusammenhang<br />
mit ihrer Flucht aus Österreich überwinden mußten, anerkannte<br />
Soziologen und Psychologen hervor (Marie Jahoda, Hans Zeisel, Hertha Herzog,<br />
die zum Kern der Forschungsstelle gehörten, sowie Katherine Wolf, Else<br />
Frenkel-Brunswik, Hedda Bolgar, Lotte Danzinger, die auf die eine oder andere<br />
Art von der Nähe zu dieser Gruppe profitierten). Rosenmayr hingegen<br />
blieb ziemlich allein. Von jenen, die mit ihm schon in den fünfziger Jahren zusammenarbeiteten,<br />
erwarb nur Hans Strotzka später selbständig Reputation.<br />
Erst in den sechziger Jahren betraten die ersten jungen <strong>Wien</strong>er Soziologen die<br />
Bühne, auf der sich Rosenmayr schon so lange tummelte – was allerdings wenigstens<br />
teilweise auf die Wirkungen des 1963 eröffneten Instituts <strong>für</strong> Höhere<br />
Studien zurückzuführen ist.<br />
Noch bevor sich die Rockefeller Foundation zur nochmaligen Unterstützung<br />
Rosenmayrs entschlossen hatte, trat dieser an die zweite große US-Stiftung,<br />
die Ford Foundation, mit einem Förderungsantrag heran, nachdem er schon<br />
im Sommer des Vorjahres mit Stone ein Gespräch geführt hatte. Ein halbes<br />
Jahr danach schaltet sich Rosenmayrs transatlantischer Protektor Lazarsfeld<br />
ein und schreibt an Stone ein geradezu überschwengliches Empfehlungsschreiben:<br />
” I have studied the application of Dr. Leopold Rosenmayr. It is a thoroughly<br />
professional job and there is no doubt in my mind that it should be<br />
supported. As a matter of fact, of the many foreign applications I have seen<br />
in recent years this is the one which shows the most understanding of how<br />
organized social research should be developed and what Foundation funds can<br />
contribute.“ 95 Ausführlicher als die Stellungnahme zu Rosenmayrs Forschungsprojekt<br />
fällt dann Lazarsfelds Kommentar dazu aus, wie ” Rosenmayr’s plans<br />
fit the general Austrian program“, das er ein Jahr davor entwickelt hatte. Rosenmayr<br />
wolle an der <strong>Universität</strong> ein Zentrum <strong>für</strong> Sozialforschung etablieren<br />
und die Ford Foundation sollte zusätzlich auch ein zweites, außeruniversitäres<br />
Zentrum fördern. Dabei dachte Lazarsfeld nicht an das geplante spätere Institut<br />
<strong>für</strong> Höhere Studien, sondern an eine Gruppe junger Sozialwissenschaftler im<br />
94 Seine Ankündigung, eine Kritik von Helmut Schelskys jugendsoziologischem Bestseller<br />
’ Die skeptische Generation‘ zu liefern, konnte er nicht einlösen. Erskine W. McKinley interview<br />
with Leopold Rosenmayr, 4. November 1958, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series<br />
705, box 9, folder 82, RAC.<br />
95 Lazarsfeld an Stone, 12. Jänner 1959, Ford Foundation, reel 0565.<br />
164 ÖZG 11.2000.1
Gewerkschaftsbund. Deren Vertreter hätten zwar nicht annähernd the polish<br />
”<br />
which Rosenmayr has“, aber sie verdienten Hilfe. Abschließend kommt Lazarsfeld<br />
doch noch einmal auf Rosenmayrs Projekt und seinen Inhalt zu sprechen:<br />
” The study of values, of family life, and of rural communities (...) have a rat-<br />
her universal character which should be studied in Austria and also has been<br />
studied in many other places. There are however special Austrian topics of<br />
great interest (...). What I mean to say is that Rosenmayr proposes a highly<br />
competent program within a narrow academic framework. This should be supplemented<br />
by other activities which are more sensitive to the current national<br />
problems to which social research could contribute.“ 96<br />
Was Lazarsfeld nicht wissen konnte war, daß Rosenmayr dieselben Studien<br />
auch schon der Rockefeller Foundation vorgeschlagen hatte. Wir sehen, wie<br />
sich ein Protege gegen die Pläne seiner Förderer selbständig machen konnte:<br />
Lazarsfeld, der seiner Geburtsstadt unbedingt Gutes tun wollte, war genötigt,<br />
jemanden zu protegieren, der zur Hand war – auch wenn der partout nicht das<br />
untersuchen wollte, was er untersuchenswert fand. 97 Im Mai 1959, knapp vor<br />
seinem mehrwöchigen Aufenthalt in Europa, währenddessen er die weiter oben<br />
zitierten Briefe an Stone schreiben sollte, in denen er die <strong>Wien</strong>er Malaise in epigrammatischer<br />
Kürze als ” no brains, no initiative, no collaboration“ beklagte, 98<br />
sandte Lazarsfeld Stone eine weitere Stellungnahme zu Rosenmayrs Antrag und<br />
retournierte das zur Begutachtung überlassene Material.<br />
Rosenmayr submitted to you requests for three specific studies and one for a program<br />
of ’ Scientific Exchange Instruction and Training ’ . (...) (W)hile I respect Rosenmayr’s<br />
research ability, I don’t think that the three topics he wants to study are of very<br />
great originality. On the other hand, I feel that a general training program would<br />
be of great help. After all, Rosenmayr cannot do much if he doesn’t develop a good<br />
young generation of assistants and graduate students.<br />
The general training program (...) falls into two parts. He wants 28,000 for his<br />
center and 26,000 for visiting Americans. The latter doesn’t make much sense in<br />
view of your general plans for an advanced study center. My advice, therefore, is that<br />
96 Ebd. Lazarsfeld detailliert dann auch noch seinen allgemeinen Hinweis und schlägt vor,<br />
daß man zum einen das Management der verstaatlichten Industrie vergleichend mit einer<br />
’ free enterprise industry‘ studieren sollte und andererseits das Problem der <strong>österreichische</strong>n<br />
’ intelligentsia‘ einer eingehenderen Untersuchung wert wäre: As I have pointed out in my<br />
”<br />
first report, a sequence of purges has led to a great scarcity of competent intellectuals.<br />
How they are now being recruited from various social classes and what could be done to<br />
speed up this intellectual reforestation deserves also careful study“. Man darf mit Sicherheit<br />
annehmen, daß Lazarsfeld diese Ideen auch seinen <strong>österreichische</strong>n Gesprächspartnern nicht<br />
vorenthielt. Bekanntlich wurde keines der beiden Probleme je von einem <strong>österreichische</strong>n<br />
Soziologen studiert.<br />
97 Clark berichtet in Paul Lazarsfeld and the Columbia Sociology Machine‘, daß Lazarsfeld<br />
’<br />
heftig darauf gedrängt habe, seine Sicht der Dinge zu berücksichtigen.<br />
98 Lazarsfeld an Stone, 22. Juni 1959, Ford Foundation, reel 2574.<br />
ÖZG 11.2000.1 165
he should get the 28,000 for the part (...) which I have encircled for your special<br />
attention. The 5,000 included for visiting Europeans seemed to me justified in view<br />
of the Austrian isolation. 99<br />
Im Juli 1959 genehmigte der Präsident der Ford Foundation auf Antrag von Stones<br />
Abteilung <strong>für</strong> Internationale Angelegenheiten der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> 25.000<br />
US-Dollar ” to strengthen the program of its Social Science Research Center for<br />
training young social scientists“. Die Begründung spiegelt nicht nur Lazarsfelds<br />
Empfehlung vom Jänner, sondern nennt Lazarsfeld als ihren Gewährsmann, der<br />
den Antrag studiert habe und ihn zu fördern empfohlen habe. Auch Lazarsfelds<br />
weitergehende Forschungsvorschläge finden darin kurioserweise Erwähnung. 100<br />
Rosenmayr hätte sich glücklich schätzen können. Aber er hatte die Kommunikationsdichte<br />
amerikanischer Stiftungen, ihrer Mitarbeiter und Berater<br />
wohl unterschätzt. Im September 1959 erreichte ihn der Brief eines sichtlich<br />
verärgerten Lazarsfeld – ” Copy to Dr. Stone“ –, worin dieser ihn über den<br />
Verhaltenskodex im Umgang mit mehr als einer Stiftung in Kenntnis setzt:<br />
American foundations cooperate gladly on supports given to academic work. They<br />
do however expect that grantees keep them clearly informed about the whole range<br />
of American help they ask for or obtain. (...) It might be that I contributed to the<br />
confusion because I had understood you to say that your Rockefeller project is essentially<br />
over and that you now got a small grant for its completion. Dr. Stone, however,<br />
knows that your new Rockefeller grant is of rather substantial size. 101<br />
Nur acht Tage später antwortet Rosenmayr in einem ausführlichen Brief an<br />
Stone und erklärt, daß das Geld der Rockefeller Foundation <strong>für</strong> Projekte verwendet<br />
würde, die in keinerlei Beziehung zu dem von Ford finanzierten Vorhaben<br />
stünden. Was die Rockefeller Foundation fördere ” is geared to furnish<br />
results for practical purposes of education and general social work connected<br />
with adolescent youth.“ 102 Wenige Monate davor hatte es gegenüber DeVinney<br />
noch anders geklungen: Das Geld der Rockefeller Foundation würde eine Studie<br />
über ” family relations of the male youth (14–18)“ fortzuführen und erheblich<br />
zu verbessern erlauben und somit Grundlagenforschung ermöglichen. 103<br />
Mit halbjähriger Verspätung wird die Finanzierung genehmigt. Im Jänner<br />
1960 trifft der Scheck der Ford Foundation über 25.000 US-Dollar in <strong>Wien</strong> ein<br />
und wird umgehend in 645.712 Schilling gewechselt. In den folgenden beiden<br />
Jahren wird rund ein Fünftel dieser Summe dazu benützt, um einer Gruppe von<br />
99 Lazarsfeld an Stone, 19. Mai 1959, Ford Foundation, reel 0565.<br />
100 International Affairs Ford Foundation, 21. Juli 1959, Ford Foundation, reel 0565.<br />
101 Lazarsfeld an Rosenmayr, 22. September 1959, Ford Foundation, reel 0565.<br />
102 Lazarsfeld an Stone, 30. September 1959, Ford Foundation, reel 0565.<br />
103 Rosenmayr an DeVinney, 20. März 1959, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705,<br />
Box 9, folder 82, RAC.<br />
166 ÖZG 11.2000.1
Studenten Stipendien zu bezahlen und ausländische Vortragende einzuladen,<br />
ungefähr die Hälfte wird <strong>für</strong> Datenerhebung, -aufbereitung und -auswertung<br />
ausgegeben. Knapp vor Ablauf der zwei Jahre wendet sich Rosenmayr wieder<br />
an Stone und ersucht um eine ” unauffällige Verlängerung“ der Förderung, weil<br />
das in Gründung befindliche Ford-Institut nicht früher als 1963 eröffnet werde.<br />
Warum Rosenmayr dieses Mal die Publicity scheut, erläutert er nicht. 104 Die<br />
gewünschte Summe erhält er anstandslos, weil andernfalls ” a valuable initiative<br />
would be lost and an important Austrian source of supply for the new Institute<br />
for Advanced Studies would be submerged if the Center failed to obtain<br />
assistance.“ 105 Die Begründung <strong>für</strong> diese vorläufig letzte direkte Förderung<br />
Rosenmayrs bzw. der von ihm gegründeten Forschungsstelle (dem Center in<br />
obigem Zitat) offenbart, daß die Funktionäre und Berater der Ford Foundation<br />
bei ihrem Versuch, sich im Labyrinth des <strong>österreichische</strong>n Minotaurus zurechtzufinden,<br />
die Hilfe Ariadnes gut hätten gebrauchen können. Die Idee, in <strong>Wien</strong><br />
ein Institut <strong>für</strong> sozialwissenschaftliche Forschung zu gründen, war aus dem Umstand<br />
erwachsen, daß die <strong>Universität</strong> so schlecht sei. Und nun war man nicht<br />
nur dabei, einen Professor zum Direktor des außeruniversitären Instituts zu<br />
machen, sondern päppelte auch noch das Zentrum eines anderen Professors auf<br />
und füttert es über die Jahre hinweg, weil sonst bei der Eröffnung des eigenen<br />
neuen Instituts niemand vorhanden wäre, um hier ein postgraduate Studium<br />
zu beginnen. Wer den Minotaurus töten wollte, hatte das Problem zu lösen,<br />
nach vollbrachter Tat aus dem Labyrinth wieder hinauszufinden – die Philanthrophen<br />
der Ford Foundation wußten mittlerweile offenbar weder, warum sie<br />
das <strong>österreichische</strong> Labyrinth betreten hatten, noch was sie hier tun sollten.<br />
III.<br />
Während des zehntägigen Aufenthalts des Präsidenten des American Council of<br />
Learned Societies (ACLS) Frederick Burkhardt in <strong>Wien</strong> stand die Rolle Rosenmayrs<br />
und seiner ’ Sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle‘ mehrfach zur Debatte.<br />
Im Gespräch mit Co-Direktor Kozlik erfuhr Burkhardt, daß das gesamte<br />
soziologische Forschungsprogramm des Instituts <strong>für</strong> Höhere Studien (IHS) von<br />
Rosenmayrs Forschungsstelle betrieben würde. Auf die Frage, was dabei <strong>für</strong><br />
das IHS abfalle, antwortete Kozlik: praktisch nichts. ” The institute (ours) was<br />
becoming a sort of Ford Foundation to the rest of the University“, notiert<br />
Burkhardt trocken. Kozlik kämpfe dagegen nicht an, sondern zeige eine ” halfhumorous<br />
attitude“, obwohl er es <strong>für</strong> unnötig und unsinnig halte, jemandem<br />
Geld zu geben, der es nicht wirklich brauche. Kozlik und die Generalsekretärin<br />
104 Rosenmayr an Stone, 1. Dezember 1961, Ford Foundation, reel 0565.<br />
105 International Affairs Ford Foundation, 2. Februar 1962, Ford Foundation, reel 0565.<br />
ÖZG 11.2000.1 167
des IHS, die davor bei der UNESCO in Paris gearbeitet hatte und in den Dokumenten<br />
als Freda Pawloff aufscheint und später als Freda Meissner-Blau 106<br />
bekannter werden sollte, waren davon überzeugt, daß Rosenmayr <strong>für</strong> Projekte<br />
bezahlt würde, die längst durchgeführt, in einem Fall gar schon publiziert seien.<br />
Die Offenheit der beiden kontrastiert stark mit der Vagheit Sagoroffs und es<br />
verwundert nicht, daß Burkhardt sich öfter mit diesen beiden unterhielt. Professoren<br />
der <strong>Wien</strong>er <strong>Universität</strong> hätten Pawloff bereits darauf angesprochen,<br />
daß Sagoroff Forschungen Rosenmayrs finanziere, die schon vor Jahren abgeschlossen<br />
worden seien; Gerüchte seien im Umlauf. Aufschlußreich ist daher,<br />
was der amerikanische Konsulent der Ford Foundation über das Gespräch mit<br />
dem kurz davor zum Ordinarius avancierten Rosenmayr festhielt:<br />
Rosenmayr arrived for his appointment with me. We talked for an hour. I pushed him<br />
pretty hard on the four research projects for which his Institute had received support<br />
from our Institute. His argument was a new one. He reasoned that the distinguished<br />
professors coming to our Institute would not find enough people prepared to understand<br />
what they were talking about; the research projects would give students and<br />
Assistenten at the University some real experience in modern sociological techniques<br />
and problems. The project would also provide Austrian materials for the professors<br />
to talk about. Otherwise they would have to talk about their own experience and<br />
cases – presumably mostly American. This was all very well said but I’m not sure it<br />
is really so. I’m quite sure Sagoroff doesn’t know about this argument. Rosenmayr is<br />
a pretty slick article. 107<br />
Der Versuch, Burkhardt zu schmeicheln, wurde von diesem mit großer Reserve<br />
aufgenommen. Später teilte eine dritte Person Burkhardt mit, Rosenmayr sei<br />
über sein Eintreffen beunruhigt gewesen: ” Who is this Burkhardt We must find<br />
out what we can about him!“ Konkrete Auskünfte konnte Rosenmayr nicht<br />
geben. Einige der IHS-Assistenten seien ” political appointments“, aber drei<br />
Viertel seien gute Leute. Einer der IHS-Assistenten, fand Burkhardt heraus,<br />
werde bezahlt, um an Rosenmayrs <strong>Universität</strong>sinstitut zu unterrichten.<br />
Lazarsfeld, der nach <strong>Wien</strong> gefahren war, um dort Burkhardt zu treffen<br />
und selbst nach dem Rechten zu sehen, bestätigte Stone, daß Burkhardt in der<br />
kurzen Zeit ein ” detailed, in my opinion, perfectly correct picture“ gewonnen<br />
hätte. Er stimme ihm nur in einem Punkt, dem Urteil über Sagoroff, nicht<br />
106 Freda Meissner-Blau (geb. 1927), Journalistin; Volksschule in Linz, Höhere Bundeslehranstalt<br />
<strong>für</strong> wirtschaftliche Frauenberufe in <strong>Wien</strong>, Gymnasium Reichenberg (1945 Kriegsmatura),<br />
Studien der Medizin (sechs Semester), der Soziologie und Psychologie, Cambridge<br />
Certificate. Journalistin und freie Mitarbeiterin bei der UNESCO 1961, Assistant International<br />
Development of the Social Sciences (Paris), Generalsekretär am Institut <strong>für</strong> Höhere<br />
Studien und Wissenschaftliche Forschung (<strong>Wien</strong>) 1962–1968; später Nationalratsabgeordnete<br />
der Grünen, http://www.parlinkom.gv.at/, 14. Februar 2000.<br />
107 Burkhardt, A Journal of a Visit to Vienna, wie Anm. 59, 19.<br />
168 ÖZG 11.2000.1
zu. Man müsse nämlich – und hier spricht Lazarsfeld pro domo – zwischen<br />
Administratoren und Organisatoren unterscheiden. Sagoroff werde eine ” lot of<br />
messes“ produzieren, aber zugleich glaube er, daß er auch ” a lot of imagination“<br />
habe und improvisieren könne. Im folgenden Absatz nimmt er dieses<br />
hoffnungsfrohe Urteil aber wieder zurück, was ihm auch selbst auffällt: ” My<br />
new uneasiness with Sagoroff is due to another observation. (...) Sagoroff, so<br />
far, doesn’t make good use of his staff, doesn’t take advice easily, and has a<br />
tendency to make all decisions, even insignificant ones, himself, which will become<br />
increasingly impossible. He creates a prima donna atmosphere, which, of<br />
course, is different from leadership.“ 108<br />
In einem separaten offiziellen Memorandum formuliert Lazarsfeld sehr diplomatisch<br />
Vorschläge, wie Sagoroff am besten mit dem Kuratorium umgehen<br />
sollte – durch die Bildung von Zwei-Mann-Sub-Komitees, wie der Direktor mit<br />
seinen Mitarbeiter kommunizieren solle – durch schriftliche Memoranden; wie<br />
man gute Studenten anziehen könne – indem man den Absolventen bei der Arbeitssuche<br />
behilflich sei; wie man das Lehrprogramm verbessern könne – durch<br />
Verpflichtung von Ausländern; und woran man den Erfolg des Instituts messen<br />
sollte – ” saving Austria from intellectual dessication“ durch Verbesserung<br />
<strong>österreichische</strong>r Institutionen und des Niveaus einzelner Österreicher. 109<br />
Doch trotz dieser guten Ratschläge hatte das Institut <strong>für</strong> Höhere Studien<br />
(IHS) nach seiner offiziellen Eröffnung im Herbst 1963 noch weitere Jahre mit<br />
Problemen zu kämpfen. Nicht nur mit solchen, denen sich junge Institutionen<br />
üblicherweise gegenüber sehen, sondern auch mit Schwierigkeiten, die vor allem<br />
aus den <strong>österreichische</strong>n Verhältnissen erwuchsen. Gegen Ende des ersten<br />
Jahres trat der beigeordnete Direktor Adolf Kozlik zurück, der in den letzten<br />
Wochen seiner Tätigkeit mit Direktor Sagoroff nicht einmal mehr gesprochen<br />
hatte, blieb aber dem Institut weiterhin als Gastprofessor erhalten. Burkhardt,<br />
der im Juni 1964 wieder in <strong>Wien</strong> war, führt das Zerwürfnis vor allem auf Kozliks<br />
Temperament zurück: ” Kozlik is honest, rude, and dogmatic and acted<br />
more like an FBI agent in the Institute than as a Deputy.“ 110 Seine ruppige<br />
Art war die eine Seite des Problems, die unmögliche Position, die er einzunehmen<br />
hatte, die andere. Als Vertrauensmann der SPÖ mußte er das Mißtrauen<br />
seines Vorgesetzten auf sich ziehen. Seine ” outspokenness“ und sein Gehabe,<br />
das Amerikaner wie Burkhardt als Marotte hinzunehmen bereit waren, irritierten<br />
andere zutiefst. In einem derartigen Klima mußte jemand, der eine ” sharp<br />
tongue“ hatte und meinte, daß das neue Institut ” a straight Marxist point of<br />
108 Lazarsfeld an Stone, 4. Juli 1963, Ford Foundation, reel 2574.<br />
109 Lazarsfeld Memorandum: Terminal Suggestions Regarding the Viennese Ford Center,<br />
July 5, 1963. Abschließend schlägt Lazarsfeld Stone vor, ” you as a professional and I as an<br />
amateur historian“ sollten sich zusammensetzen und ” describe the different phases through<br />
which this project went“.<br />
110 Burkhardt an Stone, 7. Juli 1964, Ford Foundation, reel 2574.<br />
ÖZG 11.2000.1 169
view“ vertreten sollte, auf Ablehnung stoßen. Da half es ihm auch nicht, daß<br />
er nach Meinung Burkhardts im Vergleich mit Sagoroff der fähigere Mann war,<br />
der im Verein mit Frau Pawloff, mit der er sich gut verstehe, aus Sagoroff<br />
” micemeat“ machen könnte. Offene Konkurrenz zwischen dem Direktor und<br />
seinem Stellvertreter stand nicht am Spielplan. Und offene Hemdkragen auch<br />
nicht. Während Burckhardt Kozliks Stil, nie Krawatten zu tragen, erwähnt,<br />
um dessen Habitus zu charakterisieren, erblickten andere darin ein Zeichen intellektueller<br />
Minderbemittelheit. Der Schweizer Nationalökonom Edgar Salin,<br />
der in Heidelberg im elitären George-Zirkel groß geworden war, beklagt sich<br />
in einem Schreiben an Oskar Morgenstern bitterlich über einen Mann, dessen<br />
Namen er nicht einmal hinschreiben wollte:<br />
Daß der zweite Mann, mit dem Sagoroff sich auch gar nicht vertragen hat, demnächst<br />
abgeht, hörte ich durch Stone. Dies scheint mir ganz unerläßlich und darf nicht durch<br />
irgendwelche politischen Eingriffe rückgängig gemacht werden. Er besitzt zwar beträchtliche<br />
Einzelkenntnisse; es fehlt ihm aber jedes Verständnis <strong>für</strong> geistige Zusammenhänge,<br />
und er legt offensichtlich Wert darauf, den Proleten zu spielen. Beim Diner<br />
des Außenministers erschien er in einem Flanellhemd mit offenem Kragen. Das ist ein<br />
Protest-Stil, der vor 1914 Sinn hatte, zwischen den Weltkriegen eventuell noch begreiflich<br />
war, aber heute die innere und äußere Unsicherheit des Trägers in peinlicher<br />
Weise verrät. 111<br />
Zur Charakterisierung des Klimas – und vermutlich auch jener ” <strong>österreichische</strong>n<br />
Werte“, die Drimmel von Anfang an in Gefahr sah – eignet sich eine<br />
andere Episode, die Burkhardt berichtet. In einer Kuratoriumssitzung im Juni<br />
1964 unterbreitete nahezu jedes Mitglied ein Vorhaben, das ihm wahrscheinlich<br />
nicht persönlich am Herzen lag, das aber von jemanden herangetragen worden<br />
sein mußte, dem man das nicht abschlagen wollte oder konnte. Kreisky wollte<br />
Friedrich Hacker, dessen sozialwissenschaftliche Kompetenz Lazarsfeld nun<br />
in Zweifel zog, als Vortragenden, weil er auch in der Diplomatischen Akademie<br />
unterrichten sollte, die aber die Reisekosten nicht tragen könne. Kamitz<br />
protegierte eine Woche philosophisch-theologischer Vorlesungen und Diskussionen;<br />
ein <strong>Wien</strong>er Theologieprofessor wolle das, und an der <strong>Universität</strong> werde<br />
gegenüber dem IHS bereits der Vorwurf laut, atheistisch zu sein; deswegen<br />
müsse man zeigen, daß das IHS an spirituellen Fragen interessiert sei. ” Drimmel,<br />
Kamitz and Kreisky were for it – Kreisky if the agnostic position was<br />
represented!“ Burkhardts Hinweis, das habe schlicht nichts mit den Ausbildungszielen<br />
des Instituts zu tun, wurde beiseite geschoben. ” The point is that<br />
this project had been rejected by Sagoroff when it was put to him by Professor<br />
Gabriel of the University. Gabriel then went to Kamitz.“ 112<br />
111 Edgar Salin an Oskar Morgenstern, 16. Oktober 1964, Ford Foundation, reel 2845.<br />
112 Burkhardt an Stone, 7. July 1964, Ford Foundation, reel 2574.<br />
170 ÖZG 11.2000.1
Bei der Auswahl des Nachfolgers von Kozlik spielte – jedenfalls soweit die<br />
Akten der Ford Foundation darüber Auskunft geben – der Krawattenzwang<br />
keine, die Frage der politischen Haltung allerdings die bestimmende Rolle. Ein<br />
<strong>Wien</strong>er Rechtsanwalt, der als Vertrauter Olahs ins Kuratorium nominiert wurde,<br />
schlug vergeblich ” one Marz – an old-time radical socialist party man, not<br />
a scholar“ 113 vor, während Lazarsfeld einen seiner ehemaligen Studenten (oder<br />
Teilnehmer einer der Ferienkolonien der sozialistischen Studenten ) ausfindig<br />
machte: Fritz Kolb konnte das Kriterium ” a scholar“ zu sein nicht erfüllen, aber<br />
er scheint nirgendwo auf starken Widerstand gestoßen zu sein. 114<br />
Trotz des organisatorischen Chaos funktioniert im ersten Jahr zumindest<br />
die Einladung von Gastprofessoren. Von den vielen Ex-Österreichern, die in<br />
den Jahren vor der Eröffnung des IHS ihr Interesse bekundet hatten oder vorgeschlagen<br />
worden waren, blieben nicht viele übrig. Die Liste der Gastprofessoren<br />
war dennoch außerordentlich beeindruckend: James Coleman, Wassily<br />
Leontieff, Karl Menger, Adolf Sturmthal und Gerhard Tintner waren im ersten<br />
Jahr am IHS tätig. Zufrieden waren die ausländischen Gastprofessoren selten,<br />
aber nur Coleman ergriff die Initiative und schrieb einen dreiseitigen Brief über<br />
seine Erfahrungen an ” To whom it may concern“, da er nicht wisse, wer in der<br />
Ford Foundation oder sonst wo eigentlich <strong>für</strong> das <strong>Wien</strong>er Institut zuständig<br />
sei. Zwar habe er zugesagt, auch im folgenden Jahr nach <strong>Wien</strong> zu kommen,<br />
wenn sich allerdings die Bedingungen dort nicht grundlegend änderten, wäre<br />
das reine Zeitverschwendung. Coleman listet die Mängel dann im einzelnen<br />
auf. Der Proporz sei vielleicht im Kuratorium und bei den beiden Direktoren<br />
noch hinzunehmen, daß allerdings auch die Assistenten nach Parteizugehörigkeit<br />
ausgewählt würden, habe ernste Konsequenzen <strong>für</strong> das Funktionieren des<br />
Instituts. Weil die Assistenten obendrein derart gut bezahlt würden, daß sie<br />
mehr verdienten als <strong>Universität</strong>sprofessoren, könnten die Direktoren, die jeder<br />
die Hälfte der Assistenten auswählen dürften, keine zu jungen Leute nominieren.<br />
Deshalb säßen Vierzigjährige – Alterskollegen Colemans 115 – am Institut<br />
herum und gingen gleichzeitig anderen Berufen nach, die mit Sozialforschung<br />
nichts zu tun hätten. Die einzige Aufgabe der Assistenten bestünde darin, bei<br />
den Vorlesungen der Gastprofessoren anwesend zu sein, worüber Anwesenheitslisten<br />
geführt würden. Bei der Einstellung sei jedem Assistenten von Sagoroff,<br />
113 Eduard März (1908–1987), Studium der Nationalökonomie in <strong>Wien</strong> und nach der Emigration<br />
in Harvard, unter anderem bei Schumpeter, 1953 Rückkehr nach <strong>Wien</strong>, wo er 1956<br />
die Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung der <strong>Wien</strong>er Arbeiterkammer aufbaute. Habilitationsversuche<br />
an der <strong>Wien</strong>er <strong>Universität</strong> scheiterten an seinen marxistischen Auffassungen.<br />
114 Fritz Kolb geht in seinen Erinnerungen nicht auf seine Tätigkeit am IHS ein: Es kam<br />
ganz anders. Betrachtungen eines alt gewordenen Sozialisten, <strong>Wien</strong> 1981.<br />
115 James S. Coleman (1926–1995) studierte an der Columbia <strong>Universität</strong> und arbeitete<br />
am dortigen ’ Bureau of Applied Social Research‘, ab 1959 war er an der Johns Hopkins<br />
<strong>Universität</strong> und ab 1973 an der <strong>Universität</strong> Chicago tätig.<br />
ÖZG 11.2000.1 171
der ” absolutely incompetent to administer such an institute“ sei, abverlangt<br />
worden, ein Buch zu schreiben. Deren Themen stünden manchmal mit vergangenen<br />
Tätigkeiten oder Interessen der Assistenten in Verbindung, in keinem<br />
Fall jedoch mit dem, was die Gastprofessoren vortragen würden.<br />
As a consequence, the guest lecturers found themselves lecturing to people who had<br />
no intellectual reason to be there, and quickly found themselves wondering what in<br />
the world they were doing there. (...) In short one could say that the Institute operates<br />
in a vacuum, and is held together only by the fact that for the assistants it provides<br />
more income than they will ever make again, and for the guest professors a pleasant<br />
stay in Vienna.<br />
Coleman, der an der Columbia University bei Merton und Lazarsfeld studiert<br />
hatte, sparte nicht mit Kritik an den ursprünglichen Plänen, durch die Institutsgründung<br />
die vergangene kulturelle Blüte <strong>Wien</strong>s wiederherzustellen. Mit einer<br />
” outspokenness“, die der Kozliks nicht nachstand, zertrümmerte er die Grün-<br />
dungsidee seines Lehrers Lazarsfelds: ” An ’ Institute for Advanced Study ’ covering<br />
only Austria is wholly inappropriate; that is like an Institute for Advanced<br />
Study for the state of Tennessee.“ 116 Seine Kritik brachte Coleman<br />
einen neuen Job ein. 117 Wenige Tage nach Einlangen des Briefes lud Stone<br />
Lazarsfeld, Morgenstern, Burkhardt und Coleman zu sich nach Hause ein und<br />
nach Diskussion des Briefes schlug Stone vor, daß Coleman als Konsulent der<br />
Ford Foundation nach <strong>Wien</strong> fahren solle, um Sagoroff zu helfen, ” firm curriculum<br />
and administrative plans for the future“ auszuarbeiten. Im Oktober<br />
1964 verbrachte Coleman eine Woche in <strong>Wien</strong>, worüber er akribisch berichtet.<br />
Am ersten Tag stand eine Besichtigung des Gebäudes auf dem Programm.<br />
Die 29 Studenten hätten, obwohl genug Platz vorhanden sei, weder eigene Arbeitsräume<br />
noch Schreibtische. Die ungefähr 29 Assistenten, die Zahl lasse sich<br />
wegen Halb- und Viertelbeschäftigten nicht genau angeben, hätten Arbeitszimmer,<br />
benützten sie aber nicht. Während seines gesamten Aufenthalts sei das<br />
Gebäude leer gewesen. Ein Treffen Colemans mit den Assistenten konnte erst<br />
nach fünf Uhr nachmittags anberaumt werden, weil einige Assistenten anderen<br />
Vollzeitbeschäftigungen nachgingen. Einer sei in Afrika, zwei andere schon in<br />
Deutschland Professoren – alle aber bezögen weiter ihr <strong>für</strong>stliches Gehalt. Direktor<br />
Sagoroff sei ein netter Mensch, der zu allem, was Coleman vorschlage,<br />
ja sage, aber funktionieren würde immer noch nichts. Die Bibliothek habe fast<br />
keine Bücher, und das Gebäude werde um acht Uhr abends zugesperrt. Am Wo-<br />
116 Coleman an Ford Foundation, 10. September 1964, Ford Foundation, reel 2845.<br />
117 Coleman leitete zu dieser Zeit die Erhebung, die als ’ Coleman Report‘ in die Geschichte<br />
der Soziologie und der amerikanischen Debatte über organisatorische Maßnahmen zur Reduktion<br />
der Ungleichheit zwischen Schwarzen und Weißen im Bildungswesen einging, vgl.<br />
Morton Hunt, Profiles of Social Sesearch. The Scientific Study of Human Interactions, New<br />
York 1985.<br />
172 ÖZG 11.2000.1
chenende hätte sich nicht einmal der Direktor mit ihm dort treffen können. Die<br />
Generalsekretärin sitze ohne Arbeit herum, weil ihr Sagoroff offenkundig mißtraue.<br />
In ihrem Umgang mit den zahlreichen Sekretärinnen und Mitarbeitern<br />
demonstriere sie wiederum alle Stereotype einer ” upper class Austrian.“ Der<br />
beigeordnete Direktor Kozlik sei zwar zurückgetreten, als Gastprofessor aber<br />
immer noch am Institut – seine Forschungen über soziale Schichtung und höhere<br />
Bildung in Österreich fand Coleman übrigens interessant. Über die Assistenten<br />
weiß Coleman nahezu nur Negatives zu berichten. Die Mehrheit sei, falls überhaupt<br />
fachlich qualifiziert, von minderer Qualität, die meisten allerdings garantiert<br />
falsch am Platz. Einige bezögen Gehälter vom IHS, obwohl sie eigentlich<br />
an der <strong>Universität</strong> beschäftigt seien, andere, die ein persönliches Interesse am<br />
neuen Institut hätten, fänden keinerlei Unterstützung in ihrem Bemühen, sich<br />
zu qualifizieren. Nach einem längeren Gespräch mit einer von den Sozialisten<br />
protegierten Assistentin <strong>für</strong> Soziologie ist Coleman von ihrem Bemühen und Interesse<br />
ernsthaft überzeugt, aber ” she is a sociologist insofar as she is anything<br />
academic, and she is a well-informed intelligent woman, but she is a sociologist<br />
in the sense that all socialist intellectuals are sociologists, not in a sense that<br />
would equip her to train a new generation of sociologists.“ Forschung fände<br />
am Institut faktisch keine statt. Einige Assistenten schrieben Habilitationen,<br />
andere würden an Projekten ihrer <strong>Universität</strong>sinstitute arbeiten, wodurch wenigstens<br />
irgendein Nutzen des Instituts entstünde. Sagoroffs und Rosenmayrs<br />
<strong>Universität</strong>sinstitute seien die eigentlichen Nutznießer des Ford-Instituts, und<br />
vielleicht wäre es nicht schlecht, Rosenmayr formell in das Institut zu integrieren,<br />
wäre er doch dann genötigt, auch die Interessen des IHS zu vertreten. Auf<br />
diesem Weg könnte man den ” einzigen modernen Soziologen Österreichs“ gewinnen.<br />
Am vielversprechendsten erscheinen Coleman einige der jungen Scholaren,<br />
die allerdings ihre Ausbildung selbst in die Hand nähmen oder sie offenbar<br />
anderswo erworben hätten. 118<br />
Zurück in den USA, schreibt Coleman umgehend an Stone und schickt<br />
ihm nicht nur die Chronik, sondern auch zehn Empfehlungen <strong>für</strong> ihm notwendig<br />
erscheinende Änderungen. Das Kuratorium des IHS müsse einer klaren<br />
Kompetenztrennung zwischen den beiden Direktoren zustimmen. Die finanziellen<br />
Zuwendungen sollten so lange ausgesetzt werden, bis das Institut eine<br />
funktionierende Einrichtung geworden sei. Die Zahl der ausländischen Scholaren<br />
und Assistenten müsse erhöht und ihr Anteil fixiert werden, Gehälter an<br />
nicht am Institut Tätige dürften nicht mehr bezahlt werden. Für Soziologie,<br />
Ökonomie und Politologie sollte je ein ” department chairman“ ernannt werden.<br />
Mit Hilfe des wissenschaftlichen Beirates müsse rasch ein funktionierendes<br />
System von einführenden Lehrveranstaltungen, die von Assistenten abgehalten<br />
118 Coleman, Notes on Institute for Advanced Study from trip of October 22–26, 1964, Ford<br />
Foundation, reel 2845.<br />
ÖZG 11.2000.1 173
werden sollten, von gemeinsamen Seminaren und darauf besser abgestimmten<br />
Lehrangeboten der Gastprofessoren entwickelt werden. 119<br />
Noch während Colemans <strong>Wien</strong>er Aufenthalt verließ Kozlik endgültig das<br />
Institut und starb am 2. November 1964 auf der Reise nach Mexiko in Paris<br />
an Herzversagen. Im Mai 1965 entließ das Kuratorium Sagoroff mit goldenem<br />
Handschlag: Er erhielt bis Jahresende sein Gehalt weiterbezahlt. Interimistisch<br />
übernahm zuerst der ab Jänner 1965 im Amt befindliche beigeordnete Direktor<br />
Fritz Kolb die Leitung, der Ende 1966 das IHS verließ. Mehrere Nachfolger<br />
wechselten einander rasch ab. Von September 1965 an leitete Morgenstern ein<br />
Jahr lang das Institut. Walter Toman übernahm interimistisch die Leitung, zog<br />
es dann jedoch vor, eine Professur in Erlangen anzutreten. Schließlich wurde<br />
Ernst Florian Winter, der dem Institut von Beginn an als Assistent angehört<br />
hatte, zum Direktor ernannt; 1968 wurde auch er mit goldenem Handschlag<br />
verabschiedet. Erst mit der anschließenden Ernennung des Statistikers Gerhart<br />
Bruckmann 120 gelang es, den ursprünglichen Ideen der amerikanischen<br />
Gründer, Finanziers und Ratgeber wenigstens nahegekommen. 121<br />
Die Ford Foundation sandte, beginnend 1963, über sechs Jahre hinweg<br />
jährlich eine Viertel Million Dollar nach <strong>Wien</strong>. Von der <strong>österreichische</strong>n Bundesregierung<br />
hieß es, daß sie dem Institut jährlich drei Millionen Schilling zur<br />
Verfügung stellte, was etwa der Hälfte des Jahreszuschusses der Ford Foundation<br />
entsprach. Die Stadt <strong>Wien</strong> beteiligte sich durch die Überlassung des<br />
119 Coleman Recommendations und Brief an Stone, 2. November 1964, Ford Foundation,<br />
reel 2845.<br />
120 Geb. 1932, studierte Bauingenieurwesen an der Technischen <strong>Universität</strong> Graz 1949–1951,<br />
Volkswirtschaft am Antioch College, USA 1951–1952, der Versicherungsmathematik an der<br />
Technischen <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> (Staatsprüfung) 1952–1953, Mathematik, Physik, Statistik an<br />
der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> 1953–1955, Versicherungswissenschaften und Statistik an der <strong>Universität</strong><br />
Rom (Dr. phil.) 1955–1956; Habilitation aus Statistik an der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> 1966,<br />
Referent <strong>für</strong> Statistik an der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft 1957–1967, ordentlicher<br />
Professor an der <strong>Universität</strong> Linz 1967–1968, ordentlicher Professor an der <strong>Universität</strong><br />
<strong>Wien</strong> 1968–1992, Direktor des Instituts <strong>für</strong> Höhere Studien <strong>Wien</strong> 1968–1973. Später Abgeordneter<br />
der ÖVP; http://www.parlinkom.gv.at/, 14. Februar 2000.<br />
121 Daß auch diese Ernennung nicht ohne Kalamitäten abging, versteht sich angesichts des<br />
bisher Gesagten fast von selbst. Allerdings hatte zu diesem Zeitpunkt die SPÖ wegen des<br />
Ausscheidens aus der Bundesregierung eine deutlich schwächere Position, aber immer noch<br />
ein Wort mitzureden. Das änderte sich nach 1970, aber die ÖVP wurde danach ebenso wenig<br />
übergangen wie die SPÖ während der Alleinregierung der ÖVP. Man wird es kaum glauben,<br />
aber auch die Katholische Kirche spielte eine Rolle als Interventionspartei: Im September<br />
1968 erhielt Morgenstern in Princeton einen ’ collect call‘ eines ehemaligen Scholars des IHS,<br />
der in der Zwischenzeit zwar als Dozent an der Theologischen Fakultät wegen seiner offenen<br />
Kritik an einer Enzyklika des Papstes in Schwierigkeiten geraten war, aber immer noch<br />
vom <strong>Wien</strong>er Erzbischof unterstützt wurde. Er erkundigte sich bei Morgenstern auf dessen<br />
Rechnung danach, ob er Direktor des IHS werden könnte, was Morgernstern und andere<br />
später nur wegen seiner kontroversiellen Rolle in der Öffentlichkeit <strong>für</strong> unangebracht hielten.<br />
Ford Foundation, reel 2845.<br />
174 ÖZG 11.2000.1
Gebäudes in der Stumpergasse. Die jährliche Zuwendung der Ford Foundation<br />
entsprach dem Gegenwert von sechzig Jahresstipendien der Rockefeller<br />
Foundation dieser Zeit! Das Geld wurde in <strong>Wien</strong> mit vollen Händen ausgegeben,<br />
anfangs <strong>für</strong> exorbitante Gehälter, später <strong>für</strong> den Aufbau einer Bibliothek,<br />
schließlich durch den Ankauf eines leistungsfähigen IBM Computers. Aber es<br />
blieb immer noch Geld übrig, also legte man es in gut <strong>österreichische</strong>r Manier<br />
auf ein Sparbuch, auf dem sich in flagrantem Widerspruch zu den Vorschriften<br />
und Ideen der Geldgeber bis 1968 der Gegenwert von eineinhalb Jahreszuwendungen<br />
der Ford Foundation angesammelt hatte, ohne daß diese davon<br />
informiert worden wäre. Als Mitarbeiter in New York diesen Skandal entdeckten<br />
und die umgehende Rückzahlung verlangten, verstanden die Österreicher<br />
dieses Ansinnen nicht. Man einigte sich dann darauf, daß das IHS in der Folge<br />
insgesamt 100.000 Dollar weniger als die geplanten 1,5 Millionen Dollar erhielt.<br />
Überhaupt scheint den Österreichern ihr Verhalten selten unangemessen erschienen<br />
zu sein. Meist traten sie den amerikanischen Geldgebern gegenüber<br />
recht selbstbewußt und fordernd auf. Selbstlob ersetzte dabei die Lieferung<br />
überprüfbarer Daten. Im 1966 gestellten Verlängerungsantrag hieß es:<br />
In evaluating the achievements of the Institute it should be further born in mind that<br />
the effects of teaching and research are always diffuse – spread over time and persons.<br />
There is no clear ’ pay off‘ for any institution of higher learning, especially in the short<br />
run. If one had asked for example after 4 years what the achievements were of the<br />
Institute for Advanced Study in Princeton, it would have been exceedingly difficult<br />
to give a decisive answer other than to state that a number of excellent scholars<br />
had been assembled. At the Vienna Institute this too has been done under far more<br />
difficult conditions and with many more constraints, and the consequences will not<br />
fail to make themselves felt. 122<br />
Weniger als ein halbes Jahr nach der Nationalratswahl, die zur Alleinregierung<br />
der ÖVP führen sollte, beantragten im Proporz einträchtig verbunden die beiden<br />
Vorsitzenden des Kuratoriums, Wolfgang Schmitz und Bruno Kreisky, bei<br />
der Ford Foundation eine Verlängerung der Förderung. Dem Antrag, dem zu<br />
entnehmen war, daß seit der Eröffnung vor drei Jahren 73 Gastprofessoren,<br />
33 Assistenten und 50 Scholaren tätig waren und daß Ende 1966 die ersten<br />
40 Absolventen zu verzeichnen sein würden (was eine Lehrer-Schüler-Relation<br />
paradiesischer Dimension bedeutet), lagen Empfehlungsschreiben von Bundeskanzlers<br />
Josef Klaus, eines Vertreters der Handelskammer, des Leiters des Wirtschaftsforschungsinstituts<br />
und eines des <strong>Wien</strong>er Erzbischofs Franz König bei,<br />
der erklärte, daß ihn Dozent Adolf Holl über die Arbeit des IHS informiert<br />
habe und er diese Arbeit begrüße und unterstütze.<br />
122 Wolfgang Schmitz und Bruno Kreisky an Ford Foundation, 27. Juli 1966, Ford Foundation,<br />
reel 2845.<br />
ÖZG 11.2000.1 175
IV.<br />
Die Schilderung der Vorgeschichte und der ersten Jahre des IHS hätte ohne<br />
Schwierigkeiten noch mit weiteren Details ausgeschmückt werden können.<br />
Ebensogut hätte ich mich aber auch mit der Wiedergabe der drei Seiten langen<br />
” Final Evaluation“ Peter de Janosis begnügen können, aus der das diesem Text<br />
vorangestellte Motto stammt. Aber vermutlich hätte den harschen Urteilen des<br />
Mannes aus dem Ausland kein <strong>österreichische</strong>r Leser und keine heimische Leserin<br />
Glauben schenken wollen. 123<br />
Ich will mich abschließend in gebotener Kürze der Frage zuwenden, wie<br />
diese <strong>Wien</strong>er Episode erklärt werden könnte. Offenkundig wurden in der Ford<br />
Foundation schwere Fehler gemacht, aber diese Seite will ich hier undiskutiert<br />
lassen und mich ganz auf die <strong>österreichische</strong>n Anteile an diesem Desaster konzentrieren.<br />
Mit anderen Worten geht es darum, die Debatte über die kreativen<br />
Anfangsjahre des eben zu Ende gegangenene Jahrhunderts auf eine über den<br />
anschließenden Niedergang auszuweiten.<br />
Will man das geistige Leben Österreichs in der zweiten Hälfte des zwanzigsten<br />
Jahrhunderts erklären, muß man zuerst und vor allem die völlige Unterordnung<br />
aller Teile des öffentlichen Lebens unter die Oberaufsicht der beiden<br />
Parteien nennen. Die Etiketten, mit denen dieses Phänomen im Allgemeinen<br />
bezeichnet wird: Proporz und Korporatismus, helfen wenig, wenn man herausarbeiten<br />
will, welche Auswirkungen es auf das intellektuelle Leben hatte.<br />
Die zwei wichtigsten und <strong>für</strong> die Wissenschaften folgenreichen Ausprägungen<br />
des Proporzsystems sind das wechselseitige Kontrollbedürfnis der Nachfolgeparteien<br />
des Bürgerkriegs der dreißiger Jahre und die Zentralisierung dieser<br />
Kontrolle in den Händen der Mitglieder der Spitze der politischen Elite. Beides<br />
führt unmittelbar zur Erstarrung des sozialen Lebens, da jede Art von Initiative<br />
als Bedrohung des fragilen Gleichgewichts des Mißtrauens betrachtet<br />
wurde. Die Zentralisierung aller Entscheidungen bei einer Handvoll von Akteuren<br />
beider Seiten hat Langsamkeit und Degradierung der minderen Mitglieder<br />
der politischen Elite zur Folge. Verlangsamt werden alle Vorgänge, weil die fehlende<br />
Arbeitsteilung unter einer größeren Zahl von politischen Akteuren und<br />
die Weigerung der Überantwortung eines Teils des sozialen Lebens an andere<br />
als professionelle Politiker zur Überforderung der wenigen echten Machthaber<br />
führen muß. Das Gefühl der Machtlosigkeit muß sich dann wohl bei all jenen<br />
einstellen, die zwar nominell in irgendeinem Gremium sitzen, aber wissen, daß<br />
sie ohne Rücksprache mit den Mächtigsten der politischen Oligarchie nichts<br />
123 In analoger Weise hatte de Janosi schon 1973 versucht, seinen amerikanischen Lesern das<br />
<strong>Wien</strong>er Desaster verständlich zu machen. Er griff dazu auf einen Vergleich von Martin Shubik<br />
zurück, der über das <strong>Wien</strong>er Institut gesagt hatte: ” this place is to the Ford Foundation as<br />
Viet Nam is to the U.S.“ Final Evaluation, September 10, 1973, Ford Foundation, reel 2845.<br />
176 ÖZG 11.2000.1
entscheiden dürfen. Aber erst die Kombination der beiden Mechanismen hat<br />
fatale Folgen. Der bloße Umstand, daß in allen Organisationen auf allen Ebenen<br />
Personen tätig sind, die entweder der Partei A oder B angehören, ist auch<br />
im internationalen Vergleich noch nicht ungewöhnlich. Wenn allerdings diese<br />
vielen nur jene Entscheidungen treffen dürfen, zu denen sie von allerhöchster<br />
Ebene ermächtig worden sind, dann tritt eine Blockade gegen Veränderung auf.<br />
An die Seite der strukturellen Versteinerung tritt der Mangel an Personen,<br />
die gewillt oder in der Lage gewesen wären, etwas Neues zu wagen. Die archivierten<br />
Akten der Rockefeller Foundation enthalten eine große Zahl von Fällen,<br />
wo die Stiftung bereit gewesen wäre, Österreichs Sozialwissenschaftlern nach<br />
1945 Geld zu geben und, verkürzt gesprochen, die Österreicher unfähig waren,<br />
dieses in Empfang zu nehmen und damit etwas anzufangen. Die vergebliche<br />
Suche nach einem fähigen Direktor <strong>für</strong> das IHS verweist damit auf den breiteren<br />
Kontext des Zustands der Sozialwissenschaften im Nachkriegsösterreich<br />
im Allgemeinen. Um den Personalmangel 124 zu erklären, verweisen die meisten<br />
Autoren auf die Vertreibung und Ermordung der Juden, die eine Lücke<br />
gerissen hätten. Dieses Bild scheint mir irreführend zu sein. Weder im Bewußtein<br />
der Nachgeborenen der ersten Generationen noch im faktischen Sinne<br />
existierte diese Lücke. Die Mehrheit der Flüchtlinge, die später im Ausland<br />
sozialwissenschaftlich arbeiten sollten, ging aus Österreich weg, ohne eine Stelle<br />
freizumachen, die jemand anderer einnehmen hätte können. Ihre Emigration<br />
eröffnete daher <strong>für</strong> andere kaum Möglichkeiten, in eine Lücke einzuströmen und<br />
dort eine nicht-jüdische Intellektuellensubkultur auszuformen. Bei jenen, die in<br />
der hier betrachteten Periode der Zweiten Republik sozialwissenschaftlich eine<br />
Rolle spielten, gab es weder ein Bewußtsein einer ausfüllbaren Lücke noch eines<br />
einer nicht mehr wieder gut zu machenden Vertreibung.<br />
In Österreich traten Personen mit einem Interesse an Fragen des Sozialen –<br />
sieht man von Teilen des Klerus ab – erst im Zuge der Expansion des tertiären<br />
Bildungswesens und des parallelen Kulturimports von Rock’n’Roll und Gesellschaftstheorie<br />
auf. Nur vier Jahre nach dem krawattenlosen Rebellen Kozlik<br />
rumorte es auch unter den Scholaren des IHS – aber sie beriefen sich nicht auf<br />
ihren autochtonen Vorgänger, sondern auf die Importwaren Kritische Theorie,<br />
Konflikttheorie und reflexive Soziologie. Erst die Ausweitung des teritären<br />
Bildungswesens, die nicht in Österreich erfunden wurde, sondern ein weiteres<br />
Importgut – diesfalls aus den UNESCO und OECD Warenhäusern – darstellt,<br />
schuf sozialwissenschaftliche Studiengänge und erhöhte die Zahl der <strong>Universität</strong>sabsolventen.<br />
So lange dieser Prozeß nicht in Gang gekommen war, also<br />
124 Es gibt viele Indikatoren, die das zu illustrieren vermögen; erinnert sei hier nur an die<br />
Schwierigkeit Lazarsfelds, <strong>österreichische</strong> Studenten <strong>für</strong> ein Stipendium in den USA zu finden.<br />
Ich habe das am Beispiel der Rockefeller Fellows illustriert, vgl. Christian Fleck, Deutschsprachige<br />
sozialwissenschaftliche Rockefeller Fellows 1924–1964, in: Newsletter des Archivs<br />
<strong>für</strong> die Geschichte der Soziologie in Österreich, H. 17, Juni 1998, 3–10.<br />
ÖZG 11.2000.1 177
vor den sechziger Jahren, 125 hatte die Schicht der Intellektuellen über mehrere<br />
Jahrzehnte hinweg einen Kontraktionsprozeß durchlaufen, der die Zahl derer,<br />
die als Kommunikationspartner in Frage gekommen wäre, auf eine derart geringe<br />
Zahl reduzierte, daß die ’ kritische Menge ’ <strong>für</strong> Initiativen, Organisationen<br />
oder Forschungszusammenhänge jedenfalls nie erreicht wurde. Eine detaillierte<br />
Analyse würden zeigen können, daß was hier pauschal behauptet wurde,<br />
vor allem <strong>für</strong> Soziologie und Politologie gilt, während in anderen Disziplinen<br />
diskursive Rudimente den epochalen Zivilisationsbruchs überlebten; die Nachkriegspsychologen<br />
und -ökonomen wußten immerhin noch, daß es in ihren Disziplinen<br />
früher bemerkenswerte einheimische Leistungen gegeben hatte, <strong>für</strong> die<br />
zuerst genannten Fächer wird man ein derartiges Bewusstsein in den fünfziger<br />
und frühen sechziger Jahre mit gutem Recht in Abrede stellen können.<br />
Auch die sozialmoralische Haltung der Wissenschaftler erodierte im Durchgang<br />
durch mehrere gesellschaftliche und politische Systembrüche und -wechsel.<br />
Der wichtigste Grund scheint in einem Patronagesystem zu suchen zu sein,<br />
das vollständig partikularistisch funktionierte: Im sozialen Normfall die Mitgliedschaft<br />
in einer Partei und im Feld der akademischen Betätigung die Nähe<br />
zu einem Mitglied des universitären Machtkartells, dem man sich als Gefolgsmann<br />
andient und dessen monopolistische Stellung man erben konnte, ohne<br />
zur Erbringung irgendwelcher Leistungen genötigt zu sein, die einem an einem<br />
anderen Ort einen Aufstieg eingebracht hätte. Das Fehlen fachlicher oder sozialer<br />
Kontrolle durch Peers und das dumpfe Wissen darum, daß vor nicht allzu<br />
langer Zeit auch universitäre Positionen arisiert wurden, ließ die intellektuelle<br />
Unabhängigkeit im Kern verrotten. Belohnt wurde in dem System, <strong>für</strong> das<br />
der Name des über viele Jahre hinweg <strong>für</strong> die <strong>Universität</strong>en zuständigen Ministerialbeamten<br />
und späteren Ministers Heinrich Drimmel als Synonym steht,<br />
das Bekenntnis zu diffusen <strong>österreichische</strong>n Werten und nicht die Erbringung<br />
universalistisch prüfbarer wissenschaftlicher Leistungen.<br />
Bleibt darauf hinzuweisen, daß Paul F. Lazarsfeld mehrfach dazu aufgefordert<br />
hatte, die Vorgeschichte des IHS zu analysieren, weil man daraus vielleicht<br />
etwas lernen könnte: Die einzigen, die diesem Appell folgten, waren Mitarbeiter<br />
der Ford Foundation, die herausfinden wollten, warum es zum <strong>Wien</strong>er Desaster<br />
gekommen war. Die <strong>Wien</strong>er reagierten wie auch bei anderen Aufrufen,<br />
sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen, mit der charakteristischen Mischung<br />
aus Abwehr und Vereinnahmung: zum Dreißig-Jahr-Jubiläum erschien<br />
eine Festschrift. 126<br />
125 Als einfachen Indikator kann man die Zahl der <strong>Universität</strong>sstudenten nehmen. Diese Zahl<br />
war 1956 gleich wie 1922 und steig erst in den sechziger Jahren an. Für die Identifizierung<br />
der Schicht sozialwissenschaftliche Intellektueller sind diese Indikatoren zu grob; die ersten<br />
Abvsolventen sozialwissenschaftlicher Ausbildungsgänge gab es erst Ende der sechziger Jahre.<br />
126 Bernhard Felderer, Hg., Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zwischen Theorie und<br />
Praxis. 30 Jahre Institut <strong>für</strong> Höhere Studien in <strong>Wien</strong>, Heidelberg 1993.<br />
178 ÖZG 11.2000.1
Abstracts<br />
Albert Müller: A short history of the BCL. Heinz von Foerster and the Biological<br />
Computer Laboratory, pp. 9–30.<br />
The articles presents a short outline of the history of the Biological Computer<br />
Laboratory created in 1958 as a special research unit within the Department<br />
for Electrical Engineering of the University of Illinois, Urbana. The founder of<br />
the laboratory, the Austrian-born Heinz von Foerster, part of the cyberneticsmovement<br />
of the 1940ies and 1950ies, tried to develop and to “apply” findings<br />
of the so-called Macy-group to biology with a special emphasis to problems<br />
of perception. The consequent transdisciplinary approach of the BCL led to<br />
certain conflicts with the main stream in the fields involved. Other conflicts<br />
emerged on grounds of teaching experiments undertaken since the late 1960ies.<br />
In the seventies the laboratory failed in substituting diminishing research funds<br />
from military research ressources. In the consequence, the BCL was closed.<br />
Ideas produced there had a major impact on other cognitive domains especially<br />
on the social sciences in Europe.<br />
J. Rogers Hollingsworth and Ellen Jane Hollingsworth: Radical Innovation and the<br />
Organization of Research. An Approximation, pp. 31–66.<br />
On the basis of broad empirical investigations the authors present a study of<br />
28 institutions to which major discoveries in the bio-medical sciences can be<br />
ascribed in contrast with hundred institutions doing ‘normal science’. Some<br />
factors turned out to be of major significance for the probability to come to a<br />
‘major break-through’. They include hybridity of the cognitive domains, ‘integrated’<br />
or ‘organic’ structures within an institution, a high degree of horizontal<br />
communication structures among its members and well defined goals.<br />
Jerald Hage: The Innovation of Organizations and the Organization of Innovations,<br />
pp. 67–86.<br />
The author describes the prerequesites of innovation in companies and other<br />
organizations from a comparative and trans-cultural perspective. The notion of<br />
complex division of labour turns out to be the difficult balance between differentiation<br />
and de-differentiation of the activities of the single actors involved in<br />
organizations. ‘Risk-taking strategies’ and integrated cultures of organization<br />
represent two groups of factors influencing innovation. Then, this categories<br />
ÖZG 11.2000.1 179
gained in the context of management research is applied to research institutions.<br />
Karl H. Müller: How new things emerge, pp. 87–128.<br />
The question of the emergence of the ‘new’ is not raised very often as an explicit<br />
problem. The article has two primary aims. Firstly, the notion of the new will<br />
be defined in terms of normal science and various aspects of ‘novelty’ will be<br />
introduced. In a second step four contexts of analyses are proposed. For each of<br />
these contexts sketches of explanations and models are described. This should<br />
allow a common view on the fields of knowledge, sciences, technology, and all<br />
other domains which produce new ensembles permanently<br />
Christian Fleck: How new things do not emerge. The founding of the Institute of<br />
Advanced Study in Vienna by ex-Austrians and the Ford-foundation, pp. 129–178.<br />
On the basis of recently discovered sources the author is able to rewrite the<br />
prehistory and early history of the Viennese Institut fuer Hoehere Studien as a<br />
complex story of communications decision-making and revising decisions within<br />
a small group of Austrian emigrees (among them: Friedrich von Hayek, Paul<br />
Lazarsfeld, and Oskar Morgenstern), American foundations, Austrian government<br />
officials and a group of Austrian social scientists profiting from the development.<br />
The Austrians sides in many ways apparently unable to transscend<br />
their own interest of the day produced a series of obstacles and barriers to<br />
establish this new institute. Thus, the massive impact of American money apparently<br />
produced a variety of unintended effects and consequences.<br />
180 ÖZG 11.2000.1
Ruth Beckermann<br />
Toleranz und Zeitgeschichte<br />
Am 20. Oktober 1999, noch unter dem<br />
Eindruck des Plakatgelbs in den <strong>Wien</strong>er<br />
Straßen, noch unter dem Eindruck<br />
der patriotischen Solidarisierungen und<br />
Imagetouren, der Ausflüchte und Abwiegelungen,<br />
schrieb ich auf:<br />
” Was jetzt noch fehlt, ist ein Haus der<br />
Toleranz. Bauen wir ihr ein Haus, wo wir<br />
sie besuchen können, die alte Oma. Groß<br />
soll es sein und hell; wir wollen ja lange<br />
dort verweilen, ausruhen von der bösen<br />
Gegenwart. Vor Kaffee und nach Kuchen<br />
wollen wir uns erschüttern lassen von Bildern<br />
abgemagerter KZler, Gaskammern<br />
und allem, was sonst noch bewegen und<br />
betroffen machen könnte, um dann, innerlich<br />
geläutert, auf die Straßen <strong>Wien</strong>s<br />
hinauszutreten. Aufatmen.“<br />
Jetzt lieben wir sie wieder, die vorher<br />
doch unheimlich gewordene Stadt. Jetzt<br />
lieben wir sie wieder, unsere Stadt, wo<br />
keiner mordet, nicht einmal die Straßenkehrer<br />
verhöhnt und auf die Knie gezwungen<br />
werden. Jetzt stören uns die<br />
Plakate nicht mehr. Ist doch alles halb<br />
so schlimm.<br />
Ja, bauen wir uns ein Haus der Toleranz.<br />
Nach Waldheim gab’s ein Jüdisches<br />
Museum, klein und provinziell,<br />
∗ Rede anläßlich der Enquete ’ Jenseits der<br />
Häuser. Sinn und Unsinn einer Musealisierung<br />
der Zeitgeschichte in Österreich‘,<br />
21. Jänner 2000, Institut <strong>für</strong> Zeitgeschichte,<br />
<strong>Wien</strong>.<br />
doch die Torten sind gut und den Touristen<br />
gefällt’s.<br />
Nun, bei Haider und den Seinen, muß<br />
schon was Größeres her – ein ganz großes<br />
Haus, das zufällig niemand als Büroraum<br />
begehrt. Die Lage, sie ist wichtig. Denn<br />
man muß sich zu diesem Asyl durchschlagen,<br />
an Plakatgelb vorbei, vielleicht bald<br />
wirklich schlagen. Aber so schlimm wie<br />
auf den Photos, die uns dort empfangen,<br />
wird’s nicht werden. Keine Panik.<br />
Das ist neu, das ist noch keinem eingefallen.<br />
Das ist wienerisch. Ein Holocaust-<br />
Museum zur Verharmlosung der gegenwärtigen<br />
Gemeinheit, Rohheit und<br />
Menschenverachtung. Endlich hat der<br />
Holocaust auch bei uns hier einen praktischen<br />
Nutzwert, der eine Ausstellung<br />
lohnt.<br />
Ein Haus der Toleranz. Une maison de<br />
la tolerance. Das ist ein Puff. Ein geduldetes<br />
Haus eben. Das haben inzwischen<br />
auch schon diejenigen bemerkt, die sich<br />
dieses Projekt ausdachten. Das ist peinlich<br />
und schade, würde der Name ” Haus<br />
der Toleranz“ doch gut zu den von allen<br />
vier Parteien eingebrachten Toleranzanträgen,<br />
ja aller vier, daran kann man<br />
schon die im Parlament waltende Toleranz<br />
erkennen, passen. Brauchen wir bei<br />
einem solchen Parlament überhaupt noch<br />
eine maison?<br />
Kann es sein, daß keiner weiß, daß die<br />
Begriffe Toleranz und Intoleranz Verhältnisse<br />
zwischen Ungleichrangigen bezeich-<br />
ÖZG 11.2000.1 181
nen Duldung eben. Oder soll es so sein<br />
Soll in diesem Haus die Duldung von Juden<br />
und Fremden gepredigt werden<br />
Ja, es soll so sein; inzwischen habe<br />
ich die rote ” Haus der Toleranz“-Studie 1<br />
und die schwarze ” Haus der Geschichte“-Studie<br />
2 gelesen. Toleranz, nicht Menschenrechte,<br />
Toleranz, nicht einmal Dialog,<br />
wird da gepredigt. Gepredigt wird<br />
auf jeden Fall. Aus einem Bewußtsein<br />
heraus, das nicht nur hinter die Deklaration<br />
der Menschenrechte zurückfällt, sondern<br />
hinter jenes der Kirche, der echten,<br />
katholischen, die immerhin bereits von<br />
Dialog spricht, um die Gleichrangigkeit<br />
der Glaubensgemeinschaften zu betonen.<br />
Auf Seite 25 der roten Studie wird<br />
vorgeschlagen, dieses ” Haus der Toleranz“<br />
könnte ” auch den Namen eines<br />
durch den Holocaust umgebrachten Menschen<br />
tragen“ – der Holocaust als Täter,<br />
einen muß es ja geben. ” Vorstellbar<br />
wäre“, heißt es weiter, ” etwa der Name<br />
eines Kindes, da durch einen Kindernamen<br />
das ’ Unschuldsmoment‘ der Opfer<br />
stärker in den Vordergrund gestellt<br />
würde.“ Ist der Revisionismus inzwischen<br />
soweit fortgeschritten, daß man meint,<br />
mit ermordeten Kindern, vielleicht auch<br />
noch blonden, überzeugen zu müssen, daß<br />
Auschwitz kein Straflager war Oder sassen<br />
die Verfasser nach ihren Studienreisen<br />
in die USA der Illusion auf, <strong>Wien</strong><br />
könne Hollywood werden Der Holocaust<br />
auch bei uns zu einem Produkt der Unterhaltungsindustrie,<br />
das Haider konkurrenziert.<br />
Wie in Amerika will man den Holocaust<br />
ausstellen. Will man und will man<br />
doch nicht. Auf einer der wenigen inhaltlichen<br />
Seiten der Studie heißt es: ” Zentraler<br />
inhaltlicher Punkt der Ausstellung<br />
ist der Holocaust mit seinen spezifischen<br />
zentraleuropäischen Aspekten“. Also<br />
ein Holocaust-Museum, gleich <strong>für</strong> ganz<br />
Zentraleuropa, schließlich war <strong>Wien</strong> ja<br />
einmal Residenzstadt. Nein, doch nicht,<br />
denn gleich darauf heißt es: ” Allerdings<br />
ist nicht erneut das Trauma zu illustrieren,<br />
sondern eher die Fassungslosigkeit<br />
seiner Entwicklung angesichts der aufzeigbaren<br />
Normalität jüdischen Lebens<br />
im Zentrum Europas.“ Der Holocaust als<br />
Trauma, als illustrierte Fiction. Doch ein<br />
Remake ist nicht geplant, soll das Trauma<br />
doch nicht erneut illustriert werden.<br />
Der Holocaust dient diesem Projekt<br />
durchgehend als Vorwand, ja er wird bereits<br />
im ersten Satz der Studie <strong>für</strong> die<br />
Existenzberechtigung eines ” Hauses der<br />
Toleranz“ instrumentalisiert. Der Holocaust,<br />
heißt es da, sei ” Ausgangspunkt <strong>für</strong><br />
die Bestimmung eines Hauses der Toleranz.“<br />
Also doch ein Holocaust-Museum<br />
Nein, denn wie sich gleich im nächsten<br />
Absatz zeigt, will man – vom Ausgangspunkt<br />
weg – die gesamte <strong>österreichische</strong><br />
Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts<br />
darstellen.<br />
Nicht allein aus Zeitgründen kann ich<br />
hier nur polemisch und kursorisch auf<br />
die vorliegenden Studien eingehen. Beide<br />
Machbarkeitsstudien lassen leider Vorarbeiten<br />
und Grundlagen vermissen, von<br />
denen die Diskussion erst ausgehen könnte.<br />
Damit meine ich einerseits die Reflexion<br />
des heutigen Standes der wissenschaftlichen<br />
Forschung und Diskussion zu<br />
Fragen des kollektiven Gedächtnisses, der<br />
Erinnerungskultur, der Museologie etc.<br />
Andererseits eine Reflexion der Veränderungen<br />
des <strong>österreichische</strong>n Geschichtsbildes<br />
in den letzten beiden Jahrzehnten,<br />
eine Standortbestimmung aus heutiger<br />
Sicht und erst davon abgeleitet, Vorstellungen<br />
über die Zielrichtung des jeweiligen<br />
Projekts. Die bisher geäußerte<br />
Kritik an den beiden Projekten konzentriert<br />
sich stark auf den ersten Punkt,<br />
auf die Frage nach Sinn und Unsinn einer<br />
Musealisierung von Zeitgeschichte.<br />
Ich kann die grundsätzliche Kritik vieler<br />
Kollegen an der Einrichtung von Museen<br />
nicht teilen. Es zeigt sich, daß gerade<br />
mit zunehmender Virtualisierung un-<br />
182 ÖZG 11.2000.1
serer Kommunikation, sowohl die Schaffung<br />
öffentlicher Foren der Begegnung<br />
im städtischen Raum an Bedeutung gewinnt,<br />
wie auch die persönliche Anwesenheit<br />
bei Veranstaltungen wie der heutigen,<br />
die wir rein technisch gesehen auch<br />
als Chat im Netz hätten abhalten können.<br />
Wann immer ein neues Medium entsteht,<br />
prophezeihen Studien die Verdrängung<br />
der älteren Medien, ob es sich<br />
nun um TV und Buch oder CD-Rom<br />
und Museum handelt. Und Gegenstudien,<br />
vor allem aber die Realität, beweisen,<br />
daß durch neue Entwicklungen keine Verdrängung,<br />
sondern eine Veränderung aller<br />
Kunstformen bewirkt wird. Das Kino<br />
hat das Theater nicht ersetzt, und der<br />
Fernseher nicht das Kino.<br />
Die Darstellung von Geschichte in<br />
einem Museum ist der Entwurf eines kollektiven<br />
Selbstbildes in einem bestimmten<br />
historischen Moment, nämlich dem<br />
der Eröffnung. Wobei es natürlich nicht<br />
um Objektivität gehen kann, wie sie die<br />
” Haus der Geschichte“-Studie einfordert.<br />
Man möchte dort zum Beispiel das in<br />
”<br />
den letzten zwei Jahrzehnten international<br />
in Diskussion geratene Bild Österreichs<br />
objektivieren.“ 3 )<br />
” Ein Selbstbild“, schreibt Jan Philipp<br />
Reemtsma im Katalog der Ausstellung<br />
200 Tage und ein Jahrhundert‘,<br />
’<br />
” ein Selbstbild stimmt in einem trivialen<br />
Sinn sowieso nie. Es handelt sich immer<br />
um den Ausdruck eines Bedürfnisses, wie<br />
man die Tatsachen gerne sehen möchte“. 2<br />
Andererseits sei es von nicht geringer Bedeutung,<br />
wie beschaffen das Bild ist, das<br />
einer – oder eine Generation, ein Land,<br />
eine Kultur, von sich entwirft.<br />
Damit komme ich zur zweiten, meines<br />
Erachtens nach wesentlichsten Voraussetzung<br />
jeglichen Geschichts- bzw. Erinnerungsprojekts:<br />
Der Reflexion des Wandels<br />
des <strong>österreichische</strong>n Selbstbildes und der<br />
Analyse der aktuellen Situation. Ob nun<br />
die <strong>österreichische</strong> Geschichte des zwan-<br />
zigsten Jahrhunderts ausgestellt werden<br />
soll oder die Geschichte des Holocaust,<br />
in beiden Fällen wird der Bewußtseinsstand<br />
Österreichs zu Beginn des einundzwanzigsten<br />
Jahrhunderts dokumentiert.<br />
Und genau da beginnen die Schwierigkeiten,<br />
denen die Autoren auszuweichen versuchen.<br />
Etwa vierzig Jahre lang war die<br />
Irrealisierung des Nazismus die <strong>österreichische</strong><br />
Form, mit der Vergangenheit umzugehen.<br />
Irrealisierung ist weder Vergessen<br />
noch Leugnen. Günther Anders nennt<br />
es ” eine Aktion, die in den üblichen Moralschemata<br />
nicht vorkommt.“ 3 Irrealisieren<br />
bedeutet, unmoralische Handlungsweisen<br />
mit einer Ausnahmesituation wie<br />
Krieg, Hunger, ich würde hinzufügen,<br />
auch Wahlkämpfe, zu rechtfertigen und<br />
so – wie bei Nichtbegangenem – der<br />
Notwendigkeit von Analysen und Konsequenzen<br />
zu entkommen.<br />
Auf der persönlichen, politischen und<br />
wirtschaftlichen Ebene wurde das Dritte<br />
Reich aus der Kontinuität der <strong>österreichische</strong>n<br />
Geschichte ausgeklammert. Auch<br />
Historiker, die in den 70er und achtziger<br />
Jahren heftig z. B. über die Einschätzung<br />
des Ständestaates stritten, waren sich<br />
im wesentlichen einig, wenn es um den<br />
sog. ” Kampf um Österreich“ ging, den<br />
die einen patriotisch verbrämten, die<br />
anderen antifaschistisch-patriotisch darstellten.<br />
Während in der Bundesrepublik<br />
Deutschland die Auseinandersetzung<br />
mit der Massenvernichtung der Juden im<br />
Zentrum der Beschäftigung mit der NS-<br />
Zeit stand, ging in Österreich mit der<br />
1.Republik auch die Geschichte unter, um<br />
mit Österreich II wieder aufzuerstehen.<br />
Proporz, Opferlüge und Antisemitismus<br />
hielten die Zweite Republik mehr als vierzig<br />
Jahre lang prächtig zusammen.<br />
Dann trat Kurt Waldheim auf und es<br />
wurde gelb auf den Straßen und ein Lichtstrahl<br />
fiel in die dunklen sieben Jahre.<br />
Man wird nie wirklich wissen, ob es aus<br />
Naivität oder Dummheit geschah, jeden-<br />
ÖZG 11.2000.1 183
falls hatte sich der Präsidentschaftskandidat<br />
Waldheim nicht an die gewohnte<br />
Praxis der offiziellen Opferlüge gehalten,<br />
von der die gesamte Bevölkerung wußte,<br />
daß sie ein Schmäh ist, den sie jedoch augenzwinkernd<br />
als – günstigen – Preis <strong>für</strong><br />
Wohlstand und Wohlgefühl akzeptierte.<br />
Jedenfalls war der Geist aus der Flasche.<br />
Übrigens war es nicht die FPÖ, die im<br />
Jahre 1986 Jetzt erst recht“ gelb plaka-<br />
”<br />
tierte und nicht die FPÖ, die gegen die<br />
” Ostküste“ herzog. Es waren diejenigen,<br />
die dieses Land mit Proporz, Opferlüge<br />
und Antisemitismus fest zusammenhielten.<br />
Trotzdem und gleichzeitig ging ein<br />
Aufatmen durchs Land, als sich das Bewußtsein<br />
der Kriegsgeneration‘ endlich<br />
’<br />
demaskierte. Es schien, als würde die Irrealisierung<br />
der NS-Zeit langsam der Bereitschaft<br />
weichen, sich der Tatsache zu<br />
stellen, daß die Österreicher als Kollektiv<br />
auf Seiten der Täter standen, und gleichberechtigt<br />
mit den Deutschen demütigten,<br />
raubten und mordeten; hier ums<br />
Eck und wo immer sie als pflichterfüllende<br />
Führer und Untertanen des Dritten<br />
Reichs hinkamen.<br />
Was geschah seither Einerseits gab es<br />
einen Boom an wissenschaftlicher, aber<br />
auch schulischer, medialer, öffentlicher<br />
Beschäftigung mit der NS-Zeit und mit<br />
den Spuren jüdischen Lebens in Österreich<br />
bzw. deren Auslöschung. Von den<br />
Eichmännern bis zum Kunstraub, auf<br />
vielen Gebieten wurde die <strong>österreichische</strong><br />
Täterschaft erforscht und bewiesen.<br />
Vranitzky-Rede, Einrichtung des Nationalfonds<br />
und der Historikerkommission<br />
zeigen ein zögerliches, doch tendenzielles<br />
Zugeben der Beteiligung am Massenmord<br />
und, was schwieriger ist, weil eben mit<br />
Konsequenzen verbunden, am Raub des<br />
’ jüdischen‘ Vermögens.<br />
Andererseits und parallel dazu begann<br />
der Aufstieg Haiders trotz oder wegen<br />
seiner allen bekannten Aussprüche, das<br />
Eindringen seiner Partei in alle Gesellschaftsschichten.<br />
Resultat: die Pogromstimmung<br />
des gelben Herbstes 1999 und<br />
die Regierungsbeteiligung der FPÖ.<br />
Der Erfolg einer rassistischen, mit Elementen<br />
des Nazismus spielenden Ideologie<br />
führt – wie der Erfolg Waldheims –<br />
bei einer Mehrheit der Bevölkerung nicht<br />
zu Abgrenzung und politischem Kampf,<br />
sondern zu patriotischer Solidarisierung,<br />
d. h. zur Empörung gegen das empörte<br />
” Ausland“, das sich wieder einmal einmischt.<br />
Statt Analysen hört man vor allem<br />
Verschiebungen, Ausflüchte, Moralpredigten.<br />
Erstaunlich an beiden Projektvorschlägen<br />
ist nun, wie sehr sie sich immer<br />
noch an der Opferlüge abarbeiten und<br />
wie sehr sie – jeder auf diametral andere<br />
Art – zu einer Irrealisierung bzw. Mythologisierung<br />
des Holocaust tendieren.<br />
Das Haus der Geschichte“-Projekt<br />
”<br />
entledigt sich der Problematik auf die<br />
bewährte Weise. 20 Jahre erste Repu-<br />
”<br />
blik und Ständestaat, 7 Jahre Drittes<br />
Reich und 55 Jahre 2. Republik“ lautet<br />
das Programm und jeder weiß, was gemeint<br />
ist. Nämlich: Davor war man interessant,<br />
danach war man fesch und dazwischen<br />
war man net da. Die simple<br />
propagandistische Ausrichtung des Projekts<br />
wird offen angesprochen, nämlich<br />
das Bild Österreichs im Ausland korrigieren<br />
zu wollen. Die Funktion eines solchen<br />
Hauses der Geschichte“ scheint die<br />
”<br />
eines Heimatmuseum zu sein, in dem man<br />
sich in einer unüberschaubaren, rasch<br />
verändernden Welt der eigenen Existenz<br />
und ihrer Kontinuität versichert. In Anbetracht<br />
der Umbrüche und Identitätskrisen,<br />
in denen sich Österreich seit dem<br />
Ende des Kalten Krieges und der Entstehung<br />
eines sich nach Osten ausweitenden<br />
Europa befindet, könnte meiner Ansicht<br />
nach die Diskussion eines neuen Selbstbildes<br />
anhand eines – allerdings nicht parteigebundenen<br />
und überhaupt ganz an-<br />
184 ÖZG 11.2000.1
deren – Museumsprojekts durchaus spannend<br />
sein.<br />
Das ” Haus der Toleranz“-Projekt wählt<br />
einen anderen, neuen Fluchtweg aus der<br />
Verantwortung. Nicht zurück in die alte<br />
Opferlüge, sondern hinübergewechselt zu<br />
den Opfern, was zur unreflektierten Übernahme<br />
von Ideen aus den USA und Israel<br />
führt, zu einem Sprung in die Opfer-<br />
Identität.<br />
Das ” Haus der Toleranz“-Projekt versucht<br />
einen Perspektivenwechsel. Es versucht,<br />
Inhalte und Formen, die in den<br />
Gesellschaften der Alliierten und Überlebenden<br />
möglich sind, in eine Tätergesellschaft<br />
zu übernehmen. Auf diese Weise<br />
flüchtet es vor der Auseinandersetzung<br />
mit der Täterseite, setzt also auf neue<br />
Weise die Opferlüge fort. Es wird nicht<br />
allein geleugnet und ausgeklammert, sondern<br />
man eignet sich die Opferpersepektive<br />
einfach an. Das Gegenüber wird nicht<br />
mehr benötigt. So kommt man wahrlich<br />
ohne Dialog aus.<br />
Solange man sich nicht ernsthaft mit<br />
der Tatsache auseinandersetzt, daß die<br />
Österreicher genauso demütigten, mordeten<br />
und raubten wie die Deutschen, wird<br />
man zur Verharmlosung der Jahre 1938–<br />
45 nach Amerika, Zentraleuropa oder in<br />
die Nichtexistenz flüchten müssen. Solange<br />
man die Pogromstimmung des Herbstes<br />
1999 ebenso irrealisiert wie man jede<br />
einzelne Haider-Aussage ihrer Konsequenzen<br />
beraubt, können auch die als<br />
Fremde imaginierten Anderen in diesem<br />
Land lediglich toleriert werden.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Anton Pelinka u. a., Machbarkeitsstudie<br />
<strong>für</strong> ein ” Haus der Toleranz“, <strong>Wien</strong> 1999.<br />
2 Stefan Karner u. Manfried Rauchensteiner,<br />
Haus der Geschichte der Republik Österreich<br />
(HGÖ). Machbarkeitsstudie, im Auftrag des<br />
BMUK, Graz, <strong>Wien</strong> u. Klagenfurt 1999.<br />
3 Ebd., 25.<br />
4 Jan Philipp Reemtsma, ...und 1 Jahrhun-<br />
dert; in: Hamburger Institut <strong>für</strong> Sozialforschung<br />
(Hg.), 200 Tage und 1 Jahrhundert.<br />
Gewalt und Destruktivität im Spiegel des<br />
Jahres 1945, Hamburg 1995, 58.<br />
5 Günther Anders, Die Schrift an der Wand.<br />
Tagebücher 1941–1966; München 1967, 147.<br />
ÖZG 11.2000.1 185
Götz Aly<br />
Adolf Eichmanns späte Rache<br />
Das im März vom israelischen Staatsarchiv<br />
freigegebene Eichmann-Manuskript<br />
liegt in maschinenschriftlich transskribierter<br />
Fassung vor. Sie ist bequem lesbar,<br />
enthält aber zahlreiche Schlampereien.<br />
Der ” rieg gegen Angland“ enträtselt<br />
sich leicht, ” Dr. Fledscher“ heißt Feldscher,<br />
” Gläcks“, Glücks usw.; wo das<br />
Wort ” ansiedeln“ mit kenntnisfreier Hartnäckigkeit<br />
in ” aussiedeln“ verkehrt wurde,<br />
hilft nur spezielle Quellenkunde<br />
weiter; an Freud geschulte politische<br />
Psychologie wird gebraucht, wo schon<br />
im Inhaltsverzeichnis Deportationsangelegenheiten<br />
zu ” Reparationsangelegenheiten“<br />
werden.<br />
Adolf Eichmann hatte den Text als<br />
Selbstdarstellung angelegt. Der Arbeitstitel<br />
Götzen sollte ausdrücken, daß der<br />
später eines Besseren belehrte Autor die<br />
NS-Führer lange vergottet, ihnen ” mit allen<br />
Fasern“ geglaubt hatte. Dem Autobiographen<br />
erlaubte der Titel zudem die<br />
gelegentliche, verfremdende Distanz: ” Jedes<br />
Jahr einmal, im Herbst, hielten die<br />
Götter Heerschau. Sie stiegen von ihrem<br />
Olymp herab und zeigten sich in breiter<br />
Front den Massen ...“ Oder: ” Inzwischen<br />
war ich längst zum Offizier avanciert<br />
und meine Verhaftung an die Götter war<br />
noch bindender geworden.“ Vollständig<br />
sei diese ” Verhaftung“ allerdings nie gewesen.<br />
Zum Beispiel begründete Hitler<br />
seine berühmt-berüchtigte Androhung<br />
zur ” Vernichtung der jüdischen Rasse in<br />
Europa“ mit der angeblichen Kriegstreiberei<br />
des internationalen Finanzjuden-<br />
”<br />
tums“. Nein“, ereifert sich Eichmann<br />
”<br />
über mehrere Seiten, die internationale<br />
”<br />
Hochfinanz war und ist mit das größte aller<br />
Übel; daran gibt es nichts zu rütteln.<br />
Aber hier den Tenor auf das Wort Jude‘<br />
’<br />
legen, heißt die Sachlage verkennen.“<br />
Alternativ zu Götzen erwog Eichmann<br />
den bildungsbürgerlichen Titel Gnothi<br />
”<br />
seauton“, was salopp soviel meint wie<br />
” Geh’ in dich“, pathetischer: Bedenke die<br />
Grenzen deines Menschseins. Einen noch<br />
unbestimmten Lektor bat er um gelegentliche<br />
Satzauflockerung“, damit sein<br />
”<br />
” sachlich- nüchterner<br />
’ Amtsstil‘ leichter<br />
lesbar“ würde; der Schutzumschlag<br />
sollte einfarbig in Perl- oder Tauben-<br />
”<br />
grau“ gehalten sein, die Titelei in kla-<br />
”<br />
rer, linienschöner Schrift“. (Auch wenn<br />
es geschichtspolitisch tätige Graphiker<br />
hartnäckig ignorieren, das nationalsozialistische<br />
Deutschland hatte die Frakturschrift<br />
als unmodern verpönt und in den<br />
Schulen die lateinische anstelle der deutschen<br />
Schreibschrift eingeführt.)<br />
Das überlieferte Konvolut von 676 Blättern<br />
gliedert sich in drei Teile. Teil I handelt<br />
von der Judenpolitik in Deutschland,<br />
Österreich, Böhmen und Mähren, dem<br />
annektierten und besetzten Polen, ver-<br />
”<br />
bunden damit die Stellung des Befehlsempfängers<br />
im Durcheinander mit seiner<br />
Innenschau“. Teil II befaßt sich mit<br />
” Deportationsangelegenheiten in 12 eu-<br />
186 ÖZG 11.2000.1
opäischen Ländern“. Teil III führt zum<br />
inneren Monolog nach dem Sturz des<br />
”<br />
eben noch Gültigen“. Den beiden ersten<br />
Teilen ist jeweils eine lange Liste von numerierten<br />
Beweisdokumenten angefügt,<br />
die alle in den Jerusalemer Prozeß eingebracht<br />
worden waren. Im laufenden Text<br />
verweist Eichmann auf diese gerichtsbekannten<br />
Urkunden.<br />
Der Exposition folgt die wirre, oft<br />
endlos wiederholende Durchführung, die<br />
von jeder noch so bescheiden angesetzten<br />
Druckreife weit entfernt bleibt. Gleichwohl<br />
hielt der Autor seine Arbeit am<br />
6. September 1961 <strong>für</strong> im wesentlichen<br />
abgeschlossen. Mit dem Abstand von<br />
zwei Monaten vermerkte er im November,<br />
er halte das Geschriebene nach dem<br />
abermaligen Überfliegen <strong>für</strong> gelegentlich<br />
”<br />
unvollständig“, zu leer und zu ober-<br />
”<br />
flächlich“, auch fühlte er sich durch die<br />
mögliche israelische Zensur seines Manuskripts<br />
gehemmt: Am liebsten wäre<br />
”<br />
mir, ich könnte es ausführlicher u. freundlicher<br />
neufassen.“ Es handelt sich also<br />
um einen Text, den Eichmann nicht<br />
<strong>für</strong> endgültig gehalten hat, wobei sich<br />
sein Zögern und seine späteren Veränderungen<br />
hauptsächlich aus der Furcht erklären,<br />
einzelne Sätze könnten zu seinem<br />
” Nachteil ausgelegt oder gedeutet“ werden.<br />
Einige Passagen strich er nicht nur,<br />
er machte sie unleserlich, vorzugsweise in<br />
den historisch interessanteren Partien.<br />
Wie in seinen polizeilichen und gerichtlichen<br />
Aussagen hielt sich Eichmann<br />
beim Schreiben der Götzen strikt an sein<br />
Verteidigungskonzept. Demnach hatte er<br />
sich <strong>für</strong> eine planvoll gelenkte Auswan-<br />
”<br />
derung“ der Juden aus innerer Überzeugung<br />
eingesetzt, um den Bedrängten<br />
– was verantwortungsethisch gerechtfertigt<br />
erscheinen sollte – zum kleinsten al-<br />
”<br />
ler Übel“ zu verhelfen. Die Transformation<br />
dieses teilweise realisierten Vorhabens<br />
zum Massenmord habe sich infolge<br />
der Kriegslage ergeben, befohlen von<br />
den ” Göttern und Untergöttern“. Eichmann<br />
bestreitet die Massenerschießungen,<br />
Todeslager und Gaskammern nicht.<br />
Wie im Prozeß spricht er vom ” kapitalsten<br />
Verbrechen in der Menschheitsgeschichte“,<br />
” dem größten und gewaltigsten<br />
Todestanz aller Zeiten“.<br />
Er selbst habe sich aber dabei stets<br />
korrekt verhalten und den Verfolgten die<br />
insgesamt bedrohliche Situation eher erleichtert<br />
als erschwert. Alle seine Schreibtischtaten,<br />
die zur ’ Endlösung‘ beitrugen,<br />
will Eichmann nur auf Befehl, im Zustand<br />
der ” Persönlichkeitsspaltung“ begangen<br />
haben, weil seine innere Stimme ihm zwischen<br />
” Fahneneidbruch“ und Staatsverbrechen<br />
keinen Ausweg gewiesen habe.<br />
Diese prozeßrechtlich legitime Argumentation<br />
ist in jedem Punkt unwahr. Hunderte<br />
von Dokumenten zeigen das Gegenteil:<br />
Die Lust des über seine ursprünglichen<br />
Bildungsgrenzen hinaus aufgestiegenen<br />
SD-Offiziers an der großen organisatorischen<br />
Herausforderung wie an der<br />
kleinen persönlichen Gemeinheit. Eichmann<br />
war nicht ” der Architekt des Holocaust“<br />
(eine Figur, die es ohnehin nicht<br />
gab), aber er war um praktische, vor allem<br />
praktikable Vorschläge zum Deportieren,<br />
Erschießen und Vergasen niemals<br />
verlegen. Und diese Art von extrem destruktiver<br />
Konstruktivität erwartete er<br />
von seinen nachgeordneten Mitarbeitern.<br />
Sie alle begriffen ihre Arbeit als kreative<br />
Herausforderung. Sie dachten mit, waren<br />
teamfähig, identifizierten sich mit ihrer<br />
Aufgabe – hoch motivierte Mitarbeiter.<br />
Wo es um seine eigentliche Tätigkeit<br />
geht, lügt Eichmann, verschweigt,<br />
schwindelt sich an der Wahrheit entlang,<br />
beruft sich auf Befehle oder weicht<br />
auf anekdotisches Spielmaterial aus: etwa<br />
höchst geheime Ermittlungen über die zu<br />
einem Zweiunddreißigstel getrübte Rassenreinheit<br />
der ” Diätköchin des Führers“,<br />
Fräulein Eva Braun. Seine besonders<br />
ÖZG 11.2000.1 187
langatmigen Einlassungen zur Sache, zu<br />
einzelnen, im Grunde unwichtigen Dokumenten<br />
und Interpretationen während<br />
der Beweisaufnahme, wirken wie verzweifelte<br />
Nachträge des Angeklagten <strong>für</strong> seine<br />
realen Richter, die die Beweisaufnahme<br />
zwar abgeschlossen, aber weder<br />
den Schuldspruch noch das Strafmaß<br />
verkündet hatten.<br />
Im allgemeinen ist der Text in einem<br />
berichtenden, schubweise im kitschigliterarisierenden<br />
Stil gehalten. Zum Beispiel:<br />
” Die deutschen Panzer rasselten<br />
durch Prag. Die goldene Stadt an der<br />
Moldau. ’ Slata Praha‘ wie der Ceche zu<br />
seiner Hauptstadt sagt.“ Da gleiten dann<br />
die Blicke aus verträumten Gäßchen hoch<br />
zum Veitsdome, da umweht, raunt und<br />
kündet es im gar heimeligen städtebaulichen<br />
Kleinod. Papperlapapp. Diese Methode<br />
funktioniert auch, wo es um die inneren<br />
Folgen einer Massenerschießung bei<br />
Minsk geht. Eichmann will nur als verspäteter,<br />
angewiderter Zwangszuschauer<br />
teilgenommen haben, der sich hernach die<br />
Spritzer eines Kindergehirns vom Mantelaufschlag<br />
wischen lassen mußte. Das besorgte<br />
zwar sein Fahrer, Eichmann ging<br />
es, folgt man seiner Darstellung, dennoch<br />
nicht gut: ” Ich fand keine Ordnung mehr<br />
im Wollen und Willen des Waltens.“<br />
Aber er kann auch nüchterner: ” Noch<br />
als SS-Obersturmbannführer küßte ich<br />
sehr herzlich meine halbjüdische Cousine,<br />
die mich mit meinem Vater auf<br />
meiner Dienststelle besuchte, und man<br />
brach am Abend in einer netten Weinstube<br />
in Belin einigen netten Flaschen<br />
den Hals. Und warum sollte ich meine<br />
bildhübsche zwanzigjährige halbjüdische<br />
Cousine nicht küssen, sagte ich zu meinem<br />
’ ständigen Vertreter‘, dem Sturmbannführer<br />
Günther; so was kann doch<br />
unmöglich Reichsverrat sein. Er hatte<br />
diesbezüglich strengere Auffassungen.“<br />
Selbst wenn diese Episode zurechtgeschönt<br />
sein wird, so steht doch fest, daß<br />
Eichmann keine besonderen antisemitischen<br />
Prägungen erfahren hat. Sich selbst<br />
ordnet er als durchschnittlichen Vertreter<br />
seiner Generation ein, der ” von tausend<br />
Idealen beseelt gleich vielen anderen<br />
in eine Sache hineingeschlittert“ sei,<br />
als Jungaktivisten des nationalen Aufbruchs.<br />
Zugleich sieht er sich als Passivum,<br />
” als eines von vielen Pferden in den<br />
Sielen“, die ” gemäß dem Willen und den<br />
Befehlen der Kutscher weder nach links<br />
noch nach rechts ausbrechen konnten“.<br />
Seine Neigung zur metaphorisch vielgestaltigen<br />
Umschreibung des Rädchens in<br />
dem Uhrwerk, das andere stets von neuem<br />
aufgezogen haben sollen, sind aus<br />
den publizierten Vernehmungs- und Prozeßaufzeichnungen<br />
gut bekannt, neuerdings<br />
auch aus dem Film Ein Spezialist.<br />
Solche scheinauthentischen Dokumentenfetzen,<br />
die der erklärten Verteidigungslinie<br />
eines Schreibtischmörders folgen,<br />
werden gern ins Erinnerungsangebot<br />
gerückt, weil sie ein handliches Bild vom<br />
autoritären, absolut uncoolen, und daher<br />
fernen Zwangscharakter bieten.<br />
Wo kämen wir hin, wenn einer beispielsweise<br />
so anfinge: ” Meine gefühlsmäßigen<br />
politischen Empfindungen“, so<br />
äußert sich Eichmann in seinen Götzen<br />
mehr als einmal, ” lagen links, das Sozialistische<br />
mindestens ebenso betonend<br />
wie das Nationalistische.“ Er und seine<br />
Freunde hätten während der Kampfzeit<br />
” den Nationalsozialismus und den<br />
Kommunismus der sozialistischen Sowjetrepubliken“<br />
als ” eine Art Geschwisterkinder“<br />
angesehen. Am Ende hat Willy<br />
Brandt womöglich Recht, der in einem<br />
seiner letzten, nachdenklich-befreiten Interviews<br />
zu Protokoll gab, im Grunde seien<br />
sich am Ende der Weimarer Republik<br />
die jüngeren Anhänger rechts- oder<br />
linksradikaler Parteien sehr ähnlich gewesen.<br />
Genug. Die biographische Disposition<br />
mag <strong>für</strong> die Einordnung des nationalen<br />
Sozialismus in größere Zusammenhänge<br />
188 ÖZG 11.2000.1
von Interesse sein, da<strong>für</strong> wird Eichmann<br />
allenfalls als Fußnote gebraucht. Die historischen<br />
Fragen richten sich an den<br />
Fachmann <strong>für</strong> Judendeportation und -<br />
vernichtung.<br />
Da viele einschlägige Entscheidungen<br />
ausdrücklich nur mündlich verhandelt,<br />
die meisten Schriftstücke vorsätzlich<br />
1944/45 verbrannt wurden, und die überlebenden<br />
Tatbeteiligten anschließend zur<br />
wahrheitsgemäßen Auskunft nicht bereit<br />
waren, stützt sich die gesamte Holocaust-<br />
Forschung allein auf die Fülle dokumentarischer<br />
Bruchstücke und -stückchen.<br />
Die Kunst besteht in der Verifizierung<br />
und in der plausiblen Zuordnung. Niemand<br />
hat das zentrale, <strong>für</strong> sich selbst<br />
sprechende Dokument je gefunden. Es<br />
existiert nicht. Auf dem Weg gewissenhafter<br />
Detailkunde ist es in den vergangenen<br />
Jahrzehnten jedoch gelungen,<br />
die Kenntnisse über die Vorgeschichte<br />
und den Ablauf des Mordes an den europäischen<br />
Juden stark zu verdichten.<br />
Viele Fragen konnten so geklärt und außer<br />
Streit gestellt werden.<br />
In engen Grenzen wird Eichmanns Manuskript<br />
dieser Forschung weiterhelfen.<br />
Nehmen wir zum Beispiel den 1940, nach<br />
der Niederlage Frankreichs, entwickelten<br />
Plan, alle Juden aus dem deutschen<br />
Machtbereich nach Madagaskar zu verschleppen.<br />
Eichmann behauptet im Sinne<br />
seiner Verteidigungsstrategie, er habe<br />
dieses Umsiedlungsprojekt erfunden. Unsinn,<br />
das zeigen die Dokumente eindeutig.<br />
Dann heißt es aber: ” Ich persönlich<br />
gedachte die Dinge der Insel an Ort und<br />
Stelle zu steuern. Dazu hatte ich bereits<br />
die Genehmigung meiner Vorgesetzten<br />
erwirkt. Es wäre bestimmt kein Konzentrationslager<br />
geworden. Und sieben Millionen<br />
Rinder auf der Insel waren ein beruhigender<br />
Schatz. Bis hoch in das Jahr<br />
1941 arbeitete ich an der Realisierung.“<br />
Der letzte Satz ist gelogen, weil ein von<br />
ihm unterzeichneter Vermerk <strong>für</strong> Himm-<br />
ler beweist, daß Eichmann den Madagaskarplan<br />
spätestens am 4. Dezember 1940<br />
aufgegeben hatte und wenige Wochen<br />
danach auf die Ostraumlösung“ setz-<br />
”<br />
te: auf die Deportation der europäischen<br />
Juden in die noch zu erobernden, extrem<br />
unwirtlichen nordöstlichen Zonen<br />
der Sowjetunion. Unbekannt, aber durchaus<br />
möglich ist seine Bewerbung um<br />
die Leitung des geplanten Reservats“.<br />
”<br />
Immerhin wurden im Sommer 1940 –<br />
der Achsenpartner Italien stand bereits<br />
in Somalia – in der Kanzlei Hitlers<br />
schon Namen <strong>für</strong> den Gouverneursposten<br />
in einem wiedereroberten Deutsch-<br />
Ostafrika gehandelt. Mehr noch: Obwohl<br />
es in den einschlägigen Studien (etwa<br />
bei Markus Brechtgen) übersehen wird,<br />
so sind von einigen Mitarbeitern Eichmanns<br />
just aus dieser Zeit Tropentauglichkeitsprüfungen,<br />
ja sogar entsprechende<br />
Impfungen im einstigen Nazi-Archiv<br />
Erich Mielkes überliefert. Die Herren bereiteten<br />
sich also ganz persönlich auf die<br />
” insulare Lösung der Judenfrage“ vor.<br />
Warum nicht auch Eichmann<br />
Der Madagaskar-Plan schloß den Tod<br />
von Hunderttausenden Deportierten unausgesprochen<br />
ein, war aber von der Massenvergasung<br />
noch weit entfernt. Daher<br />
ist Eichmanns Hinweis auf die sieben Millionen<br />
Rinder von Interesse. Warum diese<br />
Zahl Drei der Gutachten, die professorale<br />
Hilfsverbrecher im Rahmen des Madagaskarprojekts<br />
während der Sommermonate<br />
1940 erstellt haben, sind bekannt.<br />
Sie handeln, unterkühlt gesagt, von den<br />
räumlichen Verhältnissen der Insel, von<br />
der tatsächlichen sowie der angeblich<br />
möglichen Besiedlungsdichte und von der<br />
montanwirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit.<br />
Aus Erfahrung – und nach Eichmanns<br />
Hinweis erst recht – spricht manches<br />
da<strong>für</strong>, daß auch ein Agrarwissenschaftler<br />
an der Vorbereitung dieses geplanten<br />
Deportationsverbrechens mitgewirkt<br />
hat. Vielleicht läßt sich ein solches<br />
ÖZG 11.2000.1 189
Gutachten noch finden im Nachlaß eines<br />
berühmten und verdienten Großvaters.<br />
Wenn ja, dann würden die Kenntnisse<br />
über die Geschichte der ” Endlösung“ um<br />
ein Faktum ergänzt, an das sich möglicherweise<br />
neue Fragen anschlössen.<br />
Groteske Spekulationen haben sich in<br />
der Fachliteratur um eine Reise Eichmanns<br />
gerankt, die dieser nach einer Aussage<br />
von Rudolf Höß, des Kommandanten<br />
von Auschwitz, Anfang September<br />
1941, unternommen haben soll. Der Termin<br />
deckte sich mit der inzwischen widerlegten,<br />
vor zehn, zwanzig Jahren herrschenden<br />
Meinung, in den Tagen vor dem<br />
31. Juli 1941, ” auf dem Höhepunkt der<br />
Siegeserwartung im Krieg gegen die Sowjetunion“,<br />
sei der Mord an den europäischen<br />
Juden endgültig beschlossen<br />
worden, und eben deshalb – logisch! –<br />
sei Eichmann Anfang September nach<br />
Auschwitz gereist.<br />
Erst nach langer Zeit schoben jüngere<br />
Wissenschaftler diesen ’ Beweis‘ als unzuverlässige<br />
Aussage beiseite und datierten<br />
die Entscheidung immer weiter in<br />
Richtung Winter, auf die Niederlage vor<br />
Moskau. Dem standen die zu Anfang<br />
eher unbestimmten, schwankenden Angaben<br />
Eichmanns entgegen, die dieser in<br />
seinen ersten polizeilichen Vernehmungen<br />
gemacht hatte. Sie wurden im begrenzten<br />
Manuskriptdruck rasch publiziert und<br />
standen daher als die Eichmann-Quelle<br />
an vielen Orten zur Verfügung.<br />
Wie im Film Ein Spezialist, der<br />
die Hauptverhandlung dokumentiert, gab<br />
Eichmann hinsichtlich seiner Reisen auch<br />
in den Götzen die wahrscheinlich richtigen<br />
Daten an: Im Herbst 1941 besuchte<br />
er eine Massenerschießung in Minsk,<br />
später – vermutlich im November – das<br />
noch im Bau befindliche Vernichtungslager<br />
Belcez, die Gaswagenstation Chelmno<br />
(Kulm) nördlich von Lodz inspizierte<br />
er während des Vernichtungsbetriebs<br />
im Januar und erst danach, ” im<br />
Frühjahr 1942“, das Vernichtungszentrum<br />
Auschwitz: ” Höß, der Kommandant,<br />
sagte mir, daß er mit Blausäure<br />
töte. Runde Pappfilze waren mit diesem<br />
Giftstoff getränkt und wurden in die<br />
Räume geworfen, worin die Juden versammelt<br />
wurden. Dieses Gift wirkte sofort<br />
tötlich.“<br />
Aus den Länderkapiteln im Abschnitt II<br />
der Götzen soll hier der späte und extreme<br />
Fall Ungarn herausgegriffen werden.<br />
Es ist durchaus glaubhaft, wenn<br />
Eichmann berichtet: Sein Vorgesetzter<br />
Heinrich Müller habe ihm um den<br />
10. März 1944 herum mündlich mitgeteilt,<br />
Himmler habe ” die Evakuierung<br />
sämtlicher Juden aus Ungarn, aus strategischen<br />
Gründen von Ost nach West<br />
durchkämmend, befohlen“. Deshalb hatte<br />
sich Eichmann umgehend nach Mauthausen<br />
zu begeben und später nach Budapest,<br />
nachdem Hitler am 18. März<br />
die Besetzung des bis dahin verbündeten<br />
Landes angeordnet hatte. Eichmann<br />
organisierte mit Hilfe seines Kommandos<br />
und einer äußerst kooperativen ungarischen<br />
Gendarmerie binnen knapp acht<br />
Wochen die Deportation von 437.402<br />
jüdischen Männern, Frauen und Kindern<br />
nach Auschwitz. Solange, bis der<br />
nicht völlig entmachtete, adelige Reaktionär<br />
Horthy die Deportation der Budapester<br />
Juden wenigstens vorübergehend<br />
unterbinden konnte. Nach dem 15. Oktober<br />
1944 organisierte Eichmann dann<br />
die Fuß- und Todesmärsche eines Teils<br />
der bis dahin entronnenen Juden in Richtung<br />
<strong>Wien</strong> und Mauthausen. Totz oder<br />
wegen des schnellen Vorstoßens der Roten<br />
Armee blieb es sein erklärtes ” Endziel“,<br />
noch die völlige ” Ausräumung des<br />
ungarischen Raumes zu erreichen“.<br />
An diesem ungeheuren letzten Massenverbrechen<br />
beteiligten sich beachtliche<br />
Teile der ungarischen Verwaltung<br />
und Bevölkerung, das deutsche Auswärtige<br />
Amt, der Militärbefehlshaber Un-<br />
190 ÖZG 11.2000.1
garn, der Reichsbevollmächtigte, und<br />
Himmlers Wirtschaftsbeauftragter wirkten<br />
ebenfalls mit. Diese Verantwortlichen<br />
hatten nach dem Krieg möglichst viel von<br />
ihrer Schuld auf den totgeglaubten, jedenfalls<br />
verschwundenen Eichmann abgewälzt<br />
und mit dem Täterkreis auch die<br />
sehr verschiedenen, einander verstärkenden<br />
Deportationsmotive und -interessen<br />
eingeschränkt. Schon deshalb sind die<br />
achtzig von Eichmann dazu verfaßten<br />
Seiten als Quelle lesenswert. Um ein<br />
annähernd realistisches Bild zu gewinnen,<br />
müssen die unterschiedlichen Schutzbehauptungen<br />
der einstigen Komplizen miteinander<br />
konfrontiert werden. Es ist<br />
nicht Eichmann zuzurechnen, was das<br />
Auswärtige Amt seinerzeit an den Chef<br />
der deutschen Besatzungsverwaltung in<br />
Budapest telegraphierte: Ich bitte Sie,<br />
”<br />
den Ungarn bei der Durchführung aller<br />
Maßnahmen, die sie in den Augen unserer<br />
Feinde kompromittieren, nicht hinderlich<br />
in die Arme zu fallen. Es liegt sehr<br />
in unserem Interesse, wenn die Ungarn<br />
jetzt auf das allerschärfste gegen die Juden<br />
vorgehen.“<br />
Eichmann hat in Ungarn hunderte erschlagene,<br />
erschossene, zusammengebrochene<br />
Jüdinnen und Juden gesehen, hunderttausende<br />
in den Tod geschickt. In<br />
seinem Bericht über die letzten Monate<br />
des Götzen“-Reiches finden sich al-<br />
”<br />
lein von Tieffliegern zerhackte Deut-<br />
”<br />
sche“. Um die Jahreswende 1944/45 kehrte<br />
er dann nach Berlin zurück. Wegen der<br />
” anglo-amerikanischen Bomber stank es<br />
dort nach verbranntem Fleisch und verwesenden<br />
Leichen“, das war <strong>für</strong> diesen<br />
einfachen Befehlsempfänger doch unangenehm,<br />
weswegen <strong>für</strong> ihn – eine Rose auf<br />
das Grab von Bomber-Harris – an eine<br />
”<br />
geregelte Behördenarbeit nicht mehr zu<br />
denken war“.<br />
In Jerusalem sah sich Eichmann gut<br />
fünfzehn Jahre später als Opfer einer<br />
Siegerjustiz – zweierlei Maß, zweierlei<br />
”<br />
Recht!“ Einsicht und Reue zeigt er an<br />
keiner Stelle. Wenige Tage nachdem die<br />
Arbeit an dem Manuskript abgeschlossen<br />
war, bot ein Pfarrer in Ruhe, Paul Achenbach,<br />
dem 1906 in Solingen geborenen<br />
und evangelisch getauften Adolf Eichmann<br />
seelsogerischen Beistand an. Er riet<br />
ihm brieflich, sich im Lichte der Ewigkeit<br />
und der möglichen Gnade Gottes der<br />
” ganzen Schuldfrage an der Vernichtung<br />
der Juden“ zu stellen. Er solle vor dem irdischen<br />
und damit dem himmlischen Gericht<br />
bekennen, wie er zum willfähri-<br />
”<br />
gen Werkzeug“ geworden war. Frech-<br />
”<br />
heit!!“ vermerkte der Adressat am Rand<br />
und legte den Brief als letztes Blatt zu<br />
den Götzen.<br />
ÖZG 11.2000.1 191
Rezensionen<br />
Klaus Naumann, Der Krieg als Text.<br />
Das Jahr 1945 im kulturellen Gedächtnis<br />
der Presse, Hamburg: Hamburger Edition<br />
1998. 1<br />
Klaus Naumanns Studie liest sich wie ein<br />
spannender Roman, und die Medienberichterstattung<br />
über das Jahr 1945 mutet<br />
oft tatsächlich wie Fiction an. Was Medien<br />
schreiben und welche Realitäten diskursiv<br />
konstruiert werden, ist trotz unseres<br />
kritischen Wissens immer wieder<br />
überraschend! Oder doch nicht überraschend,<br />
wenn man die Schwierigkeiten<br />
des Umgangs mit belastenden Vergangenheiten<br />
bedenkt. Ich rezensiere dieses<br />
Buch aus mehreren Perspektiven: als interessierte<br />
Leserin; als Forscherin, die mit<br />
anderen Methoden eine ähnliche, allerdings<br />
interdisziplinäre Studie mit Florian<br />
Menz, Richard Mitten und Frank Stern<br />
über <strong>österreichische</strong> Gedenkkultur unternommen<br />
hat; und letztlich als Diskursforscherin,<br />
nicht jedoch als Politikwissenschaftlerin<br />
oder als Historikerin. Dementsprechend<br />
fokussiere ich einerseits die<br />
wichtigsten inhaltlichen Stränge und Resultate<br />
der Studie, andererseits Fragen<br />
der Methode und der Diskursforschung.<br />
Den politologischen und historischen Forschungszusammenhang<br />
in Deutschland<br />
muß ich aus Mangel an Kompetenz aussparen.<br />
Naumann untersucht die Berichterstattung<br />
in lokalen, regionalen und nationalen<br />
Zeitungen in Deutschland zu<br />
den Gedenkfeiern und Gedenken der Ereignisse<br />
von Jänner bis Mai 1945 im<br />
Jahr 1995. Ganz unterschiedliche Bege-<br />
benheiten kommen da vor: die Bombardierungen<br />
von Nürnberg, Dresden und<br />
anderen deutschen Städten durch die Alliierten;<br />
Menschen auf der Flucht; die<br />
Befreiung der Konzentrationslager, insbesondere<br />
von Auschwitz; Stellenwert<br />
und Wirkung der Wehrmachtsausstellung<br />
Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht<br />
1941 bis 1944; Kapitulation, Befreiung<br />
und Besatzung; letztlich die Berichterstattung<br />
zum Gedenken über den<br />
8. Mai 1945. Jede Stadt und jedes Dorf<br />
besitzen ihre eigenen Erinnerungen, die<br />
in dieser Zeit hochkommen und wieder<br />
verdeckt werden, also nur in bestimmter<br />
Form zugelassen werden.<br />
Eingebettet ist dieser Diskurs der Erinnerung<br />
und des Gedenkens in eine Vielzahl<br />
<strong>für</strong> Deutschland wichtiger Momente,<br />
die allerdings von Naumann nur kurz<br />
oder nicht in Erwägung gezogen werden,<br />
jedoch <strong>für</strong> eine solche Berichterstattung<br />
wesentlich wären: Das Ausland<br />
hat bestimmte Erwartungen, schaut zu<br />
und bewertet die Erinnerungs- und Gedenkkultur<br />
der Deutschen. Es stellen sich<br />
die Fragen von Schuld, Scham, Reue<br />
und Wiedergutmachung in bezug auf die<br />
Kriegsverbrechen und Verbrechen an der<br />
Menschheit. Welchen Einfluß besitzt die<br />
signifikant andere Nachkriegsgeschichte<br />
der beiden Deutschland sowie die Wiedervereinigung<br />
in diesem Zusammenhang<br />
Wie sieht die Erinnerungs- und Gedenkkultur<br />
in anderen europäischen Ländern<br />
aus, wobei zu unterscheiden ist zwischen<br />
damals okkupierten Ländern und solchen,<br />
die mit Deutschland ideologisch<br />
und praktisch zusammengegangen sind<br />
192 ÖZG 11.2000.1
Zu Beginn stehen theoretische und methodische<br />
Erwägungen. Allerdings fehlt<br />
eine wesentliche Erörterung: Welche Vorstellung<br />
von einer ’ richtigen‘ und ’ adäquaten‘<br />
Erinnerungs- und Gedenkkultur gilt<br />
Naumann als Maßstab <strong>für</strong> seine Analyse<br />
und Interpretation Denn eine solche<br />
Vorstellung müßte vorhanden sein, um alle<br />
Medienereignisse einordnen und beurteilen<br />
zu können. 2 Kein Forscher, keine<br />
Forscherin tritt als tabula rasa an Texte<br />
heran, Texte werden immer auf ein bestimmtes<br />
Vorwissen, kognitiv wie emotional<br />
auf bestimmte Werte und Einstellungen<br />
bezogen. Die Präsentation der Daten<br />
ist niemals nur nüchtern, sondern immer<br />
auch wertend und klassifizierend. Die<br />
theoretischen Überlegungen zu Beginn<br />
beziehen sich vor allem auf Einfluß und<br />
Wirkung von Texten und von Zeitungen,<br />
besonders in bezug auf die Funktionen<br />
des Gedenkens. Hier fehlen Bezüge auf<br />
die reichhaltige kommunikationstheoretische<br />
und diskursanalytische Literatur zur<br />
diskursiven Konstruktion von Realitäten<br />
durch die Eliten und durch Zeitungen 3<br />
und auch der methodische Vergleich oder<br />
die Abgrenzung von ähnlichen Analysen.<br />
Das methodische Verfahren wird kurz auf<br />
den Seiten 27 und 28 beschrieben, ausgehend<br />
von dem Satz ” Der Text ist der<br />
Text“. Naumann bezieht sich auf die Arbeiten<br />
der Frankfurter Schule und auf<br />
die qualitative Inhaltsanalyse. Der zitierte<br />
Satz bleibt unkommentiert; Verfahren<br />
und Instrumentarium werden nicht ausgeführt.<br />
Das sind gewiß Mängel, die aber<br />
relativiert werden müssen, denn Naumann<br />
schreibt kein traditionell akademisches<br />
Buch, sondern eines, das lesbar sein<br />
und breit rezipiert werden soll. Es ist sicher<br />
schwierig, die richtige Balance zwischen<br />
Wissenschaftlichkeit und Lesbarkeit<br />
zu finden; meiner Meinung nach ist<br />
es dem Autor hervorragend gelungen, LeserInnen<br />
zu fesseln und wichtige Informationen<br />
spannend zu präsentieren. Und<br />
dies ist meines Erachtens relevanter, als<br />
wissenschaftlichen Kriterien in allen Details<br />
Genüge zu leisten. Wichtig ist daher<br />
die Absicht des Autors, die er folgendermaßen<br />
zusammenfaßt: Der vorliegen-<br />
”<br />
de vielgliedrige Textkorpus wird vielmehr<br />
als Dokument betrachtet. Doch gefragt<br />
wird nicht danach, ob dieses Dokument<br />
die historischen Vorgänge, über die berichtet<br />
wird, richtig‘ wiedergibt oder ob<br />
’<br />
die gemeldeten Ereignisse und Vorgänge<br />
so stattgefunden haben, wie sie im Text<br />
beschrieben werden.“ (28 f.) Fokussiert<br />
wird also ausschließlich der Text, anders<br />
als in dem diskurshistorischen Ansatz der<br />
Studie über das <strong>österreichische</strong> Gedenken,<br />
wo eine Vielzahl von Genres einbezogen<br />
und im Sinne der Rekontextualisierung<br />
von Topoi und Argumentationen<br />
miteinander konfrontiert wurde (Reden,<br />
elektronische Medien) und die diskursiv<br />
konstruierten Geschichtsbilder dekonstruiert<br />
und implizite und explizite<br />
Ideologien herausgefiltert wurden. Naumanns<br />
Anspruch ist ein anderer. Er analysiert<br />
schlüssig und kohärent eine riesige<br />
Menge von Daten (Zeitungsartikel, Serien,<br />
Schlagzeilen, Annoncen, Leserbriefe,<br />
Fotos usw.), wobei er von folgenden drei<br />
Hypothesen ausgeht:<br />
” 1. Zunächst ergibt sich aus der hier<br />
vorgetragenen Skizzierung des Kontextes,<br />
daß die Textproduktionen des Gedenkjahres<br />
unter einer dreifachen Herausforderung<br />
standen. Sie hatten auf veränderte<br />
erinnerungspolitische Rahmenbedingungen<br />
zu reagieren, mußten sich<br />
– implizit oder explizit – mit dem Generalthema<br />
deutscher Schuld beziehungsweise<br />
Verantwortung auseinandersetzen,<br />
und sie hatten über kollektive Schockerfahrungen<br />
zu berichten. Doch dies war<br />
nicht die einzige Erfahrung, die sich in<br />
den Texten mitteilte.<br />
2. Es ist deutlich geworden, daß die<br />
Presse im erinnerungskulturellen Feld<br />
zweierlei Funktionen wahrnimmt, die sich<br />
ÖZG 11.2000.1 193
nur analytisch trennen lassen: Sie erinnert,<br />
rekapituliert und erzählt – und<br />
sie gedenkt, mahnt und belehrt. Erinnern<br />
und Gedenken aber stehen in<br />
einem antinomischen Verhältnis zueinander.<br />
Während das Erinnern sich als offener,<br />
unabgeschlossener und diskursiver<br />
Prozeß darstellt, lebt das Gedenken vom<br />
verbindlichen und endlichen Ritus. Wie<br />
Emile Durkheim bemerkte, ist das eine<br />
’ profan‘, das andere heilig‘. Kurzum, die<br />
’<br />
Doppelfunktion der Presse, Museum wie<br />
Andachtsraum in einem zu sein, mußte<br />
zu weiteren Verwerfungen in den Texten<br />
führen.<br />
3. Schließlich geben die Texte einen<br />
Eindruck von kollektiven Befindlichkeiten.<br />
Indem sie – anläßlich des Gedenkjahres<br />
– die symbolische Nähe oder Ferne<br />
des Krieges und des Kriegsendes zur<br />
Sprache brachten, vollzogen sie eine bestimmte<br />
Form der Selbstthematisierung<br />
dieser Gesellschaft in ihrem Verhältnis<br />
zum Krieg. Es war nicht die geringste<br />
Herausforderung an die Zeitungsbeiträge<br />
des Gedenkjahres, welcher Selbstund<br />
Fremdbilder sie sich bedienten. Wenn<br />
sie von den Deutschen‘ schrieben, wen<br />
’<br />
meinten sie damit Waren das Besieg-<br />
’<br />
te‘ und/oder Befreite‘ Wer war Opfer‘<br />
’ ’<br />
und wer Täter‘ in den Geschichten vom<br />
’<br />
Ende Wo verflochten sich diese Unterscheidungen<br />
– und wo war an ihnen festzuhalten<br />
Und was besagte das alles im<br />
Hinblick auf die deutsche Gegenwart der<br />
neunziger Jahre “(29 ff.)<br />
Diese drei Ausgangsfragen bestimmen<br />
die Analyse und Ordnung der untersuchten<br />
Texte wie auch die Interpretationen.<br />
Alle drei Hypothesen sind wichtig und<br />
auch über die deutsche Situation hinaus<br />
relevant: Die Fragen von Schuld und<br />
Verantwortung bestimmen die diskursive<br />
Verarbeitung. Wie die Analyse der Berichterstattung<br />
1988 in Österreich zeigen<br />
konnte, war das stille und auch explizite<br />
Übereinkommen, von einer österrei-<br />
chischen Schuld abzusehen und sich als<br />
Opfer der deutschen Besetzung zu begreifen,<br />
Voraussetzung <strong>für</strong> den Duktus<br />
der Erinnerung und des Gedenkens, von<br />
ganz wenigen Ausnahmen abgesehen. In<br />
Deutschland stellt sich diese Situation<br />
aber grundsätzlich anders dar, ein Rekurs<br />
auf einen Opferstatus ist so nicht<br />
möglich. Wie soll man sich aber dann<br />
der Frage der Schuld stellen, noch dazu<br />
in den Nachkriegsgenerationen Richard<br />
Mitten 4 gibt dazu recht differenzierte<br />
Antworten <strong>für</strong> die <strong>österreichische</strong><br />
Nachkriegssituation und unterscheidet<br />
zwischen verschiedenen Opferdiskursen.<br />
Außerdem müsse man sich mit der<br />
rechtlichen, pragmatischen und moralischen<br />
Ebene auseinander- und sich auch<br />
in die damalige Zeit hineinversetzen. 5 Die<br />
Nachkriegsdiskurse in die Untersuchung<br />
der Gedenkkultur einzubeziehen, hätte<br />
sicherlich auch <strong>für</strong> Deutschland einen<br />
wichtigen Stellenwert. 6<br />
Naumann betont die kollektiven Wir-<br />
Diskurse und die Perspektive der deutschen<br />
Ingroup. In den Zeitungen gehe<br />
es vor allem um eine deutsche Sicht.<br />
Trotzdem bleibt die Frage bestehen, wer<br />
eigentlich die Opfer und wer die Täter<br />
sind: Bombenopfer, Zivilopfer, Menschen<br />
auf der Flucht, Juden und Lagerinsassen<br />
Eine genaue Analyse der ” Akteure im<br />
Text“ 7 würde in diesem Fall auch die semantische<br />
Konstituierung der Agenten in<br />
ihren unterschiedlichen Rollen und Funktionen<br />
erlauben.<br />
Nach der Besichtigung der Ausstellung<br />
über den Vernichtungskrieg. Verbrechen<br />
der Wehrmacht 1941 bis 1944, die bekanntlich<br />
vehemente Skandale auslöste<br />
und damit auf das Tabu und den Mythos<br />
rund um die Wehrmacht hinwies, oder<br />
des Holocaustmuseums in Washington<br />
wird klar, daß das Ausmaß an Schrecklichkeit,<br />
organisiertem Verbrechen und<br />
letztlich Sadismus derart überwältigend<br />
ist, daß wahrscheinlich die meisten da-<br />
194 ÖZG 11.2000.1
von in unterschiedlicher Weise betroffenen<br />
Menschen unter der Last des Geschehenen<br />
zusammenbrechen oder sich<br />
nur mit Leugnen, Aufrechnen, Verzerren<br />
und Rationalisieren retten können.<br />
Wie Klaus Naumann schlüssig nachweist,<br />
herrscht letztlich Stille über Auschwitz<br />
(91 ff.), denn es konnte bislang keine<br />
adäquate Form des Erinnerns und Gedenkens<br />
gefunden werden. Der Ausweg<br />
besteht darin, zu schweigen. Gleichzeitig<br />
wird Auschwitz zu einem kollektiven<br />
Symbol. Welche adäquate Form des Gedenkens<br />
wäre denn möglich Wie kann<br />
man sich differenziert und auch kritisch<br />
mit solchen Ereignissen und Realitäten<br />
auseinandersetzen Naumann trifft mit<br />
diesen Fragen genau in die offene Wunde<br />
der Gedenkversuche.<br />
Die analytischen Trennungen von Er-<br />
’<br />
innern‘ und Gedenken‘ und profan‘ und<br />
’ ’<br />
’ rituell‘ sind fruchtbar und bestimmen<br />
auch die Präsentation der ausgewählten<br />
Texte. Zwar ist die Intention der TextproduzentInnen<br />
nicht bekannt, aber die<br />
Wirkung auf die LeserInnen könnte fallweise<br />
getestet werden. In diesem Buch<br />
können wir nur die Wirkung auf einen Leser,<br />
den Autor, nachvollziehen, eine bestimmte<br />
Lesart. Fokusgruppen oder Interviews<br />
mit LeserInnen hätten die Wirkung<br />
der Berichterstattung zumindest<br />
punktuell einfangen können. Also bleibt<br />
die Frage bestehen: Wie haben LeserInnen<br />
reagiert Teilweise erfahren wir dies<br />
durch Leserbriefe, die jedoch mit Vorsicht<br />
zu behandeln sind. Ansonsten gibt der<br />
Autor keine Hinweise auf die Wirkung der<br />
Texte, daher gelten die Annahmen über<br />
die Entwicklung der deutschen Gedenkdiskurse<br />
nur beschränkt und bleiben spekulativ.<br />
Die Pressetexte selbst sind ambig, teilweise<br />
belehrend, teilweise berichtend und<br />
auch voll von Floskeln, die die rituelle<br />
Funktion belegen. Klar tritt die Tabuisierung<br />
einiger Themen aus der Analy-<br />
se hervor, die Möglichkeit, anderer zu gedenken,<br />
und manche können tatsächlich<br />
auch berichtet und erinnert werden. Beeindruckend<br />
gestalten sich die Erinnerungen<br />
von BewohnerInnen von kleinen<br />
Städten, die tatsächlich erst kurz vor<br />
Kriegsende mit dem Krieg und der Gewalt<br />
konfrontiert wurden. Daß Naumann<br />
auch regionale und lokale Medien einbezieht,<br />
ist eine Stärke seiner Arbeit.<br />
Die dritte untersuchungsleitende Fragestellung<br />
ist besonders interessant: Welches<br />
Image oder welche Bilder werden<br />
konstruiert, welche Ingroups und Outgroups<br />
durch bestimmte Etiketten und<br />
Akteure kreiert Diese Analyse zeigt die<br />
Widersprüche in der Presseberichterstattung<br />
auf und auch die Systematik, den<br />
Versuch, mit Etiketten Ereignisse zu benennen<br />
und damit auch in eine bestimmte<br />
Richtung zu interpretieren. Die Kapitel<br />
über die Wehrmacht (124 ff.), über das<br />
Kriegsende (171 ff.) und über den 8. Mai<br />
1945 (227 ff.) machen die unterschiedlichen<br />
Narrative explizit. Mitten 8 schlägt<br />
<strong>für</strong> das Verstehen, wie Vergangenheiten<br />
konstruiert und verarbeitet werden, die<br />
Metapher der Mozartkugel vor. Letztlich<br />
entscheide bei den vielen Schichten der<br />
Mozartkugel die Macht der Eliten (und<br />
dazu gehören Zeitungen), welche Vergangenheitsbilder<br />
als gültig und repräsentativ<br />
anerkannt werden. In Naumanns Materialien<br />
lassen sich die unterschiedlichen<br />
Geschichtsbilder gut nachvollziehen, die<br />
immer auch bestimmte Werte und Ideologien<br />
manifestieren. Und daher stellt sich<br />
die spannende Frage, welches Narrativ<br />
über die deutsche Kriegsgeschichte gültig<br />
bleiben und etwa in Schulbücher Eingang<br />
finden wird oder schon gefunden hat.<br />
Die wichtigsten Ergebnisse der Studie<br />
werden von Naumann in drei Punkten<br />
zu Ende des Buches resümiert<br />
(308 ff.): Der unterschiedliche Umgang<br />
mit Auschwitz und anderen Lagern weise<br />
auf eine Historisierung und gleichzei-<br />
ÖZG 11.2000.1 195
tig auf eine Enthistorisierung hin. Manche<br />
Ereignisse gewännen eine internationale<br />
und europäische Dimension, andere<br />
verschwänden letztlich in die Schublade.<br />
Weiters zeige sich, wie schwierig<br />
es ist, mit dem 8. Mai 1945 umzugehen<br />
(ähnlich und anders in Österreich). In<br />
der Suche um eine neue deutsche Identität<br />
müsse ein Gründungsmythos gefunden<br />
werden. Im Zuge der Wiedervereinigung<br />
werde dies neu debattiert, doch<br />
zeichne sich noch keine ’ Lösung‘ ab, die<br />
Konstruktion einer oder mehrerer deutscher<br />
Identitäten bleibe umstritten und<br />
schwierig. Letztlich bleibe zu fragen, wie<br />
man zum Konzept des Krieges und der<br />
Gewalt steht: Wer sind die Täter und wer<br />
die Opfer Darüber herrsche in der Presse<br />
keine Einigkeit: Stimmen aus den einzelnen<br />
Dörfern stoßen auf Erzählungen von<br />
Zeitzeugen und Politikern. Naumann gelingt<br />
es, dieses Stimmengewirr plastisch<br />
zu illustrieren.<br />
Klaus Naumann hat ein sehr lesbares,<br />
spannendes Buch geschrieben und<br />
eine Unmenge von Material meisterhaft<br />
in eine Collage verpackt. Durch die Vielfalt<br />
der Texte gewinnt man Einblick in<br />
die Widersprüchlichkeiten der heutigen<br />
Gesellschaft in Deutschland, und man<br />
versteht, wie schwierig der Umgang mit<br />
den schrecklichen Vergangenheiten ist. Es<br />
muß jedoch nochmals angemerkt werden,<br />
daß diese Studie kein wissenschaftliches<br />
Buch im traditionellen Sinne ist,<br />
da<strong>für</strong> fehlen wichtige Elemente. Als Methode<br />
wird zwar die Inhaltsanalyse benannt<br />
(siehe oben), nirgendwo sind jedoch<br />
die Kategorien abgeleitet und definiert.<br />
Das Auswahlverfahren der Texte<br />
bleibt unklar; die einzelnen Textsorten<br />
innerhalb der Zeitung werden nicht getrennt,<br />
was aber aus diskursanalytischer<br />
Sicht notwendig gewesen wäre, denn ein<br />
Kommentar ist signifikant anders getextet<br />
als ein Bericht. Die vielfältige Verwendung<br />
linguistischer Termini und dis-<br />
kursanalytischer Begriffe bleibt <strong>für</strong> eine<br />
Fachfrau verwirrend: Welchen Diskursbegriff<br />
verwendet Naumann, was sind etwa<br />
” Verwerfungen eines Textes“ Trotz<br />
dieser Mängel ist dieses Buch ein wichtiger<br />
und sehr aufschlußreicher, blendend<br />
geschriebener Essay, der viele relevante<br />
Fragen zur Aufarbeitung von Vergangenheit<br />
illustriert und einer breiten Leserschaft<br />
zugänglich macht. Damit erfüllt es<br />
eine sehr wichtige Aufgabe: nämlich gerade<br />
Tabuthemen in einer Weise zu präsentieren,<br />
die akzeptabel ist und nicht sofort<br />
Widerstand und Abwehr hervorruft. Es<br />
ist zu hoffen, daß Naumanns Buch auch<br />
in Schulen Eingang finden und zur Reflexion<br />
verhelfen wird.<br />
Ruth Wodak, <strong>Wien</strong><br />
Anmerkungen<br />
1 Ich bin Richard Mitten und Alexander<br />
Pollak <strong>für</strong> ihre wichtigen und anregenden Bemerkungen<br />
sehr dankbar.<br />
2 Vgl. Ruth Wodak u. a., ” Wir sind alle unschuldige<br />
Täter“, Frankfurt am Main 1990,<br />
sowie dies. u. a., Die Sprachen der Vergangenheiten,<br />
Frankfurt am Main 1994.<br />
3 Beispielsweise Teun Van Dijk, Ideology,<br />
London 1998, sowie Robert Fowler, Language<br />
in the News, London 1995.<br />
4 Richard Mitten, Jews and other Victims.<br />
The ’ Jewish Question‘ and Discourses of Victimhood<br />
in post-war Austria. Delivered to<br />
the Conference ” The Dynamics of Antisemitism<br />
in the Second Half of the Twentieth<br />
Century“ SICSA, Jerusalem, June 1999.<br />
5 Siehe auch Tony Judt, The Past is Another<br />
Country. Myth and Memory in Postwar<br />
Europe, in: Daedalus 121 (Fall 1992), sowie<br />
Istvan Deak, A Fatal Compromise The Debate<br />
Over Collaboration and Resistance in<br />
Hungary, in: East European Politics and Societies<br />
9 (Spring 1995), 209–23.<br />
6 Vgl. Frank Stern, The Whitewashing of the<br />
Yellow Badge, London 1990.<br />
7 Theo Van Leeuwen, The Representation of<br />
Social Actors, in: Roa Caldas-Coulthard u.<br />
Malcolm Coulthard, Hg., Texts and Practices,<br />
London 1997, 32–70.<br />
196 ÖZG 11.2000.1
8 Richard Mitten, The Politics of Antisemitic<br />
Prejudice. The Waldheim Phenomenon in<br />
Austria, Boulder (Co.) 1992.<br />
Johanna Gehmacher, ” Völkische Frauenbewegung“.<br />
Deutschnationale und nationalsozialistische<br />
Geschlechterpolitik in Österreich,<br />
<strong>Wien</strong>: Döcker 1998.<br />
Johanna Gehmachers Buch über die<br />
Frauenpolitik der Deutschnationalen und<br />
der Nationalsozialisten in Österreich zwischen<br />
1920 und 1938 bietet eine differenzierte<br />
Analyse von Organisationsstrukturen,<br />
Zielen und Aktivitäten des<br />
weiblichen, völkischen Milieus vor 1938<br />
und konfrontiert diese mit Selbstaussagen<br />
und rückblickenden Einschätzungen<br />
der Aktivistinnen. Die Autorin zeigt<br />
die Unterschiede in den frauenpolitischen<br />
Programmen der beiden Parteien, aber<br />
auch und vor allem, wie über gemeinsame<br />
Aktivitäten und die Konstruktion<br />
einer ” völkischen Frauenbewegung“ das<br />
deutschnationale Milieu im Nationalsozialismus<br />
aufging.<br />
Das Buch gliedert sich in drei große<br />
Kapitel zur deutschnationalen und zur<br />
nationalsozialistischen Geschlechterpolitik<br />
sowie zu den ” Koalitionen ’ völkischer‘<br />
Frauen“ zwischen 1933 und 1938.<br />
In allen Kapiteln wird die Darstellung<br />
der Organisationsformen und Ideologien<br />
der Parteien mit sozialhistorischen<br />
und geschlechterpolitischen Analysen<br />
verknüpft. Den Abschluß der Kapitel<br />
bilden biographische Untersuchungen<br />
prominenter Parteifrauen, in denen<br />
die zuvor erarbeiteten Ergebnisse noch<br />
einmal verdichtet dargestellt werden. Johanna<br />
Gehmacher versteht ihre Arbeit<br />
auch als einen Beitrag zur neueren Nationalismusforschung,<br />
indem sie nach der<br />
Konzeption der Nation aus geschlechterpolitischer<br />
Sicht fragt. Die ” gedachte<br />
Ordnung“ (M. R. Lepsius) der Nati-<br />
on ist <strong>für</strong> die hier untersuchten Gruppen<br />
identisch mit einer rassistisch definierten<br />
’ deutschen Volksgemeinschaft‘. Es war<br />
dieser Begriff der Volksgemeinschaft‘,<br />
”<br />
der eine tragfähige Brücke zwischen den<br />
zunächst unterschiedlichen geschlechterpolitischen<br />
Konzeptionen der GDVP und<br />
der NSDAP schuf und somit eine zentrale<br />
Funktion <strong>für</strong> ein Zusammengehen der<br />
beiden Gruppen übernahm.<br />
In der Großdeutschen Volkspartei,<br />
1920 als konservative Sammlungspartei<br />
gegründet, gab es nur geringe Vertretungsmöglichkeiten<br />
<strong>für</strong> Frauen. Zugleich<br />
bot jedoch der Charakter einer Sammlungspartei<br />
einzelnen Frauen Möglichkeiten<br />
zur Agitation und zum Aufbau<br />
von Gruppenzusammenhängen. Die Gesamtpartei<br />
behinderte zwar den Ausbau<br />
solcher Frauenvereine nicht, da sie<br />
auch auf die weiblichen Wähler angewiesen<br />
war, doch zeigte man im Großen<br />
und Ganzen eher Desinteresse an frauenpolitischen<br />
Themen. Auf diese Weise<br />
zugleich begrenzt und frei, konnten<br />
großdeutsche Politikerinnen wie Emmy<br />
Stradal daran gehen, Frauenfragen in<br />
die Partei zu integrieren. Themen wie<br />
die Ausbildung der Mädchen, Erwerbsfragen<br />
lediger Frauen, die Ehegesetzgebung<br />
oder Gleichstellungsfragen wurden,<br />
oft in enger Zusammenarbeit mit dem<br />
” Bund Österreichischer Frauenvereine“,<br />
intensiv diskutiert und fanden zum Teil<br />
auch eine Formulierung in Gesetzesvorhaben.<br />
Das großdeutsche Frauenvereinsmilieu,<br />
insbesondere der Reichsverband<br />
”<br />
Deutscher Frauenvereine“, bildete dabei<br />
einen günstigen Rahmen <strong>für</strong> die Initiativen<br />
der Politikerinnen – die dann allerdings<br />
an der nicht vorhandenen Vertretung<br />
von großdeutschen Frauen im Nationalrat<br />
und der Ignoranz männlicher Politiker<br />
scheiterten. Nach offizieller Parteimeinung<br />
sollten Frauen vor allem <strong>für</strong><br />
Frauenthemen agitieren, doch verstanden<br />
die großdeutschen Politikerinnen ih-<br />
ÖZG 11.2000.1 197
e Tätigkeit eher als gesamtgesellschaftliche<br />
Aufgabe: Frauenpolitik sei Ausdruck<br />
einer Politik, die dem Wohl der Gemeinschaft,<br />
nämlich der Volksgemeinschaft,<br />
diene. Über die Verknüpfung der Kategorien<br />
Mutter‘ und Volk‘ wurden (völki-<br />
’ ’<br />
sche) Frauen als die berufenen Vorkämp-<br />
”<br />
ferinnen des Gedankens der Volksgemeinschaft“<br />
gedacht und somit in das Zentrum<br />
großdeutscher Politik gerückt. Alle<br />
Frauen seien Hausfrauen und/oder<br />
Mütter und hätten daher – anders als<br />
die Männer – überwiegend gemeinsame<br />
Interessen. Die Bürgerin wurde auf diese<br />
Weise als Hausfrau definiert und eine vorgebliche<br />
sozialübergreifende Interessenidentität<br />
hergestellt. In der politischen<br />
Programmatik der GDVP spiegelte sich<br />
dieser Anspruch wider: Man verstand sich<br />
als eine Partei der Volksgemeinschaft,<br />
war aber tatsächlich vorwiegend eine Partei<br />
der antiklerikal eingestellten Mittelschichten<br />
und des Beamtentums. Gerade<br />
im Themenkomplex Hausfrauenpoli-<br />
’<br />
tik‘ zeigte sich deutlich die politische Zielrichtung<br />
der GDVP-Frauen sowie einiger<br />
Vorfeldorganisationen wie z. B. dem Ver-<br />
”<br />
band deutscher Frauen Volksgemein-<br />
’<br />
schaft‘“. Über die Einrichtung von Hauswirtschaftskammern<br />
sollte ein spezifisch<br />
weiblicher Zugang zur Politik konstruiert<br />
werden, der in seiner ständischen<br />
Grundlage aber der demokratischen Verfassung<br />
Österreichs widersprach. Die vorgebliche<br />
Interessensidentität der Hausfrauen<br />
wurde als Grundlage <strong>für</strong> die Verwirklichung<br />
der Volksgemeinschaft gesehen<br />
– verknüpft mit einer antisemitischen<br />
Definition, wer denn überhaupt zur<br />
” deutschen Volksgemeinschaft“ gehöre.<br />
An diese Frauenpolitik der GDVP<br />
konnte der Nationalsozialismus erfolgreich<br />
anknüpfen. In den zwanziger Jahren<br />
war dieser nur eine marginale Gruppierung<br />
in Österreich und zudem noch<br />
intern in zwei Fraktionen gespalten. Bis<br />
zum Beginn der dreißiger Jahre wa-<br />
ren auch die Frauenorganisationen des<br />
NS nur rudimentär entwickelt, so etwa<br />
der 1926 gegründete ” Bund Nationalsozialistischer<br />
Frauen <strong>Wien</strong>s“. Mit dem<br />
Verbot der nationalsozialistischen Bewegung<br />
im Frühjahr 1933 wurden auch<br />
die ersten Frauengruppen aufgelöst, allerdings<br />
mit einer folgenschweren Ausnahme.<br />
Der <strong>Wien</strong>er Frauenbund nannte<br />
sich nun ” Bund nationaler deutscher<br />
Frauen <strong>Wien</strong>s“, entging damit dem Parteiverbot<br />
und konnte sich erfolgreich als<br />
Organisationsnetz <strong>für</strong> die illegale Bewegung<br />
betätigen. Programmatisch versuchten<br />
die Nationalsozialistinnen, die offensichtlichen<br />
Widersprüche der Partei in<br />
bezug auf Frauen zu lösen. Über die Konstruktion<br />
eines neuen Maßstabes <strong>für</strong> erfolgreiche<br />
Gleichberechtigung wollte man<br />
gerade erwerbstätige und in der Öffentlichkeit<br />
tätige Frauen <strong>für</strong> sich einnehmen:<br />
Nicht mehr die Gleichberechtigung zwischen<br />
Männern und Frauen stand zur Debatte,<br />
sondern die Gleichstellung der ledigen,<br />
berufstätigen mit der verheirateten,<br />
nicht erwerbstätigen Frau. Gegenüber der<br />
Frauenpolitik der GDVP betonte aber<br />
der Nationalsozialismus hier und in allen<br />
anderen Programmpunkten den Primat<br />
ihrer rassistischen Politik. Jede Maßnahme<br />
habe zuerst und vor allem die<br />
Nutzanwendung <strong>für</strong> das Volk als Rasse<br />
zu berücksichtigen. Entsprechend wurde<br />
Mutterschaft nicht nur als ein natürlicher,<br />
sondern auch als ein politischer Beruf<br />
aufgefaßt. Die ” deutsche Ehe“ wurde<br />
so zur Grundlage der ” deutschen Volksgemeinschaft“.<br />
Johanna Gehmacher kommt<br />
hier zum Schluß, daß sich die nationalsozialistische<br />
Programmatik hinsichtlich<br />
der ” Rassenfrage“ deutlich von den großdeutschen<br />
Inhalten unterscheide, da der<br />
Rassismus nun ” Ausgangspunkt jeder Erklärung“<br />
sei, nicht mehr nur ” Platzhalter<br />
<strong>für</strong> das Unerklärte“ (S. 134). Inwiefern<br />
dies nur eine Frage des zeitlichen Abstandes<br />
zwischen der GDVP in den zwan-<br />
198 ÖZG 11.2000.1
ziger Jahren und der NSDAP in den dreißiger<br />
Jahren oder doch eine grundsätzliche<br />
Differenz zwischen der GDVP und<br />
der NSDAP war, bleibt leider offen.<br />
Der Aufbau des Buches betont jedoch<br />
eher die Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten<br />
der beiden Gruppen, weniger<br />
die Unterschiede, wenn im abschließenden<br />
Kapitel die Koalitionen völki-<br />
”<br />
scher Frauen“ in das Zentrum der Betrachtung<br />
kommen. Über die gemeinsame<br />
Tätigkeit großdeutscher und nationalsozialistischer<br />
Frauen zwischen 1933<br />
und 1938 <strong>für</strong> die illegale NSDAP verfestigte<br />
sich das völkische Frauenvereinsmilieu.<br />
Die 1931 gegründete Völkische<br />
”<br />
Nothilfe“ beispielsweise wurde von beiden<br />
Gruppen als Kampfbündnis“ in-<br />
”<br />
terpretiert und war somit ein wichtiger<br />
Stein auf dem Weg zum Anschluß. Viele<br />
Frauenaktivitäten trugen dazu bei, das<br />
nationalsozialistische Milieu zu stabilisieren<br />
und auszuweiten: Wohltätigkeitsarbeiten,<br />
Hausfrauenagitation und nicht<br />
zuletzt die eigene Presse in Form der Zeitschriften<br />
Die deutsche Frau“ und Frau<br />
” ”<br />
und Welt“. All dies konnte erfolgreich<br />
sein, weil die Behörden ein grundsätz-<br />
”<br />
liches Desinteresse“ an der Tätigkeit von<br />
Frauen zeigten. Die einseitige Wahrnehmung<br />
der Beamten, nur Männer würden<br />
politische Arbeit leisten, trug nicht unerheblich<br />
zur Stärkung des Nationalsozialismus<br />
bei. Im Schatten der legalen Frauenwohltätigkeit<br />
bauten die Nationalsozialistinnen<br />
überaus erfolgreich ihre eigenen<br />
Strukturen auf. Sieben Monate nach dem<br />
” Anschluß“ an das Deutsche Reich war<br />
diese Aufbauarbeit abgeschlossen. Paradigmatisch<br />
<strong>für</strong> den Übergang der völki-<br />
”<br />
schen Koalition“ zum NS stellt Gehmacher<br />
am Ende die großdeutsche Nationalratsabgeordnete<br />
Maria Schneider vor, die<br />
nach dem März 1938 eine zentrale Position<br />
in der NS- Frauenschaft erhielt.<br />
Johanna Gehmacher hat eine sehr detaillierte<br />
und vielseitige Untersuchung<br />
des völkischen Frauenvereinsmilieus in<br />
Österreich vor 1938 geschrieben. Die<br />
Komplexität des Themas erfordert einen<br />
mehrdimensionalen Zugriff: Neben klassischen<br />
politik- und sozialhistorischen<br />
Fragen werden in diesem Buch auch<br />
diskurs- und textanalytische Perspektiven<br />
verfolgt. Manches wird dabei nur<br />
sehr thesenartig präsentiert und gestandene<br />
Sozialhistorikerinnen werden vielleicht<br />
den einen oder anderen statistischen<br />
Nachweis vermissen. Diese vermeintliche<br />
Schwäche des Buches ist aber<br />
zugleich seine Stärke: Die pointierte Argumentation<br />
Johanna Gehmachers hinterfragt<br />
scheinbare historische Gewißheiten<br />
und regt damit das eigene (kritische)<br />
Mitdenken nachhaltig an.<br />
Kirsten Heinsohn, Hamburg<br />
ÖZG 11.2000.1 199
Anschriften der Autorinnen und Autoren<br />
Götz Aly, Stubenrauchstraße 11, D-12203 Berlin.<br />
Ruth Beckermann, Marc Aurel-Straße 5, A-1010 <strong>Wien</strong>.<br />
Christian Fleck, Institut <strong>für</strong> Soziologien,<br />
<strong>Universität</strong> Graz, <strong>Universität</strong>sstraße 15, A-8010 Graz.<br />
Jerald T. Hage, Center for Innovation,<br />
University of Maryland, College Park, MD 20742, USA.<br />
Kirsten Heinsohn, Historisches Seminar,<br />
<strong>Universität</strong> Hamburg, Von-Melle-Park 6,<br />
D-20146 Hamburg.<br />
Ellen Jane Hollingsworth, University of Wisconsin,<br />
4111 Humanities Building, 455 North Park Street,<br />
Madison WI 53706, USA.<br />
J. Rogers Hollingsworth, University of Wisconsin,<br />
4111 Humanities Building, 455 North Park Street,<br />
Madison WI 53706, USA.<br />
Albert Müller, Institut <strong>für</strong> Zeitgeschichte,<br />
<strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong>, Spitalgasse 2, A-1090 <strong>Wien</strong>.<br />
Karl H. Müller, Institut <strong>für</strong> Höhere Studien,<br />
Stumpergasse 56, A-1060 <strong>Wien</strong>.<br />
Ruth Wodak, Institut <strong>für</strong> Sprachwissenschaft,<br />
<strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong>, Berggasse 11, A-1090 <strong>Wien</strong>.<br />
200 ÖZG 11.2000.1