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österreichische zeitschrift für ... - Universität Wien

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ös t e r r e i c h i s c h e z e i t s c h r i f t f ü r<br />

ge s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t e n<br />

1 1 . j g . , h e f t 1 , 2 0 0 0<br />

i n n o v a t i o n e n<br />

w i e n e u e s e n t s t e h t<br />

h e r a u s g e g e b e n v o n<br />

a l b e r t m ü l l e r u n d k a r l h . m ü l l e r<br />

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.<br />

Gefördert durch das Bundesministerium <strong>für</strong><br />

Wissenschaft und Verkehr sowie die Stadt<br />

<strong>Wien</strong>, Magistratsabteilung 18 – Stadtentwicklung<br />

und Stadtplanung, Referat Wissenschafts-<br />

und Forschungsförderung.<br />

Österreichische Zeitschrift <strong>für</strong> Geschichtswissenschaften.<br />

Zitierweise: ÖZG.<br />

Redaktionsadresse: ÖZG, c/o Institut <strong>für</strong><br />

Wirtschafts- und Sozialgeschichte, <strong>Universität</strong><br />

<strong>Wien</strong>, Dr. Karl Lueger-Ring 1, A-1010<br />

<strong>Wien</strong>. FAX: 43-1-4277-9413.<br />

http://www.univie.ac.at/<br />

Wirtschaftsgeschichte/OeZG/<br />

Preise: Einzelheft ATS 198, Jahresabonnement:<br />

Einzelpersonen ATS 600, Institutionen<br />

ATS 700, im Ausland zuzüglich Versandkosten:<br />

Europa ATS 100, Übersee ATS 170.<br />

Bestellungen über den Buchhandel oder<br />

über den Verlag Turia + Kant, FAX: 43-1-<br />

53 20 768, email: turia.kant turia.at<br />

http://www.turia.at<br />

ISSN 1016-765 X<br />

Coverdesign: Ingo Vavra<br />

Medieninhaber (Verleger): Turia + Kant,<br />

Schottengasse 3A / 5 / DG 1, A-1010 <strong>Wien</strong>.<br />

Druck: VB S, Ljubljana<br />

Offenlegung nach 25 Mediengesetz: Medieninhaber:<br />

Turia + Kant. Herausgeber: Österreichische<br />

Gesellschaft <strong>für</strong> Geschichtswissenschaften,<br />

<strong>Wien</strong>. Blattlinie: Veröffentlichungen<br />

wissenschaftlicher Arbeiten aus allen Bereichen<br />

der Geschichtswissenschaften.<br />

2


Editorial 5<br />

Innovationen<br />

Wie Neues entsteht<br />

Albert Müller 9 Eine kurze Geschichte des BCL.<br />

Heinz von Foerster und das<br />

Biological Computer Laboratory<br />

J. Rogers Hollingworth/ 31 Radikale Innovationen und Forschungs-<br />

Ellen Jane Hollingworth organisation. Eine Annäherung<br />

Jerald Hage 67 Die Innovation von Organisationen und<br />

die Organisation von Innovationen<br />

Karl H. Müller 87 Wie Neues entsteht<br />

Christian Fleck 129 Wie Neues nicht entsteht. Die<br />

Gründung des Instituts <strong>für</strong> Höhere Studien<br />

in <strong>Wien</strong> durch Ex-Österreicher und die<br />

Ford Foundation<br />

179 Abstracts<br />

Forum<br />

Ruth Beckermann 181 Toleranz und Zeitgeschichte<br />

Götz Aly 186 Adolf Eichmanns späte Rache<br />

Rezensionen<br />

Klaus Naumann 192 Der Krieg als Text. Das Jahr 1945 im<br />

kulturellen Gedächtnis der Presse<br />

(Ruth Wodak)<br />

Johanna Gehmacher 297<br />

” Völkische Frauenbewegung“. Deutschnationale<br />

und nationalsozialistische<br />

Geschlechterpolitik in Österreich<br />

(Kirsten Heinsohn)<br />

200 Anschriften der Autorinnen und Autoren<br />

ÖZG 11.2000.1 3


Herausgeber/innen<br />

Gerhard Baumgartner, <strong>Wien</strong> . Markus<br />

Cerman, <strong>Wien</strong> . Ulrike Döcker, <strong>Wien</strong><br />

Franz X. Eder, <strong>Wien</strong> . Peter Eigner, <strong>Wien</strong><br />

Gabriella Hauch, Linz . Erich Landsteiner,<br />

<strong>Wien</strong> . Alexander Mejstrik, <strong>Wien</strong><br />

Albert Müller, <strong>Wien</strong> . Reinhard Sieder,<br />

<strong>Wien</strong> . Gerald Sprengnagel, Salzburg<br />

Anton Staudinger, <strong>Wien</strong> . Karl Stocker,<br />

Graz.<br />

An diesem Heft haben mitgearbeitet<br />

Peter Eigner . Albert Müller<br />

Karl H. Müller . Reinhard Sieder<br />

Gerald Sprengnagel . Anton Staudinger<br />

Herausgeber dieses Heftes<br />

Albert Müller und Karl H. Müller<br />

Wissenschaftlicher Beirat<br />

Rudolf Ardelt, Linz . Neven Budak,<br />

Zagreb . Josef Ehmer, Salzburg<br />

Christian Fleck, Graz . Ernst Hanisch,<br />

Salzburg . Gernot Heiß, <strong>Wien</strong> . Hans<br />

Heiss, Brixen . Eric Hobsbawm, London<br />

Georg G. Iggers, Buffalo . Robert Jütte,<br />

Stuttgart . Robert Luft, München . Hans<br />

Medick, Göttingen . Wolfgang Meixner,<br />

Innsbruck . Herta Nagl-Docekal, <strong>Wien</strong><br />

Jan Peters, Berlin . Michael Pollak ,<br />

Paris . Georg Schmid, Salzburg . Peter<br />

Schöttler, Berlin . Alice Teichova,<br />

Cambridge . Ernst Wangermann,<br />

Salzburg . Fritz Weber, <strong>Wien</strong>.<br />

4 ÖZG 11.2000.1


Innovationen – wie Neues entsteht<br />

Zu den selbstverständlichen Merkwürdigkeiten <strong>für</strong> Historiker gehört es, meist<br />

nur indirekt mit ’ Neuem‘ konfrontiert zu werden. Denn die wichtigen Übergänge,<br />

Passagen und Prozesse sind bereits vollzogen und Neues geschieht unter<br />

historischer Sonne typischerweise – nicht. Diese zweifellos Beobachter-determinierte<br />

’ Falle‘, die sich hier – nicht nur – disziplinspezifisch auftut, wurde von gar<br />

nicht so unbedeutenden Historikern gewissermaßen ideologisiert: zur histoire<br />

immobile etwa, zur Strukturgeschichte oder zur historischen Anthropologie.<br />

Neues wird aber auch unter dem Schlagwort der ’ Innovationen‘ immer nur<br />

ex post zum Gegenstand der sozial-, technologie- und wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Forschung. Und ” wie Neues entsteht“, ist auch in den Wissenschaften der<br />

Wissenschaften unter der Leitperspektive von ’ Strukturen vergangener wissenschaftlicher<br />

Revolutionen‘ abgehandelt worden. So enthält Thomas S. Kuhns<br />

Sammlung von wissenschaftshistorischen Beispielen im wesentlichen die Siegeszüge<br />

des ” einstig Neuen“, nämlich von ” Kopernikus, Newton, Lavoisier und<br />

Einstein“.<br />

Diese Beschränkungen auf Bereiche diesseits des Neuen haben zu unterschiedlichen<br />

Ausweich- und Umgehungsstrategien geführt: Bei Historikern hat<br />

das Fehlen des Neuen zwei verschiedene Hauptwege entstehen lassen. Auf der<br />

einen Seite sehen wir die ’ historistische Steigerung‘, das ’ eigentlich‘ Gewesene<br />

– entweder unter ” Auslöschung“ des Selbst, der frühe Wunsch des Leopold von<br />

Ranke, oder unter ” Beteiligung“ des Selbst, die spätere Phase historistischer<br />

Selbstreflexion – in den alleinigen Vordergrund zu stellen. Auf der anderen Seite<br />

entstand speziell in den letzten Jahrzehnten ein Interesse daran, was ” nicht<br />

eigentlich gewesen“ – oder was der ’ historistische Blick‘ aus den Augen verloren<br />

beziehungsweise nie in das Blickfeld bekommen hat: Alltag, Frauen, außereuropäische<br />

Kulturen.<br />

Im Feld der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften herrschen hauptsächlich<br />

kompensatorische Neigungen vor, die fehlende Faßbarkeit der Entstehung des<br />

Neuen durch eine ’ Rhetorik der neuen Einzigartigkeit‘ und einen ’ Jargon der<br />

permanenten Innovation‘ zu sublimieren. Und die wissenschaftswissenschaftliche<br />

Perspektive genügt sich hinreichend selbst damit, die mannigfaltigen kognitiven<br />

wie nicht-kognitiven ’ Netze‘, die den Wissenschaftsentwicklungen zugrunde<br />

liegen, auf immer andere und damit neue Weisen zu re-konfigurieren.<br />

Man zeigt Design-Variationen – und rekonfiguriert Bekanntes.<br />

ÖZG 11.2000.1 5


Der Augenblick des Neuen, so schön er auch sein mag, er findet normalwissenschaftlich<br />

derzeit kein Verweilrecht. Dabei läßt sich die Frage dieses Heftes,<br />

” wie Neues entsteht“, auf mehrfache Weisen beantworten. Eine der elementaren<br />

Antworten lautet beispielsweise, daß die Buchstabenmenge eeeeehinnsstttuw<br />

ausreicht, Wie Neues entsteht“ entstehen zu lassen. Aus 5×e, aus 3×t, aus<br />

”<br />

2×n, aus 2×s, aus 1×i, aus 1×h, aus 1×u sowie aus 1×w kann nach geeigneten<br />

Kompositionen beziehungsweise Rekombinationen Wie Neues entsteht“ her-<br />

”<br />

vortreten. Eine ähnliche Antwort könnte darauf verweisen, daß Wie Neues<br />

”<br />

entsteht“ aus unterschiedlichen Punkten und nach so und so vielen Transformationen<br />

aus Weisse hueten nett“, aus Seestuten weihen“, aus Enten husten<br />

” ” ”<br />

weise“ oder aus weise Hustenenten“ hervorgegangen ist.<br />

”<br />

Erst gegen das Ende dieses Heftes zu werden sich einige Gründe versammelt<br />

finden, welche gerade solche scheinbar trivialen Scrabble-Transformatio-<br />

’<br />

nen‘, die mit den Fragen nach der Entstehung des Neuen überhaupt nicht zusammenhängen,<br />

in den Mittelpunkt des Interesses rücken werden.<br />

Der Weg bis zu diesem Schlußpunkt ist allerdings umfangreich geworden,<br />

aber kognitiv überaus spannend zu verfolgen. Mit dem vorliegenden Heft ist es,<br />

so hoffen wir, gelungen, die Frage nach der Entstehung des Neuen – und man<br />

sollte hinzufügen: vornehmlich das Neue innerhalb der Wissenschaft, nur am<br />

Rande jenes der Technologie – auf so etwas wie eine Arbeitsbasis‘ zu stellen.<br />

’<br />

Die Artikel in diesem Heft vermitteln trotz der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen<br />

eine Kohärenz, die angesichts der Schwierigkeiten und der<br />

Gewöhnungsbedürftigkeit des Themas ungewöhnlich ist – und erstaunt.<br />

Albert Müller beginnt mit einem Fallbeispiel, dem Biological Computer<br />

Laboratory an der University of Illinois (1958–1976). Dort wurden unter der<br />

Ägide von Heinz von Foerster, dessen Anliegen es war, die Kybernetik im Laufe<br />

der Jahre von einer ersten‘ auf eine zweite‘ Stufe zu heben, zukunftsweisende<br />

’ ’<br />

Ideen geboren, Programme formuliert und pädagogisch neue Wege beschritten.<br />

Obgleich diese Institution in den funding wars letztlich aufgerieben wurde, setzte<br />

nach seiner Schließung eine bemerkenswerte Welle der Diffundierung ein.<br />

Grundgelegt wurde dies allerdings sowohl im kybernetischen Forschungsprogramm,<br />

das auf Interdisziplinarität, auf eine coincidentia oppositorum‘ ziel-<br />

’<br />

te, als auch in der ungewöhnlichen Zusammensetzung des BCL, mit der diese<br />

” transdisziplinäre“ Haltung umgesetzt werden konnte.<br />

Ellen Jane und Rogers Hollingsworths bieten auf einer breiten empirischen<br />

Grundlage eine Kontrast-Untersuchung von 28 Instituten, denen ein großer<br />

”<br />

Durchbruch“ in den bio-medizinischen Wissenschaften gelang, und hundert Instituten,<br />

deren Aktivität und Ergebnisse man als normalwissenschaftlich‘ be-<br />

’<br />

zeichnen kann. Anhand der Merkmale Vielfalt, Tiefe, Differenzierung, hierarchische<br />

und bürokratische Koordination, interdisziplinäre und integrierte Aktivitäten,<br />

Leadership und Qualität werden die organisatorischen Settings der<br />

6 ÖZG 11.2000.1


Forschungslaboratorien untersucht. Die in solchen organisatorischen Settings<br />

jeweils geförderte oder nicht geförderte Hybridität“ oder Weite“ von kogni-<br />

” ”<br />

tiven Domänen erweist sich zusammen mit organischen“ Institutsstrukturen,<br />

”<br />

mit einem hohen Grad an horizontaler Kommunikation“ oder mit klar vor-<br />

”<br />

gegebenen Institutszielen“ als Schlüsselfaktor <strong>für</strong> die Wahrscheinlichkeit eines<br />

”<br />

” großen Durchbruchs“ im Bereich der Biomedizin.<br />

Jerry Hage untersucht die Voraussetzung zur Innovation in Unternehmen<br />

und anderen Organisationen aus einer vergleichenden, transkulturellen Perspektive.<br />

Seine Formel der komplexen Arbeitsteilung“ erweist sich zunächst<br />

”<br />

als das Ergebnis einer schwierigen Balance zwischen Differenzierung und Entdifferenzierung<br />

der Tätigkeiten unterschiedlicher, in die Organisation involvierter<br />

Akteure. Riskante Strategien“ und organische Organisationskulturen“ sind<br />

” ”<br />

zwei weitere Faktorengruppen, die Hage benennt. Am Beispiel von Forschungseinrichtungen<br />

wird nun gezeigt, daß diese in der Management-Forschung gewonnenen<br />

Kategorien sich generalisieren lassen.<br />

Diese Analysen werden in der Arbeit von Karl H. Müller versuchsweise synthetisiert,<br />

zusammengefaßt und erweitert. Unter dem Generaltitel Wie Neues<br />

”<br />

entsteht“ werden nach einer Reihe von begrifflichen Klärungen zum Status des<br />

Neuen vier systematische Analysewege beschrieben, auf denen das Phänomen<br />

des Neuen untersucht werden kann. Bemerkenswert an diesen vier Heuristiken<br />

dürfte vor allem die Tatsache sein, daß in allen vier Fällen so etwas wie<br />

ein einheitliches Erklärungsmuster gefunden werden konnte, das zudem auf<br />

sehr verschiedenen Bereichen eingesetzt werden kann. Sollten sich, was in diesem<br />

Artikel allerdings nicht mehr geschieht, mit diesen Heuristiken interessante<br />

wissenschaftshistorische Fallstudien aufbereiten und durchführen lassen, dann<br />

hätte die Frage, wie Neues entsteht, wiederum ihr wissenschaftliches Heim-<br />

’<br />

recht‘ gefunden.<br />

Aber die Frage, wie Neues entsteht, besitzt eine logische Kehrseite, die da<br />

lautet: Wie Neues nicht entsteht. Und wenn sich Faktorengruppen‘ <strong>für</strong> die Ent-<br />

’<br />

stehung des Neuen finden lassen, dann sollte die Absenz solcher Faktoren auch<br />

die erweiterte Reproduktion des Alten, des Bekannten wie auch die Verhinderung<br />

des Neuen miterklären helfen. Und in der Tat verdeutlicht die Arbeit von<br />

Christian Fleck, daß mehrere gewichtige nicht gegebene Schlüsselfaktoren“ rei-<br />

”<br />

chen, um Neues nicht entstehen oder wenigstens zeitweilig nicht aufkommen zu<br />

lassen. Ohne dem spannend erzählten Sitten- und Bildungsroman aus den fünfziger<br />

und frühen sechziger Jahren von Österreich II vorgreifen zu wollen, kann<br />

einleitend eine systematische Zusammenfassung versucht werden. Eine <strong>für</strong> die<br />

<strong>österreichische</strong> Landschaft der damaligen Jahre geplante Innovation‘, nämlich<br />

’<br />

die Gründung eines Instituts <strong>für</strong> Advanced Studies“ im Bereich der Sozial-<br />

”<br />

und Wirtschaftswissenschaften, mißrät in den ersten Jahren, indem es an die<br />

bestehende politische Kultur akribisch assimiliert und vorauseilend angepaßt<br />

ÖZG 11.2000.1 7


wird. Einige der notwendigen organisatorischen Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> innovatives<br />

wissenschaftliches Arbeiten, sie blieben in der schwierigen ’ Gründerzeit‘<br />

des nachmaligen Instituts <strong>für</strong> Höhere Studien auf der politik-wissenschaftlichen<br />

Strecke. Dazu zählt beispielsweise eine klare strategische Positionierung eines<br />

solchen Instituts, dazu gehören sehr hohe wissenschaftliche Standards in der<br />

Personalrekrutierung, dazu reiht sich auch ein hinreichender Grad an ’ Autonomie‘<br />

vom politisch-wirtschaftlichen Umfeld. Alle diese ” Schlüsselfaktoren“ fehlten<br />

– und die vorhandenen Schlüsselelemente <strong>für</strong> Innovation wie beispielsweise<br />

eine interdisziplinäre Zusammensetzung oder ein starker sozialer wie kommunikativer<br />

Zusammenhalt erwiesen sich in dieser Phase als zu schwach, um diese<br />

Kehrseiten kompensieren und aufwiegen zu können. Zwar konnte sich nach 1968<br />

das Institut <strong>für</strong> Höhere Studien einen gewichtigen Platz innerhalb der <strong>österreichische</strong>n<br />

Ökonomie, Politikwissenschaft oder Soziologie aufbauen, doch lastete<br />

die ” Erbschaft dieser Frühzeit“ an allen weiteren Umstrukturierungen.<br />

Im Forum findet sich ein Beitrag von Ruth Beckermann, der sich mit den<br />

in Österreich diskutierten Plänen eines Hauses der Geschichte beziehungsweise<br />

eines Hauses der Toleranz befaßt und der gegen die gegenwärtige Tendenz zu<br />

einer musealisierenden Zementierung bestehender reaktionärer Geschichtsbilder<br />

und ’ Identitäts‘-Konzeptionen antritt. Am Beispiel dieser vor allem politischen<br />

Diskussion läßt sich abermals nachvollziehen, ” wie Neues nicht entsteht“ und<br />

nicht entstehen kann. Götz Aly verdanken wir schließlich einen Survey in die<br />

nun vom israelischen Staatsarchiv freigegebenen Aufzeichungen Adolf Eichmanns.<br />

Albert Müller und Karl H. Müller, <strong>Wien</strong><br />

8 ÖZG 11.2000.1


Albert Müller<br />

Eine kurze Geschichte des BCL<br />

Heinz von Foerster und das Biological Computer Laboratory<br />

” Heinz, womit müßte ein Historiker beginnen,<br />

wenn er die Geschichte des BCL schreiben möchte “<br />

” Er müßte mit den Macy-Konferenzen beginnen“1<br />

Bevor ich diesem durchaus begründeten Rat folge, möchte ich kurz darlegen,<br />

was ich mir hier vorgenommen habe. Ich versuche den Ansatz einer Interpretation<br />

zu einem kleinen und – wie ich glaube – ungewöhnlichen Kapitel der<br />

Wissenschaftsgeschichte der späten 1950er bis Mitte der 1970er Jahre, dem<br />

bisher nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde.<br />

Und ebenso motiviert mich der Umstand, daß das BCL in der Literatur zur<br />

Geschichte der Kybernetik, der Systemtheorie, der nun wieder neu debattierten<br />

Bionik, des parallelen Rechnens, der Neurophysiologie, der Bio-Logik, der<br />

künstlichen Intelligenz, des symbolischen Rechnens oder des Konstruktivismus<br />

als Denktradition – man könnte noch weitere Wissensgebiete von gegenwärtig<br />

großem Renommee aufzählen – nur sehr selten erwähnt wird, 2 obwohl Mitarbeiter<br />

dieser Einrichtung, des BCL, als maßgeblich <strong>für</strong> die jeweilige Domäne<br />

in der Literatur zu diesen Wissensgebieten erscheinen. Ist das eine spezielle<br />

Vergeßlichkeit der history of science (die Vergeßlichkeit der science selbst ist<br />

1 Aus einem Interview mit Heinz von Foerster. Ohne die jahrelange tatkräftige Unterstützung<br />

durch Heinz von Foerster, der meine Fragen immer wieder geduldig beantwortete (hinfort zitiert<br />

als Interview HvF) und der mir sein Archiv (hinfort zitiert als HvF-Archiv) zugänglich<br />

machte, wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ich möchte mich hier herzlich da<strong>für</strong> bedanken.<br />

Diese Arbeit wäre außerdem nicht möglich gewesen ohne die dauernde Zusammenarbeit<br />

mit Karl H. Müller, mit dem ich das Interesse am BCL und seinem Gründer teile.<br />

2 Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet hier Pierre Levy, Analyse de contenu des travaux<br />

du Biological Computer Laboratory (B.C.L.), in: Ecole Polytechnique – CREA – Centre de<br />

Recherche epistemologie et autonomie, Hg., Genealogies de l’auto-organisation, Paris 1985,<br />

155–192; ders., Le theatre des operations. Au sujet des travaux du B.C.L., in: ebd., 193–224.<br />

ÖZG 11.2000.1 9


ja weithin bekannt) 3 Ich bin nicht sicher. Und ich versuche einmal ein Beispiel<br />

aus einem speziellen Bereich zu geben. Jeder der sich nur ein bißchen<br />

mit der Geschichte der Kybernetik beschäftigt, stößt zuerst auf den Namen<br />

ihres Begründers Norbert <strong>Wien</strong>er. 4 Und zugleich mit dem Namen erfährt er,<br />

daß <strong>Wien</strong>er am MIT (Massachusetts Institute of Technology) in Boston tätig<br />

war. Bald danach wird der oder die Interessierte auf den Namen W. Ross<br />

Ashby stoßen, der ja immerhin der Verfasser eines der bedeutendsten Lehrund<br />

Grundlagenbücher der Kybernetik ist, bestens geschrieben, gerade heute<br />

lesenswert. 5 Der Interessierte wird bei dieser Gelegenheit lernen, daß es sich bei<br />

Ashby um einen englischen Psychiater handelt. Er wird aber gewöhnlich nicht<br />

erfahren, daß Ashby eine lange Zeit bis 1972 eine Professur am BCL innehatte.<br />

Solche Kleinigkeiten sind es unter anderem, die mich dazu bewegen, an einer<br />

vorläufigen kleinen Geschichte des BCL zu arbeiten. 6<br />

BCL (Biological Computer Laboratory) ist der Name einer eigenständigen<br />

Abteilung innerhalb des Departments of Electrical Engineering an der University<br />

of Illinois, die 1957/58 vom damaligen Professor for Electrical Engineering<br />

Heinz von Foerster gegründet und im Zuge seiner Emeritierung geschlossen<br />

wurde. Die Vermutung einer sehr engen Bindung des ” Schicksals“ dieser Institution<br />

an das ” Schicksal“ ihres Gründers und Leiters mag damit schon auf den<br />

ersten Blick naheliegend erscheinen. 7<br />

Vorgeschichten<br />

Zu jeder kurzen Geschichte kann man eine kurze Vorgeschichte erzählen. Im<br />

speziellen Fall des BCL wird sich diese Vorgeschichte auf biographische Um-<br />

3 Um beim Beispiel zu bleiben: Schon rund zehn Jahre nach seiner Schließung erinnerte sich<br />

– so berichtet Stefano Franchi – an der University of Illinois niemand mehr an das BCL.<br />

Vgl. Stefano Franchi, Güven Güzeldere u. Eric Minch, Interview with Heinz von Foerster, in:<br />

Stanford Humanities Review 4 (1995), H. 2, 288–307.<br />

4 Vgl. nur Norbert <strong>Wien</strong>er, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen<br />

und in der Maschine, Düsseldorf u. a. 1992. (urspr. 1948).<br />

5 W. Ross Ashby, An Introduction to Cybernetics, New York 1956.<br />

6 Ein kleiner Versuch, die Verhältnisse ein wenig zurecht zu rücken, stammt von Francisco<br />

Varela. Vgl. Francisco Varela, Heinz von Foerster, the scientist, the man, in: Stanford<br />

Humanities Review 4 (1995), H. 2., 285–288.<br />

7 Eine Einführung in die Biographie Heinz von Foersters sowie eine Bibliographie seiner<br />

Schriften bis 1997 findet sich in: Albert Müller, Karl H. Müller u. Friedrich Stadler, Hg.,<br />

Konstruktivismus und Kognitionswissenschaft. Kulturelle Wurzeln und Ergebnisse. Heinz<br />

von Foerster gewidmet, <strong>Wien</strong> u. New York 1997. Einen Überblick über die Arbeit von Foersters<br />

bieten: Heinz von Foerster, Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie,<br />

Braunschweig, 1985; ders., Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Frankfurt<br />

am Main 1992; ders., KybernEthik, Berlin 1993; außerdem ders., Observing Systems, Salinas<br />

1981.<br />

10 ÖZG 11.2000.1


stände seines Gründers konzentrieren müssen. Heinz von Foerster hatte bald<br />

nach seiner Ankunft in den USA 1949 eine Stelle an der University of Illinois<br />

erhalten. Das war zunächst die Folge einer Kette von Zufällen, sodann die der<br />

nachdrücklichen Unterstützung durch Warren McCulloch. Wenn man es genau<br />

nimmt, war Foerster im Jahr 1949 kein Wissenschaftler im ’ strengen‘ Sinn, weder<br />

nach den Regeln des mitteleuropäischen Wissenschaftssystems, noch nach<br />

denen des Wissenschaftssystems der Vereinigten Staaten. Von Foerster war<br />

Techniker und Erfinder. Vor 1945 hatte er im Bereich avancierter physikalischer<br />

Grundlagenforschung in der NS-Rüstungsforschung gearbeitet. 8 Er verfügte aus<br />

verschiedenen Gründen über keinen regulären akademischen Abschluß. 9 Und er<br />

hatte bis dahin nur eine geringe Anzahl von Publikationen. Einen Artikel aus<br />

dem Bereich der Physik 10 und ein schmales Buch, das nach landläufigen Begriffen<br />

dem Gebiet der Psychologie zugeordnet wurde.<br />

Nach 1945 verdiente er die Hälfte seines Gehalts als Techniker bei einem<br />

<strong>Wien</strong>er Betrieb der Kommunikationstechnologie. Die andere Hälfte verdiente er<br />

mit journalistischer Arbeit, die sowohl gesellschaftspolitische als auch wissenschaftsjounalistische<br />

Beiträge umfaßte, im Sender Rot-Weiß-Rot. Wissenschaft<br />

war damals <strong>für</strong> Foerster eher so etwas wie ein Hobby, denn selbst seine erste<br />

Buchpublikation Das Gedächtnis entstand nebenher. 11 Im <strong>Wien</strong> der Nachkriegsjahre<br />

fand diese Publikation – vor allem auch unter Psychologen 12 – nur<br />

geringen Anklang, 13 obwohl die Veröffentlichung etwa bei Erwin Schrödinger<br />

auf Interesse stieß. 14<br />

Diese Untersuchung gelangte eher zufällig und über private Netzwerke in<br />

die Hände Warren McCullochs, der sich vom quantenmechanischen Ansatz die-<br />

8 Soweit heute abzusehen ist, produzierte Foerster weder direkt noch indirekt <strong>für</strong> den Krieg<br />

’ brauchbare‘ Forschungsergebnisse.<br />

9 Heinz von Foerster studierte an der Technischen Hochschule <strong>Wien</strong> Technische Physik. Vor<br />

dem Studienabschluß trat er eine Stelle in einer Firma <strong>für</strong> physikalisch-technische Instrumente<br />

an. 1944 reichte er an der <strong>Universität</strong> Breslau eine Dissertation ein und machte entsprechende<br />

Prüfungen. Den <strong>für</strong> die formelle Promotion notwendigen Ariernachweis‘ konnte er aber nicht<br />

’<br />

erbringen, sodaß seine Promovierung unterblieb.<br />

10 Heinz von Foerster, Über das Leistungsproblem beim Klystron, in: Berichte der Lilienthal<br />

Gesellschaft <strong>für</strong> Luftfahrtforschung 155 (1943), 1–5. Daneben verfaßte er interne Forschungsberichte<br />

über laufende Arbeiten, die unpubliziert blieben.<br />

11 Heinz von Foerster, Das Gedächtnis: Eine quantenmechanische Untersuchung, <strong>Wien</strong> 1948.<br />

Erste Aufzeichnungen über Vorarbeiten finden sich in einem Manuskriptband aus dem Jahr<br />

1945 (im HvF-Archiv).<br />

12 Die Gedächtnisforschung an der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> verfolgte gänzlich andere Konzepte.<br />

Vgl. z. B. Hubert Rohracher, Zur Physiologie des Gedächtnisses, in: Anzeiger der phil.-hist.<br />

Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1948, Nr. 3, 41–55; vgl. auch ders.,<br />

Die Vorgänge im Gehirn und das geistige Leben, 2. Aufl. Leipzig 1948.<br />

13 Die Korrespondenz des Deuticke-Verlags mit dem Autor in den Jahren nach dem Erscheinen<br />

des Buches weist nur geringe Verkaufszahlen aus. (HvF-Archiv.)<br />

14 Erwin Schrödinger an Hans Deuticke, 16. Dezember 1948, Abschrift im HvF-Archiv.<br />

ÖZG 11.2000.1 11


ser Untersuchung eine Lösung eigener Forschungsprobleme versprach, von denen<br />

Foerster zur Zeit der Abfassung von Das Gedächtnis keine Kenntnis hatte.<br />

McCulloch 15 lud Foerster jedenfalls ein, seine Thesen zur Funktionalität des<br />

Gedächtnisses im Hinblick auf Erinnern und Vergessen auf einer Kybernetiktagung,<br />

der Macy-Conference, vorzutragen. 16<br />

Im Gegensatz zum BCL haben die Macy-Konferenzen durchaus einiges<br />

wissenschaftshistorisches Interesse gefunden. Einen besonderen Hinweis verdient<br />

hier Steve Heims’ Buch über die Cybernetics Group 1946–1953. 17 Diese<br />

Arbeit basiert zwar auf einer breiten Quellenkenntnis, sie leidet aber möglicherweise<br />

ein wenig unter einer ” ideologiekritischen“ Fixierung auf die USA im<br />

Kalten Krieg. Die politische Entwicklung der Vereinigten Staaten wird manchmal<br />

allzusehr an die Aktivitäten der Forschergruppe gebunden.<br />

Nach seinem ersten Vortrag vor der Macy-Konferenz 1949 wurde Heinz von<br />

Foerster zum Herausgeber der Publikation der Konferenzakten bestimmt. 18 In<br />

sehr kurzer Zeit war er von der äußersten Peripherie (dem Nachkriegs-<strong>Wien</strong>)<br />

ins Zentrum einer der bedeutendsten Wissenschafts-Bewegungen des 20. Jahrhunderts<br />

geraten.<br />

Die Teilnehmer der Macy-Tagungen vertraten 1949 die Fachrichtungen<br />

Psychiatrie, Elektrotechnik, Physiologie, Computerwissenschaft, Medizin, Zoologie,<br />

Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Anatomie, Neurologie, Verhaltensforschung,<br />

Mathematik, Radiobiologie, Biophysik, Philosophie. Bis 1953 erweitert<br />

sich diese Liste noch um Ökonomie und andere Disziplinen. 19<br />

15 Zu Warren McCulloch vgl. am besten die Collected Works of Warren S. McCulloch, hg.<br />

v. Rook McCulloch, Salinas CA 1989, 4 Bde. mit zahlreichen kommentierenden Artikeln.<br />

Leichter zugänglich: ders., Embodiments of Mind, Cambridge MA 1965. Für den Kontext<br />

vgl. Olaf Breidbach, Die Materialisierung des Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19.<br />

und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997, 367 ff.<br />

16 Heinz von Foerster, Quantum Mechanical Theory of Memory, in: Ders., Hg., Cybernetics.<br />

Circular Causal, and Feedback Mechanisms in biological and social Systems. Transactions of<br />

the Sixth Conference, New York 1949, 112–145.<br />

17 Steve Joshua Heims, Constructing a social science for postwar America. The cybernetics<br />

Group 1946–1953, Cambridge MA u. London 1991. Vgl. aber auch Jean-Pierre Dupuy, Aux<br />

origines des science cognitives, Paris 1994, sowie einige Hinweise bei Francisco J. Varela,<br />

Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik. Eine Skizze aktueller Perspektiven, Frankfurt<br />

am Main 1990, 30 ff. Eine neue Interpretation findet sich bei N. Katherine Hayles, Boundary<br />

Disputes. Homeostasis, Reflexivity, and the Foundations of Cybernetics, in: Configurations 2<br />

(1994), 441–467.<br />

18 Heinz von Foerster, Hg., Transactions of the sixth Conference, wie Anm. 16; ders., Margaret<br />

Mead u. Hans Lukas Teuber, Hg., Cybernetics: Transactions of the Seventh Conference,<br />

New York 1950; dies., Hg., Cybernetics: Transactions of the Eighth Conference, New York<br />

1951; dies., Hg., Cybernetics: Transactions of the Ninth Conference Foundation, New York<br />

1953; Dies., Hg., Cybernetics: Transactions of the Tenth Conference, New York 1955. Die<br />

Übertragung der Herausgeberschaft an das zuletzt hinzugekommene Mitglied war nicht zuletzt<br />

die didaktische Absicht verbunden, dessen Englischkenntnisse zu verbessern.<br />

19 Nach den Teilnehmerverzeichnissen der Transactions, wie Anm. 18.<br />

12 ÖZG 11.2000.1


Unter den Teilnehmern waren neben dem Vorsitzenden Warren McCulloch<br />

unter anderem Norbert <strong>Wien</strong>er, John von Neumann, Gregory Bateson, Margareth<br />

Mead, Julian H. Bigelow, Paul Lazarsfeld, Walter Pitts und der Leiter<br />

des Tagungsprogramms der Macy Foundation, Frank Fremont Smith.<br />

Die Diskussionen dieser Gruppe kennzeichnete Heinz von Foerster als ” kooperativ,<br />

und nicht kompetitiv“ 20 . Die von ihm betreuten Publikationen versuchten<br />

diese Diskussionsstruktur auch in der gedruckten Form nachzuzeichnen.<br />

Die Vorträge werden durch Fragen, der Bitte nach Erläuterungen, Einwänden<br />

etc. unterbrochen, die Multiperspektivität auf ein Thema stand dabei<br />

im Vordergrund. Dennoch ließ auch dieser kooperative Diskussionsmodus heftige<br />

Einwände zu. Als ein Beispiel kann die Auseinandersetzung zwischen Ross<br />

Ashby, der seinen Homöostaten präsentierte, und Julian Bigelow, der die Nützlichkeit<br />

dieser Konstruktion vehement bestritt, dienen. 21<br />

Für den nunmehrigen Professor <strong>für</strong> Electrical Engineering in Urbana, Illinois,<br />

bedeutete die Mitwirkung an den regelmäßigen jährlichen Tagungen so<br />

etwas wie ein intellektuelles Zentrum. Und nach dem Ende der Macy-Group<br />

(1953) versuchte er gewissermaßen ihr ” Erbe“ weiterzuführen. Als Physiker in<br />

Urbana konnte Heinz von Foerster jedoch zunächst an seine früheren Arbeiten<br />

anschließen: er leitete das Electron Tube Lab.<br />

Die Gründung des BCL<br />

Eine der vielversprechenden Optionen der Kybernetik schien <strong>für</strong> Foerster offenkundig<br />

in der Auslotung ihrer Anwendungsgebiete und -möglichkeiten zu<br />

liegen. Diese Anwendungsmöglichkeiten ergaben sich allerdings zunächst nicht<br />

aus den bisherigen Forschungen Foersters als Physiker und Elektrotechniker.<br />

Er nutzte die Möglichkeit eines Sabbaticals und die Unterstützung der Guggenheim<br />

Foundation, um sich in zusätzlichen Bereichen weiterzubilden. Zum<br />

einen Teil beschäftigte er sich am MIT bei Warren McCulloch mit Problemen<br />

der Neurophysiologie, zum andern Teil ging er nach Mexiko, um bei Arturo<br />

Rosenblueth, einem bedeutenden Mitglied der Macy-Group, zu Problemen der<br />

Physiologie und Biologie zu arbeiten. Während dieses Aufenthalts verfaßte er<br />

unter anderem ein – dann unveröffentlicht gebliebenes – Manuskript, dessen<br />

Inhalt die Kybernetik der Muskelaktivität betraf. 22<br />

Mit dieser ” Schulung“ bei Rosenblueth und McCulloch erschien Foerster<br />

20 Interview HvF.<br />

21 Vgl. W. Ross Ashby, Homeostasis, in: Foerster u. a., Transactions of the ninth conference,<br />

wie Anm. 18, 73–108, bes. 95: ” Bigelow: It (Ashby’s Homöostat) may be a beautiful replica<br />

of something, but heaven only knows what.“<br />

22 Manuskript im HvF-Archiv mit dem Titel ” Phenomenology of External and Internal Work<br />

in the Active Whole Muscle“, datiert Mai 1957.<br />

ÖZG 11.2000.1 13


ausreichend legitimiert, um von seiner <strong>Universität</strong> die Möglichkeit zu erhalten,<br />

das BCL, soweit ich sehe: ganz nach seinen eigenen Vorstellungen, zu eröffnen<br />

und zu betreiben. Das Labor wurde mit 1. Jänner 1958 eröffnet. Ein völlig<br />

neuer Forschungszweig wurde damit innerhalb der <strong>Universität</strong> und innerhalb<br />

des Departments of Electrical Engineering konstituiert. Die Leitung des Electron<br />

Tube Lab, das vor allem auch aufgrund der zunehmenden Bedeutung des<br />

Transistors an Relevanz verlor, hatte Foerster aufgegeben.<br />

Abbildung 1: Heinz von Foerster im BCL, ca. 1960<br />

(Quelle: HvF-Archiv)<br />

Das BCL war in seinem ersten Jahrzehnt vor allem ein Forschungslabor.<br />

Mit der Arbeit dort war (fast) keine Lehrtätigkeit verbunden. Studenten, die<br />

am BCL arbeiteten, wurden aus Forschungsprojekten bezahlt und nicht formell<br />

– im Sinne eines Studienganges oder Curriculums – dort ausgebildet.<br />

Die Finanzierung des BCL erfolgte vor allem über Drittmittel. Von medizinischen<br />

und anderen Programmen abgesehen waren US-Airforce und US-Navy<br />

die Hauptfinanciers des Labors. (Vgl. Tabelle 2 im Anhang.) Beide militärischen<br />

Organisationen verfügten in den 50er und 60er Jahren über erstaunliche<br />

Etats <strong>für</strong> (nicht-militärische) Grundlagenforschung. Erst seit Beginn der 1970er<br />

Jahre sollte sich dies ändern.<br />

14 ÖZG 11.2000.1


Anfangsjahre<br />

Versucht man die Anfangsjahre des BCL zu rekonstruieren, so gelangt man zu<br />

folgenden bemerkenswerten Ergebnissen: Offensichtlich gelang es Foerster sehr<br />

rasch, interessante Forscher an das BCL zu bringen. Einige dieser Personen entstammten<br />

dem kybernetischen ” Establishment“ – Ross Ashby wurde ja schon<br />

erwähnt –, sodann wurden aber auch Vertreter ” ferner“ Disziplinen, der Philosoph<br />

Gotthart Günther ist da<strong>für</strong> ein Beispiel, gewonnen. Dazu kamen immer<br />

wieder junge Wissenschaftler aus allen möglichen Bereichen. Und schließlich lud<br />

das BCL Gäste ein: solche Einladungen waren wohl nur zum Teil ” strategisch“,<br />

zum Teil eher zufällig oder über die bereits bestehenden Netzwerke – nicht zuletzt<br />

der Macy-Group – vermittelt. So gelangte etwa Gotthart Günther durch<br />

die Vermittlung Warren McCullochs an das BCL. 23 In den ersten Jahren des<br />

Labors, bis 1965, waren insgesamt folgende Personen als Visiting Research Professors<br />

eingeladen: Gordon Pask (England), Lars Löfgren (Schweden), W. Ross<br />

Ashby (England), Gotthard Günther (USA, Deutschland), William Ainsworth<br />

(England), Alex Andrew (England), Dan Cohen (Israel). Ashby (seit 1961) und<br />

Günther (seit 1967) erhielten dauernde Professuren, Pask 24 , mit dem Foerster<br />

auch gemeinsam publizierte 25 , und Löfgren blieben in permanentem Kontakt<br />

mit dem BCL.<br />

Selbstorganisierende Systeme und Bionik<br />

Auf der Grundlage dieser Struktur gelang es, am BCL nach nur sehr kurzer<br />

Anlaufzeit eines der damals konjunkturträchtigsten Themen zu bearbeiten und<br />

auch organisatorisch gewissermaßen zu besetzen. Mehrere wichtige Konferenzen<br />

kamen im unmittelbaren Umfeld des BCL zustande. Thematisch kreisten<br />

sie um Probleme der Systemtheorie und speziell um den Bereich selbstorganisierender<br />

Systeme. 26 Noch heute sind die Konferenzbände wie Self-Organizing<br />

23 Vgl. Heinz von Foerster, Metaphysics of an experimental Epistemologist, in: Roberto<br />

Moreno-D az u. Jose Mira-Mira, Hg., Brain Process, Theories, and Models. An International<br />

Conference in Honor of W. S. McCulloch 25 Years after his Death, Cambridge u. London<br />

1995, 3–10.<br />

24 Zur Zusammenarbeit von Pask und Foerster vgl. auch Heinz von Foerster, On Gordon<br />

Pask, in: Systems Research 10 (1993), Nr. 3, 35–42.<br />

25 Gordon Pask u. Heinz von Foerster, A Predictive Model for Self-Organizing Systems, in:<br />

Cybernetica 3 (1960), 258–300; dies., A Predictive Model for Self-Organizing Systems, in:<br />

Cybernetica 4 (1961), 20–55.<br />

26 Vgl. allgemein Rainer Paslack, Urgeschichte der Selbstorganisation. Zur Archäologie eines<br />

wissenschaftlichen Paradigmas, Braunschweig 1991.<br />

ÖZG 11.2000.1 15


Systems 27 oder Principles of Self-Organization 28 grundlegend <strong>für</strong> diesen Forschungsbereich.<br />

Diese und anschließende Konferenzen, an denen Mitglieder<br />

des BCL beteiligt waren, erregten rasch internationales Aufsehen und zogen<br />

klar nachvollziehbare Diffundierungseffekte in europäischen Ländern bis hin<br />

zur UdSSR nach sich. Die Theorie selbstorganisierender Systeme kontrastierte<br />

und erweiterte die Tradition der Systemtheorie, 29 die in die 1920er Jahre<br />

zurückreicht, und dehnte vor allem ihre Anwendungsbereiche ganz massiv aus.<br />

Heinz von Foersters Beiträge dazu bestehen vor allem im Konzept des order<br />

from noise sowie in der Analyse der selbstorgansierenden Systeme im Rahmen<br />

der Thermodynamik. 30<br />

Neben Systemtheorie und Selbstorganisation war es vor allem das Schlagwort<br />

der Bionik, 31 das der Forschergruppe am BCL Aufsehen verschaffte. Bionik<br />

diente als weitgespanntes catchword, unter dem die Versuche zusammengefaßt<br />

wurden, biologische Prozesse zu analysieren, zu formalisieren und auf<br />

Rechnern zu implementieren. 32 Damit schloß das BCL sowohl an die Ideen von<br />

McCulloch und Pitts 33 als auch an die Tradition der Macy-Tagungen an. Auch<br />

zum Bereich der Bionik wurden Kongresse und Tagungen durchgeführt, die international<br />

weithin diffundierten. Mit der Bionik wurde übrigens auch eine Alternative<br />

zur 1956 formulierten ’ Artificial Intelligence‘ 34 geschaffen, auch wenn<br />

heute klar erscheint, daß sich die Artificial Intelligence in the long run auf dem<br />

Markt der wissenschaftlichen Forschungsprogramme als erfolgreicher erwies.<br />

Die raschen Erfolge des BCL trugen dazu bei, daß dem Labor militärische<br />

Förderungsmittel erschlossen wurden, obwohl das BCL zu keinem Zeitpunkt<br />

militärisch ” verwendbare“ bzw. ” verwertbare“ Produkte lieferte. Neben Grundlagenforschung<br />

wurde am BCL aber auch anwendungsorientierte Forschung<br />

27 Marshall C. Yovits u. Scott Cameron, Hg., Self-Organizing Systems, New York 1960.<br />

28 Heinz von Foerster u. George W. Zopf Jr., Hg., Principles of Self-Organization: The Illinois<br />

Symposium on Theory and Technology of Self- Organizing Systems, New York 1962.<br />

29 Vgl. z. B. Ludwig von Bertalanffy, General System Theory. Foundations, Development,<br />

Applications, revised edition, New York 1969.<br />

30 Vgl. Heinz von Foerster, On Self-Organizing Systems and Their Environments, in: Yovits<br />

u. Cameron, Hg., Self-Organizing Systems, wie Anm. 27, 31–50.<br />

31 Vgl. das Vorwort zu einer der initialen Konferenzen auf diesem Gebiet: Heinz von Foerster,<br />

Bionics, in: Bionics Symposium. Living Prototypes – the Key to new Technology, Technical<br />

Report 60-600, Wright Air Development Division Ohio 1960, 1–4; sowie ders., Bio-Logic, in:<br />

Eugene E. Bernard u. Morley A. Kare, Hg., Biological Prototypes and Synthetic Systems, Bd.<br />

1, New York 1962, 1–12. Für eine Art lexikalische Übersicht vgl. ders., Bionics, in: McGraw-<br />

Hill Yearbook Science and Technology (1963), 148-151.<br />

32 Heinz von Foerster, Some Aspects in the Design of Biological Computers, in: Second<br />

International Congress on Cybernetics, Namur 1960, 241–255.<br />

33 Vgl. den bahnbrechenden Artikel: Warren S. McCulloch u. Walter H. Pitts, A Logical<br />

Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity, in: Bulletin of Mathematical Biophysics<br />

5 (1943), 115–133.<br />

34 Als Erfinder diese Begriffs gilt bekanntlich John McCarthy.<br />

16 ÖZG 11.2000.1


Abbildung 2: Heinz von Foerster erläutert ein McCulloch-Pitts-Netzwerk, vor 1960<br />

(Quelle: HvF-Archiv)<br />

betrieben. Dazu zählt etwa ein interdisziplinäres Projekt zur Leukozytenforschung<br />

35 oder eine Serie von demographischen Arbeiten, die sich mit der Prognose<br />

des Umfangs der Weltbevölkerung beschäftigten. Das sogenannte Doomsday-Projekt<br />

36 erzeugte nicht zuletzt deshalb große Publizität über die Fachgrenzen<br />

hinaus, weil es bis in die 1980er Jahre ” bessere“ Vorhersagen als die<br />

traditionelle Demographie lieferte. 37<br />

Über beide Projekte – und weitere – könnte man sagen (und es wurde<br />

gesagt), ihnen lägen die unorthodoxen, ” schrägen“ Ideen Heinz von Foersters<br />

zugrunde. Diese etwas saloppe Formulierung, die lediglich die strategische An-<br />

35 George Brecher, Heinz von Foerster u. Eugene P. Cronkite, Produktion, Ausreifung und<br />

Lebensdauer der Leukozyten, in: Herbert Braunsteiner, Hg., Physiologie und Physiopathologie<br />

der weißen Blutzellen, Stuttgart 1959, 188–214; dies., Production, Differentiation and<br />

Lifespan of Leucocytes, in: Herbert Braunsteiner, Hg., The Physiology and Pathology of<br />

Leucocytes, New York 1962, 170–195.<br />

36 Vgl. Heinz von Foerster, Patricia M. Mora u. Lawrence W. Amiot, Doomsday, in: Science<br />

133 (1961), 936–946; dies., Population Density and Growth, in: ebd., 1931–1937. Vgl. auch<br />

allgemein: Heinz von Foerster, Some Remarks on Changing Populations, in: Frederick Stohlman<br />

Jr., Hg., The Kinetics of Cellular Proliferation, New York 1959, 382–407.<br />

37 Vgl. dazu auch Stuart A. Umpleby, The Scientific Revolution in Demography, in: Population<br />

and Environment. A Journal of Interdisciplinary Studies 11 (1990), 159–174.<br />

ÖZG 11.2000.1 17


wendung von Forschungsstrategien auf unerwartete‘, überraschende‘ Berei-<br />

’ ’<br />

che etikettieren soll, in die Terminologie der Innovationsforschung38 gebracht,<br />

läßt vielfältige Operationen der Re-Kombination als zentrales Element wissenschaftlicher<br />

Kreativität am BCL erscheinen. Nicht zufällig tauchte die Idee der<br />

’ Foerster-Operatoren‘ in diesem Zusammenhang auf.39<br />

Abweichung als Innovation<br />

” Abweichende“ Hypothesen und Forschungsprogramme wurden <strong>für</strong> den BCL-<br />

Stil, beziehungsweise <strong>für</strong> den Forschungsstil seiner Protagonisten zunehmend<br />

kennzeichnend. Der Abschied vom Mainstream der Forschung war zwar offensichtlich<br />

nicht das intendierte Ziel, aber doch wenigstens das offensichtliche<br />

Ergebnis der nun anschließenden Phase der Geschichte des Labors, deren Beginn<br />

wir in die Mitte der 1960er Jahre datieren können. Damals besuchte Heinz<br />

von Foerster den chilenischen Wissenschaftler Humberto Maturana, den er auf<br />

einer Konferenz in Europa kennengelernt hatte, in seinem Labor in Santiago<br />

und lud ihn in der Folge an das BCL ein. Maturana hatte bereits USA-<br />

Erfahrung, einige Zeit hatte er am MIT gearbeitet und dort aufgrund seiner<br />

” eigensinnigen“ Ansichten zunächst keine große Akzeptanz gefunden. Zum Labor<br />

von Marvin Minsky, dem späteren Mastermind“ der Artificial Intelligence-<br />

”<br />

Forschung40 hatte er damals – 1959 – schon ein schwieriges Verhältnis gehabt.<br />

Humberto Maturana kam also an das BCL und erarbeitete dort unter anderem<br />

einen wichtigen Artikel auf dem Weg zu seiner – heute weltweit bekannten –<br />

Theorie der Autopoiesis. 41 Aber auch die erste Ausformulierung der nun auf<br />

den Begriff gebrachten Theorie der Autopoiesis erschien zuerst als interne Publikation<br />

des BCL. 42 Schüler und Mitarbeiter Maturanas entwickelten ebenfalls<br />

38 Vgl. dazu nur Karl H. Müller, Sozialwissenschaftliche Kreativität in der Ersten und in<br />

der Zweiten Republik, in: ÖZG 7 (1996), 9–43, bzw. ders. in diesem Heft.<br />

39 Vgl. Heinz von Foerster, Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen. Eine<br />

Selbsterschaffung in 7 Tagen, hg. v. Albert Müller u. Karl H. Müller, <strong>Wien</strong> 1997, 213 ff.<br />

40 Vgl. Marvin Minsky, Mentopolis, Stuttgart 1990. Maturana hat auf sehr interessante<br />

Weise auf die Unterschiede zwischen der A.I.-Forschung und seinem eigenen Ansatz bzw. auch<br />

dem des BCL aufmerksam gemacht: ” Die Artificial-Intelligence-Forscher ahmten biologische<br />

Phänomene nach. Wenn man biologische Phänomene nachahmt und dabei nicht zwischen dem<br />

Phänomen und seiner Beschreibung unterscheidet, dann ahmt man am Ende die Beschreibung<br />

des Phänomens nach.“ Volker Riegas u. Christian Vetter, Gespräch mit Humberto Maturana,<br />

in: Dies., Hg., Zur Biologie der Kognition, Frankfurt am Main 1990, 45.<br />

41 Humberto Maturana, Biology of Cognition, Biological Computer Laboratory, Urbana Illinois<br />

1970, (BCL Report 9.0). Ders., u. Francisco Varela, Autopoietic Systems: A Characterization<br />

of the Living Organization. With an Introduction of Stafford Beer, Urbana Illinois<br />

1975, (BCL Report 9.4).<br />

42 Zur Genese des Begriffs Autopoiesis vgl. auch Humberto Maturana, The Origin of the<br />

18 ÖZG 11.2000.1


Beziehungen zum BCL, und zentrale erste Publikationen – zum Beipiel jene von<br />

Francisco Varela wurden als BCL-Reports herausgegeben. Jene Kontakte, die<br />

zu englischsprachigen Publikationen führten, wurden im BCL hergestellt.<br />

Wahrscheinlich war es die Herausforderung durch den Impuls der chilenischen<br />

Gruppe, die es Heinz von Foerster ermöglichte, die Entwicklung seiner<br />

radikalen Version einer Kybernetik zweiter Ordnung (second order cybernetics)<br />

voranzutreiben. 43 Dies soll nicht heißen, daß sich Foersters Konzepte aus denen<br />

Maturanas ableiten ließen, oder umgekehrt. Die Parallelen und die wechselseitige<br />

Stimulierung wurde auf einer Konferenz zu Cognitive Studies and Artificial<br />

Intelligence Research 1969 sichtbar. Foersters Beitrag kann als direkte Antwort<br />

auf jenen von Maturana gelesen werden – und vice versa. 44 Die hauptsächliche<br />

Parallele zwischen Forster und Maturana scheint in der selbst-thematisierenden<br />

Wende zu bestehen, die in den 60er und frühen 1970er Jahren gegen den wissenschaftlichen<br />

Mainstream gerichtet war. Dazu zählen vor allem zwei ’ Leitmotive‘,<br />

das der ” Schließung“ und das des ” Beobachters“.<br />

Gegen Ende der 60er Jahre läßt sich auch eine dezidierte Hinwendung<br />

zum Problem Sprache, wenngleich nicht zu einem linguistic turn im gewohnten<br />

Wortsinn, feststellen. Sowohl ’ Linguistics‘ als auch ’ Speech‘ wurden zu wichtigen<br />

Forschungsbereichen unter insgesamt fünf thematischen Schwerpunkten.<br />

Eine Tabelle aus dem Jahr 1969 stellt die Struktur der BCL-Forschung dar<br />

(vgl. Tabelle 1). Die generellen Themen gliedern sich in die Bereiche Logik,<br />

Linguistik, Struktur und Funktion von Systemen, Sprechen (bzw. gesprochene<br />

Sprache) und Physiologie.<br />

Abweichung und Innovation, die Wende zum Sozialen<br />

In der Spätphase des BCL wurde versucht, <strong>für</strong> bereits erzielte Einsichten sowie<br />

<strong>für</strong> geplante Weiterentwicklungen Anwendungsbereiche im Sozialen zu finden.<br />

Besonders bemerkenswert erscheint mir eine Kette von Projekten, in denen der<br />

gesellschaftliche Nutzen in den Vordergrund gestellt wurde. Vorhandene Elemente<br />

wie erkenntnis- und informationstheoretische Arbeiten, die Modellierung<br />

des Sensoriums, Arbeiten zur Datenstruktur und allgemeine Fragen der Proble-<br />

Theory of Autopoietic Systems, in: Hans Rudi Fischer, Hg., Autopoiesis. Eine Theorie im<br />

Brennpunkt der Kritik, Heidelberg 1991, 121–124.<br />

43 Vgl. zur Einführung und Übersicht: Heinz von Foerster, Hg., Cybernetics of Cybernetics<br />

or the Control of Control and the Communication of Communication, 2. Aufl., Minneapolis<br />

1995.<br />

44 Vgl. Humberto Maturana, Neurophysiology of Cognition, in: Paul L. Garvin, Hg., Cognition:<br />

A multiple view, New York u. Washington 1970, 3–23, sowie Heinz von Foerster,<br />

Thoughts and Notes on Cognition, in: Ebd., 25–48.<br />

ÖZG 11.2000.1 19


Tabelle 1: Forschungsstruktur am BCL, 1969<br />

Foundations Theory Computation Equipment Experiments<br />

Logic Natural Number<br />

in Trans-Classic<br />

Systems<br />

Linguistics Computers and<br />

Language,<br />

Linguistics,<br />

Grammar<br />

Structure Complex Dyn- Automata Automata Teaching Teaching<br />

and amic Systems Theory Theory Machines Machines<br />

Function Self- Complex Compuof<br />

Reproduction Systems tational<br />

Systems Analysis Networks<br />

Computational Neurons<br />

Networks and Nets<br />

Cognition and<br />

Perception<br />

Neurons<br />

and Nets<br />

Teaching<br />

Machines<br />

Information<br />

Transducers<br />

Speech Speech Event Speech Event Speech Event<br />

Sequences Sequences Sequences<br />

Speech Speech Speech<br />

Analysis Analysis Analysis<br />

Response Response Response<br />

Distortion Distortion Distortion<br />

of a Network of a Network of a Network<br />

Adaptive Adaptive Adaptive<br />

Sampling Sampling Sampling<br />

of Speech of Speech of Speech<br />

Speech Speech Speech<br />

Synthesis Synthesis Synthesis<br />

Physiology Tectal Orga- Tectal Organization<br />

of nization of<br />

Ambystoma Ambystoma<br />

Tigrinum Tigrinum<br />

Display of Display of Display of Display of<br />

Neurophysio- Neurophysio- Neurophysio- Neurophysiological<br />

Data logical Data logical Data logical Data<br />

Endocrine Endocrine<br />

Modelling Modelling<br />

20 ÖZG 11.2000.1


me der damaligen Gesellschaft sollten gewissermaßen in eins‘ gesetzt werden,<br />

’<br />

um allgemeinen – und vor allem: zivilen – Nutzen zu erzeugen.<br />

” Die Anwendung im sozialen Bereich war mir schon sehr früh als ein<br />

schmackhaftes Problem erschienen. Das Sozial-Problem haben ich, oder meine<br />

Freunde immer gesehen als die Möglichkeit einer sprachlichen Verbindung. Wir<br />

haben die Sprache aufgefaßt als den Klebstoff, der eine Gesellschaft formt. (...)<br />

Sprache erlaubt eine Kommunikation zweiter Ordnung (...) Einer der besten in<br />

unserer Gruppe, der über Sprache reflektieren konnte, war Paul Weston.“ 45<br />

Unter dem Titel Direct Access Intelligence Systems“<br />

” 46 sollte eine Art in-<br />

”<br />

telligenter“ Datenbank entstehen, deren Hauptkennzeichen nicht-numerischer<br />

Inhalt, natural language interface, vernetzte, dezentrale Wissensbasen hätten<br />

sein sollen. Wir dachten, man muß das Interface so bauen, daß ich bleiben<br />

”<br />

kann, wie ich eben bin, und das System so bleiben kann, wie es eben läuft“ 47<br />

Im Kontext der Entwicklung dieser Projekte wurde die interdisziplinäre<br />

Basis noch einmal verbreitert und unter Einbeziehung zum Beispiel von Pädagogen<br />

eine Arbeitsgruppe <strong>für</strong> Cognitive Studies gegründet.<br />

Neben den beiden Projektanträgen Foersters von 1970 und 1971 formulierte<br />

auch der BCL-Mitarbeiter Paul Weston einen Antrag, der sich vor allem<br />

mit Datenstrukturen – Information Designs würde man heute sagen –<br />

beschäftigte. 48 Liest man diese zukunftsweisenden Anträge heute rund 30 Jahre<br />

später, fühlt man sich an avancierte – nicht-kommerzielle – Perspektiven des<br />

” Internet“ erinnert.<br />

Die Annahme dieser Projekte bestand darin, es gäbe ein Defizit einzelner<br />

Gesellschaftsmitglieder an den Wissensbeständen des Kollektivs. Die Projekte<br />

sahen Terminals in den Lebensbereichen der Benutzer vor. Das System SOLON<br />

sollte mit natürlicher Sprache kontaktiert werden. Der Benutzer erhielte entweder<br />

die nötige Antwort oder eine Rückfrage, die zum Auffinden einer Lösung<br />

beitragen sollte. Die Frage würde selbst zum Teil der Datenbasis.<br />

Im Anschluß an ein solches Projekt stellt sich nicht nur <strong>für</strong> die damals ablehnend<br />

reagierenden Gutachter, sondern auch heute noch die Frage nach den<br />

Möglichkeiten einer Realisierung eines solchen Systems: Dieses Problem ist ja<br />

”<br />

immer noch nicht gelöst. Wie siehst Du Deine Chancen, retrospektiv, dieses<br />

45 Interview HvF, 26.11.1999.<br />

46 Heinz von Foerster, Proposal for a basic research program entitled: Toward direct access<br />

intelligence systems, Urbana, 1 August 1970; ders., Proposal for a basic research program<br />

entitled: Toward direct access intelligence systems, Urbana, 1 June 1971.<br />

47 Interview, 26.11.1999.<br />

48 Paul Weston, Proposal. Beyond numerical Computers: Technology for Information Processing<br />

in higher order Representations, Urbana 1 June 1972. (Als nicht genannter Koautor<br />

fungierte Heinz von Foerster.)<br />

ÖZG 11.2000.1 21


Problem gelöst zu haben “ ” Absolut gut. Wenn wir weiter daran hätten arbeiten<br />

können, hätten wir faszinierende Sachen auf den Tisch legen können.“ 49<br />

Die ablehnenden anonymen Gutachten, die die Forschergruppe erhielt,<br />

werfen zugleich ein interessantes Licht auf das Prekäre multidisziplinärer Forschung,<br />

das im Kern in der Ablehnung – oder wenigstens der Reserviertheit –<br />

von seiten der Einzeldisziplinen besteht.<br />

So meinte etwa ein Gutachter, der sich als ” deeply involved in the physiological<br />

basis of perception and the mechanisms of attention and decision<br />

making,“ zu erkennen gab: ” I cannot escape the conclusion that cognition laboratories<br />

equipped with the machines proposed Dr. von Foerster cannot cope<br />

effectively with even the known range of states and transitions in human perception<br />

and corgnition.“ Ein (offenkundiger) Computerexperte machte dagegen<br />

den Vorschlag der Verwendung einer anderen Programmiersprache. Ein (vermutlicher)<br />

Sozialwissenschaftler bezweifelte den gesellschaftlichen Nutzen eines<br />

Projektes, das sich vor allem auch mit Kognition beschäftigen wollte. Und ein<br />

Gutachter, der in mehreren Details Vertrautheit mit den Projekten Terry Winograds<br />

und Seymour Paperts und damit – im Jahr 1972 – eine gewisse Nähe<br />

zum MIT erkennen läßt, weist das Projekt ganz fundamental zurück: ” I find<br />

the proposal incredible, so incredible that I hardly know how to describe my<br />

reaction.“ 50<br />

Publikationen<br />

Die Liste wissenschaftlicher Einzelleistungen muß hier aber jedenfalls unvollständig<br />

und kursorisch bleiben. Für das Labor als ganzes können einige Publikations-Indikatoren<br />

herangezogen werden. Die Publikationen des BCL sind<br />

ja gut dokumentiert und über eine Mikrofiche-Edition auch in Europa nachlesbar.<br />

51<br />

Machen wir also zwischendurch ein wenig Statistik. Die offizielle Liste der<br />

Publikationen aus dem BCL bezieht sich auf knapp über hundert Autorinnen<br />

und Autoren. In die Liste aufgenommen wurden offenbar alle dem BCL zuzurechnenden<br />

Arbeiten: Bücher, Artikel und ungedruckte Forschungsberichte<br />

der Professoren, Mitarbeiter/innen, Student/inn/en und Gäste. Die Zahl der<br />

Arbeiten pro Autor/in variierte stark. Der geringste Wert liegt bei eins. Dabei<br />

handelt es sich meist um die Abschlußarbeit eines Studenten oder einer<br />

Studentin. An der Spitze liegt – nicht ganz überraschend – Heinz von Foerster<br />

49 Interview HvF.<br />

50 Diese Auszüge aus anonymisierten Gutachten befinden sich im HvF-Archiv.<br />

51 Kenneth L. Wilson, The Collected Works of the Biological Computer Laboratory. Department<br />

of Electrical Engineering, University of Illinois, Peoria 1976.<br />

22 ÖZG 11.2000.1


selbst mit knapp über hundert Publikationen aus dem Zeitraum 1957–1976. Der<br />

Durchschnittswert der Zahl der Publikationen pro Autor/in liegt bei sechs. (Für<br />

diese Berechnung wurden übrigens Publikationen mit mehreren Autoren jedem<br />

Autor zugerechnet).<br />

Die thematische Bandbreite dieser Publikationen ist erstaunlich, sie umfaßt<br />

naturwissenschaftliche Disziplinen wie Mathematik, Physik, Medizin, Biologie,<br />

Bio-Chemie, technische Disziplinen wie die Computerwissenschaften, aber<br />

auch Philosophie, Logik, Sprachwissenschaften, Kommunikationswissenschaften,<br />

Politikwissenschaften, Pädagogik und Sozialwissenschaften. Dazu kamen<br />

beispielsweise noch Anthropologie – Heinz von Foerster war zeitweilig auch<br />

Präsident der Wenner-Gren Foundation – oder Musikwissenschaften, Kompositionslehre<br />

52 und Tanz. Aber ich zähle gewiß nicht alles auf.<br />

Die Publikationen spiegeln also eine faszinierende Praxis transdisziplinärer<br />

Arbeit, die tatsächlich sehr stark an die der Macy-Konferenzen erinnert. Betrachtet<br />

man die Laborentwicklung im Zeitverlauf, so läßt sich feststellen, daß<br />

die Transdisziplinarität ansteigt, oder anders formuliert: daß der – so kann man<br />

es nennen – disziplinäre Disparitätskoeffizient ansteigt. Hinter dieser Entwicklung<br />

stand offensichtlich mehrerlei:<br />

– ein tiefes Mißtrauen gegenüber den Möglichkeiten und Problemlösungskompetenzen<br />

von Einzeldisziplinen,<br />

– das Bedürfnis, Einsichten der Kybernetik (speziell dann auch der Kybernetik<br />

zweiter Ordnung) in die Einzeldisziplinen hineinzutragen,<br />

– die Möglichkeiten der Einzeldisziplinen zu nutzen, um die Kybernetik selbst<br />

weiterzuentwickeln.<br />

Derart radikal auf Transdisziplinarität – wie dies am BCL geschah – zu<br />

setzen, eröffnet nicht nur Innovationschancen, sondern birgt auch Risiken, wenigstens<br />

unter den Bedingungen des modernen Wissenschaftssystems. Erst seit<br />

den 1990er Jahren setzte eine wirklich massive Diskussion über Disziplingrenzen<br />

wieder ein. 53 Zu diesen Risiken gehört unter anderem, die eigene Identität<br />

preiszugeben und damit die Zuschreibung von Kernkompetenzen zu verringern.<br />

Der geschätzte Anteil von Publikationen, die sich auf ” brauchbare“ oder<br />

unmittelbar ” verwertbare“ Forschungsergebnisse bezogen, lag in den ersten<br />

Jahren des Labors höher als in den letzten. So wurden Arbeiten über Zellvermehrung<br />

in der Medizin ” gebraucht“, der praktische Nutzen stärker allgemein<br />

an Erkenntnistheorie interessierter Artikel war dagegen weniger einsichtig. Und<br />

genau dieses Interesse an allgemeiner Erkenntnistheorie trat im Werk Heinz von<br />

Foersters – wohl nicht zuletzt aufgrund der ” atypischen“ Situation am BCL –<br />

52 Vgl. z. B. Heinz von Foerster u. James W. Beauchamp, Hg., Music by Computers, New<br />

York u.a. 1969.<br />

53 Vgl. z. B. Peter Galison u. David J. Stump, Hg., The Disunity of Science. Boundaries,<br />

Contexts, and Power, Stanford 1996.<br />

ÖZG 11.2000.1 23


zugleich mit dem Interesse an der Lösung sozialer Probleme stärker in den Vordergrund.<br />

Wenn man wollte, könnte man diese Entwicklung auch gleichsam aus<br />

der Logik des Werks zu begründen versuchen. Einer Umwelt allerdings, die Ingenieursgeist,<br />

praktische und vor allem kommerzialisierbare wissenschaftliche<br />

Arbeit höher bewertete als vieles andere, fehlte <strong>für</strong> diese Entwicklung offenkundig<br />

da<strong>für</strong> das nötige Verständnis. Zwar wurden am BCL hochinteressante<br />

Arbeiten über Rechnen im semantischen Bereich erarbeitet, 54 eine technischindustrielle<br />

Realisierung in Hard- und Software blieb – von Prototypen abgesehen<br />

– aber aus.<br />

Prototypen<br />

Solche Prototypen, die im Laufe der Zeit am BCL entstanden, waren zum<br />

Beispiel Artificial Neurons, Numarete, das social interaction experiment, der<br />

Dynamic Signal Analyzer, die 1965 beschrieben wurden. 55 1966 wurde der Visual<br />

Image Processor, dargestellt, 56 1967 werden dann ein Speech Decoder und<br />

ein Real Time Speech Processor erwähnt. 57 Was am BCL der 1960er Jahre also<br />

gebaut wurde, könnte man mit dem Begriff Perzeptions-Maschinen‘ oder<br />

’<br />

’ Wahrnehmungs-Maschinen‘ grob umreißen.<br />

Am interessantesten erscheint dabei die Numarete. Eine erste Publikation<br />

dazu erschien im Jahr 1962, nachdem 1960 auf einer Konferenz darüber berichtet<br />

worden war. 58 Die Numarete, die in verschiedenen Versionen dokumentierbar<br />

ist, konnte die Zahl von Gegenständen, die ihr gezeigt“ wurden, erkennen<br />

”<br />

und basierte auf einer Simulation eines Netzwerks von Pitts-McCulloch-Zellen,<br />

die durch eine spezielle Anordnung und Verschaltung von Photozellen mit flipflops,<br />

elektronischen Elementen, die zwei Zustände (ein oder aus oder 0 und<br />

1) annehmen konnten. Mit der Numarete wurde ein Rechner gebaut, der nicht<br />

der (reduktionistischen) Von-Neumann-Architektur entsprach, sondern gewissermaßen<br />

quer‘ zu dieser lag: er beruhte auf den parallelen Operationen seiner<br />

’<br />

Bausteine.<br />

54 Heinz von Foerster, Computing in the Semantic Domain, in: Annals of the New York<br />

Academy of Science 184 (1971) 239–241.<br />

55 Heinz von Foerster, Proposal for a study entitled Theory and Application of Computational<br />

Principles in Biological Systems, Urbana 1965.<br />

56 Heinz von Foerster, Proposal for a study entitled Theory and Application of Computational<br />

Principles in Complex, Intelligent Systems, Urbana 1966.<br />

57 Heinz von Foerster, Proposal for a study entitled Toward the mechanization of cognitive<br />

Processes, Urbana 1967.<br />

58 Heinz von Foerster, Circuitry of Clues of Platonic Ideation, in: C. A. Muses, Hg., Aspects<br />

of the Theory of Artificial Intelligence. The Proceedings of the First International Symposium<br />

on Biosimulation Locarno 1960, New York 1962, 43–82.<br />

24 ÖZG 11.2000.1


Konflikte<br />

Seit dem Ende der 1960er Jahre kam es zu Konflikten zwischen dem BCL und<br />

der <strong>Universität</strong>sverwaltung. Mitarbeiter des BCL waren wie Heinz von Foerster<br />

selbst in den allgemeinen Lehrbetrieb eingebunden worden und arbeiteten<br />

an <strong>für</strong> die gegebenen Verhältnisse reichlich unorthodoxen partizipatorischen<br />

Lehr-Projekten, die allerdings ganz dem Klima der Studentenrevolte entsprachen.<br />

Auf Wunsch der Studierenden wurde ein Kurs in Heuristics angeboten. 59<br />

Eines der Ziele dieses Kurses war, die Studierenden nicht nur Anteil nehmen zu<br />

lassen, sondern sie auch ihrer Eigenverantwortung bewußt zu machen und den<br />

Kurs mit einem ” Produkt“, an dem sich alle beteiligen konnten, abzuschließen.<br />

Dieses Produkt war eine gemeinsame Publikation, die den Titel Whole University<br />

Catalogue trug. 60 Gegen diese Publikation wurde der Vorwurf erhoben,<br />

sie enthielte auch Obszönitäten und behandele Drogenkonsum. 61 Proteste von<br />

Elternvertretern führten letztlich dazu, daß Foerster sich bei einer Anhörung<br />

rechtfertigen mußte. Trotz dieser Widerstände wurde die im Heuristics-Kurs<br />

entwickelten Prinzipien in der Lehre beibehalten.<br />

Nach einem ähnlichen partizipatorischen Modell verlief auch der Kurs Cybernetics<br />

of Cybernetics (1973/74), dessen Publikation als ein immer noch gültiges<br />

Kompendium des Feldes angesehen werden kann, vor allem auch weil es<br />

neben dem Reprint maßgeblicher Artikel dauerhafte Definitionsarbeit enthielt.<br />

Das verstärkte Engagement in der Lehre führte somit im Verbund mit innovativen<br />

pädagogischen Ansätzen aber auch dazu, die Arbeit des BCL zu resümieren<br />

und gewissermaßen auf den Begriff zu bringen. 62<br />

Eine exzellente Gruppenkultur – und eine prekäre Kommunikationsstruktur<br />

Mehrfach wurde die Gruppenkultur am BCL als – nicht nur – <strong>für</strong> die Zeit<br />

ungewöhnlich liberal, ungewöhnlich offen, ungewöhnlich heterarchisch‘ darge-<br />

’<br />

stellt – in Verbindung mit der schon angesprochenen inter-/transdisziplinären<br />

’ Weite‘. Mehrfach wurde gerade auch der Leiter des Labs als Initiator dieser<br />

Struktur dargestellt. Zugleich scheint es so gewesen zu sein, daß nicht alle Mit-<br />

59 Vgl. Heinz von Foerster u. Herbert Brun, Heuristics. A Report on a Course in Knowledge<br />

Acquisition, Urbana 3 October 1970.<br />

60 Das Vorbild war der Whole Earth Catalogue, <strong>für</strong> den Foerster Texte verfaßte.<br />

61 Die Publikation von 1969 enthielt das Ergebnis einer Umfrage unter den Teilnehmer/inne/n,<br />

die sich auf ihre Kompetenzen, ihre wissenschaftlichen und auch privaten Interessen<br />

bezog. Unter den 114 Befragten fanden sich auch vereinzelt Angaben wie dope, LSD, sex<br />

aber auch politics, beat the system und Vietnam oder finding Nirvana. Dies alles kann gewiß<br />

als typischer Ausdruck der damaligen Jugendkultur angesehen werden.<br />

62 Vgl. Foerster, Cybernetics of Cybernetics, wie Anm. 43.<br />

ÖZG 11.2000.1 25


glieder des BCL die durch diese Struktur gegebenen Möglichkeiten genutzt<br />

haben. Heinz was the crossing point of all these studies going on in the BCL“,<br />

”<br />

meint Humberto Maturana, der sich als Gast und Lehrender am BCL aufhielt,<br />

I don’t remember, that there has been something that one would call a<br />

”<br />

’ BCL-meeting‘ (...) Heinz met these groups working under his inspiration and<br />

protection, he would speak to all of them (...) He had the ability to understand<br />

(them all). But it was not the case that everybody there was able to understand<br />

everybody there. So he was the center of the BCL.“ 63 Diese gewissermaßen un-<br />

’<br />

ausgewogene‘ Kommunikationsstruktur wird auch durch andere Quellen belegt<br />

und läßt sich durch eine Analyse der Zitationen bestätigen.<br />

Das Ende der finanziellen Basis<br />

Das BCL konnte sich aber seine Abweichungen und Extravaganzen leisten, da es<br />

seine Mittel fast zur Gänze von außen bezog, vor allem auch – wie schon erwähnt<br />

– von militärischen Organisationen. Genau diese relative Unabhängigkeit von<br />

lokalen universitären Strukturen und die Abhängigkeit von einer überregionalen<br />

Forschungsförderungsstruktur, die über ein Jahrzehnt, Grundlagenforschung<br />

am BCL großzügig gefördert hatte, sollten aber zum Untergang, zur Schließung<br />

des BCL führen. Denn seit 1969/1970 wurden die Forschungsförderungsmodalitäten<br />

durch das sogenannte Mansfield-Amendment nachhaltig verändert. 64<br />

Eine neue Bestimmung verlangte nun, daß militärische Forschungsgelder auf<br />

Projekte beschränkt werden sollten, die tatsächlich ’ kriegstaugliche‘ Ergebnisse<br />

produzierten. Derartige Projekte wurden am BCL nicht betrieben.<br />

Verschiedene Versuche Foersters, die nun ausbleibenden Mittel zu substituieren<br />

und weiterhin Geld <strong>für</strong> die Grundlagenforschung des BCL zu erhalten,<br />

scheiterten mehr oder minder dramatisch. Auch Projekte, die anwendungszentrierte<br />

Forschung vorschlugen, wurden abgelehnt. Das letzte Projekt des BCL,<br />

Cybernetics of Cybernetics, unterstützt von der POINT-Foundation, bildete<br />

zugleich einen gelungenen Versuch der ’ Kodifizierung‘ der am Lab erarbeiteten<br />

Epistemologie und schrieb eine konzeptuelle Wende fest: die first order cybernetics,<br />

die sich mit ” beobachteten Systemen“ beschäftigten, sollten um die second<br />

order cybernetics, die sich mit ” beobachtenden Systemen“ beschäftigten,<br />

63 Interview Humberto Maturana, 8.5.1998.<br />

64 Den Hinweis auf das Mansfield-Amendment verdanke ich Stuart A. Umplebie, der am<br />

BCL studierte (Interview, 9.7.1998). Zu den Auswirkungen des Mansfield-Amendment auf<br />

die Forschungslandschaft der USA vgl. allgemein Bruce Spear, Die Forschungsuniversität, der<br />

freie Markt und die Entdemokratisierung der höheren Bildung in den USA, in: PROKLA.<br />

Zeitschrift <strong>für</strong> kritische Sozialwissenschaft 104 (1996). Eine eher ” Sieger-orientierte“ Darstellung<br />

– ’ naturgemäß‘ unter Ausklammerung der BCL-Gruppe – findet sich bei: Commission<br />

on Physical Sciences, Mathematics, and Applications, Funding a Revolution. Government<br />

Support for Computing Research, Washington 1999.<br />

26 ÖZG 11.2000.1


ergänzt und erweitert werden. Damit wurde der Basis-Idee der Macy-Tagungen,<br />

der zirkulären Kausalität, eine neue Dimension hinzugewonnen.<br />

Mitte Juni 1974 ersuchte Heinz von Foerster in Anbetracht der hoffnungslos<br />

erscheinenden finanziellen Situation des BCL um seine Emeritierung an.<br />

Bevor das BCL geschlossen wurde, wurden seine Materialien archiviert, die<br />

vorhandenen Instrumente anderen Laboratorien zur Verfügung gestellt. Nach<br />

zwei weiteren Jahren war das Laboratorium, auch was die noch zu promovierenden<br />

Dissertanten anlangte, sozusagen ” abgewickelt‘. Das Ehepaar Foerster<br />

übersiedelte von Illinois nach Kalifornien. Heute ist das Institutsgebäude abgerissen.<br />

In den letzten Jahren vor der Schließung des BCL gelang es Heinz von Foerster<br />

abermals in mehreren bedeutsamen Schritten, <strong>für</strong> seine und die Arbeit des<br />

BCL neue Kontexte sowie neue Teil-Resümees zu entwickeln. Besonders hervorzuheben<br />

ist dabei zum Beispiel der ” Anschluß“ an die Arbeit Jean Piagets 65 ,<br />

ein großes Resümee kybernetischer Erkenntnistheorie 66 oder eine zeitgemäße<br />

Reformulierung des bionischen Forschungsprogramms. 67<br />

Auf meine Frage nach den ungelösten Problemen gab mir Heinz von Foerster<br />

eine <strong>für</strong> ihn sehr bezeichnende Antwort: die ungelösten Probleme bestünden<br />

vor allem darin, keine Theorie der Unlösbarkeit von Problemen abschließend<br />

formuliert zu haben.<br />

Ein neuer Anfang und die Transponierung der BCL-Forschung<br />

Mit seiner Emeritierung begann Heinz von Foerster eine neue Karriere, die es<br />

ermöglichte, die Rezeption seiner Ideen – und damit der des BCL – in gänzlich<br />

neue Wege zu leiten. Durch die Vermittlung von Gregory Bateson, der<br />

mit seiner Veröffentlichung von 1972 Steps to an Ecology of Mind ein breites<br />

Publikum gewonnen hatte, 68 geriet er in den Umkreis des Mental Research<br />

Institute in Palo Alto, 69 an dem er nun regelmäßig Vorträge zu halten be-<br />

65 Vgl. Heinz von Foerster, Objects: Tokens for (Eigen-)Behaviors, in: ASC Cybernetics<br />

Forum 8 (1976), 91–96, bzw. ders., Formalisation de Certains Aspects de l’Equilibration de<br />

Structures Cognitives, in: B. Inhelder, R. Garcias u. J. Voneche, Hg., Epistemologie Genetique<br />

et Equilibration, Neuchatel 1977, 76–89.<br />

66 Heinz von Foerster, Kybernetik einer Erkenntnistheorie, in: W. D. Keidel, W. Handler u.<br />

M. Spring, Hg., Kybernetik und Bionik, München 1974, 27–46.<br />

67 Heinz von Foerster, Notes on an Epistemology for Living Things, BCL Report. No. 9.3,<br />

Urbana 1972; ders., Notes pour une epistemologie des objets vivants, in: Edgar Morin u.<br />

Massimo Piateli-Palmerini, Hg., L’unite de l’homme, Paris 1974, 401–417.<br />

68 Vgl. Gregory Bateson, Steps to an Ecology of Mind. Collected Essays in Anthropology,<br />

Psychiatry, Evolution, and Epistemology, San Francisco 1972.<br />

69 Vgl. dazu Edmond Marc u. Dominique Picard, Bateson, Watzlawick und die Schule von<br />

Palo Alto, Frankfurt am Main 1991.<br />

ÖZG 11.2000.1 27


gann. Ideen, die im Kontext des BCL entwickelt worden waren und die von<br />

den unmittelbaren Peers nicht akzeptiert worden waren, zirkulierten nun unter<br />

Familientherapeuten, später unter Management- und Organsiationsberatern. 70<br />

Handelte es sich dabei gewissermaßen um ’ Anwendungsfälle‘ der Epistemologie<br />

des BCL, so gewann seit Mitte der 1980er Jahre die sich weiter entwickelnde<br />

Foerstersche Epistemologie als solche zunehmend Bedeutung. Der Bielefelder<br />

Soziologe Niklas Luhmann rückte eine Reihe von Foersterschen Konzepten ins<br />

Zentrum seiner Theorie sozialer Systeme, darunter Foersters Theorien des Beobachters,<br />

der Selbstreferentialität und der Selbstorganisation. 71 Damit wurde<br />

im deutschsprachigen Raum eine breite neue Rezeption eingeleitet, die allerdings<br />

weit über die fachlichen Grenzen sozialwissenschaftlicher Systemtheorie<br />

hinaus führte. Dazu wurde ein älterer Text Heinz von Foersters von sich entwickelnden<br />

Gruppen des Konstruktivismus als ” Basistext“ angesehen. 72<br />

Das Ende des Biological Computer Laboratory war zweifellos prekär und<br />

<strong>für</strong> seinen Gründer sowie seine Mitarbeiter eine Enttäuschung. Neben den <strong>für</strong><br />

sein Ende angeführten Gründen wird auch zu überlegen sein, ob nicht Gerschenkrons<br />

Theorie der komparativen Vorteile relativer Rückständigkeit eine<br />

komplementäre Theorie der komparativen Nachteile relativer Fortschrittlichkeit<br />

gegenübergestellt werden sollte, <strong>für</strong> die die Geschichte des BCL einen herausragenden<br />

Anwendungsfall bilden könnte.<br />

Tabelle 2: Sponsoren des BCL (1958–1974) 73<br />

1. Toward the Realization of Biological Computers. Contract NONR 1834(21), ONR Project<br />

No. NR 049-123; Sponsored by Information Systems Branch, Mathematical Science Division,<br />

Office of Naval Research. Period: 1 January 1958 to 31 July 1961. Principal Investigator: H.<br />

Von Foerster.<br />

2. Mechanisms of White Cell Production and Turnover. United States Public Health Grant<br />

CA-04044; Sponsored by Department of Health, Education and Welfare, Public Health Service,<br />

National Institutes of Health. Period: 1 July 1958 to 21 October 1963. Principal Investigator:<br />

H. Von Foerster.<br />

3. Analysis Principles in the Mammalian Auditory System. Contract No. AF 33 (616)-<br />

6428, Project No. 60(8-7232), Task No. 71782; Sponsored by Aeronautical Systems Division,<br />

Wright-Patterson Air Force Base, Ohio. Period: 1 May 1959 to 30 September 1961. Principal<br />

Investigator: H. Von Foerster.<br />

70 Vgl. Heinz von Foerster, Principles of Self-Organization in a Socio-Managerial Context,<br />

in: Hans Ulrich u. Gilbert Probst, Hg., Self-Organization and Management of Social Systems,<br />

Berlin 1984, 2–24.<br />

71 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am<br />

Main 1984.<br />

72 Vgl. Heinz von Foerster, On Constructing a Reality, in: Wolfgang F. E. Preiser, Hg.,<br />

Environmental Design Research, Vol. 2, Stroudberg 1973, 35–46.<br />

73 Quelle: Publications by of the members of the Biological Computer Laboratory. B.C.L.<br />

Report No. 74.1, Champaign-Urbana 1975, 3–6.<br />

28 ÖZG 11.2000.1


4. Theory and Circuitry of Property Detector Nets and Fields. NSF Grant 17414; Sponsored<br />

by the National Science Foundation, Washington, D.C. Period: 27 March 1961 to 30 June<br />

1962. Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />

5. Theory and Circuitry of Property Detector Nets and Fields. NSF Grant 25148; Sponsored<br />

by the National Science Foundation, Washington, D.C. Period: 1 July 1962 to 31 December<br />

1963. Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />

6. Theory and Circuitry of Systems with Mind-Like Behavior. AF-OSR Grant 7-63; Sponsored<br />

by Air Force Office of Scientific Research, United States Air Force, Washington, D.C. Period:<br />

1 October 1962 to 31 October 1964. Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />

7. Semantic and Syntactic Properties of Many Valued Systems of Logic. AF-OSR Grant 8-63;<br />

Sponsored by Air Force Office of Scientific Research, United States Air Force, Washington,<br />

D.C. Period: 2 October 1962 to 31 March 1964. Principal Investigator: Gotthard Günther.<br />

8. Principles of Information Transfer in Living Systems. United States Public Health Grant<br />

GM-10718; Sponsored by Department of Health, Education and Welfare, Public Health Service,<br />

National Institutes of Health. Period: 1 May 1963 to 30 April 1966, Principal Investigator:<br />

H. Von Foerster; Co-investigator: W. R. Ashby.<br />

9. Information Processing Capabilities of the University of Illinois Dynamic Signal Analyzer.<br />

Contract No. AF 33(657)-10659; sponsored by Aerospace Medical Research Laboratory, Air<br />

Force Systems Command, United States Air Force, Wright-Patterson Air Force Base, Ohio.<br />

Period: 1 February 1963 to 31 January 1964. Principal Investigator: M. L. Babcock.<br />

10. Theory and Circuitry of Systems with Mind-Like Behavior. AF-OSR Grant 7-64; Sponsored<br />

by- Air Force Office of Scientific Research, United States Air Force, Washington, D.C.<br />

Period: 1 November 1964 to 31 October 1965. Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />

11. Semantic and Syntactic Properties of Many-Valued and Morphogrammatic Systems of<br />

Logic. AF-OSR Grant 480-64; Sponsored by Air Force Office of Scientific Research, United<br />

States Air Force, Washington, D.C, Period: 1. October 1963 to 30 September 1967, Principal<br />

Investigator: G. Günther.<br />

12. Information Processing Capabilities of the University of Illinois Dynamic Signal Analyzer.<br />

Contract No. AF 33 (615)-2573; Sponsored by Aerospace Medical Research Laboratory, Air<br />

Force Systems Command, United States Ait Force, Wright-Patterson Air Force Base, Ohio.<br />

Period: 1 February 1965 to 31 January 1966. Principal Investigator: M. L. Babcock.<br />

13. Cybernetics in Anthropology. Grant No. 1720; Sponsored by the Wenner-Gren Foundation<br />

for Anthropological Research, New York, New York. Period: 1 February 1965 to 30 September<br />

1966. Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />

14. Integration of Theory and Experiment Into a Unified Concept of Visual Perception, AF<br />

49(638)-1680: Sponsored by The Air Force Office of Scientific Research, United States Air<br />

Force, Washington, D.C. Period: 1 March 1966 to 30 April 1969. Principal Investigator: H.<br />

Von Foerster.<br />

15. Theory and Application of Computational Principles in Intelligent, Complex Systems.<br />

AF-OSR Grants 7-66 and 7-67; Sponsored by the Air Force Oftice of Scientific Research,<br />

United States Air Force, Washington, D.C. Period: 1 November 1965 to 31 October 1967.<br />

Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />

16. Cybernetics Research. Contract AF 33(615)-j890; Sponsored by Air Force Systems Engineering<br />

Group, Air Force Systems Command, United States Air Force, Wright-Patterson<br />

Air Force Base, Ohio, Period: 1 April 1966 to 31 March 1969. Principal Investigator: H. Von<br />

Foerster.<br />

17. Information, Communication, Multi-Valued Logic and Meaning, AF-OSR 68-1391; Sponsored<br />

by Air Force Office of Scientific Research, United States Air Force, Washington, D.C.<br />

Period: 1 October 1967 to 30 September 1969. Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />

18. Study Toward the Mechanization of Cognitive Processes, NASA NGR 14-005-111; Sponsored<br />

by the National Aeronautics and Space Administration, Electronics Research Center,<br />

ÖZG 11.2000.1 29


Boston, Massachusetts. Period: 1 October 1967 to 30 September 1968. Principal Investigator:<br />

M. L. Babcock and H. Von Foerster.<br />

19. Theory and Application of Computational Principles in Complex, Intelligent Systems. AF-<br />

OSR Grant 7-67; Sponsored by the Air Force Office for Scientific Research, United States Air<br />

Force, Washington, D.C. Period: 1 September 1967 to 31 August 1969. Principal Investigator:<br />

H. Von Foerster.<br />

20. Application of Cognitive Systems Theory to Man-Machine Systems. AF-OSR 70-1865.<br />

Sponsored by the Air Force Office of Scientific Research, United States Air Force, Washington,<br />

D.C. Period: 1 October 1969 to 31 September 1970. Principal Investigator: H. Von Foerster,<br />

21. Notation of Movement. Grant DA-ARO-D-31-124-G998; Sponsored by the United States<br />

Army Research Office, Durham, North Carolina, Period: 1 March 1968 to 31 August 1969.<br />

Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />

22. Cognitive Memory, A Computer Oriented Epistemological Aproach to Information Storage<br />

and Retrieval. Grant OEC-1-7-071213-4557; Sponsored by the office of Education, Bureau<br />

of Research, Washington, D.C. Period: 1 September 1967 to 31 August 1970. Principal Investigators:<br />

R. T. Chien and H. Von Foerster.<br />

23. A Mathematical System for Decision Making Machines. AF-OSR 68-1391; Sponsored by<br />

the Air Force Office of Scientific Research, United States Air Force, Washington, D.C. Period:<br />

1 October 1969 to 30 September 1970. Principal Investigator: G. Günther.<br />

24. Toward Direct Access Intelligence Systems. AF-OSR Grant 70-1865; Sponsored by The<br />

Air Force Office of Scientific Research, United States Air Force, Washington, D.C. Period: 1<br />

October 1970 to 30 September 1972. Principal Investigator: H. Von Foerster.<br />

25. Cybernetics of cybernetics. Grant ” Cybernetics of Cybernetics“; Sponsored by POINT,<br />

San Francisco, California. Period: 1 September 1973 to 31 August 1974. Principal Investigator:<br />

H. Von Foerster.<br />

30 ÖZG 11.2000.1


J. Rogers Hollingsworth/Ellen Jane Hollingsworth<br />

Radikale Innovationen und Forschungsorganisation:<br />

Eine Annäherung<br />

Wenn Watson und Crick die Struktur der DNA<br />

nicht entschlüsselt hätten, dann hätte es innerhalb<br />

der nächsten zwei, drei Jahre jemand anders<br />

getan ... Aber wenn Kafka nicht den ’ Prozeß‘ geschrieben<br />

hätte, dann wäre dieser Roman bis in<br />

alle Ewigkeit ungeschrieben geblieben.<br />

Harry Mulisch, Die Prozedur<br />

Dieser Text 1 widmet sich zentral der Frage nach den strukturellen und kulturellen<br />

Eigenschaften von Forschungsorganisationen, welche die ’ großen Durchbrüche‘<br />

und ’ radikalen Entdeckungen‘ im Feld der biomedizinischen Wissenschaften<br />

beeinflußten. 2 Im speziellen widmet sich diese Arbeit den charakteristischen<br />

Merkmalen jener Forschungsorganisationen, welche im Lauf der Jahre<br />

∗ Eine erweiterte Fassung dieses Artikels mit einer ausführlichen weiteren Fallstudie, nämlich<br />

zum ’ California Institute of Technology‘, ist: J. Rogers Hollingsworth u. Ellen Jane Hollingsworth,<br />

The Structure of Research Organizations and Radical Innovation in Science, unveröff.<br />

Typoskipt, Madison 1999. Eine leicht veränderte englische Version erscheint unter dem Titel<br />

J. Rogers Hollingsworth u. Ellen Jane Hollingsworth, Major Discoveries and Biomedical<br />

Research Organizations. Perspectives on Interdisciplinarity, Nurturing Leadership, and Integrated<br />

Structures and Cultures, in: Peter Weingart u. Nico Stehr, Hg., Practising Interdisciplinarity,<br />

Toronto 2000. Der vorliegende Artikel wurde von Karl H. Müller übersetzt.<br />

1 Unser Dank gilt Ragnar Bjork, Jerald Hage, Nico Stehr, Peter Weingart, Gerald Edelman<br />

und Julie Klein <strong>für</strong> ihr Engagement und ihre Diskussionsbereitschaft. Den Archiv-<br />

Mitarbeitern im Karolinska-Institut sowie im ’ California Institute of Technology‘ gebührt unser<br />

Dank <strong>für</strong> ihre wertvolle und sachliche Hilfe. Und schließlich möchten wir noch der ’ Rockefeller<br />

Foundation‘, der ’ Sloan-Foundation‘, der ’ Andrew W. Mellon Foundation‘ und dem<br />

Schwedischen Forschungsförderungsfonds <strong>für</strong> ihre großzügige Unterstützung unseren Dank<br />

abstatten. Als Monographien zur Entwicklung in der Biomedizin speziell in den USA vgl.<br />

u. a. Lily E. Kay, The Molecular Vision of Life. Caltech, the Rockefeller Foundation and the<br />

Rise of the New Biology, New York 1993; Robert E. Kohler, The Lords of the Fly. Drosophila<br />

Genetics and the experimental Life, Chicago 1994 oder John W. Servos, Physical Chemistry<br />

from Oswald to Pauling. The Making of Science in America, Princeton 1990.<br />

2 Anm. des Übersetzers: Aus Gründen der terminologischen Variation werden die Ausdrücke<br />

ÖZG 11.2000.1 31


und Jahrzehnte immer wieder mit ’ wissenschaftlichen Revolutionen‘ hervorgetreten<br />

sind. Obschon der Schwerpunkt der empirischen Resultate auf den<br />

Vereinigten Staaten liegt, gibt es immer wieder Bezüge zu verschiedenen anderen<br />

nationalen Forschungssettings. Der vorliegende Artikel bildet einen Teil<br />

einer größeren Studie, die sich den strukturellen und kulturellen Charakteristika<br />

von biomedizinischen Forschungsorganisationen in vier Ländern (Deutschland,<br />

Frankreich, Großbritannien, Vereinigte Staaten) widmet. Besonderes Augenmerk<br />

gilt dabei einer zentralen Frage: Warum unterscheiden sich Forschungsorganisationen<br />

in ihren Fähigkeiten oder Potentialen, neue kognitive Durchbrüche<br />

innerhalb der Biomedizin zu erzielen Immer wieder wird man nämlich mit<br />

dem Phänomen konfrontiert, daß eine Forschungsorganisation zu einer weltweit<br />

führenden Position aufsteigt und dann, wegen ihrer organisatorischen Trägheit<br />

und wegen fehlender Anpassungen an neue Herausforderungen, diese Führungsposition<br />

wieder verliert.<br />

Es sind, und damit kommen wir zur Kernaussage dieses Artikels, spezielle<br />

strukturelle und organisatorische Arrangements, welche sich als notwendig erweisen,<br />

wenn Wissenschaftler tatsächlich einen ’ Paradigmenwechsel‘ innerhalb<br />

ihrer jeweiligen Disziplinen erreichen wollen. Es wird zum vorrangigen Ziel unserer<br />

Arbeiten, jene Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> Wissenschaftsinnovationen aus dem<br />

Bereich der Forschungsorganisation zu identifizieren. Die Grundfragen <strong>für</strong> diese<br />

Art der Forschung besitzen ihren Ursprung in der wissenschaftssoziologischen<br />

Diskussion um den Einfluß von strukturellen und kulturellen Faktoren <strong>für</strong> radikale<br />

Innovationen. So gibt es mittlerweile eine unüberschaubare und äußerst<br />

anregende Literatur innerhalb der Wissenschaftsgeschichte und der Wissenschaftssoziologie<br />

des zwanzigsten Jahrhunderts zu zwei großen Themenkomplexen:<br />

Einmal zum Themenfeld der ’ Performanz‘ innerhalb des Wissenschaftsbetriebs<br />

mit Problemstellungen wie ’ wissenschaftliche Entdeckungen‘, kreative<br />

Prozesse innerhalb der Wissenschaften und ganz allgemein zur ’ wissenschaftlichen<br />

Produktivität‘. 3 Der zweite Themenkomplex gehört den organisatorischen<br />

Kontexten, den Strukturen, Strategien und den ’ Kulturen‘, innerhalb derer die<br />

’ große‘, ’ nachhaltige‘, ’ radikale‘ Durchbrüche ( ’ Entdeckungen‘, ’ Erfindungen‘, ’ Paradigmenwechsel‘)<br />

als jeweils äquivalent genommen.<br />

3 Vgl. dazu überblicksartig: Joseph Ben-David, The Scientist’s Role in Society. A Comparative<br />

Study, Englewood Cliffs, NJ 1971; ders., Centers of Learning. Britain, France, Germany,<br />

United States, New York 1977; ders. u. Randall Collins, Social Factors in the Origin of a<br />

New Science, in: American Sociological Review 31 (1966), 451–465, P. D. Allison u. J. Scott<br />

Long, Departmental Effects on Scientific Productivity, in: American Sociological Review 55<br />

(1990), 469–478; Karin Knorr, The Manufacture of Knowledge. An Essay in the Constructivist<br />

and Contextual Nature of Science, Oxford 1981; Garland E. Allen, Opposition to the<br />

Mendelian-Chromosome Theory. The Physiological and Developmental Genetics of Richard<br />

Goldschmidt, in: Journal of the History of Biology 7 (1978), 55–87; ders., Thomas Hunt<br />

Morgan, The Man and His Science, Princeton 1978; Donald C. Pelz, Frank M. Andrews,<br />

Scientists in Organizations. Productive Climates for Research and Development, New York<br />

32 ÖZG 11.2000.1


Wissenschaften operieren. Für uns stellt sich der Prozeß der wissenschaftlichen<br />

Forschung als eine Verbindung von lokalen, kollektiven und globalen Elementen<br />

dar. 4 In den letzten Jahren hat sich in den Arbeiten der Wissenschaftsforschung<br />

eine zunehmende Schwerpunktverlagerung auf die Bedeutsamkeit<br />

des Forschungslabors als konkretem Ort großer Entdeckungen und Umstürze<br />

vollzogen. 5 Diese und mehrere andere Arbeiten haben die Aufmerksamkeit auf<br />

die Wichtigkeit des ’ impliziten Wissens‘ gelenkt und darüber hinaus gezeigt,<br />

daß sich wissenschaftliches Wissen als hochgradig differenziert, als ungleich<br />

verteilt und als stark in lokalen Kontexten eingebettet erweist. 6 Der vorliegende<br />

Artikel geht über die bestehende Diskussion hinaus und bemüht dazu Elemente<br />

aus der Theorie ’ komplexer Organisationen‘, aus den Analysen ’ lokaler‘<br />

Forschungspraktiken und aus der Konzeption ’ impliziten Wissens‘. Zu diesem<br />

Zweck wird zunächst eine Reihe von Variablen zur Forschungseinheit insgesamt<br />

und <strong>für</strong> den Bereich von Labors bzw. Abteilungen spezifiziert. In einem<br />

zweiten Schritt werden Fallstudien vorgenommen, um die Beziehungsmuster<br />

zwischen diesen Variablen <strong>für</strong> das Schwerpunktthema ” radikale Innovationen<br />

im biomedizinischen Komplex“ zu untersuchen.<br />

Grundbegriffe, Daten, Methoden<br />

Begrifflich werden große Durchbrüche als jene Entdeckungen oder Prozesse definiert,<br />

die – in der Regel durch eine Kaskade an zahlreichen kleinen ’ Fortschritten‘<br />

vor- und aufbereitet – ein besonders gewichtiges Problem gelöst haben<br />

und die ihrerseits ” to a number of smaller advances, based on the newly discovered<br />

principle“ führen. 7 Im Lauf der Wissenschaftsgeschichte manifestierten<br />

sich solche ’ großen Durchbrüche‘ als radikale neue Leitidee, beispielsweise die<br />

1966; Harriet Zuckerman, Scientific Elite. Nobel Laureates in the United States, New York<br />

u. London 1977.<br />

4 Vgl. dazu nur Steven Shapin, Here and Everywhere. Sociology of Scientific Knowledge,<br />

in: Annual Review of Sociology 21 (1995), 289–321; Michael Lynch, Art and Artifact in<br />

Laboratory Science. A Study of Shop Work and Shop Talk in a Research Laboratory, London<br />

1985; ders., Scientific Practice and Ordinary Action: Ethnomethodology and Social Studies<br />

of Science, Cambridge 1993.<br />

5 Vgl. als wichtige Referenzpunkte nur Joan H. Fujimura, The Molecular Biology Bandwagon<br />

in Cancer Research: Where Social Worlds Meet, in: Social Problems 35 (1987), 261–283;<br />

Bruno Latour u. Steven Woolgar, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts,<br />

Princeton 1979 sowie Shapin, Here, wie Anm. 4.<br />

6 So unter anderem P. Dasgupta u. Paul A. David, Toward a New Economics of Science (ME-<br />

RIT Research Paper), Maastricht 1993, 94–103, Maastricht 1993; Lynch, Art, wie Anm. 4,<br />

sowie ders., Practice, wie Anm. 4.<br />

7 So Joseph Ben-David, Scientific Productivity and Academic Organization in Nineteenth<br />

Century Medicine, in: American Sociological Review 25 (1960), 828–843, hier 828. Zu diesem<br />

Punkt vgl. weiterhin Robert Merton, Singletons and Multiples in Scientific Discovery, in:<br />

ÖZG 11.2000.1 33


Konzeption von Trägern der Erbanlagen, als die Entwicklung einer neuen Methodologie<br />

wie das ’ genetische Mapping‘, als ein neuartiges Instrument oder<br />

eine Erfindung von der Art des Elektronenmikroskops oder als ein ganzes Cluster<br />

solcher Leitideen, idealtypisch exemplifiziert an der Evolution der Evolutionstheorie.<br />

Solche großen Durchbrüche brauchen nicht schlagartig in die Welt<br />

gesetzt werden. Es kann durchaus der Fall sein, daß solche ’ Revolutionierungen‘<br />

zahllose kleine Experimente erforderten oder sich in einem Prozeß vollzogen,<br />

der sich über längere Zeitspannen erstreckte und einen Gutteil an ’ implizitem<br />

Wissen‘ voraussetzte oder akkumulierte. 8<br />

Um den Begriff des ’ großen Durchbruchs‘ oder der ’ nachhaltigen Entdeckung‘<br />

einzuführen, möchten wir uns primär, aber nicht ausschließlich auf die<br />

wissenschaftliche Gemeinschaft selbst verlassen. Als ’ großer Durchbruch‘ sollen<br />

jene Kriterien Anwendung finden, welche innerhalb des Wissenschaftssystems<br />

selbst angelegt sind, um ’ große Durchbrüche‘ anzuerkennen. Wir bemühen allerdings<br />

zur Operationalisierung des Begriffs eine Vielfalt an Strategien. So schließen<br />

wir auch Durchbrüche oder Entdeckungen ein, die zum Gewinn oder zum<br />

Beinahe-Gewinn einer der großen wissenschaftlichen Auszeichnungen geführt<br />

haben. Und obschon wir die großen Durchbrüche und Entdeckungen an die<br />

großen Prämierungen im Wissenschaftsbereich binden, soll doch kein einzelner<br />

Preis, sondern eine Mehrzahl solcher akklamierter Auszeichnungen herangezogen<br />

werden. Als ’ große Durchbrüche‘ oder ’ nachhaltige Entdeckungen‘ gelten<br />

innerhalb der biomedizinischen Wissenschaften jene, die (1) durch die Copley-<br />

Medaille der Royal Society in London seit dem Jahre 1901 prämiert werden,<br />

(2) mit einem Nobel-Preis <strong>für</strong> Physiologie beziehungsweise Medizin seit der<br />

ersten Preisverleihung im Jahre 1901 ausgezeichnet werden, (3) seit 1901 mit<br />

einem Nobel-Preis <strong>für</strong> Chemie geehrt wurden (sofern sich diese Forschung als<br />

relevant <strong>für</strong> den biomedizinischen Komplex herausstellt, was in der Regel <strong>für</strong><br />

die Entdeckungen innerhalb der Biochemie und einigen anderen chemischen<br />

Teilbereichen gilt), (4) vor 1941 jeweils mindestens zehn Nominierungen über<br />

mindestens drei Jahre <strong>für</strong> einen Nobel-Preis in Physiologie bzw. Medizin oder<br />

Chemie (sofern der Bezug zur Biomedizin gegeben ist) erhielten. Der Grund<br />

<strong>für</strong> dieses Kriterium liegt hauptsächlich darin, daß eine hohe Zahl an Nominierungen<br />

eine breite Überzeugung innerhalb der wissenschaftlichen Community<br />

zum Ausdruck bringt, daß dieses Forschungsergebnis einen größeren Durchbruch<br />

darstellt, selbst wenn es nicht unmittelbar zu einem Nobel-Preis führt.<br />

(5) Jedes Jahr setzt die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften<br />

Proceedings of the American Philosophical Society 55 (1961), 470–486, ders., The Sociology<br />

of Science. Theoretical and Empirical Investigations, Chicago 1973; Nathan Rosenberg,<br />

Exploring the Black Box. Technology, Economies, and History, Cambridge 1994, bes. 15.<br />

8 Vgl. dazu auch Michael Polanyi, The Tacit Dimension, London 1966; Bruno Latour, Science<br />

in Action. How to Follow Scientists and Engineers Through Society, Cambridge 1987.<br />

34 ÖZG 11.2000.1


und das Karolinska Institut jeweils ein Komitee ein, das die großen Entdeckungen<br />

untersuchen und mögliche Preisträger innerhalb der Chemie oder der Medizin<br />

vorschlagen soll. Diese beiden Komitees gelangen jeweils zu einer engen<br />

Auswahl an ’ preisverdächtigen‘ Entdeckungen, von denen dann einige auch<br />

tatsächlich mit dem Nobel-Preis ausgezeichnet wurden. Wir schließen <strong>für</strong> die<br />

Zeit vor 1945 in unsere Gruppe der großen Durchbrüche auch Kandidaten in<br />

die engere Auswahl ein, selbst wenn sie dann keinen Nobel-Preis bekommen<br />

oder auch das Kriterium der zehn Nennungen in zumindest drei Jahren verfehlen<br />

sollten. Wir haben <strong>für</strong> den Zeitraum vor 1946 Zugang zu den Nobel-<br />

Archiven <strong>für</strong> den Physiologie- bzw. den Medizin-Preis am Karolinska-Institut<br />

sowie zu den Archiven der Königlich Schwedischen Akademie in Stockholm. Aus<br />

Gründen der Vertraulichkeit sind allerdings die Archive <strong>für</strong> die letzten fünfzig<br />

Jahre noch verschlossen. Um die Vielfalt an großen wissenschaftlichen Entdeckungen<br />

<strong>für</strong> diese Zeitspanne abzudecken, wurden weitere Kriterien herangezogen.<br />

So schlossen wir auch (6) jene großen Entdeckungen ein, die durch den<br />

Arthur und Mary Lasker-Preis <strong>für</strong> biomedizinische Wissenschaften, (7) durch<br />

den Louisa Gross Horwitz-Preis <strong>für</strong> die biomedizinische Grundlagenforschung,<br />

und schließlich (8) durch den Crafoord Preis prämiert worden sind, der durch<br />

die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften verliehen wird. Diese<br />

Formen der Auszeichnung und Prämierung wurden <strong>für</strong> die gesamte Periode<br />

von 1901 bis 1995 als Basis <strong>für</strong> ’ große Durchbrüche‘ herangezogen. Und gerade<br />

weil nicht alle spektakulären Entdeckungen und ’ Paradigmenverschiebungen‘<br />

mit einem Nobel-Preis ausgezeichnet werden können, haben wir uns außerordentlich<br />

bemüht, diese Studie nicht als eine Geschichte der Nobel-Preisträger<br />

anzulegen.<br />

Mit den bisherigen Kriterien ist die empirische Basis da<strong>für</strong> aufbereitet, was<br />

als ’ großer Durchbruch‘ oder als ’ bedeutende Entdeckung‘ innerhalb der biomedizinischen<br />

Wissenschaften qualifiziert werden kann – und soll. Als nächsten<br />

Schritt galt es herauszufinden, in welchem Labor und in welcher Forschungseinrichtung<br />

diese neuen Ergebnisse erzielt worden sind. Anders ausgedrückt ging es<br />

in diesem nächsten Punkt darum, trotz des Schwerpunktes auf organisatorische<br />

Faktoren die Karrieren einzelner Forscher zu untersuchen, um die genauen Orte<br />

<strong>für</strong> die spektakulären Durchbrüche identifizieren zu können. Als Ergebnis dieser<br />

Analyse konnten wir konkrete Forschungseinrichtungen, in deren Kontext<br />

sich die großen Durchbrüche abspielten, benennen und ihnen eine oder mehrere<br />

solcher ’ biomedizinischen Revolutionen‘ zuschreiben. In einigen Fällen haben<br />

Wissenschaftler ihre großen Durchbrüche über mehrere Forschungseinrichtungen<br />

hindurch erreicht und wir haben der gesamten Kette an Instituten einen<br />

solchen ’ Innovations-Bonus‘ vergeben. Zudem nimmt unsere Untersuchung darauf<br />

Rücksicht, daß nicht alle Wissenschaftler, die an solch großen Durchbrüchen<br />

beteiligt waren, eine Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Leistungen durch<br />

ÖZG 11.2000.1 35


die Verleihung akademischer Auszeichnungen gefunden haben. Einige Forscher<br />

konnten aus unterschiedlichen Gründen <strong>für</strong> einzelne Preise nicht berücksichtigt<br />

werden – so werden beispielsweise Nobel-Preise nur an noch lebende Personen<br />

verliehen. Trotz der Tatsache ’ vergessener‘ oder ’ übergangener‘ Auszeichnungen<br />

gilt unsere Untersuchung aber nicht den einzelnen individuellen Forscherkarrieren,<br />

sondern den organisatorischen Merkmalen von Forschungseinrichtungen.<br />

Und <strong>für</strong> diese Problemstellung besitzt das Phänomen mangelnder Anerkennung<br />

keinen unmittelbar störenden oder verfälschenden Bias. Denn unsere Methode<br />

der Tiefenanalyse über die konkreten Orte von großen Durchbrüchen erlaubt<br />

es, jene Wissenschaftler zu identifizieren, die zum Zustandekommen dieser Ergebnisse<br />

beitrugen, obwohl sie selbst nicht die Anerkennung durch ein entsprechendes<br />

Komitee gefunden haben.<br />

Diese Art von Forschung bemüht sich nicht um eine Geschichte großer<br />

wissenschaftlicher Ideen oder um die Kreativität einzelner Wissenschaftler. Die<br />

weitere Analyse setzt zwar voraus, daß große Entdeckungen von Individuen erzielt<br />

wurden und daß Kreativität eine unaufhebbare individuelle Besonderheit<br />

darstellt. Der Schwerpunkt der weiteren Arbeit gilt der Frage, wie die Kontexte<br />

von Forschungslaboratorien bzw. Abteilungen und der Forschungseinheit<br />

insgesamt die Schaffung großer biomedizinischer Entdeckungen im zwanzigsten<br />

Jahrhundert beeinflußt. Die großen Erfindungen innerhalb der Laboratorien,<br />

der Forschungsabteilungen und der Institute geschehen nicht durch das Wirken<br />

eines blinden Zufalls. Dort, wo diese radikalen Entdeckungen stattfinden,<br />

herrschen besondere und eigene Bedingungen. Und die sollen in der weiteren<br />

Arbeit näher spezifiziert und vorgestellt werden.<br />

Strukturelle und kulturelle Begriffe<br />

Die Analyse von Forschungseinheiten und Laboratorien bzw. Abteilungen dreht<br />

sich um sieben zentrale Begriffe, die auch in der Übersicht unten zusammen mit<br />

den da<strong>für</strong> konstitutiven Indikatoren oder Beispielen angeführt werden. Diese<br />

Begrifflichkeiten betreffen (1) die ’ Vielfalt von Wissensfeldern‘, (2) die ’ Wissenstiefe‘<br />

innerhalb jedes der diversen Wissensfelder, (3) die Differenzierung<br />

der Organisation und Abteilungen in Untereinheiten, (4) die hierarchische und<br />

bürokratische Koordination (beispielsweise das Ausmaß an Standardisierung<br />

von Regeln und Abläufen), (5) das Ausmaß an interdisziplinären und integrierten<br />

’ Kulturen‘, (6) die Führungskapazität, welche die Fähigkeit zur Integration<br />

von diversen Wissensfeldern besitzt, und (7) die ’ Qualität‘ wie die Qualifikationen<br />

von Wissenschaftlern in den einzelnen Laboratorien, Abteilungen und<br />

Instituten. Es sollte noch eigens betont werden, daß es zwischen den beiden<br />

36 ÖZG 11.2000.1


Niveaus (Forschungseinheit und Laboratorien bzw. Abteilungen) ’ feine Unterschiede‘<br />

bei den jeweiligen Indikatoren und Beispielen gibt.<br />

Organisatorische Schlüsselfaktoren: Indikatoren und Beispiele<br />

Die Ebene von Forschungseinrichtungen insgesamt<br />

1. Vielfalt: (1) die unterschiedlichen biologischen wie medizinischen Disziplinen und<br />

Subdisziplinen, (2) Anteile von Personen in den biologischen Wissenschaften mit<br />

Forschungserfahrungen in anderen Disziplinen und/oder Paradigmen.<br />

2. Tiefe: (1) die Größe einer wissenschaftlichen Gruppe in jedem der unterschiedlichen<br />

Wissenschaftsfelder, (2) ’ Weite‘ an Expertise in jedem der Wissenschaftsfelder<br />

(im Falle der Genetik beispielsweise Spezialisierungen auf Drosophila, Mais,<br />

Mäuse, etc.).<br />

3. Differenzierung: (1) die Anzahl von biomedizinischen Abteilungen und anderen<br />

Einheiten, (2) Delegation der Entscheidung <strong>für</strong> die Personalaufnahme auf<br />

die Ebene von Abteilungen oder anderen Untereinheiten, (3) Verantwortung <strong>für</strong><br />

extramurale Finanzmittel auf der Ebene von Abteilungen oder anderen Untereinheiten.<br />

4. Hierarchische und bürokratische Koordination: (1) Standardisierung von Regeln<br />

und Abläufen, (2) zentrale budgetäre Kontrollen, (3) zentralisierte Entscheidungen<br />

über Forschungsprogramme, (4) zentralisierte Entscheidungen über die Personalanzahl.<br />

5. Interdisziplinäre und integrierte Aktivitäten zwischen Laboratorien, Abteilungen<br />

und Unterabteilungen: (1) die Häufigkeit und die Intensität von Interaktionen,<br />

(2) Publikationen von Artikeln, (3) Vorhandensein von Zeitschriften-Räumen,<br />

(4) gemeinsame Mahlzeiten und Freizeitaktivitäten.<br />

6. ’ Leadership‘, die Fähigkeit zur Integration wissenschaftlicher Vielfalt: (1) Strategische<br />

Vision zur Integration unterschiedlicher Gebiete wie auch <strong>für</strong> Schwerpunktthemen,<br />

(2) Fähigkeit zur Sicherung ausreichender finanzieller Mittel <strong>für</strong><br />

diese Schwerpunkte, (3) Fähigkeit zur Rekrutierung eines hochqualifizierten,<br />

aber hinreichend diversen Personals, so daß die einzelnen Forschungsgruppen<br />

ständig über den momentanen Stand an signifikanten und potentiell lösbaren<br />

Problemfeldern informiert sind, (4) die Fähigkeit zu harter Kritik im Kontext<br />

einer innovationsfreundlichen, unterstützenden Umgebung.<br />

7. Qualität: (1) Anteil von Wissenschaftlern an der landesweit angesehensten Wissenschaftsakademie,<br />

(2) Forschungsmittel pro Wissenschaftler.<br />

Die Ebene von Forschungslaboratorien und Forschungsabteilungen<br />

1. Vielfalt: (1) die unterschiedlichen biologischen wie medizinischen Disziplinen und<br />

Sub-Disziplinen, (2) Anteile von Personen in den biologischen Wissenschaften<br />

mit Forschungserfahrungen in anderen Disziplinen und/oder Paradigmen.<br />

2. Tiefe: (1) die Größe einer wissenschaftlichen Gruppe in jedem der unterschiedli-<br />

ÖZG 11.2000.1 37


chen Wissenschaftsfelder, (2) ’ Weite‘ an Expertise in jedem der Wissenschaftsfelder.<br />

3. Differenzierung: (1) die Anzahl von biomedizinischen Abteilungen und anderen<br />

Einheiten, (2) Delegation der Entscheidung <strong>für</strong> die Personalaufnahme auf<br />

die Ebene von Abteilungen oder anderen Untereinheiten, (3) Verantwortung <strong>für</strong><br />

extramurale Finanzmittel auf der Ebene von Abteilungen oder anderen Untereinheiten.<br />

4. Hierarchische und bürokratische Koordination: (1) Standardisierung von Regeln<br />

und Abläufen, (2) zentrale budgetäre Kontrollen, (3) zentralisierte Entscheidungen<br />

über Forschungsprogramme, (4) zentralisierte Entscheidungen über die Personalanzahl.<br />

5. Interdisziplinäre und integrierte Aktivitäten zwischen Laboratorien, Abteilungen<br />

und Unterabteilungen: (1) die Häufigkeit und die Intensität von Interaktionen,<br />

(2) Publikationen von Artikeln, (3) Vorhandensein von Zeitschriften-Räumen,<br />

(4) gemeinsame Mahlzeiten und Freizeitaktivitäten.<br />

6. ’ Leadership‘, die Fähigkeit zur Integration wissenschaftlicher Vielfalt: (1) Strategische<br />

Vision zur Integration unterschiedlicher Gebiete wie auch <strong>für</strong> Schwerpunktthemen,<br />

(2) Fähigkeit zur Sicherung ausreichender finanzieller Mittel <strong>für</strong><br />

diese Schwerpunkte, (3) Fähigkeit zur Rekrutierung eines hochqualifizierten,<br />

aber hinreichend diversen Personals, so daß die einzelnen Forschungsgruppen<br />

ständig über den momentanen Stand an signifikanten und potentiell lösbaren<br />

Problemfeldern informiert sind, (4) die Fähigkeit zu harter Kritik im Kontext<br />

einer innovationsfreundlichen, unterstützenden Umgebung.<br />

7. Qualität: (1) Anteil von Wissenschaftlern an der landesweit angesehensten Wissenschaftsakademie,<br />

(2) Forschungsmittel pro Wissenschaftler.<br />

Instituts-Sample und Daten<br />

Die größere Studie, welche diesem Artikel zugrunde liegt, basiert auf der Untersuchung<br />

von 128 Forschungseinrichtungen in den USA: 28 Forschungsinstitute,<br />

in denen zwei oder mehr große Durchbrüche erzielt wurden und als Vergleichsgruppe<br />

100 Einrichtungen, in denen eine oder gar keine große Entdeckung erzielt<br />

worden sind. Die Untersuchung widmete sich vier unterschiedlichen Typen<br />

von Forschungseinrichtungen, nämlich (1) <strong>Universität</strong>en, (2) medizinischen Fakultäten,<br />

Spitälern oder Kliniken, (3) selbständigen Forschungsinstituten und<br />

(4) industriellen Forschungslaboratorien. Für nahezu zwei Dutzend dieser Forschungseinrichtungen<br />

wurden eigene Fallstudien erstellt, die auf ’ Expertengesprächen‘<br />

und Tiefeninterviews gründeten. Die genaueren Details über den<br />

Sampling-Prozeß, der zur Auswahl von Forschungseinheiten ohne große Durchbrüche<br />

während des gesamten Untersuchungszeitraumes führte, werden an anderer<br />

Stelle beschrieben. 9<br />

9 Vgl. Rogers J. Hollingsworth u. Jerry Hage, Organizational Characteristics which Facilitate<br />

38 ÖZG 11.2000.1


Naturgemäß stehen viele Kriterien offen, wenn es um die Bewertung der<br />

’ Performanz‘ oder der Leistung‘ von Forschungseinrichtungen geht: ihre Pro-<br />

’<br />

duktivität, das Ranking‘ in Zitationsindizes, das Volumen an Forschungsmit-<br />

’<br />

teln pro Wissenschaftler oder im Falle der amerikanischen <strong>Universität</strong>en: die<br />

Anzahl von akademischen Graden oder die Qualität des Ausbildungsprogramms<br />

und des Lehrkörpers <strong>für</strong> graduierte Studenten. Unsere Untersuchung geht nicht<br />

davon aus, daß Forschungseinrichtungen ohne größere Durchbrüche als wissenschaftlich<br />

mangelhaft“ oder schlecht“ klassifiziert werden sollten. Eine solche<br />

” ”<br />

Schlußfolgerung wäre allzu voreilig. Jedoch verlangt es der noch sehr fragmentarische<br />

und unterentwickelte Wissensstand über die organisatorischen Erfolgswie<br />

Mißerfolgsfaktoren <strong>für</strong> große wissenschaftliche Durchbrüche einfach, diese<br />

Form der Untersuchung voranzutreiben.<br />

Die Daten stammen von vielen unterschiedlichen Quellen: von Interviews,<br />

Archivmaterialien, mündlichen Lebensgeschichten, Sekundärauswertungen veröffentlichter<br />

Materialien sowie wissenschaftlicher Literatur. Platzbeschränkungen<br />

haben allerdings dazu geführt, nur einen kleinen Teil der Datenquellen <strong>für</strong><br />

dieses Forschungsprojekt eigens anzuführen.<br />

Methodologie<br />

In der weiteren Untersuchung wurden Instrumente der vergleichenden Forschung<br />

wie auch der Gesprächsanalyse verwendet. Da das primäre Forschungsziel<br />

darin liegt zu erklären, wie die organisatorischen Eigenschaften von Forschungseinrichtungen<br />

mit der Entstehung großer wissenschaftlicher Durchbrüche<br />

zusammenhängen, hat die vorliegende Untersuchung Institute mit mehreren<br />

größeren Durchbrüchen mit solchen Forschungseinrichtungen verglichen, in<br />

denen sich keine oder nur eine einzelne große Entdeckung ereignet hat. Gleichzeitig<br />

werden auch historische Untersuchungen als zusätzliche Quelle <strong>für</strong> vergleichende<br />

Analysen herangezogen. Mit dieser Methode wollen wir vor allem<br />

Forschungseinrichtungen in verschiedenen Etappen ihrer Geschichte vergleichen,<br />

indem wir sie vor und nach bedeutsamen strukturellen und kulturellen<br />

Veränderungen vergleichen, um die Konsequenzen solcher Veränderungen <strong>für</strong><br />

das Gelingen und die Anzahl solcher Durchbrüche zu prüfen.<br />

Trotz unserer Betonung struktureller und kultureller Bedingungen in Forschungsorganisationen<br />

mit oftmaligen großen Durchbrüchen ist es wichtig, die<br />

Tatsache nicht aus dem Auge zu verlieren, daß es nicht den einen und ausschließlich<br />

einen Weg gibt, auf dem Forschungseinrichtungen ihre große Durchbrüche<br />

erzielen. Vielmehr ist man mit einem Panorama von unterschiedlichen<br />

Major Discoveries in the Biomedical Sciences, in: Proposal to National Science Foundation<br />

1996.<br />

ÖZG 11.2000.1 39


Konfigurationen konfrontiert, in denen unterschiedliche Schlüsselfaktoren je<br />

nach Zeitpunkt, je nach Analyseniveau und je nach konkretem Typus von Forschungsorganisation<br />

(z. B. <strong>Universität</strong>, Forschungsinstitute) variieren.<br />

Dieser Artikel stellt einen vorläufigen Bericht über jene Schlüsselmerkmale<br />

von Forschungseinrichtungen dar, welche ihr Fähigkeit <strong>für</strong> oftmalige große<br />

Durchbrüche wesentlich beeinflussen und bedingen. Wichtig an den strukturellen<br />

und organisatorischen ’ Settings‘, in denen sich solche großen Entdeckungen<br />

vollzogen, ist die Art, wie stark diese Forschungseinrichtungen auf diesen<br />

Schlüsselfaktoren ’ laden‘ und auch die Weise, wie diese Schlüsselfaktoren<br />

zusammenwirken. Was an den einzelnen Forschungsinstituten variiert, ist ihr<br />

Profil bei den einzelnen Schlüsselfaktoren wie auch die Art, in der diese Faktoren<br />

sich wechselseitig beeinflussen. Jene Forschungseinrichtungen mit immer<br />

wiederkehrenden großen Durchbrüchen besitzen ein ganz anderes Profil als die<br />

Konfiguration dieser Faktoren dort, wo spektakuläre Entdeckungen ein sehr<br />

seltenes Ereignis oder gar einen Non-Event darstellen.<br />

Es gibt natürlich einige Variationen hinsichtlich der Zusammensetzung jener<br />

Schlüsselfaktoren, die mit spektakulären wissenschaftlichen Durchbrüchen<br />

in Zusammenhang gebracht werden: Einige erweisen sich als stärker erklärungsrelevant<br />

als andere. Aber das Ziel unserer Untersuchung besteht ja darin herauszufinden,<br />

welche dieser Schlüsselfaktoren am stärksten und am häufigsten<br />

bei der ’ Entstehung des Neuen‘ beteiligt sind. In jenen Organisationen, welche<br />

immer wieder als die konkreten Orte von großen wissenschaftlichen Durchbrüchen<br />

in Erscheinung getreten sind, stehen zwei Schlüsselbegriffe im Zentrum<br />

der Erklärung, nämlich einerseits ’ Interdisziplinarität und integrierte Kultur‘<br />

und andererseits eine ’ innovationsfreundliche Führung‘.<br />

Fallstudien: Das hochgradig integrierte kleine Forschungsinstitut<br />

In diesem Artikel sollen eine Fallstudie in größerer Ausführlichkeit referiert<br />

und einige andere Fallstudien kurz gestreift werden. Die größere Fallstudie widmet<br />

sich dem Rockefeller Institute/University. Das Rockefeller-Institut gilt als<br />

der Ort mit den meisten größeren Durchbrüchen innerhalb der Biomedizin des<br />

zwanzigsten Jahrhunderts – es gibt keinen vergleichbaren anderen Platz auf der<br />

Welt mit einer ähnlichen Dichte an biomedizinischen ’ Basisinnovationen‘.<br />

Das zentrale Ergebnis in der Fallstudie besteht darin, daß die großen Entdeckungen<br />

dort deswegen sehr häufig auftreten, weil sich in dieser Einrichtung<br />

ein hohes Ausmaß an Interdisziplinarität wie auch an ’ integrierten Programmen‘<br />

zwischen sehr unterschiedlichen Disziplinfeldern etabliert hatte. Anders<br />

ausgedrückt war das Rockefeller Institut (wie auch ein ähnlich innovatives Institut,<br />

nämlich das California Institute of Technology) durch Forschungs-Settings<br />

40 ÖZG 11.2000.1


gekennzeichnet, in denen Wissenschaftler mit unterschiedlichen Perspektiven,<br />

disziplinären Hintergründen und Forschungsprogrammen häufig und intensiv<br />

miteinander in Kontakt standen. Darüber hinaus war die Führung dieser Forschungseinrichtung<br />

in hohem Ausmaß als ’ innovationsfreundlich‘ einzustufen,<br />

in denen sich Momente von Abschirmung und längerfristigen Perspektiven mit<br />

starken Standards und Kriterien <strong>für</strong> wissenschaftliche Kritik und Auseinandersetzung<br />

kombinierten. Die konkreten Formen, in denen sich solche ’ interdisziplinären‘<br />

und ’ integrierten‘ Wissenschaftskulturen und innovationsfreundlichen<br />

Umgebungen ausdrücken, schwanken aber je nach organisatorischen Kontexten<br />

– und auch je nach Zeit.<br />

Wir werden ausführliche Beispiele anführen, um mehr Anschaulichkeit in<br />

die bisher beschriebene analytische Struktur zu bringen und um die Bedeutung<br />

von Ausdrücken wie ’ interdisziplinäre‘ bzw. ’ integrierte Kultur‘, ’ Tiefe‘, etc.<br />

zu verdeutlichen und zu konkretisieren. Aus platztechnischen Gründen können<br />

die Organisationsstrukturen jener Forschungseinrichtungen, Laboratorien oder<br />

Abteilungen, in denen sich kaum oder keine spektakulären Durchbrüche ereigneten,<br />

im weiteren nur kursorisch gestreift werden, obschon einige Hinweise auf<br />

diese Vergleichsgruppe immer wieder wichtig da<strong>für</strong> werden, den robusten Charakter<br />

des analytischen Designs wie auch seiner Ergebnisse zu verdeutlichen.<br />

Die nun näher beschriebene Forschungseinrichtung, in der sich immer wieder<br />

große Entdeckungen, Erfindungen oder Durchbrüche ereigneten, weist folgende<br />

Werteverteilung bei den Schlüsselfaktoren auf: höhere bis hohe Werte<br />

im Bereich der ’ Vielfalt‘, geringe Werte bei der internen Differenzierung, eine<br />

Führung, welche sich auf die Integration wissenschaftlicher Viel- und Mannigfaltigkeit<br />

verstand, höhere bis hohe Werte an wissenschaftlicher ’ Tiefe‘, geringe<br />

Werte im Bereich der hierarchischen Koordination sowie wiederum hohe Werte<br />

bei der Qualität wie eben vor allem der ’ interdisziplinären‘ und ’ integrierten‘<br />

Kultur.<br />

Das Rockefeller Institut<br />

In seinen frühen Jahren erwarb sich das Rockefeller-Institut einen herausragenden<br />

Ruf und zugleich eine Struktur, die immer wieder große Durchbrüche<br />

ermöglichte. Im Laufe der Zeit kam es zwar zu Veränderungen in der Organisation<br />

des Instituts, doch gelang es über die Zeit hinweg, den exzellenten Ruf<br />

und die Grundstruktur so zu konservieren, daß es seine Spitzenposition in der<br />

biomedizinischen Forschung erhalten konnte.<br />

Ganz anders als das Koch-Institut in Berlin, das Pasteur-Institut in Paris<br />

oder Ehrlich Institut in Frankfurt, die alle um einzelne große Wissenschaftler<br />

und ihre jeweilige Forschungsrichtungen gegründet worden waren, setz-<br />

ÖZG 11.2000.1 41


te das Rockefeller-Institut von Anfang auf die Verschiedenheit und auf eine<br />

größere Anzahl an unterschiedlichen Disziplinen innerhalb der biomedizinischen<br />

Wissenschaften. 10 Anstatt sich auf ein spezielles Gebiet wie Bakteriologie<br />

oder Immunologie zu spezialisieren, bestand das Institutsziel seit der Gründung<br />

darin, unterschiedliche Gebiete in der Biomedizin abzudecken. Frühe Institutsgründungen<br />

in der Biomedizin gruppierten sich vorrangig um den Bereich der<br />

Bakteriologie. Bakteriologie wurde am Rockefeller-Institut viel stärker mit Pathologie<br />

verknüpft und beide Felder wurden enger an Entdeckungen im Bereich<br />

der organischen und der physikalischen Chemie wie auch der Physik gebunden.<br />

Die Leitidee des Instituts bestand seit seiner Gründungsphase in einer breit<br />

ausgelegten Konzeption von biomedizinischen Wissenschaften. Die Konsequenzen<br />

aus dieser Grundentscheidung, auf die Weite und die Mannigfaltigkeit von<br />

biomedizinischen Disziplinen zu setzen, werden im weiteren detailliert erläutert.<br />

In den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts bestand nur eine<br />

relativ geringe ’ Vielfalt‘ oder ’ Weite‘ am Rockefeller Institut, was sich sowohl<br />

an der geringen Anzahl unterschiedlicher Forschungslaboratorien als auch in<br />

ihrer nur mittleren ’ Tiefe‘ niederschlug, weil in jedem dieser Labors nur wenige<br />

Leute arbeiteten. Aber selbst in dieser Konstellation legte der erste Direktor,<br />

Simon Flexner, großes Augenmerk auf den Prozeß der Personalrekrutierung, indem<br />

Wissenschaftler aus verschiedenen kulturellen und wissenschaftlichen Gebieten<br />

in das Institut integriert wurden. Und so traten denn auch Personen<br />

wie beispielsweise Carrell aus Frankreich, Landsteiner aus Österreich, Noguchi<br />

aus Japan, Levene aus Rußland sowie Meltzer und Loeb aus Deutschland<br />

ihren Weg zum Rockefeller-Institut an. Dieses Rekrutierungsmuster stellte sicher,<br />

daß sich am Rockefeller-Institut unterschiedliche Problemzugänge, unterschiedliche<br />

Denkstile und unterschiedliche Forschungsfelder zusammenfanden.<br />

Beinahe jeder dieser Wissenschaftler verkörperte in sich selbst eine Vielzahl<br />

an kulturellen und wissenschaftlichen ’ Stilen‘, welche nochmals die Möglichkeit<br />

<strong>für</strong> interdisziplinäre Vielfalt erhöhten. Generell hatte nahezu jeder der<br />

bedeutenden Wissenschaftler in der Geschichte des Rockefeller-Instituts eine<br />

hohe ’ interne Vielfalt‘ in seinem individuellen Forscherleben aufgebaut, was<br />

von vornherein eine gewisse ’ kognitive Nähe‘ oder ’ Familienähnlichkeit‘ zwischen<br />

jedem dieser disziplinären ’ Grenzgänger‘ herstellte. Von seinen frühesten<br />

Anfängen organisierte das Rockefeller-Institut – übrigens in deutlichem<br />

Kontrast zu den <strong>Universität</strong>en – seine ’ Wissensproduktion‘ nicht entlang jener<br />

Grenzen, welche die Wissenschaftsdisziplinen nahelegten. Speziell in seinen<br />

organisatorischen Demarkationen erwies sich das Rockefeller-Institut als<br />

einzigartig, da in anderen Forschungseinrichtungen in der Regel die Wissensproduktion<br />

’ disziplinär‘ organisiert war und normalerweise auch Personen mit<br />

10 Vgl. George W. Corner, A History of the Rockefeller Institute, New York 1964; Rene J.<br />

Dubos, The Professor, the Institute, and DNA, New York 1976.<br />

42 ÖZG 11.2000.1


geringerer interner wissenschaftlicher oder kultureller Viel- und Mannigfaltigkeit<br />

rekrutiert wurden. Eine der herausragenden Qualitäten der Forschungsorganisation<br />

am Rockefeller-Institut lag aber gerade in seiner Praxis, nur jene<br />

Personen an sich zu binden, welche innerhalb einer großen Vielfalt an kulturellen,<br />

wissenschaftlichen und organisatorischen ’ Umgebungen‘ sozialisiert worden<br />

waren. Und gerade diese Einzelpersönlichkeiten mit einem hohen Grad an ’ internalisierter<br />

Vielfalt‘ wiesen denn auch ein vergleichsweise höheres Potential<br />

da<strong>für</strong> auf, sich neue Denkstile und neue wissenschaftliche Kompetenzen anzueignen<br />

und damit noch mehr an ’ interner Vielfalt‘ aufzubauen. Kurz gesagt,<br />

das Rockefeller-Institut war von seinen frühesten Anfängen an ein Ort, wo Wissenschaftler<br />

in vielfältigen Disziplinen gleichzeitig lebten – und leben wollten.<br />

Wie Michael Gibbons und andere hervorheben, 11 werden innovative Leistungen<br />

im Wissenschaftssystem durch Kommunikationsprozesse ’ beschleunigt‘, die<br />

ihrerseits vom Grad der Mobilität abhängen. ’ Mobilität‘ bedeutet einen sehr<br />

gewichtigen Faktor als Vorbedingung da<strong>für</strong>, daß sich neuartige ’ Hybrid-Ideen‘<br />

formen. Das Rockefeller-Institut erwies sich im frühen zwanzigsten Jahrhundert<br />

als einzigartiger Platz da<strong>für</strong>, Wissenschaftler aus den verschiedensten Teilen der<br />

Welt zu rekrutieren, die bereits durch eine Vielfalt an unterschiedlichen Stätten<br />

der Wissensproduktion und in mannigfaltigen disziplinären Umgebungen gewandert<br />

und so ’ bewandert‘ waren. Diese Rekrutierungspraxis produzierte eine<br />

Art von wissenschaftlicher Hybridbildung, die im Zeitablauf immer wieder zu<br />

neuen Ideen, Einfällen, Techniken, Instrumenten, Modellen, Heuristiken oder<br />

Prinzipien führte.<br />

Eine Forschungseinrichtung vom Typus des Rockefeller-Instituts besaß eine<br />

Reihe von komparativen Vorteilen gegenüber den meisten akademischen Lehr-<br />

Organisationen. Die meisten wissenschaftlichen Lehrstätten wollen ihren Studenten<br />

ein Wissenschaftsgebiet in breiter Streuung vermitteln und finden es<br />

in der Regel unangemessen, ein spezielles Teilgebiet zu vernachlässigen. Aus<br />

diesem Grunde werden oftmals Personen berufen, die nicht wegen ihrer herausragenden<br />

Arbeiten, sondern wegen ihrer Spezialkenntnisse an eine <strong>Universität</strong><br />

geholt werden. Ein Forschungsinstitut besitzt hingegen keine Verpflichtung, ein<br />

gesamtes Wissensgebiet vollständig abzudecken und es kann sich hochselektiv<br />

hinsichtlich seiner jeweiligen Schwerpunkte verhalten. Wenn es gewünscht<br />

wird, kann Rockefeller ganze Wissensfelder vernachlässigen oder neu beleben.<br />

In jedem Falle werden nur solche Wissenschaftler aufgenommen, welche als die<br />

weltweit höchstqualifizierten Personen betrachtet werden und deren Schwerpunktgebiete<br />

zudem in das Rockefeller-Profil passen. Auch besitzt ein Forschungsinstitut<br />

vom Schlage Rockefeller – und dies wiederum im Unterschied<br />

zu einschlägigen Lehreinrichtungen – die Flexibilität, schlagartig neue Wissensgebiete<br />

zu besetzen. Und weil Rockefeller nicht an die Lehre gebunden<br />

11 Vgl. Michael Gibbons, u. a., The New Production of Knowledge, London 1994.<br />

ÖZG 11.2000.1 43


war, konnte sich das Institut den Luxus leisten, höchstqualifizierte Personen<br />

auch dann zu rekrutieren, wenn sie sich nicht einmal in der englischen Sprache<br />

hinreichend ausdrücken konnten. 12<br />

Natürlich besaß das Institut eine großzügige finanzielle Basis über die Stiftung<br />

durch John D. Rockefeller. Doch eine Reihe anderer Institute, die ungefähr<br />

zur selben Zeit ins Leben gerufen wurden, waren finanziell ebenfalls sehr gut<br />

ausgestattet: das Phipps Institute in Philadelphia, etabliert durch den Stahlmagnaten<br />

Henry Phipps, das Memorial Institute <strong>für</strong> ansteckende Krankheiten<br />

in Chicago, gegründet von Harold McCormick, einen Schwiegersohn von John<br />

D. Rockefeller, oder die Carnegie Institution in Washington unter der Schirmherrschaft<br />

von Andrew Carnegie. Man könnte diese Liste noch verlängern. Doch<br />

scheint ausreichend Geld eine notwendige, nicht aber eine hin- und ausreichende<br />

Bedingung <strong>für</strong> außerordentliche wissenschaftliche Leistungen darzustellen.<br />

Eine der wichtigsten Bedingungen <strong>für</strong> eine Forschungseinrichtung, um langfristig<br />

das Gelingen großer wissenschaftlicher Durchbrüche sicherzustellen, liegt<br />

in der Qualität der Führung dieser Institute, im ’ Leadership‘. Dieser Schlüsselfaktor<br />

besitzt in der überkommenen organisationssoziologischen Literatur nur<br />

eine untergeordnete Bedeutung. Aber gerade bei seinen Direktoren und Präsidenten<br />

bemühte sich Rockefeller, immer wieder Persönlichkeiten zu finden,<br />

die sehr gut mit Wissenschaftlern zusammenarbeiten konnten und zudem die<br />

führenden Forscher auf dem Gebiet der Biomedizin persönlich kannten. Von den<br />

sieben Direktoren bzw. Präsidenten seit der Gründung von Rockefeller waren<br />

fünf direkt an großen biomedizinischen Entdeckungen beteiligt und die beiden<br />

ohne spektakuläre Durchbrüche (Detlev Bronk und Fred Seitz) waren herausragende<br />

Wissenschaftler, die beide auch zu Präsidenten der National Academy<br />

of Sciences gewählt wurden. Vier der sieben Rockefeller-Direktoren waren auch<br />

Nobel-Preisträger in Medizin beziehungsweise Physiologie.<br />

Der erste Direktor, Simon Flexner, hinterließ ein unvergängliches Erbe.<br />

Denn es war Flexner, der den Plan entwickelte, daß ganz bestimmte Standards<br />

<strong>für</strong> die Leitung am Rockefeller-Institut gelten sollten. Rockefeller sollte<br />

von Wissenschaftlern geleitet werden, die erstens eine ’ strategische Vision‘ zur<br />

Integration unterschiedlicher Gebiete entwickelten und entsprechende Schwerpunktprogramme<br />

ausarbeiten konnten. Zweitens sollten die Leiter gleichermaßen<br />

die Fähigkeit zur ” Konstruktion“ – die Schaffung einer geschützten wie<br />

innovationsfreundlichen Umgebung – und ” Kritik“ – die Anwendung rigoroser<br />

wissenschaftlicher Evaluation – beherrschen. Drittens sollten sie in der Lage<br />

sein, ein hinreichend unterschiedliches und vielfältiges wissenschaftliches Personal<br />

zu rekrutieren, so daß die einzelnen Forschungsgruppen nicht nur über<br />

die jeweils ’ heißesten‘ Problemfelder und ihre prinzipiell möglichen Lösungs-<br />

12 Vgl. Simon Flexner, Medical Education. A Comparative Study, New York 1925, sowie<br />

ders., Universities. American, German, English, Oxford 1930.<br />

44 ÖZG 11.2000.1


wege informiert waren, sondern auch die passende Umgebung da<strong>für</strong> hatten,<br />

sich den neuen Herausforderungen direkt zu stellen und neue Forschungspfade<br />

auch tatsächlich zu erproben. Viertens mußten die Leiter in der Lage sein, eine<br />

hinreichende finanzielle Plattform <strong>für</strong> diese Art von ’ riskanter Forschung‘ aufzubauen<br />

und zu erhalten. Natürlich haben nicht alle weiteren Direktoren von<br />

Rockefeller diese Art von Führung praktiziert oder sind diesen Standards so<br />

gefolgt, wie sie von Flexner verkörpert worden sind. Aber nach diesen Idealen<br />

sind immerhin die weiteren Leiter sowohl innerhalb wie außerhalb dieser<br />

Forschungseinrichtung gemessen worden.<br />

Flexner stand ein wissenschaftlicher Beirat zur Seite, der sich aus einigen<br />

der führenden biomedizinischen Forscher der Vereinigten Staaten zusammensetzte.<br />

Der erste Präsident des Beirates war William H. Welch von der medizinischen<br />

Fakultät von Johns Hopkins, der damals als die unbestrittene graue<br />

Eminenz in der medizinischen Forschung und Ausbildung galt. Dieser Beirat<br />

war verantwortlich <strong>für</strong> die Anstellung von Wissenschaftlern und <strong>für</strong> die strategische<br />

wie inhaltliche Positionierung der konkreten wissenschaftlichen Forschungsschwerpunkte.<br />

Der Direktor (Flexner) wurde von den wissenschaftlichen<br />

Beiräten ernannt und sollte zudem in einem engen Arbeitsverhältnis mit<br />

dem wissenschaftlichen Personal stehen. Weiterhin gab es einen Aufsichtsrat <strong>für</strong><br />

die finanziellen Angelegenheiten und Obliegenheiten, doch der wissenschaftliche<br />

Beirat spielte eine essentielle Rolle, wann immer es galt, einen besonders<br />

herausragenden Wissenschaftler in das Institut einzubinden. Die äußerst angesehene<br />

Rolle des wissenschaftlichen Beirats erleichterte zusammen mit den besonderen<br />

Fertigkeiten des Direktors dieses exquisite und hochqualifizierte Auswahlverfahren.<br />

Diese Form der Selektion sollte bis zum Jahre 1953 dauern, bis<br />

sich das Institut zu einer kleinen <strong>Universität</strong> verwandelte und der wissenschaftliche<br />

Beirat mit dem Aufsichtsrat <strong>für</strong> Finanzen zu einem einzigen Aufsichtsrat<br />

zusammenschmolz. Von da an besaß Rockefeller nicht mehr jenes kleine Gremium<br />

an weltweit anerkannten Wissenschaftlern, welche die Letztentscheidung<br />

über Neuzugänge trafen. Die Qualität der Neubesetzungen seither, obschon<br />

noch immer als ’ erlesene Auswahl‘ vollzogen, erreicht doch nicht mehr jene hohen<br />

Standards wie sie bei einem so hochkarätig besetzten Gremium erreichbar<br />

gewesen wäre.<br />

Am Institut selbst wurden die dauerhaft angestellten Forscher als ” Mitglieder“<br />

bezeichnet und besaßen eine zeitlich unbegrenzte Anstellung, welche<br />

der Stellung eines Professors im Rahmen einer amerikanischen <strong>Universität</strong> entsprach.<br />

Die nächste Stufe innerhalb der Rockefeller-Hierarchie trug den Titel<br />

eines ” Assoziierten Mitglieds“ und war mit einer dreijährigen Anstellung verknüpft;<br />

die Verträge assoziierter Mitglieder konnten allerdings erneuert werden.<br />

Doch nach einer einmaligen Verlängerung entschied es sich in der Regel,<br />

ob assoziierte Mitglieder als normale und dauerhafte Mitglieder angestellt wur-<br />

ÖZG 11.2000.1 45


den oder das Institut wieder verlassen mußten. ” Assoziierte Mitarbeiter“ wurden<br />

auf zwei Jahre angestellt, ” Assistenten“ oder ” Fellows“ <strong>für</strong> ein Jahr. Auch<br />

diesen Institutsangehörigen standen im Prinzip Vertragsverlängerungen offen;<br />

aber auch hier etablierte sich die Praxis, daß nach drei bis fünf Jahren diese<br />

Mitarbeiter entweder innerhalb des Instituts befördert wurden oder wieder<br />

ausscheiden mußten. Wie die Kaiser-Wilhelm- und Max-Planck-Institute, die<br />

später ein ähnliches Personalmanagement betrieben, war Rockefeller auf diese<br />

Weise auch damit beschäftigt, eine fortgeschrittene Ausbildung <strong>für</strong> eine kleine<br />

Elite an biomedizinischen Wissenschaftlern zu betreiben.<br />

Der Rekrutierungsprozeß <strong>für</strong> die höchste Hierarchiestufe, nämlich <strong>für</strong> die<br />

Mitglieder des Instituts, war äußerst aufwendig gestaltet. Der wissenschaftliche<br />

Beirat übernahm eine wichtige Rolle, weltweit nach hervorragenden Wissenschaftlern<br />

auf dem Feld der Biomedizin zu suchen. Nicht alle Mitglieder<br />

wurden allerdings auf diese Weise gekürt. Zum Beispiel wurden im Jahre 1934<br />

46 Prozent der permanenten Mitglieder von außen rekrutiert und 54 Prozent<br />

institutsintern bestellt. Und diese permanenten Mitglieder pflegten in der Regel<br />

am Institut zu bleiben. Aus diesem Kreis verließ nur Eugene Opie Mitte<br />

der dreißiger Jahre das Institut, doch selbst er kehrte später wieder dorthin<br />

zurück. Ein früherer Präsident von Rockefeller vertraute uns an, daß am Institut<br />

während der meisten Zeit seines Bestehens die ’ implizite Regel‘ galt, daß<br />

niemand als dauerhaftes Mitglied angestellt werden sollte, sofern nicht die starke<br />

Überzeugung bestand, daß diese Person einen Nobel-Preis gewinnen könnte.<br />

Es ist aber nicht damit getan, als Schlüsselfaktoren über die oben ausgeführte<br />

’ Leitungsphilosophie‘ zu verfügen, hervorragende Wissenschaftler zu<br />

rekrutieren, einen mittleren bis hohen Grad an wissenschaftlicher Vielfalt zu<br />

versammeln oder hinreichende finanzielle Ressourcen zu besitzen, um immer<br />

wieder zu spektakulären wissenschaftlichen Durchbrüchen vorzustoßen. Es müssen<br />

weitere wichtige Schlüsselfaktoren hinzutreten, die ebenfalls operativ wirksam<br />

werden. Wenn die wissenschaftliche Vielfalt sich in starken horizontalen<br />

Interaktionen untereinander äußern sollte, dann war es wichtig, daß das Institut<br />

nicht in viele akademische Abteilungen und Unterabteilungen separiert<br />

wurde, welche die Wissensproduktion fragmentierten. Die erforderliche Organisation<br />

mußte sich als weitgehend ’ integriert‘ erweisen, ein Kriterium, welches<br />

das Rockefeller-Institut in hohem Maße erfüllen sollte.<br />

Erstens wurde niemals eine Differenzierung in einzelne wissenschaftliche<br />

Institute angestrebt. Zwar war in seinen Frühzeiten das Institut in einen Laborbereich<br />

und in die Klinik aufgeteilt. Diese Klinik war die erste in ihrer Art<br />

und diente vor allem als Labor <strong>für</strong> den Bereich der Humanbiologie und der<br />

Pathologie. Diese Klinik wies immer nur eine geringe Größe auf und besaß lediglich<br />

eine kleine Anzahl von Mitarbeitern mit nicht-klinischer Ausbildung.<br />

Im Laufe der Zeit sollten aber dennoch eine größere Zahl seiner dauerhaft an-<br />

46 ÖZG 11.2000.1


gestellten Wissenschaftler zu Mitgliedern der National Academy of Sciences<br />

avancieren. Bei Rockefeller war nämlich das Ideal einer Dialektik‘ oder einer<br />

’<br />

’ Wechselbeziehung‘ zwischen klinischer Forschung und Grundlagenwissenschaften<br />

tatsächlich umgesetzt worden. Als markantes Beispiel kann auf Oswald<br />

Averys Entdeckung jener chemischen Substanz hingewiesen werden, welche <strong>für</strong><br />

bakterielle Umwandlungen verantwortlich zeichnet. Dieser große Durchbruch,<br />

der auch einen markanten Wendepunkt von der medizinischen hin zur molekularen<br />

Mikrobiologie darstellt, wurde durch Forscher ermöglicht, die ihre Ausbildung<br />

im Bereich der Medizin erhielten und in der Rockefeller-Forschungsklinik<br />

arbeiteten. Ihre Art von Forschung, sofern sie sich auf das Verständnis biologischer<br />

Prozesse bezog, beeinflußte die medizinische Praxis nur auf indirekte<br />

Weise. Und doch führte sie zu einer der wichtigsten biologischen Entdeckungen<br />

im zwanzigsten Jahrhundert. Die Mitarbeiter aus den Laboratorien und aus<br />

dem Klinikbereich kamen nämlich täglich oftmals zusammen. Und in der Tat<br />

bestand ja das organisatorische Erfolgsgeheimnis von Rockefeller genau in der<br />

wissenschaftlichen Integration‘ und in der Abwendung von einer Aufsplitterung<br />

’<br />

in mehr und mehr ausdifferenzierte Forschungszweige.<br />

Vielfalt und Tiefe innerhalb einer hochintegrierten Forschungseinrichtung<br />

besitzen ein inhärentes Potential da<strong>für</strong>, die Problemsichten von Personen zu<br />

verändern oder vor schwerwiegenden Fehlern wie auch vor einer Beschäftigung<br />

mit trivialen Problemen zu schützen. Schließlich müssen sich Wissenschaftler,<br />

sollen ihnen große Durchbrüche gelingen, an großen Problemen‘ erproben, die<br />

’<br />

zumindest prinzipiell als lösbar erscheinen. Und je größer sich die Vielfalt und<br />

Tiefe einer Forschungsgruppe innerhalb einer insgesamt integrierten Struktur<br />

gestaltet, desto größer sollte auch die Wahrscheinlichkeit sein, daß sich Wissenschaftler<br />

nicht mit unproduktiven oder prinzipiell unlösbaren Fragestellungen<br />

herumschlagen. Häufige und intensive Interaktionen unter Forschern mit ähnlichen<br />

disziplinären Hintergründen und Heuristiken scheinen in der Regel nicht<br />

zu größeren Durchbrüchen zu führen.<br />

Oswald Averys Karriere am Rockefeller Institut stellt im übrigen einen aufschlußreichen<br />

Einzelfall dar. Im Alter von 37 Jahren an das Rockefeller Institut<br />

berufen, hatte sich Avery bis zu diesem Zeitpunkt als ein höchst kompetenter<br />

Forscher auf mehreren Feldern hervorgetan, aber bislang wenig Kreativität und<br />

Originalität in seinen Arbeiten bewiesen. Einmal fest im vielfältigen‘, tiefen‘<br />

’ ’<br />

und integrierten‘ Rockefeller-Kontext verankert, begann sich Averys intellek-<br />

’<br />

tuelles Potential immer deutlicher zu zeigen. Als er 1944 seinen mittlerweile<br />

klassischen Artikel mit MacLeod und McCarty über die DNA und ihre Transformationen<br />

veröffentlichte, hatte er persönlich die so heterogenen Felder von<br />

Bakteriologie, Immunologie, Chemie, Bio-Chemie und Genetik auf vielfältige<br />

Weise integriert. Unsere Arbeit an amerikanischen Forschungseinrichtungen<br />

legt es nahe, daß der Kontext, in den Wissenschaftler eingebettet sind,<br />

ÖZG 11.2000.1 47


ihre Leistung beeinflußt. Arbeiten Wissenschaftler in Umgebungen mit einer<br />

beträchtlichen Vielfalt und Tiefe sowie mit häufigen wie auch intensiven Kontakten<br />

mit Wissenschaftlern mit Komplementärinteressen, dann steigert das in<br />

der Regel die Qualität ihrer wissenschaftlichen Produktion. Es ist die Vielfalt<br />

an Disziplinen und Paradigmen, denen individuelle Forscher in häufigen und<br />

intensiven Auseinandersetzungen und Gesprächen ausgesetzt sind, welche die<br />

Tendenz, die Propensität‘, zu revolutionären Umstrukturierungen und großen<br />

’<br />

Durchbrüchen steigern und verstärken.<br />

Die intellektuelle und soziale Integration wurde am Rockefeller Institut<br />

über eine Reihe von Maßnahmen und Vorkehrungen gewährleistet. Da wäre<br />

zunächst das qualitativ hochwertige Speiseangebot zu Mittag zu nennen, das<br />

auf Tischen serviert wurde, auf denen nicht mehr als acht Leute Platz fanden.<br />

Der Grund da<strong>für</strong> lag darin, daß auf einem solchen Tisch – im Gegensatz<br />

zu größeren Arrangements – ein angeregtes Gespräch über ein einziges Thema<br />

zwischen allen Teilnehmern stattfinden konnte. Das gemeinsame Essen bei<br />

wissenschaftlichen Gesprächen über wichtige wissenschaftliche Themen stellte<br />

einen wichtigen Teil der Rockefeller-Kultur‘ dar und war ein bedeutsames Bin-<br />

’ ’<br />

demittel‘, die vorhandene Vielfalt und Tiefe am Institut besser zu integrieren.<br />

Und obschon die wissenschaftliche Vielfalt am Rockefeller-Institut ganz beträchtliche<br />

Dimensionen annahm, war es eine andere Art von Vielfalt als jene,<br />

die sich auf den Colleges‘ von Oxford oder Cambridge manifestiert. Auch dort<br />

’<br />

bildet das gemeinsame Essen ein wichtiges Element der universitären Kultur.<br />

Auf den britischen Colleges erstreckt sich aber die Vielfalt in ihrer größtmöglichen<br />

Ausdehnung und reicht von der Archäologie, von esoterischen Sprachen,<br />

von der Geschichte bis hin zur Mathematik, Physik, Biologie und so weiter.<br />

Bei so hoher Vielfalt wird es aber als Affront gewertet, wenn man zu Tisch<br />

ein Gespräch über die eigene Arbeit beginnen wollte, da viele der Anwesenden<br />

einer Diskussion nicht folgen könnten. Doch am Rockefeller Institut bedeutet<br />

Vielfalt immer nur das weite Land der Biologie – und es gehörte zur Etikette‘,<br />

’<br />

lebhafte Mittagsdiskussionen über biomedizinische oder verwandte Wissensgebiete<br />

durchzuführen. Auf diese Weise stellte der Mittagstisch ein großartiges<br />

Lernexperiment dar, in dem Forscher intensive Diskussionen über neue Wege<br />

in der Biomedizin führen konnten – und auch führten.<br />

Die Integration wurde aber auch durch wöchentliche Zusammenkünfte erleichtert,<br />

an denen jeder teilnehmen sollte und an denen ein oder mehrere Wissenschaftler<br />

über ihre laufenden Arbeiten berichteten. Es gab auch Nachmittagstees,<br />

an denen die meisten Institutsmitglieder teilnahmen. Einer der wichtigsten<br />

Integrationspunkte stellte der Zeitschriften-Club‘, speziell der Klinik-<br />

’ ’<br />

Zeitschriften-Club‘ dar. Während eines akademischen Jahres traf sich dieser<br />

’ Klinik-Zeitschriften-Club‘ einmal im Monat und es wurde ein ausgezeichnetes<br />

Essen serviert. Von jedem wurde die Teilnahme erwartet – und zudem die<br />

48 ÖZG 11.2000.1


Bereitschaft, einen Artikel von allgemeinerem Interesse außerhalb der eigenen<br />

Forschungsaktivitäten zu referieren. Niemand wußte im vorhinein, wer ausgewählt<br />

wird, einen solchen Vortrag vor dem Zeitschriften-Club‘ zu halten.<br />

’<br />

Warum sollten sich erstrangige Wissenschaftler einem solchen Ritual unterziehen<br />

Nun, sie taten dies vor allem im Bewußtsein, an einem Welt-Institut‘ zu<br />

’<br />

arbeiten und im Glauben, daß einer der Gründe ihres Erfolgs im wechselseitigen<br />

Lernen bestand. Auch diese Form der regelmäßigen Auseinandersetzung<br />

mit Bereichen, die <strong>für</strong> andere innerhalb des Instituts von Interesse sein könnten,<br />

stellte einen der Wege zur Ausweitung der intellektuellen Horizonte dar.<br />

Das Beispiel von Oswald Avery dient dazu, einen anderen Aspekt in der<br />

’ Rockefeller-Kultur‘ hervorzuheben, nämlich die Förderung von Ideen und von<br />

jungen Wissenschaftlern durch das Medium von Diskussionen und informellen<br />

Kontakten. Robert Olby hat Oswald Avery nicht als einen dominanten<br />

Teamleiter beschrieben, 13 sondern als jemanden, der einen starken Einfluß auf<br />

jüngere Wissenschaftler durch häufige informelle Diskussionen in seinem Büro<br />

ausübte. Studiert man die Archive des Rockefeller-Instituts, dann kann man<br />

nicht umhin, die überragende Rolle von Simon Flexner aus den frühen Jahren<br />

des zwanzigsten Jahrhundert anzuerkennen, schon sehr früh eine Kultur der<br />

Förderung und Stimulierung junger Wissenschaftler etabliert zu haben. Einmal<br />

ins Leben gerufen und verankert, wurde dieses Merkmal weiterhin auch<br />

unter den anderen Direktoren bzw. Präsidenten kultiviert, wie dies speziell in<br />

den Aktivitäten von Oswald Avery, Detlev Bronk und Bloebel zum Ausdruck<br />

kam.<br />

Und schließlich stellt auch noch die Umgebung von New York einen gewichtigen<br />

Vorteil des Rockefeller-Instituts dar. Vor den Tagen des Düsenjets<br />

war New York die natürliche Anlegestelle <strong>für</strong> Wissenschaftler jenseits des Atlantiks.<br />

Und fast selbstverständlich machten ausländische Forscher denn auch<br />

am Rockefeller-Institut Station. Sicher zählte keine andere biomedizinische<br />

Forschungseinrichtung in den Vereinigten Staaten so viele ausländische Wissenschaftler<br />

in ihren Reihen. Darüber hinaus war das Institut in einem der<br />

schönsten Stadtteile New Yorks angesiedelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten<br />

das New York Hospital, das Cornell University Medical College sowie das<br />

Sloan Kettering Institute for Cancer Research zu seinen unmittelbaren Nachbarn.<br />

Es stand im Kern eines der weltweit größten Zentren in der biomedizinischen<br />

Forschung. Seine Umgebung verschaffte ihm zusätzlich die Möglichkeit,<br />

mit den allerneuesten Richtungen, Wegen und Ergebnissen biomedizinischer<br />

Forschung konfrontiert zu sein. Und wenn es auch als verhältnismäßig kleines<br />

Institut nicht die Mannigfaltigkeit an verschiedensten Approaches und Richtungen<br />

in der biomedizinischen Forschung durch seine Institutsanghörigen zu<br />

13 Siehe Robert Olby, The Protein Version of the Central Dogma, in: Genetics 79 (1975),<br />

3–27; ders., The Path to the Double Helix, Seattle 1979.<br />

ÖZG 11.2000.1 49


epräsentieren vermochte, so bot es doch eine Plattform da<strong>für</strong>, daß im Grunde<br />

sämtliche führenden Forscher innerhalb der Biomedizin Rockefeller besuchten,<br />

um Darstellungen ihrer neuesten Arbeiten und Forschungen zu vermitteln. Verschieden<br />

lange Stipendien der Rockefeller Foundation an junge britische oder<br />

europäische Forscher brachten zudem die Creme de la Creme an jungen wissenschaftlichen<br />

Talenten nach New York.<br />

Wegen seiner im wesentlichen gleichbleibenden Struktur und seiner tradierten<br />

Wissenschaftskultur stellt das Rockefeller-Institut/<strong>Universität</strong> noch immer<br />

eines der weltweit führenden Zentren im Bereich der biomedizinischen Forschung<br />

dar. Doch seit den 1950er Jahren steht es nicht mehr als dermaßen<br />

dominante und überragende Erscheinung in der biomedizinischen Landschaft<br />

wie es dies in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts tat. Der erste<br />

Grund da<strong>für</strong> liegt darin, daß das Düsenflugzeug einen außerordentlich starken<br />

Effekt darauf ausübte, die führenden Stätten der biomedizinischen Forschung<br />

zu verschieben. Es war nicht mehr länger notwendig, an der Ostküste angesiedelt<br />

zu sein. Herausragende Wissenschaftler waren zunehmend bereit, sich<br />

auch im südlichen Kalifornien, in Palo Alto, in San Francisco, in Seattle oder<br />

in zahlreichen anderen Forschungsstätten quer über die Vereinigten Staaten<br />

niederzulassen. Darüber hinaus verlor Rockefeller zu jenem Zeitpunkt, als das<br />

National Institute of Health die biomedizinische Forschung in großem Maßstab<br />

zu finanzieren begann, seine besonderen finanziellen Vorteile. Keine größere private<br />

Forschungseinrichtung konnte ohne öffentliche Finanzierung auskommen,<br />

wollte sie wissenschaftlich in die allerersten Reihen vorstoßen oder diese Position<br />

beibehalten. Als Resultat von neuen Transport- und Verkehrsmöglichkeiten<br />

sowie von neuen Finanzierungsquellen war es Rockefeller nicht mehr möglich,<br />

seine dominante Position innerhalb der biomedizinischen Welt wie in früheren<br />

Zeiten ungebrochen aufrechtzuerhalten.<br />

Auch die interne Struktur begann sich zu wandeln, eine Veränderung, die<br />

einige negative Effekte <strong>für</strong> seine langfristige Zukunft mit sich brachte, aber<br />

letztlich keine allzu starken Auswirkungen <strong>für</strong> seine Vorreiterrolle als Center of<br />

Excellence in der biomedizinischen Forschung bewirken sollte. Im Jahr 1953 berief<br />

das Institut Detlev Bronk, den Präsidenten der Johns-Hopkins-<strong>Universität</strong>,<br />

zu seinem neuen Direktor. Wie schon oben erwähnt, bestand der wichtigste<br />

Wechsel unter Bronks Führung darin, daß der wissenschaftliche Beirat aufgelöst<br />

wurde und der bisherige Aufsichtsrat zur alleinigen Kontrollinstanz des<br />

Instituts aufgewertet wurde. Ebenfalls unter Bronk’s Führung verwandelte sich<br />

das Rockefeller-Institut zur einzigen reinen Graduierten-<strong>Universität</strong> innerhalb<br />

der Vereinigten Staaten. Auf diesem Gebiet wurde Rockefeller eine Ausnahmeerscheinung,<br />

da es keine formellen Kursprogramme gab, nur acht Lehrveranstaltungen<br />

angeboten wurden und keine davon verpflichtend war. Über lange Jahre<br />

wies Rockefeller mehr Lehrpersonal als Studenten auf, die sich als überaus be-<br />

50 ÖZG 11.2000.1


gabt erwiesen und in dieser Umgebung ein hohes Maß an Selbstdisziplin an den<br />

Tag legten. Wegen ihrer kleinen Anzahl konnte den Studenten eine sehr umfassende<br />

und gründliche Ausbildung innerhalb einer innovationsfreundlichen wie<br />

auch sehr fördernden und anspornenden Umgebung angeboten werden.<br />

Aber als Ergebnis der neuen Rolle der Organisation veränderte sich auch<br />

der Stellenwert der Institutsmitglieder. Wurden unter Bronk und seinem Nachfolger<br />

Seitz noch eine Reihe an hochkarätigen Forschern eingestellt, ging Rockefeller<br />

ohne seinen wissenschaftlichen Beirat dazu über, auch weniger herausragende<br />

Wissenschaftler in Dauerpositionen zu übernehmen. Einer der Gründe<br />

<strong>für</strong> diesen Wechsel hatte mit der zunehmenden Vielfalt innerhalb von Rockefeller<br />

zu tun. Mit der Zunahme an Größe wurde es <strong>für</strong> den Präsidenten zunehmend<br />

schwieriger, die individuellen Qualitäten jedes Wissenschaftlers einzuschätzen.<br />

Darüber hinaus stand Bronk selbst, der im übrigen als brillanter <strong>Universität</strong>sverwalter<br />

mit einem ungewöhnlichen Charisma agierte, nicht mehr innerhalb<br />

der biomedizinischen Forschung, als er zum Direktor von Rockefeller ernannt<br />

wurde. Obwohl er als sehr geschätzter Bio-Physiker galt, hatte er sich schon<br />

seit langen Jahren auf die <strong>Universität</strong>s-Administration verlegt. Zudem war sein<br />

Nachfolger, der prominente Physiker Fred Seitz, zwar als Präsident der National<br />

Academy of Sciences hervorgetreten, aber niemals als Biologe. Er kannte<br />

einfach die biomedizinische community nicht in jenem Ausmaß und jener Genauigkeit<br />

wie die ersten beiden Direktoren. Die Unterschiede im wissenschaftlichen<br />

Hintergrund von Bronk und Seitz schlugen sich auch in der Tatsache<br />

nieder, daß einige der dauerhaften Anstellungen zumindest eine Stufe unterhalb<br />

der Qualität jener Rekrutierungen ausfielen, die während der Jahre der<br />

ersten beiden Direktionen zum Standard zählten.<br />

Noch wichtiger <strong>für</strong> die dauerhafte Fähigkeit der Rockefeller <strong>Universität</strong>,<br />

große Durchbrüche zu erzielen, erwiesen sich die leichten Anpassungen ihrer<br />

internen Struktur an die jeweils veränderten Rahmenbedingungen <strong>für</strong> Forschungsfinanzierungen.<br />

Als Mittel vom National Institute of Health verfügbar<br />

wurden, wuchsen mehrere der Laboratorien an Größe, wurden stärker nach<br />

innen gerichtet und damit auch in höherem Maße autonom. Das gemeinsame<br />

Mittagessen aller mit allen wurde nicht mehr gepflegt. Zu Beginn der 1970er<br />

Jahre gab es zu viele Forscher, zu viele postdoktorale Mitarbeiter und zu viele<br />

Studenten, um die Kommunikations- und Integrationsformen aus der Frühzeit<br />

aufrechtzuerhalten. Und so begannen die meisten Laboratorien, ihrerseits eigene<br />

Zeitschriften-Clubs zu eröffnen. Gleichzeitig sank die Teilnehmerzahl an den<br />

wöchentlichen wissenschaftlichen Vorträgen dramatisch. Diese beiden Anzeichen<br />

deuten klar darauf hin, daß dieselbe Form an horizontalen Kommunikationen<br />

und Kontakten nicht länger stattfand, wie sie <strong>für</strong> die erste Hälfte des<br />

zwanzigsten Jahrhunderts noch typisch gewesen war. Und doch, trotz des geringeren<br />

Grades an Integration, erweist sich Rockefeller noch immer als weitaus<br />

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weniger differenziert als jede andere amerikanische <strong>Universität</strong>. Allein die Tatsache,<br />

daß es keine eigenen Abteilungen oder Institute gibt und daß jedes Labor<br />

mit dem Abgang seines Leiters geschlossen wird, verschafft dieser Forschungseinrichtung<br />

ein außergewöhnliches Maß an Flexibilität und an Möglichkeiten,<br />

sich den Veränderungen im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß anzupassen.<br />

Und es ist diese Flexibilität und Adaptivität, welche im Kern erklären, warum<br />

das Rockefeller Institut trotz seiner nur geringen Größe noch immer alle anderen<br />

biomedizinischen Forschungsstätten in den USA überragt. Auch heute<br />

besitzt dieses Institut einen höheren Anteil seiner Forscher an den Mitgliedern<br />

der National Academy of Sciences oder an Howard Hughes-Forschern als jede<br />

andere Forschungseinrichtung in den USA. Darüber hinaus wird auch die Pro-<br />

Kopf-Quote an Drittmitteln <strong>für</strong> biomedizinische Forschung durch das National<br />

Institute of Health von keiner anderen Forschungsorganisation in den Vereinigten<br />

Staaten erreicht oder übertroffen. Und Rockefeller stellt auch heute ein<br />

Forschungsinstitut dar, in dem immer wieder große wissenschaftliche Durchbrüche<br />

und spektakuläre biomedizinische Entdeckungen passieren.<br />

Große Forschungseinrichtungen und ihre großen Probleme mit großen Durchbrüchen<br />

Mit dem Zuwachs von Vielfalt und von Tiefe innerhalb von wissenschaftlichen<br />

Einrichtungen stellt sich fast wie von selbst eine Tendenz in Richtung von<br />

stärkerer Differenzierung und von weniger Integration ein. Diese Veränderungen<br />

werden oftmals von einer Zunahme an hierarchischer und bürokratischer Koordination<br />

begleitet, was sich insgesamt negativ auf das Zustandekommen großer<br />

Durchbrüche zu Buche schlägt. Strukturbrüche und Paradigmenwechsel innerhalb<br />

des biologischen oder des medizinischen Wissens ziehen markante Folgen<br />

<strong>für</strong> die Vielfalt und die Tiefe von Forschungseinrichtungen nach sich und machen<br />

sich vor allem in der Neugründung von Instituten oder Unterabteilungen<br />

bemerkbar, welche diese neuen und ’ heißen‘ biomedizinischen Felder abdecken,<br />

wollen diese Einrichtungen ein Image des Anachronismus oder des Traditionalismus<br />

vermeiden. Und so begannen beispielsweise <strong>Universität</strong>en, Forschungsinstitute<br />

oder medizinische Fakultäten die Bio-Chemie zu inkorporieren, sobald<br />

sich dieses Feld auszuweiten begann. Genetik, Bio-Physik und verschiedene andere<br />

medizinische oder chirurgische Spezialisierungen klinkten sich mit der Zeit<br />

in medizinische Fakultäten und andere Forschungsorganisationen ein. Solche<br />

Ausweitungen gingen in der Regel mit der Rekrutierung mehrerer oder mitunter<br />

vieler neuer Wissenschaftler einher, um die erforderliche wissenschaftliche<br />

Tiefe auch sicherzustellen. Neue Generationen von Instrumenten und anderen<br />

Technologien brachten ebenfalls den Zuzug neuen wissenschaftlichen Personals<br />

mit sich. Aber der Zuwachs von Personal in neuen Spezialfeldern, die Zunahme<br />

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an Vielfalt mit der erforderlichen Streuung von Begabungen sowie die Steigerung<br />

der wissenschaftlichen Tiefe in jedem dieser Gebiete impliziert auch ein<br />

Größerwerden der einzelnen Forschungseinrichtungen. Das universelle Problem,<br />

das sich dabei stellt, liegt darin, wie Institute mit den beiden Phänomenen<br />

von ’ Wissensexpansion‘ und ’ Größenwachstum‘ umgehen. Lautet die Antwort<br />

der Forschungseinrichtungen, dem biomedizinischen Wissensfortschritt mittels<br />

Schaffung immer neuer Institute und Laboratorien und über mehr und mehr<br />

hierarchische wie bürokratische Kontrollen zu begegnen, dann führen solche<br />

Prozesse unweigerlich zu einem Rückgang an Integration und schmälern die<br />

Möglichkeit <strong>für</strong> neue große Entdeckungen oder fundamentale Perspektivenwechsel.<br />

Andererseits kann derselbe Prozeß durchaus dazu führen, daß diese<br />

großen Institute sehr produktiv werden, wenn man nur die Anzahl veröffentlichter<br />

wissenschaftlicher Artikel als Bezugspunkt heranzieht.<br />

Beispiele von Forschungseinrichtungen, welche die Erkenntnisfortschritte<br />

in den biologischen und den medizinischen Wissenschaften über neue Institutsgründungen<br />

und über das Größenwachstum ’ eingefangen‘ haben, können<br />

an zahlreichen großen amerikanischen Forschungsuniversitäten wie zum Beispiel<br />

an den <strong>Universität</strong>en von Illinois, California (Berkeley), Minnesota oder<br />

Michigan und an vielen medizinischen Fakultäten wie etwa an der University<br />

of California in Los Angeles, Yale oder an der University of Pennsylvania<br />

gefunden werden. Viele dieser Forschungsstätten schienen zu gewissen Zeiten<br />

nahezu prädestiniert da<strong>für</strong>, als Ort großer biomedizinischer Durchbrüche in<br />

Erscheinung zu treten. Aber solche großen Entdeckungen stellten sich nicht<br />

ein, weder damals noch später. Es muß unbedingt betont werden, daß nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg diese <strong>Universität</strong>en und medizinischen Fakultäten über<br />

große Forschungsmittel verfügten, als sehr produktiv galten und eine große Anzahl<br />

an Wissenschaftlern in der National Academy of Sciences stellten. Aber<br />

trotz alledem besaßen sie nicht den geeigneten strukturellen und kulturellen<br />

Forschungskontext, der <strong>für</strong> große und spektakuläre Durchbrüche innerhalb der<br />

Biomedizin benötigt wird.<br />

Man könnte nun zahlreiche Beispiele von Forschungseinrichtungen anführen,<br />

die auf der einen Seite ein hohes Ausmaß an Vielfalt und Tiefe besaßen<br />

und die andererseits weder hochgradig interdisziplinär oder wissenschaftlich<br />

integriert organisiert waren, sondern über ein hohes Ausmaß an innerer Differenzierung<br />

verfügten. Dieses Phänomen kam besonders klar in Form scharfer<br />

Grenzziehungen zwischen einzelnen Instituten zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang<br />

stellt die University of California in Berkeley ein besonders markanntes<br />

Beispiel dar. Berkeley bildet eine der weltweit führenden <strong>Universität</strong>en<br />

und besitzt doch einen spektakulär unspektakulären Ruf, wenn man ihn an<br />

der Anzahl von großen Durchbrüchen im zwanzigsten Jahrhundert bemessen<br />

würde. Es stimmt zwar, daß sich in Berkeley eine Reihe von großen wissen-<br />

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schaftlichen Durchbrüchen innerhalb der Physik oder der Chemie ereigneten,<br />

aber die Entwicklung innerhalb der Biologie zeigt ein ganz anderes Bild. Zu<br />

Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war Berkeley noch eine unter mehreren<br />

Stätten, an denen Jacques Loeb einige seiner bahnbrechenden Arbeiten unternahm.<br />

Und während der 1920er Jahre gelang Herbert M. Evans eine große<br />

Entdeckung in der Biologie. Aber über mehr als sechzig lange Jahre hat die<br />

wissenschaftliche community keine einzige biologische Arbeit aus Berkeley als<br />

große Entdeckung oder als spektakulären Durchbruch gefeiert oder klassifiziert.<br />

Ein gutes Stück der Erklärung liefert die Tatsache, daß sich die wissenschaftliche<br />

Vielfalt in Berkeley in zahlreichen fragmentierten Instituten niederschlug,<br />

die zudem weit über den Campus verstreut lagen.<br />

Die Berkeley-Jahre des prominenten Genetikers Curt Stern machen viele<br />

dieser Probleme spürbar und deutlich. Stern verfügte über eine hervorragende<br />

Ausbildung an deutschen <strong>Universität</strong>en, bevor er in den dreißiger Jahren<br />

in die Vereinigten Staaten emigrierte. Obwohl er ein Genetiker war, wurde<br />

er im Department of Zoology im College of Arts and Sciences angestellt, wogegen<br />

das Genetik-Institut in Berkeley im College of Agriculture residierte.<br />

Und immer, wenn Stern eine Lehrveranstaltung über Genetik halten wollte,<br />

entstanden darüber beträchtliche Spannungen und Streitigkeiten um das ’ Monopol<br />

der Lehre‘. Weil das Genetik-Institut im College of Agriculture beheimatet<br />

war, waren die dortigen Genetiker der Ansicht, daß es völlig unzulässig<br />

sei, wenn Mitglieder eines Instituts <strong>für</strong> Zoologie eine Genetik-Veranstaltung<br />

durchführen wollen, selbst wenn es sich dabei um Personen vom Profil Carl<br />

Sterns handelte. Stern war zu dieser Zeit bereits der herausragendste Genetiker<br />

am gesamten Berkeley Campus und ein Wissenschaftler von internationalem<br />

Format. Und obschon Stern als eine sehr kooperative, kollegiale und eine sehr<br />

offene Person galt, zeigen seine Jahre in Berkeley doch beispielhaft und deutlich,<br />

wie die herrschenden Strukturen der Biologie in Berkeley es <strong>für</strong> die dort<br />

tätigen Wissenschaftler erschwerten, miteinander häufig und intensiv über die<br />

verschiedenen Bereiche der Biologie in Kontakt zu treten oder zu interagieren<br />

– immerhin die Vorbedingungen da<strong>für</strong>, wenn sich große Durchbrüche und<br />

spektakuläre Paradigmenverschiebungen ereignen sollen. In seinen kognitiven<br />

Innenstrukturen wies Stern ein hohes Maß an wissenschaftlicher Vielfalt auf<br />

– und genau diese kognitive Architektur Carl Sterns geriet in beträchtlichen<br />

Widerspruch zu den manifest fragmentierten und ausdifferenzierten Organisationsformen<br />

in Berkeley. Wegen dieser dauerhaften Diskrepanzen sollte Stern in<br />

Berkeley nie sein wissenschaftliches Potential verwirklichen können. Es muß an<br />

dieser Stelle erwähnt werden, daß in den späten 1980er und den frühen 1990er<br />

Jahren die University of California ihre allzu verteilte und zu stark differenzierte<br />

Grundstruktur innerhalb der Biologie als Qualitätsproblem erkannte. Und so<br />

wurde der gesamte Bereich der biologischen Wissenschaften restrukturiert und<br />

54 ÖZG 11.2000.1


in diesem Prozeß mehr als ein Dutzend Institute aufgelöst. Nach Jahren der<br />

Rekonfigurationen innerhalb der Biologie weist Berkeley heute ein weitaus ’ integrierteres‘<br />

Biologie-Programm und eine Grundstruktur auf, welche ein hohes<br />

Potential <strong>für</strong> große Durchbrüche und Entdeckungen in der Zukunft birgt.<br />

Differenzierung, Größe und Bürokratisierung stellen jene hauptsächlichen<br />

Schlüsselfaktoren dar, welche speziell die organisatorische Flexibilität einengen<br />

und behindern. Die Wissenschaften und ihre Erkenntnisfortschritte sind<br />

durch überaus dynamische Prozesse charakterisiert. Und dies wiederum bedeutet,<br />

daß Forschungseinrichtungen, wollen sie sich diesen schnellen Veränderungen<br />

erfolgreich anpassen, über hochflexible Strukturen verfügen müssen. Genau<br />

diese Flexibilität in den Anpassungen an die kognitiven Umbrüche und Neustrukturierungen<br />

bildet das Potential, aus dem später die großen Entdeckungen<br />

werden. Ein Mangel an Flexibilität stellt das Grundproblem an den meisten medizinischen<br />

Fakultäten innerhalb der Vereinigten Staaten dar. Als eine große<br />

Anzahl dieser medizinischen Fakultäten gegründet wurde, wurden sie von den<br />

klinischen Wissenschaften dominiert, speziell von den Instituten <strong>für</strong> Medizin<br />

und <strong>für</strong> Chirurgie. Die meisten medizinischen Fakultäten wurden scharf zwischen<br />

klinische Wissenschaften und Grundlagenforschung getrennt. Aus diesem<br />

Grunde erwies es sich <strong>für</strong> die meisten dieser grundlagenorientierten Institute<br />

innerhalb der medizinischen Fakultäten als äußerst schwierig, jene Autonomie<br />

und organisatorische Umgebung zu erhalten, die <strong>für</strong> große Durchbrüche und<br />

herausragende Arbeiten notwendig ist. Obschon sich über die Jahre die medizinischen<br />

Fakultäten an den <strong>Universität</strong>en von Michigan, Minnesota, Pennsylvania<br />

oder Wisconsin als sehr stark oder als qualitativ hochwertig innerhalb der<br />

klinischen Wissenschaften auswiesen, so haben sie doch im zwanzigsten Jahrhundert<br />

keine oder ganz wenige Spuren im Bereich der großen biomedizinischen<br />

Durchbrüche hinterlassen.<br />

Die University of Chicago stellt den Fall einer sehr prestigeträchtigen Einrichtung<br />

dar, welche im Bereich der Chemie, der Physik, aber auch der Ökonomie<br />

große Beiträge zum Wissensfortschritt geliefert hat. Und doch zeigt sich der<br />

Beitrag dieser <strong>Universität</strong> innerhalb der Biomedizin von einer vernachlässigbaren<br />

Größe. Interessant wird der Fall der University of Chicago noch dadurch,<br />

daß sie von ihrer Grundstruktur her eigentlich große biomedizinische Durchbrüche<br />

hätte ermöglichen sollen. Und so zeigt das Beispiel von Chicago, daß<br />

neben einer passenden Organisation auch die dazugehörigen kognitiven oder<br />

biomedizinischen ’ Landkarten‘ stimmen müssen: ohne stimmige ’ kognitive Karten‘<br />

keine spektakulären Entdeckungen. Die University of Chicago besitzt zwar<br />

im Unterschied etwa zum Rockefeller-Institut oder zu Cal Tech akademische<br />

Institute, doch im Gegensatz zu den meisten Forschungsuniversitäten sind die<br />

gesamten biomedizinischen Wissenschaften innerhalb einer Großabteilung <strong>für</strong><br />

Biologie unter der Führung einer einzelnen Person zusammengefaßt. Anders<br />

ÖZG 11.2000.1 55


ausgedrückt, erweisen sich die biologischen Wissenschaften bei weitem nicht so<br />

fragmentiert und ausdifferenziert wie an den meisten großen Forschungsuniversitäten.<br />

Warum verzeichnete dann aber die University of Chicago längerfristig<br />

nicht mehr spektakuläre Durchbrüche in der Biomedizin Die Antwort ist<br />

dreigeteilt, denn sie liegt (1) in unpassenden ’ kognitiven Landkarten‘, (2) in<br />

organisatorischen ’ Trägheiten‘ sowie (3) in der Dominanz von Einzelinteressen.<br />

Die University of Chicago schuf schon in sehr frühen Zeiten ein starkes<br />

Programm <strong>für</strong> den Bereich der Biologie, doch im Unterschied zur Ausrichtung<br />

am Cal Tech besaß dieses Programm keine starke Grundlage in der Genetik.<br />

Es gab sogar starke Vorbehalte gegen jene Art der Genetik, wie sie von Morgan<br />

und seinem Team an der Columbia University und später am Cal Tech<br />

betrieben und weiterentwickelt wurde. Als Sewall Wright, der herausragende<br />

Populationsgenetiker, auf die <strong>Universität</strong> von Chicago berufen wurde, rief er<br />

eine Stiftung <strong>für</strong> Genetik ins Leben, die aber nicht so unmittelbar zur Entwicklung<br />

der Molekulargenetik beitrug wie das Cal Tech-Programm. Darüber<br />

hinaus fand Sewall Wright oder der Bereich der Genetik allgemein von den<br />

meisten seiner Biologie-Kollegen nicht die nötige Unterstützung. 14 Doch als<br />

der Erkenntnisfortschritt in der Biomedizin sich immer stärker in Richtung<br />

Genetik hinbewegte, wies die <strong>Universität</strong> Chicago zwar eine große Anzahl beeindruckender<br />

Biologen auf, die aber allesamt einem Programm aus früheren<br />

Zeiten nachhingen. Aus diesem Grunde hatte Chicago bedeutende Schwierigkeiten,<br />

sich den neuen Gegebenheiten in der Genetik anzupassen und sich wieder in<br />

eine Führungsposition innerhalb der Biologie zu katapultieren. Es sollte aber<br />

noch schlimmer kommen. Als Frank Lillie, eine der unbestrittenen Leuchten<br />

innerhalb der seinerzeitigen Biologie, in den frühen dreißiger Jahren als Leiter<br />

der Biologischen Abteilung zurücktrat, kamen die biologischen Wissenschaften<br />

zunehmend unter die Dominanz von klinischen Forschern in der medizinischen<br />

Fakultät. Es fehlte plötzlich jede Leitung mit entsprechendem Sensorium <strong>für</strong> die<br />

weitere Dynamik in der Biomedizin. Und mit der zunehmenden Unterordnung<br />

der Biologie unter die klinischen Wissenschaften waren auch keine Anreize mehr<br />

gegeben, mehr Integration oder mehr an Interdisziplinarität in die biologische<br />

Grundlagenforschung zu bringen.<br />

Strategien <strong>für</strong> große Forschungseinrichtungen <strong>für</strong> ein ’ gekoppeltes Wachstum‘ von<br />

Vielfalt und Tiefe einerseits und wissenschaftlicher Integration andererseits<br />

Eine weitere Gruppe von Ergebnissen unserer Studie befaßt sich mit verschiedenen<br />

Strategien <strong>für</strong> Großforschungseinrichtungen, mehr an Vielfalt und Tiefe<br />

zu erreichen, ohne sich notwendigerweise in mehr Abteilungen aufzuspalten.<br />

14 Vgl. William B. Provine, Sewall Wright and Evolutionary Biology, Chicago 1986.<br />

56 ÖZG 11.2000.1


Da immer wieder der Zusammenhang und Kreislauf von Größenwachstum,<br />

Differenzierung in mehr Abteilungen, erhöhte hierarchische und bürokratische<br />

Koordination sowie weniger soziale Integration und damit weniger an großen<br />

Durchbrüchen betont wurde, liegt das hauptsächliche Problem darin, wie große<br />

Forschungseinrichtungen auf neue Wissensfelder mit einer Zunahme an wissenschaftlicher<br />

Vielfalt und Tiefe, aber nicht an Größe reagieren können. Wir<br />

haben eine Reihe von interessanten Strategien gefunden, welche einzelne Forschungseinrichtungen<br />

einschlagen, von denen einige näher vorgestellt werden<br />

sollen: (1) eine Führung mit dem klaren Ziel, die Größe konstant zu halten<br />

und mehr Wissenschaftler mit wissenschaftlicher beziehungsweise disziplinärer<br />

Vielfalt zu rekrutieren, (2) der Aufbau eines speziellen Forschungsprogramms<br />

oder einer speziellen Abteilung innerhalb der biomedizinischen Wissenschaften,<br />

welche starke Anforderungen an die interdisziplinäre Zusammensetzung und<br />

an die erfolgreiche Integration stellen und damit zu einer interdisziplinären<br />

und integrierten Wissenschaftskultur führen, (3) die Schaffung eines kleinen<br />

interdisziplinären Forschungsinstituts innerhalb einer hoch differenzierten Forschungseinrichtung.<br />

Die erste Strategie in Richtung von mehr Vielfalt bei konstanter Größe<br />

wurde durch eine Reihe von privaten Forschungsuniversitäten eingeschlagen.<br />

Einige <strong>Universität</strong>en, welche als Stätten großer Durchbrüche seit dem Zweiten<br />

Weltkrieg in Erscheinung traten, kontrollierten effektiv ihr Größenwachstum.<br />

Ein wichtiges Beispiel wäre Cal Tech. Aber in <strong>Universität</strong>en mit einer klaren<br />

Institutsstruktur erweist sich diese Aufgabe als weitaus schwieriger, weil wissenschaftliche<br />

Institute die Tendenz haben, sich vor allem erweitert selbst zu<br />

reproduzieren. <strong>Universität</strong>s-Institute, welche Tiefe und Vielfalt innerhalb ihrer<br />

wissenschaftlichen Disziplin erhöhen wollen, versuchen in der Regel, neues<br />

Personal zu rekrutieren und damit größenmäßig zuzunehmen.<br />

Ein interessantes Gegenbeispiel wird durch Harvard markiert, wo eine der<br />

Hauptaufgaben des <strong>Universität</strong>spräsidenten seit den Tagen von James Conant<br />

darin besteht, ein ad hoc-Komitee an herausragenden Wissenschaftlern<br />

zusammenzustellen, um jede dauerhafte Anstellung in der Fakultät <strong>für</strong> Arts<br />

and Sciences zu evaluieren und zu genehmigen. Diese ad hoc-Komitees haben<br />

sich vielfach gegen die Beurteilung durch die jeweiligen <strong>Universität</strong>sinstitute<br />

gestellt, indem sie immer wieder ein massives Veto gegen ein dauerhafte Anstellung<br />

einlegten, die von den jeweiligen Instituten be<strong>für</strong>wortet worden waren.<br />

Dieser Prozeß, gegen die geschlossene Reproduktion von Instituten vorzugehen,<br />

hat im Gegenzug die Vielfalt erhöht und hat auf diese Weise die Flexibilität<br />

von Harvard gesteigert, sich auf die neuen wissenschaftlichen Herausforderungen<br />

einzustellen. Auf diese Weise hat Harvard einen gewichtigen komparativen<br />

Vorteil gegenüber anderen <strong>Universität</strong>en erlangt.<br />

Mit seiner Strategie schaffte es Harvard, langfristig hochqualifizierte Wis-<br />

ÖZG 11.2000.1 57


senschaftler auf dauerhafte Positionen zu setzen, welche auch dauerhaft an<br />

vorderster Front stehen. Wegen ihres hohen Status innerhalb von Harvard und<br />

der wissenschaftlichen Welt im allgemeinen gelang es den Harvard-Biologen<br />

in periodischen Abständen, sich in neue Abteilungen oder Institute zu rekonfigurieren.<br />

Über diese Flexibilität zur Schaffung neuer Institute vermochte<br />

es Harvard, sich den Strukturveränderungen und der Dynamik des wissenschaftlichen<br />

Fortschritts anzupassen. Ohne seine sehr strengen ad hoc-Komitees<br />

hätten die einzelnen Institute wesentlich höhere Chancen besessen, sich ge-<br />

’<br />

schlossen‘ zu reproduzieren, die biologischen Institute und Abteilungen wären<br />

wissenschaftlich entlang konservativerer Pfade gewandelt und hätten sich damit<br />

vielfältige Chancen und Potentiale versperrt, sich dem schnellen Tempo<br />

wissenschaftlicher Revolutionen strukturell anzupassen.<br />

Eine zweite Strategie besteht darin, entweder ein integriertes Programm<br />

aufzubauen, welches Aspekte der Vielfalt, Tiefe und der Integration in den<br />

Vordergrund rückt oder den Prozeß zunehmender Differenzierung dadurch aufzuhalten,<br />

daß innerhalb der einzelnen Institute dieselben Ziele verfolgt werden.<br />

Zwei Illustrationen dieser Strategien sind das Biologie-Institut am MIT und die<br />

Grundlagenwissenschaften an der University of California in San Francisco,<br />

beide die gegenwärtig führenden Forschungseinrichtungen in den Vereinigten<br />

Staaten, wenn nicht überhaupt der ganzen Welt.<br />

Ein dramatisches Beispiel, wie sich eine medizinische Fakultät zu transformieren<br />

vermag, liefert die Restrukturierung des Bio-Chemie-Instituts an der<br />

University of California in San Francisco, das in den 1960er Jahren primär<br />

durch seine Unauffälligkeit auffiel. Gegen Ende der 1960er Jahre rekrutierte<br />

die <strong>Universität</strong> einen neuen Institutsleiter, nämlich Bill Rutter von der University<br />

of Washington, und einen Stellvertreter, Gordon Tompkins, um das<br />

Bio-Chemie-Institut zu leiten. Sie änderten sofort den Institutsnamen in ein<br />

” Institut <strong>für</strong> Bio-Chemie und Bio-Physik“ und führten eine eigene Abteilung<br />

<strong>für</strong> Genetik ein. Rein von den Bereichen her vollzog sich ein hoher Anstieg<br />

an wissenschaftlicher Vielfalt. Rutter und Tompkins lösten das Problem von<br />

wissenschaftlicher Vielfalt und Integration, indem sie polyvalente‘ Personen<br />

’<br />

rekrutierten, die sich durch Spezialisierungen in mehreren Feldern auszeichneten<br />

und die zudem die Gabe besaßen, mit anderen Personen oder Teams gut<br />

zusammenarbeiten zu können. Diese Rekrutierungspraxis führte geradewegs<br />

dazu, die Vielfalt von Perspektiven zu erhöhen und auch Kommunikationsprozesse<br />

quer über unterschiedliche Disziplinen zu erleichtern. Und da dieses neue<br />

Institut mit den anderen Grundlagen-Instituten kooperierte, wurde der Begriff<br />

des eigenständigen Instituts selbst fragwürdig. Langsam verschwanden denn<br />

auch die Instituts- oder Abteilungsgrenzen innerhalb der dortigen Grundlagenforschung.<br />

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß sich an der<br />

UCSF innerhalb einer Periode von nur zwanzig Jahren gleich mehrere spek-<br />

58 ÖZG 11.2000.1


takuläre Durchbrüche ereigneten. Die ” große Vision“ von Bill Rutter, Harold<br />

Varmus, Michael Bishop, Bruce Alberts, Stanley Prusiner und anderen war ein<br />

direkter Angriff auf die ’ Departmentalisierung‘, die sich in den meisten amerikanischen<br />

medizinischen Fakultäten, aber auch an den meisten amerikanischen<br />

<strong>Universität</strong>en breitmachte. Die Strategie der medizinischen Fakultät an der<br />

UCSF zur Organisierung ihrer Grundlagenforschung sollte zu einem beneideten<br />

best practice-Fall avancieren, den andere medizinischen Fakultäten noch<br />

immer zu imitieren versuchen.<br />

Ein weiteres Beispiel <strong>für</strong> eine fundamentale Umwandlung stellt das Biologie-<br />

Institut am MIT dar, das vor den 1960er Jahren so durch Mittelmäßigkeit<br />

glänzte, daß es Gefahr lief, von der <strong>Universität</strong>sverwaltung überhaupt geschlossen<br />

zu werden. Doch die Ernennung von Salvadore Luria zum MIT-Professor<br />

brachte einen grundlegenden Wandel in den bisherigen Strategien mit sich.<br />

Denn Luria schloß sich schnell mit Boris Magasanik, der aus der medizinischen<br />

Fakultät von Harvard bestellt wurde, zu einem Team zusammen, und dieses<br />

neue Team begann sofort, ein neues integriertes Programm <strong>für</strong> die Ausbildung<br />

von College-Studenten zu entwickeln. Dieses Programm erwies sich als so erfolgreich,<br />

daß mehr und mehr Studenten sich da<strong>für</strong> entschieden – und dieser<br />

meßbare Erfolg führte seinerseits dazu, mehr Lehrpersonal aufzunehmen. In<br />

diesem Prozeß wurden dann zwei riskante strategische Entscheidungen getroffen.<br />

Erstens sollte der gesamte Bereich der Biologie über ein einziges Institut repräsentiert<br />

werden; und zweitens sollte dieses Institut nur solche hochrangigen<br />

Wissenschaftler aufnehmen, die erwiesenermaßen über hohe Kommunikationsund<br />

Interaktionskompetenzen verfügen. Und obschon zwei Forschungsinstitute,<br />

das Whitehead Institute und ein Krebsforschungsinstitut, in den nächsten<br />

Jahren an das Biologie-Department angebunden wurden, ist die grundsätzliche<br />

Strategie beibehalten worden. Weniger als sechzig Mitglieder sollten nach den<br />

bisherigen Rekrutierungskriterien die MIT-Biologie vorantreiben. Anders ausgedrückt,<br />

die MIT-Biologie wurde nicht in zahlreiche Institute unterteilt und<br />

aufgespalten. Und als bemerkenswert fällt auch auf, daß die Integration im Falle<br />

von MIT über ein integriertes Ausbildungsprogramm <strong>für</strong> College-Studenten<br />

vollzogen wurde, an dem aber viele Institutsmitglieder teilnahmen. Die Erfolgsgeschichte<br />

am MIT verdient auch deswegen Beachtung, weil normalerweise die<br />

Lehre als Barriere oder Hindernis <strong>für</strong> ein erstklassiges Forschungsprogramm<br />

wahrgenommen wird. Innerhalb nur kurzer Zeit avancierte aber das MIT ’ lehrinduziert‘<br />

zu einem Zentrum, an dem sich gleich eine Reihe von großen biomedizinischen<br />

Durchbrüchen ereignete. Heute weist allein dieses Institut vier<br />

Nobel-Preisträger aus – und der mittlerweile verstorbene Salvadore Luria war<br />

der fünfte Preisträger dieser Einrichtung.<br />

Eine dritte Strategie resultiert schließlich aus der Möglichkeit, ein kleines<br />

interdisziplinäres Forschungsinstitut oder ein ’ Zentrum‘ im Umkreis einer<br />

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<strong>Universität</strong> oder einer medizinischen Fakultät zu etablieren. Dieses Institut<br />

sollte großteils unabhängig agieren können und sollte vor allem auf den Dimensionen<br />

von ’ Vielfalt‘, ’ Tiefe‘, ’ Integration‘ hoch rangieren. Eine sehr große<br />

Forschungsuniversität, die University of Wisconsin, folgte mit der Etablierung<br />

eines Enzyme Institute und des McArdle Cancer-Instituts dieser Strategie sehr<br />

erfolgreich über mehrere Jahrzehnte hinweg. Beide waren kleine Institute, die es<br />

gestatteten, Forschung in einer grenzüberschreitenden, problemzentrierten Weise<br />

zu betreiben und auch die benötigten Infrastrukturen zu offerieren, damit<br />

Mitglieder aus sehr unterschiedlichen Disziplinen, die im übrigen voll auf diesen<br />

Instituten angestellt waren, intensiv und häufig zusammentreffen konnten. Wiederum<br />

wird der Hinweis wichtig, daß seit dem Jahre 1960 gleich mehrere große<br />

Entdeckungen an diesen beiden Instituten, nicht aber an den angestammten<br />

Instituten an der University of Wisconsin erreicht worden sind.<br />

Die schiere Existenz eines interdisziplinären Instituts kann naturgemäß<br />

die großen Entdeckungen und Durchbrüche nicht garantieren. In diesem Zusammenhang<br />

wird das McArdle Cancer Institute von besonderem Interesse,<br />

und zwar hinsichtlich seiner Leitung durch seinen langjährigen Direktor Harold<br />

Rausch. Obschon er selbst nicht als herausragender Wissenschaftler in<br />

Erscheinung trat, besaß Rausch ein außerordentliches Gespür <strong>für</strong> ’ kommende<br />

Richtungen‘ innerhalb der Wissenschaften, <strong>für</strong> singuläre wissenschaftliche Begabungen,<br />

<strong>für</strong> die Akquisition ausreichender Drittmittel <strong>für</strong> die Forschung und<br />

schließlich <strong>für</strong> die Schaffung einer zwar sehr kritischen und qualitätsbetonten,<br />

aber trotz alledem innovationsfreundlichen Arbeitsatmosphäre. Der Karriereweg<br />

von Howard Temin am McArdle Cancer Institute mag da<strong>für</strong> als beispielhaft<br />

gelten. Für beinahe zehn Jahre nach seiner Ankunft in Madison im Jahre 1959<br />

wurde Temin von prominenten Wissenschaftlern quer durch die USA sehr heftig<br />

da<strong>für</strong> kritisiert, einen völlig falschen Weg einzuschlagen. Aber Rausch hielt<br />

seine schützende Hand über Temin und unterstützte seine Arbeit weiterhin.<br />

Hätte sich der vielgeschmähte Temin in einem Institut auf einer der großen<br />

staatlichen <strong>Universität</strong>en aufgehalten, wäre ihm wahrscheinlich eine Dauerstellung<br />

verwehrt worden. In den Jahren 1969 und 1970 veröffentlichte Temin einige<br />

klassisch gewordene Arbeiten auf dem Gebiet der Erforschung von Retroviren,<br />

die bald darauf in der Verleihung eines Nobel-Preises <strong>für</strong> Medizin beziehungsweise<br />

Physiologie mündeten. Die Führungsrolle von Harold Rausch erwies sich<br />

als wichtig nicht nur im Fall von Howard Temin, sondern auch <strong>für</strong> andere<br />

Wissenschaftler innerhalb der McArdle-Laboratorien, die große Durchbrüche<br />

während seiner Direktionszeit verzeichneten.<br />

Die medizinische Fakultät der University of Washington in Seattle stellt<br />

ein interessantes Beispiel dar, wie es unter geeigneten Umständen möglich wird,<br />

eine neue Fakultät aufzubauen, die sich entlang der vordersten Linien der Forschung<br />

bewegt. Als die University of Washington ihre neue Fakultät kurz nach<br />

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dem Ende des Zweiten Weltkriegs begründete, stellte sich <strong>für</strong> sie das Problem<br />

der ’ organisatorischen Trägheit‘ noch nicht, das in der Regel die etablierte Forschungseinrichtungen<br />

in Mitleidenschaft zieht. Zur Gründungsphase der medizinischen<br />

Fakultät an der University of Washington waren die meisten medizinischen<br />

Fakultäten von Ärzten dominiert, die nur ein geringes Interesse <strong>für</strong><br />

die Forschung entwickelten, was im übrigen auch einer der Hauptgründe da<strong>für</strong><br />

war, warum medizinische Fakultäten in so geringem Ausmaß durch eigene Forschungsleistungen<br />

auffielen. Doch die medizinische Fakultät an der University<br />

of Washington besaß während ihrer ersten Startjahre kein eigenes Spital, und<br />

so mußten sich schon sach- wie gelegenheitsgedrungen die ersten Fakultätsmitglieder<br />

auf die Forschung verlegen. Darüber hinaus verfügte die medizinische<br />

Fakultät über eine herausragende Leitung in der Person von Edward Turner,<br />

der sowohl im Bereich der Lehre als auch der Forschung eine ’ Kultur der Exzellenz‘<br />

verankern wollte. Die meisten der Institutslehrstühle sowohl in den<br />

Grundlagen- als auch in den klinischen Wissenschaften waren mit ausgezeichneten<br />

Personen besetzt, die über ihre jeweiligen Fachgrenzen hinweg sehr kooperativ<br />

interagierten. Diese Wissenschaftskultur von konkurrierenden, aber<br />

auch kooperativen Instituten mit einer starken wechselseitigen Verpflichtung<br />

auf herausragende Forschung quer über die einzelnen Disziplinen hat bis zum<br />

heutigen Tag überdauert. Und da die Entwicklung der medizinischen Fakultät<br />

an der University of Washington hin zu einer allseits respektierten Einrichtung<br />

sich zur selben Zeit vollzog wie die Ausweitung der Forschungsmittel durch<br />

das National Institute for Health (NIH), stellte sich auch eine enge Verbindung<br />

zwischen der Fakultät und dem NIH her. Weil Washington eine relativ junge<br />

und forschungsorientierte Fakultät war und wenige Verantwortungen im klinischen<br />

Sektor aufwies, konnte sich ein enger Konnex zwischen den einzelnen<br />

NIH-Komitees und der medizinischen Fakultät herausbilden, der die Grundlage<br />

<strong>für</strong> die zahlreichen Aufträge <strong>für</strong> die forschungsorientierte Fakultät bildete.<br />

Bemerkenswert ist auch, daß sich eine größere Anzahl an spektakulären Durchbrüchen<br />

innerhalb der Biomedizin gerade in diesem setting vollzog. Darüber<br />

hinaus lassen sich auch zahlreiche Indikatoren da<strong>für</strong> finden, daß die biomedizinischen<br />

Wissenschaften an der University of Washington zu einem typischen<br />

Center of Excellence avanciert sind. Seit mindestens fünfzehn Jahren findet<br />

sich die medizinische Fakultät unter den ersten drei Forschungseinrichtungen<br />

innerhalb der Vereinigten Staaten mit den höchsten Forschungsaufträgen vom<br />

National Institute of Health. Und heute beherbergt diese Forschungseinrichtung<br />

gleich vier Nobel-Preisträger, wogegen sie im Jahr 1950 nur ein einziges<br />

Mitglied der in die National Academy of Sciences gebracht hatte. Gegenwärtig<br />

weist sie gleich mehrere Dutzende Mitglieder der Akademie auf.<br />

ÖZG 11.2000.1 61


Warum Forschungseinrichtungen und nicht Netzwerke<br />

Da Wissenschaftler ihre Kooperationen zunehmend in Netzwerken ausführen,<br />

die sich über mehrere Forschungseinrichtungen erstrecken, liegt die Frage nahe,<br />

warum die Aufmerksamkeit ausgerechnet auf das Innenleben solcher Institute<br />

gerichtet werden soll. Zwar stimmt es trivialerweise, daß praktisch alle<br />

Wissenschaftler in Netzwerke eingebunden sind, welche über das angestammte<br />

Institut hinausgehen. Doch in unserer Untersuchung von großen biomedizinischen<br />

Durchbrüchen im zwanzigsten Jahrhundert erfolgten nur einer oder zwei<br />

als direktes Resultat einer Netzwerk-Kooperation. Unsere Analysen von großen<br />

Durchbrüchen in Europa und den Vereinigten Staaten zeigen im allgemeinen,<br />

daß <strong>für</strong> das Gelingen großer Entdeckungen im Kooperationsverbund folgende<br />

Voraussetzungen gegeben sein mußten: eine intensive und häufige Interaktion<br />

zwischen den beteiligten Wissenschaftlern, disziplinäre Vielfalt der daran beteiligten<br />

Personen, kleine Gruppen. Denn aus der Vielfalt resultieren Spannungen,<br />

die sich in ’ kreativen Synthesen‘ äußern können. Und zudem muß diese Interaktion<br />

intensiv und häufig sein, etwas, das sich normalerweise nur im Falle von<br />

gemeinsamen Orten der Begegnung aufrechterhalten läßt.<br />

Man könnte auch auf Ausnahmen zu den soeben aufgestellten Verallgemeinerungen<br />

hinweisen, doch reproduzieren selbst diese Ausnahmen das bisher<br />

erläuterte Grundmuster. Eine mögliche Ausnahme, die sich aufdrängt, könnten<br />

die Arbeiten von Delbrück, Luria und Hershey sein, von Wissenschaftlern<br />

also, die mit Anstellungen in verschiedenen Forschungseinrichtungen gemeinsam<br />

mit dem Nobel-Preis <strong>für</strong> Physiologie beziehungsweise Medizin im Jahre<br />

1968 prämiert wurden. Gerade diese Wissenschaftlergruppe zeichnete sich aber<br />

durch sehr häufige und intensive Kontakte am Cold Spring Harbor Laboratory<br />

aus, wo sie sich jahraus und jahrein zu gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeit<br />

trafen. 15 Die meisten ihrer spektakulären Arbeiten entstanden, gerade weil sie<br />

sich an einem einzelnen konkreten Platz treffen konnten.<br />

Unsere Studie zeigt, daß äußerst prominente biomedizinische Wissenschaftler,<br />

beispielsweise Mitglieder der National Academy of Sciences, die aber nie<br />

persönlich an spektakulären wissenschaftlichen Durchbrüchen beteiligt waren,<br />

in Netzwerken engagiert waren, die gerade nicht diese häufigen und intensiven<br />

interdisziplinären Gesprächsrunden und Diskussionen vor Ort ermöglichten.<br />

Netzwerke können sich ja in zweierlei Richtungen ausbreiten; einmal in<br />

Richtung des Einschlusses von mehr und mehr Wissenschaftsdisziplinen und<br />

einmal in Richtung der Integration von weiteren Forschungseinrichtungen in-<br />

15 Vgl. N. Mullins, The Development of a Scientific Specialty. The Phage Group and the<br />

Origins of Molecular Biology, in: Minerva 10 (1972); E. P. Fischer u. C. Lipson, Thinking<br />

About Science. Max Delbruck and the Origins of Molecular Biology, New York 1988; S. E.<br />

Luria, A Slot Machine. A Broken Test Tube, New York 1984.<br />

62 ÖZG 11.2000.1


nerhalb desselben disziplinären Bereiches. Es scheint, daß hoch-produktive und<br />

sehr angesehene biomedizinische Wissenschaftler ohne große und nachhaltige<br />

Durchbrüche stärker in disziplinären Netzwerken engagiert waren und mit mehreren<br />

Kollegen außerhalb des eigenen Instituts, aber innerhalb ihres eigenen<br />

disziplinären Wirkungskreises zusammenarbeiteten.<br />

Es stimmt zwar, daß viele besonders produktive und herausragende Biologen<br />

zunehmend mehr an interdisziplinärer Arbeit mit Wissenschaftlern in<br />

anderen Forschungseinrichtungen verbringen. Gleichzeitig muß diese interdisziplinäre<br />

Arbeit, will sie als großer Durchbruch gelingen, von jener Art sein,<br />

wo die einzelnen Wissenschaftler Gelegenheit zu häufigen und intensiven Kontakten<br />

und zum Meinungsaustausch innerhalb ein und desselben Ortes haben.<br />

Diese Art der Zusammenarbeit findet zudem selten in großen Forschungseinrichtungen<br />

statt, die sich in der Regel durch stark akzentuierte disziplinäre<br />

und institutsspezifische Grenzziehungen auszeichnen. Eine Analyse von entsprechenden<br />

Daten aus der Science Policy Research Unit an der University of<br />

Sussex und dem Institute of Scientific Information in Philadelphia unterstützen<br />

unsere Ergebnisse hinsichtlich dieser Trends. 16<br />

Zusammenfassungen<br />

Forschungseinrichtungen mit immer wiederkehrenden großen wissenschaftlichen<br />

Durchbrüchen haben sich im Lauf der Analyse als jene herausgestellt, in denen<br />

sich ein hohes Ausmaß an Interaktionen von Wissenschaftlern aus sehr unterschiedlichen<br />

Gebieten vollzieht. Und gerade weil die biomedizinischen Felder<br />

im Lauf der Jahre zunehmend komplexer wurden, müssen sich innovative Forschungsorganisationen<br />

in diesem Bereich darauf einstellen, immer wieder neue<br />

Wissensfelder mit der notwendigen ’ Tiefe‘ zu inkorporieren sowie darauf zu achten,<br />

daß Wissenschaftler intensiv und häufig in wechselseitigen Kontakt und<br />

Austausch treten. Zudem bedarf es besonderer Vorsicht, daß die Einführung<br />

von mehr Wissensvielfalt und -tiefe mit einem hinreichendem Ausmaß von Integration<br />

dieser neuen Elemente einhergeht und nicht zu geschlossenen Ausdifferenzierungen<br />

führt. Denn sonst stellen sich nicht die erforderlichen häufigen<br />

wie intensiven horizontalen Interaktions- und Kommunikationsbeziehungen ein,<br />

die ja als Grundbedingungen <strong>für</strong> größere Durchbrüche oder nachhaltige Entdeckungen<br />

firmieren.<br />

Forschungsorganisationen mit einer größeren Anzahl von radikalen Durchbrüchen<br />

wiesen eine besondere Art der Führung auf. Genauer handelte es sich<br />

16 So D. Hicks u. J. S. Katz, Science Policy for a Highly Collaborative Science System, in:<br />

Science and Public Policy 23 (1996), 39–44; sowie J. S. Katz u. a., The Changing Shape of<br />

British Science, Brighton 1995.<br />

ÖZG 11.2000.1 63


um Leiter, welche (1) eine strategische große Vision“ zur Integration unter-<br />

”<br />

schiedlicher Gebiete besaßen sowie eine Konzentration auf spezielle Forschungsprobleme<br />

vornehmen konnten; (2) eine Fähigkeit zur Akquisition von Forschungsgeldern<br />

hatten; (3) das Talent <strong>für</strong> eine Personalrekrutierung quer über<br />

heterogene Problemfelder aufwiesen, so daß die einzelnen Forschungsgruppen<br />

über den momentanen Stand an wichtigen oder heißen‘ Problemfeldern sowie<br />

’<br />

über die Möglichkeiten der Problemlösungen und Machbarkeiten informiert waren;<br />

(4) die Balance zwischen rigoroser wissenschaftlicher Kritik innerhalb einer<br />

’ innovationsfreundlichen‘ Umgebung herstellen konnten. ’ Innovationsfreundlich‘<br />

wird hier als Mix‘ zweier unterschiedlicher Tätigkeiten verstanden: Auf der<br />

’<br />

einen Seite stehen klare Evaluationen und Review-Prozesse der wissenschaftlichen<br />

Arbeiten innerhalb der einzelnen Forschungsgruppen, auf der anderen<br />

Seite finden sich Merkmale wie Stimulierung neuer Ideen und Arbeitsbedingungen,<br />

ein sozial verträgliches‘ Klima, u. a.<br />

’<br />

Das Ausmaß an disziplinärer Verschiedenheit wie auch der Grad an Wis-<br />

’<br />

senstiefe‘ innerhalb einer gut integrierten Forschungsgruppe sorgen in der Regel<br />

<strong>für</strong> veränderte Problemperspektiven und verhindern auf diese Weise, daß gravierende<br />

Fehleinschätzungen passieren oder daß an trivialen Problemen gearbeitet<br />

wird. Letztlich bedarf es als Grundvoraussetzung <strong>für</strong> große Durchbrüche,<br />

daß Wissenschaftler an signifikanten Problemen werken, die sich im Prinzip als<br />

’ lösbar‘ herausstellen. Und je höher sich das Ausmaß an kognitiver Vielfalt und<br />

wissenschaftlicher Tiefe darstellt, desto höher sollte auch die Wahrscheinlichkeit<br />

da<strong>für</strong> sein, daß Wissenschaftler nicht in insignifikanten oder unlösbaren<br />

Arealen verweilen. Wenn Wissenschaftler in settings mit großer Vielfalt, Tiefe<br />

und mit vielfältigen horizontalen Interaktionsmöglichkeiten mit anderen, kom-<br />

’<br />

plementären‘ Forschergruppen arbeiten können, dann steigt auch die Wahrscheinlichkeit,<br />

daß sich die Qualität der Arbeiten verbessert und wechselseitig<br />

steigert. Und genau in diesem permanenten Ausgesetztsein‘ gegenüber ande-<br />

’<br />

ren Disziplinen und Paradigmen sollten sich die kreativen Lösungen entfalten<br />

und die Chancen <strong>für</strong> große Durchbrüche zunehmen. Forschung in einer interdisziplinären<br />

Umgebung an sich, ohne intensive und oftmalige Interaktionen<br />

zwischen den einzelnen Forschern und Forschergruppen, führt in der Regel zu<br />

keinen neuartigen Perspektiven und damit auch zu keinen großen Durchbrüchen<br />

oder nachhaltigen Entdeckungen.<br />

Veränderungen des biologischen oder des medizinischen Wissens bringen<br />

vielfältige Konsequenzen und Herausforderungen <strong>für</strong> die Vielfalt und die Tiefe<br />

von Forschungsorganisationen mit sich. Diese müssen sich ihrerseits an diese<br />

Veränderungen in Form neuer Schwerpunkte anpassen, wollen sie am kognitiven<br />

Puls der Zeit bleiben. Mit der Wissensexpansion treten immer neue Disziplinen,<br />

Sub-Disziplinen und weiterführende Spezialisierungen in Erscheinung –<br />

und damit entsteht auch Druck auf die einzelnen Forschungseinrichtungen, sich<br />

64 ÖZG 11.2000.1


diesen neuen Gebieten mit den passenden Schwerpunkten, Personen und kognitiven<br />

Tiefen anzunehmen. Auch führen neue Formen der Instrumentierung<br />

wie die Einführung von technologischen Systemen in der Regel zu zusätzlichem<br />

Personalaufwand. Aber die Aufnahme von neuen Personen, Talenten und der<br />

erforderlichen kognitiven Tiefe haben fast unausweichlich Vergrößerungen im<br />

Mitarbeiterstab solcher Forschungseinrichtungen zur Folge.<br />

Zuwächse an kognitiver Weite und Tiefe, wenn sie nicht entsprechend organisiert<br />

und integriert werden, können letztlich die Potentiale von Forschungseinrichtungen<br />

<strong>für</strong> große Durchbrüche begrenzen. Es scheint eine natürliche Tendenz<br />

da<strong>für</strong> zu geben, daß Wachstum an Disziplinen und kognitiver Tiefe zu<br />

mehr Differenzierung und zur Desintegration führt. Zudem erweisen sich diese<br />

Veränderungen oftmals von hierarchischen Koordinationen und Bürokratisierungsprozessen<br />

begleitet, welche ihrerseits einen negativen Impact <strong>für</strong> die<br />

Möglichkeit großer Durchbrüche und nachhaltiger Entdeckungen ausüben.<br />

Mit der zunehmenden Differenzierung von Forschungseinrichtungen in immer<br />

mehr Abteilungen und Unterabteilungen werden auch im Laufe der Zeit<br />

die Rekrutierung neuen Personals wie auch die Anwerbung zusätzlicher Forschungsmittel<br />

an die unteren Ebenen delegiert. Und weil akademischen Einrichtungen<br />

eine konservative Grundtendenz innewohnt, werden auch stärker<br />

Personen aufgenommen, welche eingefahrene Denkgewohnheiten reproduzieren<br />

und fortsetzen. Aus diesem Grund übt die Differenzierung einen tendenziell<br />

bremsenden Einfluß auf das Überschreiten disziplinärer Grenzziehungen und<br />

auf den Prozeß der wissenschaftlichen Integration aus, die sich ja gerade als<br />

so wichtig <strong>für</strong> die Entstehung großer wissenschaftlicher Durchbrüche herausgestellt<br />

haben.<br />

Konkret bedeuten die Zuwächse an Institutsgröße sowie die Dezentralisierung<br />

von Entscheidungen über Forschungsschwerpunkte und Personal auf<br />

die Ebenen von einzelnen Abteilungen auch die Herausbildung von mehr bürokratischen<br />

Abläufen und Budgetkontrollen. Mit der Formalisierung der internen<br />

Prozesse von Forschungseinrichtungen wie auch mit dem Anwachsen an<br />

struktureller Differenzierung nehmen auch die Häufigkeit und die Intensität der<br />

Beziehungen zwischen einzelnen Abteilungen und damit auch die soziale Integration<br />

ab. Damit kann zur bestehenden theoretischen Literatur zum Thema<br />

Organisationsdifferenzierung eine neue Einsicht hinzugefügt werden, wonach<br />

Größenwachstum zu Differenzierungen und damit zu einer geringeren Anzahl<br />

an größeren Durchbrüchen im Feld der biomedizinischen Wissenschaften führt.<br />

Zum Schluß möchten wir noch eine Frage aufwerfen, die erst in einer weiteren<br />

Stufe dieses Forschungsprojekts aufgenommen und untersucht werden<br />

wird, nämlich die Beziehungen zwischen der Forschungsorganisation und den<br />

konkreten settings von Forschungslaboratorien/Abteilungen einerseits mit den<br />

psychologischen wie kognitiven Aspekten von Kreativität auf der anderen Sei-<br />

ÖZG 11.2000.1 65


te. Das Problem, wie sich individuelle Faktoren mit den Merkmalen von Forschungsorganisationen<br />

binden und zusammenfügen, kann an dieser Stelle nicht<br />

mehr thematisiert werden. Einige der bisherigen Befunde legen es aber nahe,<br />

daß die besonderen Qualifikationen und Merkmale der einzelnen Forscher im<br />

Zusammenspiel und im ’ Konzert‘ mit der Forschungsorganisation untersucht<br />

werden müssen, wenn ein verbessertes Verständnis der Entstehungsgeschichte<br />

großer Durchbrüche erreicht werden soll. Organisatorische Eigenheiten stellen<br />

ein setting her, innerhalb dessen individuelle Charakteristika zur bestmöglichen<br />

Entfaltung gebracht werden können. Forschungsorganisationen mit ganz<br />

besonderen Eigenschaften ziehen häufig Forscher mit besonderen und komplementären<br />

Merkmalen an. Diese Wechselbeziehung führt unter anderem dazu,<br />

daß diese individuellen Merkmale, um eine Analogie in die Welt der Flora herzustellen,<br />

zu ’ wachsen‘, zu ’ blühen‘ und zu ’ gedeihen‘ beginnen. Die genauen<br />

Details zu diesen ’ Komplementärbeziehungen‘ von Forscher/innen und Organisationen<br />

warten aber noch, als zukünftiger ’ großer Durchbruch über große<br />

Durchbrüche‘, in den weiteren Etappen dieses Forschungsprojekts auf ihre ’ Entdeckung‘<br />

– oder ihre ’ Erfindung‘.<br />

66 ÖZG 11.2000.1


Jerald Hage<br />

Die Innovation von Organisationen und die<br />

Organisation von Innovationen<br />

” Weil“, sagt Löw, wenn man alles hat, dann hat<br />

”<br />

man eigentlich nichts. Dann hat man nur noch seine<br />

Wünsche. Ein normaler Mensch freut sich schon<br />

über eine neue Schöpfkelle.“<br />

Harry Mulisch, Die Prozedur<br />

Die ’ Entstehung des Neuen‘ spielt in der langen Geschichte der Organisationen<br />

stets eine doppelte Rolle; einmal als Innovationen innerhalb von bestehenden<br />

Organisationen, indem neuartige Eigenschaften oder Strukturen auftauchen<br />

und einmal als Schaffung von neuen Organisationstypen oder ’ Formen‘, wie<br />

sie im Verlauf der bisherigen Geschichte unbekannt waren. Die zweite Lesart<br />

wird im weiteren Artikel in den Hintergrund gedrängt und erst gegen Ende<br />

dieser Arbeit als eigenständiges Thema auftauchen, das erste Bedeutungsfeld<br />

wird hingegen im Zentrum stehen. Die Hauptfrage richtet sich nach jenen (im<br />

wesentlichen drei Kerngruppen von) Schlüsselfaktoren und Grundmustern, die<br />

<strong>für</strong> Innovationen in einem weiten Bereich von Organisationen – Unternehmen,<br />

wissenschaftliche Institute, Bürokratien oder verwandte Organisations-Formen<br />

– relevant werden. In einem zweiten Schritt unternimmt diese Arbeit einen Versuch,<br />

diese drei Faktorengruppen mit den bisherigen empirischen Erhebungen<br />

zum Konnex zwischen Innovation und Forschungsorganisation zu verbinden,<br />

um daraus einige generelle Erklärungsmuster <strong>für</strong> die Innovation von Organisationen<br />

und die Organisation von Innovationen zu gewinnen.<br />

Obwohl vielfach über das Fehlen von übersichtlichen Darstellungen einer<br />

Zusammenschau der Forschungsergebnisse aus Soziologie oder den historischen<br />

∗<br />

Dieser Text entstand als Collage‘ aus einer veröffentlichten und einer großen unveröffent-<br />

’<br />

lichten Arbeit des Autors zum Thema Organisation und Innovation‘. Der im Druck befindli-<br />

’<br />

che Artikel trägt den Titel Organizational Innovation and Organizational Change‘ und wird<br />

’<br />

im Annual Review of Sociology publiziert, die große unveröffentlichte Arbeit benennt sich<br />

’ Organization Innovation. Past, Present, and Future‘. Für die Collage‘ möchte ich mich bei<br />

’<br />

Karl H. Müller, der diese Kompilation bewerkstelligte und aus dem Englischen übersetzte,<br />

recht herzlich bedanken.<br />

ÖZG 11.2000.1 67


Sozialwissenschaften geklagt wird, liefert gerade die Analyse organisatorischer<br />

Innovationen eines jener Gegenbeispiele, wo sich über einen Zeitraum von rund<br />

dreißig Jahren konsistente Ergebnisse angesammelt und angehäuft haben, die<br />

in kompakter Form z. B. in zwei umfangreicheren Aufsätzen 1 rezipiert werden<br />

können. Diese Übersichten haben zwei Gruppen an innovationsrelevanten<br />

Schlüsselfaktoren in den Vordergrund gerückt, die unter die Bezeichnungen ” organische<br />

Struktur“ sowie ” Organisationsstrategie“ subsumiert werden können.<br />

Der vorliegende Beitrag möchte darüber hinausgehen und die Wichtigkeit einer<br />

dritten Gruppe von Faktoren betonen, die ’ Komplexität der Arbeitsteilung‘.<br />

Diese spezielle dritte Klasse von Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> Organisationsinnovationen<br />

wird systematisch den bislang angehäuften Fundus an relevanten ’ Generatoren‘<br />

<strong>für</strong> die ’ Entstehung des Neuen‘ erweitern und abrunden.<br />

Innovation und Unternehmens-Organisation: Eine Übersicht<br />

Gerade die Innovationsforschung ermöglicht es, obschon sie in den letzten Jahrzehnten<br />

nicht zum unmittelbaren Kernbereich der Soziologie oder der historischen<br />

Sozialwissenschaften zählte, eine Vielzahl von überaus praktischen und<br />

theoretischen Problemen zu bündeln und zu fokussieren. Hier seien nur einige<br />

wichtige Beispiele genannt. So gehört es zu den immens praktischen Problemen<br />

und Herausforderungen <strong>für</strong> einzelne Länder, Regionen oder Städte, entsprechende<br />

’ Innovationspolitiken‘ zu entwickeln, da die Entwicklung neuer Produkte,<br />

neuer Verfahren, neuer Designs, aber auch neuer Organisationsformen von<br />

immer größerer ’ Standortrelevanz‘ wird. In ähnlich praktischer Manier lassen<br />

sich Innovations-Fragen nach der organisatorischen ’ Struktur wissenschaftlicher<br />

Revolutionen‘, nach der Weiterentwicklung militärischer wie ziviler Technologien,<br />

nach der Schaffung neuer interdisziplinärer Programme im <strong>Universität</strong>sbereich<br />

2 oder nach grundlegenden Reformen des Wohlfahrtsstaates stellen.<br />

Es ist keine Übertreibung zu behaupten, daß sich in der Analyse von organisatorischen<br />

Innovationen die zentralen praxisrelevanten Probleme und Herausforderungen<br />

gegenwärtiger Gesellschaften spiegeln. Aber auch aus theoretischer<br />

Sicht eröffnet der Bereich der organisatorischen Innovationen eine große<br />

Zahl an interessanten Problemfeldern wie beispielsweise theoretische Fragen<br />

nach den generellen Bedingungen und Konturen gesellschaftlicher Entwicklung<br />

1 Fariburz Damanpour, Organizational Innovation. A Meta-analysis of Effects of Determinants<br />

and Moderators, in: Academy of Management Journal 34 (1991), 555–590, sowie Raymond<br />

Zammuto u. Edward O’Connor, Gaining Advanced Manufacturing Technologies Benefits.<br />

The Role of Organizational Design and Culture, in: Academy of Management Review 17<br />

(1992), 701–728.<br />

2 Vgl. dazu Peter Blau, The Organization of Academic Work, New York 1973.<br />

68 ÖZG 11.2000.1


und institutionellen Wandels, nach der Dynamik von Wissensgesellschaften 3<br />

oder nach der Integration von Mikro- und Makroniveaus. Aber das Thema<br />

der organisatorischen Innovationen führt auch von seinen angestammten Disziplinen<br />

her weit aus der Soziologie heraus, da sich mit diesem Problem auch<br />

neue ’ Arenen‘ der ökonomischen Forschung unter den Schlagworten von ” Nationalen<br />

Innovationssystemen“ 4 oder von ” endogenen Wachstumstheorien“ 5 ergeben.<br />

Und auch <strong>für</strong> Wirtschafts-, Wissenschafts- oder Sozialhistoriker bietet<br />

diese Literatur mannigfaltige Anregungen, historische Entwicklungsprozesse in<br />

die passenden innovationstheoretischen Grundbegrifflichkeiten zu kleiden und<br />

’ einzubetten‘.<br />

Trotz der scheinbar selbstverständlichen Wichtigkeit des Themas und trotz<br />

der Beliebtheit der Redeweise von den ” kreativen, flexiblen, lernenden Organisationen“<br />

hat sich das Thema der organisatorischen Innovationen nie in<br />

den Vordergrund der einschlägigen Handbücher und Kompendien geschoben. 6<br />

Und doch zeigt sich gerade an den Innovationen in klarer Weise, wie Organisationen<br />

auf technologische oder marktmäßige Herausforderungen reagieren<br />

können – und reagieren. 7 Speziell der technologische Fortschritt bildet in immer<br />

stärkerem Ausmaß die Basis <strong>für</strong> die Konkurrenzfähigkeit einzelner Staaten<br />

oder Regionen. Um nur ein konkretes Beispiel zu bemühen, kann auf Raymond<br />

Zammuto und Edward O’Connor verwiesen werden, die den empirischen Nachweis<br />

geliefert haben, daß die allermeisten Systeme ’ flexibler Produktion‘, die<br />

in den Vereinigten Staaten als organisatorische Innovation eingeführt worden<br />

sind, einen sehr geringen Effekt auf die betriebliche Flexibilisierung ausübten<br />

und daß nur die Hälfte dieser organisatorischen Innovationen imstande war,<br />

entsprechende Produktivitätsfortschritte zu erzielen. Eine solche im Kern ge-<br />

3 Vgl. hier nur Daniel Bell, The Coming of Post-Industrial Society, New York 1973, sowie<br />

Jerald Hage u. Charles Powers, Post-Industrial Lives, Newbury Park u.a. 1992.<br />

4 Vgl. Bengt-Ake Lundvall, Hg., National Systems of Innovation. Towards a Theory of Innovation<br />

and Interactive Learning, London 1992, oder Richard R. Nelson, Hg., National<br />

Innovation Systems. A Comparative Analysis, New York 1993.<br />

5 So beispielsweise bei Philip Romer, Increasing Returns and Long-Run Growth, in: Journal<br />

of Political Economy 94 (1986), 1002–1037; ders., Endogenous Technological Change, in:<br />

Journal of Political Economy 98 (1990), 71–102, sowie Robert Solow, Siena Lectures on<br />

Endogenous Growth Theory, Siena 1992.<br />

6 Im Bereich der Textbücher siehe u. a. Robert Daft, Organizational Theory and Design, St.<br />

Paul 1989; Richard Hall, Organizations. Structure and Process, 5. Aufl., Englewood Cliffs<br />

1991; Richard H. Scott, Organizations. Rational, Natural and Open Systems, 3. Aufl., Englewood<br />

Cliffs 1992.<br />

7 Vgl. dazu bes. Reuven Brenner, Rivalry. In Business, Science, Among Nations, Cambridge<br />

1987; Benjamin Gomes-Casseres, Group vs. Group. How Alliance Networks Compete, in:<br />

Harvard Business Review 92 (1994), 62–66, Ken Smith, Curtis Grimm u. Martin Gannon,<br />

Dynamics of Competitive Strategy, Newbury Park u.a. 1992; Jerald Hage, Hg., The Futures<br />

of Organizations, Lexington 1988.<br />

ÖZG 11.2000.1 69


scheiterte Innovationsstrategie stellt gravierende Fragen nach dem Warum und<br />

nach den langfristigen Entwicklungsperspektiven in den Vereinigten Staaten.<br />

Unternehmen haben zunehmend die Bedeutung des Faktors Innovation‘<br />

’<br />

und Innovationsfähigkeit‘ als zentrales Moment im globalen Wettbewerb er-<br />

’<br />

kannt. Ein relativ neuer Bericht des britischen Handelsministeriums stellte<br />

beeindruckende Zahlen <strong>für</strong> die Forschungs- und Entwicklungsausgaben größerer<br />

Unternehmen zusammen, die unabhängig von den einzelnen Ländern –<br />

Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Schweden, die Vereinigten<br />

Staaten – sich in ähnlichen Größenordnungen bewegten: Vier bis fünf<br />

Prozent des Umsatzes werden <strong>für</strong> Forschung und Entwicklung (F E) in den<br />

Sektoren Automobile und Flugzeugindustrie reserviert, fünf bis acht Prozent<br />

in den drei Segmenten von Halbleitern/Computern, Elektroindustrie und Chemie<br />

sowie zehn bis fünfzehn Prozent bei den Clustern‘ medizinische Geräte,<br />

’<br />

Pharma und Software. Allein im Jahr 1998 stiegen die F E-Ausgaben der dreihundert<br />

weltweit größten Unternehmen um 12,8 Prozent, wobei die stärksten<br />

Zuwächse bei den rund hundert größten amerikanischen Konzernen verzeichnet<br />

wurden. Selbst wenn dieser Wert einen statistischen Ausreißer‘ darstellen soll-<br />

’<br />

te, kann im Falle amerikanischer Unternehmen auf den langfristigen Trend seit<br />

1975 mit einem inflationsbereinigten Wachstum von rund vier bis fünf Prozent<br />

verwiesen werden. 8<br />

Im Rahmen der bisherigen Übersichten wurden zwei zentrale Gruppen von<br />

’ Determinanten‘ <strong>für</strong> organisatorische Innovationen in den Vordergrund gerückt.<br />

Auf der einen Seite steht die Wichtigkeit einer ’ organischen Struktur‘ 9 und<br />

auf der anderen Seite die Bedeutung von ’ Wertorientierungen‘ in Richtung auf<br />

Veränderungen und Restrukturierungen oder auf ’ hochriskante Strategien‘. In<br />

den letzten Jahren wurden vor allem zwei größere ’ Meta-Analysen‘ zu den allgemeinen<br />

Mustern in der Innovationsforschung von Organisationen – hier allerdings<br />

eingeschränkt auf den Unternehmensbereich – vorgenommen, die im<br />

weiteren detailliert ausgebreitet werden sollen.<br />

Die Übersicht von Fariburz Damanpour beinhaltet eine ’ Meta-Analyse‘<br />

von 23 Studien, in denen vier Typen an unterschiedlichen Rahmenbedingungen<br />

– Organisationstyp, Innovationstyp, Adaptionsstufe und Reichweite von<br />

Innovationen – konstant gehalten werden, um den Effekt unterschiedlicher<br />

Strukturen und Strategien auf die Innovationsraten abzuschätzen. 10 Auf der<br />

Seite der strukturellen Größen untersuchte Damanpour den Effekt der ’ Spezialisierung‘<br />

(Anzahl von Berufen), der ’ funktionellen Differenzierung‘ (Anzahl<br />

von Abteilungen, Untereinheiten, etc.), der ’ Professionalisierung‘ (Aus-<br />

8 Nähere Angaben dazu in Hage u. Power, Lives, wie Anm. 2, 32.<br />

9 So bei Tom Burns u. George M. Stalker, The Management of Innovation, London 1961.<br />

10 Es sei angemerkt, daß dieses ’ Kontrollieren‘ die allgemeinen Zusammenhänge nicht außer<br />

Kraft setzte, sondern lediglich in einigen Fällen die entsprechenden Parameterwerte reduzierte.<br />

70 ÖZG 11.2000.1


ildungsgrade) und einer neuen Größe, die als technische und jobrelevante<br />

’ Wissensressource‘ bezeichnet wurde. Die ersten drei Faktoren besaßen eine<br />

signifikante Beziehung mit den Innovationsraten, wobei sich die Spezialisierung<br />

als vergleichsweise stärkste Größe herausstellte. Der vierte Faktor, die technischen<br />

Wissensressourcen, repräsentiert spezielle Arten von Humankapital oder<br />

Expertise. 11 Auch hier konnte eine positive Beziehung festgestellt werden, obwohl<br />

wegen der geringen Anzahl an Fallstudien nur einige der Kontrollvariablen<br />

berücksichtigt werden konnten. Aber gerade dieser Zusammenhang erweist sich<br />

in Übereinstimmung mit einer ganzen Reihe von Studien über organisatorische<br />

Innovationen. In einer Serie von britischen und deutschen Firmenvergleichen 12<br />

ergab sich, daß Firmen relativ langsam in ihren innovativen Anpassungsleistungen<br />

agierten, wenn die erforderliche technische Expertise nicht oder nur<br />

in unzureichendem Ausmaß gegeben war. Zwei weitere strukturelle Größen,<br />

die Damanpour untersuchte, betrafen die Bereiche von Zentralisierung‘ und<br />

’<br />

’ Formalisierung‘. Zentralisierung besaß eine sehr robuste negative Beziehung<br />

mit Innovationsraten, wogegen der Bereich der Formalisierung beziehungsweise<br />

Bürokratisierung ein inhomogenes Bild ergab, das je nach Kontrollgrößen<br />

wechselte. Die zentrale Strategiegröße bildeten ’ Managementeinstellungen <strong>für</strong><br />

den organisatorischen Wandel‘, die im großen und ganzen eine positive Beziehung<br />

mit den Innovationen aufwiesen, obschon in einem geringeren Ausmaß als<br />

die Zentralisierung oder die Spezialisierung.<br />

In der Übersichtsstudie von Raymond Zammuto und Edward O’Connor<br />

wird das Schwergewicht auf die Einführung flexibler Fertigungsprozesse gelegt.<br />

Mit Bezugnahme auf Untersuchungen in Großbritannien, 13 Japan, 14 Australien<br />

15 und in den Vereinigten Staaten 16 werden die weiteren Zusammenhänge<br />

zwischen der Einführung flexibler Fertigung, Arbeitslosigkeit und Lebensstan-<br />

11 So in klassischer Weise Gary Becker, Human Capital, New York 1964, sowie Theodore<br />

Schultz, Investment in Human Capital, in: American Economic Review 51 (1961), 1–16.<br />

12 Zu finden beispielsweise in Hilary Steedman u. Karin Wagner, A Second Look at Productivity,<br />

Machinery and Skills in Britain and Germany, in: National Institute Economic<br />

Review (1987), 84–95, sowie dies., Productivity, Machinery and Skills. Clothing Manufacture<br />

in Britain and Germany, in: National Institute Economic Review (1989) , 40–57.<br />

13 Vgl. John Bessant, The Integration Barrier. Problems in the Implementation of Adavanced<br />

Manufacturing Technology, in: Robotica 3 (1985), 97–103; Ingersoll Engineers, The<br />

FMS Reports, Kempston 1984; Peter Primrose, The Effect of AMT Investment on Costing<br />

Systems, in: Journal of Cost Management for the Manufacturing Industries 2 (1988), 27–30.<br />

14 Vgl. Ramchandran Jaikuman, Postindustrial Manufacturing, in: Harvard Business Review<br />

6 (1986), 69–76.<br />

15 Vgl. James Fleck, The Employment Effects of Robots, in: Tom Lupton, Hg., Proceedings<br />

of the First International Conference on Human Factors in Manufacturing, Kempston 1984,<br />

269–277.<br />

16 Vgl. neben Ramchandran Jaikumar, Manufacturing, wie Anm. 14, auch Chris A. Voss,<br />

Implementation. A Key Issue in Manaufacturing Technology. The Need for a Field Study, in:<br />

Research Policy 17 (1988), 55–63.<br />

ÖZG 11.2000.1 71


dards untersucht. 17 Das Hauptargument dieser Übersicht liegt darin, daß eine<br />

’ organische Organisation‘ sowie eine risikoorientierte Unternehmensstrategie‘<br />

’<br />

die besten Voraussetzungen <strong>für</strong> eine erfolgreiche Implementierung flexibler Fertigungstechniken<br />

darstellen, so daß die beiden vorrangigen Ziele einer Erhöhung<br />

in der Produktivität wie auch im Flexibilisierungsgrad erreicht werden können.<br />

Im Unterschied zur Studie von Damanpour ist die Untersuchung bei Zammuto<br />

und O’Connor qualitativ gehalten, aber sie besitzt den Vorteil, eine Reihe<br />

weiterer technologieorientierter Analysen berücksichtigen zu können, die nicht<br />

in die Damanpour-Studie aufgenommen werden konnten.<br />

Innerhalb ihrer Übersichtsanalyse erwähnen die beiden Autoren auch die<br />

Wichtigkeit des Faktors berufliche Komplexität‘, ein typisches Charakteristi-<br />

’<br />

kum einer neuen Form der Arbeitsteilung. Ihr Argument, wonach komplexere<br />

Berufe im Produktionsbereich innerorganisatorische Lernprozesse erleichtern,<br />

ähnelt der schon thematisierten Behauptung von der Wichtigkeit der Expertise<br />

und spezieller, weil professioneller Kompetenzen des Humankapitals‘. Diese<br />

’<br />

Wichtigkeit von komplexen Berufs-Profilen als erforderlicher Unterbau‘ <strong>für</strong> or-<br />

’<br />

ganisatorische Innovationen und <strong>für</strong> die Adaptierung neuer Technologien wird<br />

auch in einer Reihe von vergleichenden Unternehmensstudien unter Beweis gestellt,<br />

die aber nicht in die Untersuchung von Zammuto und O’Connor aufgenommen<br />

wurden. 18 So übt beispielsweise der deutsche Vorarbeiter Tätigkeiten<br />

aus, die in britischen Fabriken von mehreren Personen wahrgenommen werden.<br />

Dazu gehören die Verantwortung <strong>für</strong> die Qualitätskontrolle‘ ebenso wie Ablauf-<br />

’<br />

und Zeitentscheidungen über die Produktion, allesamt im übrigen Bereiche, die<br />

in amerikanischen Firmen dem Management oder den Technikern vorbehalten<br />

bleiben. Komplexere Berufe auf der untersten Ebene der Produktions- und<br />

Herstellungsprozesse selbst gingen im deutschen Fall mit einer viel größeren<br />

Flexibilität innerhalb der Beschäftigten wie auch mit der Fähigkeit <strong>für</strong> kun-<br />

’<br />

dennahe‘ Produkte einher. Deutsche Arbeiter waren in der Lage, ihre Maschinen<br />

selbständig zu reparieren, waren auch <strong>für</strong> ihre Instandhaltung verantwortlich<br />

und vermochten auf diese Weise, das Potential solcher Technologien voll<br />

17 Ein Hauptproblem der Untersuchung lag allerdings in der nur teilweisen Implementierung<br />

flexibler Fertigungstechniken. Denn wenige amerikanische Firmen erhöhten über diese organisatorische<br />

Innovation das Ziel höherer Flexibilität, und nur etwa die Hälfte verzeichneten<br />

einen Anstieg in ihrer Produktivität. Vor dem Hintergrund der Arbeiten von Piore und Sabel<br />

(Michael J. Piore u. Charles F. Sabel, The Second Industrial Divide. Possibilities for Prosperity,<br />

New York 1986) über die ’ zweite industrielle Revolution‘ fällt dieses Resultat doch<br />

einigermaßen störend und beunruhigend aus.<br />

18 Dazu zählen beispielsweise S. J. Prais, Hilary Steedman, Vocational Training in France<br />

and Britain in the Building Trades, in: National Institute Economic Review (August 1986);<br />

dies., Productivity and Vocational Skills in Britain and Germany. Hotels, in: National Institute<br />

Economic Review (November 1989), sowie Hilary Steedman, Geoff Mason u. Karin<br />

Wagner, Intermediate Skills in the Workplace. Deployment, Standards and Supply in Britain,<br />

France and Germany, in: National Institute Economic Review (Mai 1991).<br />

72 ÖZG 11.2000.1


auszuschöpfen. Dies vermag zum Großteil zu erklären, wie man im Kontext<br />

fortgeschrittener und hochentwickelter Produktionstechnologien Zuwächse an<br />

Produktivität wie auch an Flexibilität erzielen kann. Bei diesem Befund muß<br />

allerdings zugegeben werden, daß es sehr schwierig ist, die überlegene Form<br />

der technischen Ausbildung in Deutschland von den komplexen Berufs- und<br />

Tätigkeitsprofilen zu trennen, weil gerade im deutschen Fall beide Prozesse<br />

sich wechselseitig bedingen.<br />

Eine Studie aus dem Ende der achtziger Jahre 19 über die verschiedenen<br />

Formen flexibler Produktionssysteme in einer Reihe von wirtschaftlichen Sektoren<br />

in den Vereinigten Staaten erhärtet nochmals den Befund, daß solche<br />

flexiblen Produktionsformen dann erfolgreich adaptiert werden konnten, wenn<br />

sich die Berufsprofile innerhalb der Unternehmen als hinreichend komplex ausgewiesen<br />

haben. In dieser Untersuchung wurde das Ausmaß an Verschiedenheit<br />

von beruflichen Spezialisierungen als Komplexitätsmaß eingeführt und zudem<br />

der bisherige Stand an Automatisierung ’ kontrolliert‘, was im übrigen kaum<br />

eine der bisherigen Studien konsequent durchgeführt hat. Eines der beiden<br />

Hauptresultate aus der Untersuchung war zu erwarten: Je höher der ohnehin<br />

schon bestehende Automatisierungsgrad lag, desto geringer fiel die Bewegung<br />

in Richtung noch größerer Automatisierung aus. Aber das unerwartete zweite<br />

Hauptergebnis lag darin, daß auf den hohen Automatisierungsniveaus die berufliche<br />

Komplexität einen ’ Multiplikator-Effekt‘ <strong>für</strong> die weitere Anpassung in<br />

Richtung flexibler Produktionsprozesse ausübte.<br />

Zammuto und O‘Connor 20 erweiterten auch das Moment der ’ Dezentralisierung‘,<br />

indem sie die Wichtigkeit der Partizipation von Arbeitern in der Phase<br />

von Implementierungsprozessen betonen, sie erklären jedoch nicht, warum eine<br />

solche Beteiligung vorteilhafte Ergebnisse zeitigt. Gerade dieser Punkt verdeutlicht,<br />

daß ’ organische‘ betriebliche Strukturen – Dezentralisierung, horizontale<br />

Kommunikation und wechselnde Führungsrollen – Prozesse der Einführung<br />

neuer Technologien sehr erleichtern. Denn ’ organische Unternehmensstrukturen‘<br />

gestatten es, das inhärente Potential an Fähigkeiten, Begabungen und Expertisen<br />

zur Entfaltung zu bringen. Dies verdeutlicht auch ein Vergleich von amerikanischen<br />

und japanischen Industrien in einer Reihe verschiedener Branchen 21<br />

wie auch die Studie von Richard Walton 22 über die Einführung von Innovationen<br />

im Bereich der Schiffahrtsindustrien von Großbritannien, Deutschland, Japan,<br />

Norwegen und den Vereinigten Staaten. Die beständigen Produktivitäts-<br />

19 Paul Collins, Jerald Hage u. Frank Hull, Organizational and Technological Predictors of<br />

Change in Automaticity, in: Academy of Management Journal 3 (1987), 512–543.<br />

20 Vgl. Zammuto u. O’Connor, Gaining, wie Anm. 1, 717.<br />

21 Vgl. Jaikumar, Manufacturing, wie Anm. 14.<br />

22 Richard Walton, Innovating to Compete. Lessons for Diffusing and Managing Change in<br />

the Workplace, San Franciso 1987.<br />

ÖZG 11.2000.1 73


zuwächse bei inkrementalen Prozeßinnovationen durch die Organisation von<br />

’ Qualitätszirkeln‘ stützen diesen generellen Befund zusätzlich ab.<br />

Eine der großen Schwächen in den unterschiedlichsten Untersuchungen<br />

über die Zusammenhänge von Innovationen und Unternehmenszielen stellen<br />

die wechselhaften Definitionen des ’ Strategiekonzepts‘ dar. Was in den meisten<br />

Studien nicht explizit angesprochen wurde, das liegt im Grad der ’ Radikalität‘,<br />

den solche Strategien besitzen. Dieser Punkt ist umso bedauerlicher, weil in<br />

den Arbeiten von Michael Tushman und Paul Andersen 23 gerade diese Radikalität<br />

eine zentrale Rolle zu spielen scheint: So suchen sich dominante Firmen<br />

– Marktführer in ihren Bereichen – vornehmlich nicht-riskante Strategien aus,<br />

wogegen neue oder auch schwach positionierte Unternehmen weitaus häufiger<br />

riskante Strategien wählen.<br />

Obschon Damanpour sowohl, als auch Zammuto und O’Connor, verschiedene<br />

Aspekte von Arbeitsteilung als gewichtiges Element des Innovationsgrades<br />

von Organisationen betont haben, sind sie doch nicht zur Komplexität der Arbeitsteilung<br />

als der wichtigsten und kritischsten Innovationsgröße vorgestoßen.<br />

Vier der potentiellen sechs Faktoren bei Damanpour hatten direkt oder indirekt<br />

mit Arbeitsteilung zu tun: Spezialisierung, ’ Departmentalisierung‘, ’ Professionalisierung‘<br />

wie ’ technische Wissens-Ressourcen‘. Ein Schlüsselfaktor aus dem<br />

Bereich der Arbeitsteilung – ’ berufliche Komplexität‘ – fand sich in der Übersicht<br />

bei Zammuto und O’Connor. Aber keiner der Autoren hielt es <strong>für</strong> wert,<br />

beispielsweise das Vorhandensein einer eigenen Forschungs- und Entwicklungsabteilung<br />

als gewichtiges Merkmal komplexer Arbeitsteilungen ins Kalkül zu<br />

ziehen. Doch gerade das Ausmaß an innerbetrieblicher Forschung und Entwicklung<br />

sollte den offensichtlichsten Indikator <strong>für</strong> arbeitsteilige Komplexität und<br />

die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens darstellen. Dieser Punkt findet<br />

sich im übrigen auch im Rahmen der Arbeiten von Wesley Cohen und Daniel<br />

Levinthal 24 über die ’ Absorptionskapazitäten‘ von Unternehmen und im<br />

Kontext der mittlerweile vielfältigen Diskussionsstränge zu ’ lernenden Organisationen‘.<br />

Die Bedeutsamkeit des Faktors ’ komplexe Arbeitsteilung‘ kann nur<br />

angemessen eingeschätzt werden, wenn man solche Dimensionen wie eben das<br />

Ausmaß an innerbetrieblicher F E inkludiert.<br />

Ein sehr frühes Argument <strong>für</strong> die Wichtigkeit, arbeitsteilig ’ komplex‘ organisiert<br />

zu sein wurde vom Autor bereits 1965 25 formuliert und verweist darauf,<br />

daß eine komplexe Form der Arbeitsteilung ein deutlich höheres Maß an<br />

Adaptivität oder Flexibilität gegenüber Veränderungen in der Umgebung sol-<br />

23 Vgl. Michael Tushman u. Paul Andersen, Technological Discontinuities and Organizational<br />

Environments, in: Administrative Science Quarterly 31 (1986), 439–465.<br />

24 Vgl. Wesley Cohen u. Daniel Levinthal, Absorptive Capacity. A New Perspective on<br />

Learning and Innovation, in: Administrative Science Quarterly 35 (1990), 128–152.<br />

25 So schon sehr früh Jerald Hage, An Axiomatic Theory of Organizations, in: Administrative<br />

Science Quarterly 4 (1965), 289–320.<br />

74 ÖZG 11.2000.1


cher Organisationen bedingt. 26 Dieser Zusammenhang stützt sich auf mehrere<br />

unterschiedliche Argumentationsstränge: erstens auf den inversen Zusammenhang<br />

von arbeitsteiliger Komplexität und dem Zentralisierungs- und Formalisierungsgrad,<br />

d.h. dem Ausmaß an ’ Bürokratisierung‘; zweitens auf die Verschiebung<br />

in den strategischen Unternehmenszielen weg von reinen Effizienz-<br />

Kriterien in Richtung höherdimensionaler Bereiche. Beide Argumentationslinien<br />

werden noch durch weitere empirische Resultate verstärkt, beispielsweise<br />

durch eine (frühe) Studie des Autors und Michael Aikens, 27 wo die komparativen<br />

innerbetrieblichen Vorteile von Berufsprofilen <strong>für</strong> College-Absolventen aus<br />

unterschiedlichen kognitiven Feldern beschrieben werden. Eine solche hetero-<br />

gene Verteilung von Kompetenzen ist nämlich in der Lage, ein umfassenderes<br />

’ Monitoring‘ der betrieblichen Umwelt‘ durchzuführen – und dies sowohl in<br />

’<br />

Richtung neuer Problemlösungen als auch in Richtung von wahrscheinlichen<br />

Problemfeldern. Solche komplexen innerbetrieblichen Arbeitsteilungen gestatten<br />

auch ein weitaus komplexeres – und das heißt umfänglicheres – ’ Monitoring‘<br />

von innovativen Lösungen, von Lernpotentialen, von Fehlervermeidungen und<br />

anderen zentralen betrieblichen Aufgaben.<br />

Und warum sollte sich die komplexe Arbeitsteilung als vergleichsweise<br />

wichtiger herausstellen als die beiden anderen Faktorenbündel bei Fariburz Damanpour,<br />

nämlich die ’ organische Struktur‘ oder ’ hochriskante Unternehmensstrategien‘<br />

Nun, keine der beiden Faktorengruppen bezieht sich direkt oder<br />

indirekt auf die kognitiven Problemlösungsfähigkeiten oder die Lernkapazitäten<br />

innerhalb von Organisationen, 28 ganz zu schweigen von den inhärenten organisatorischen<br />

Kreativitätspotentialen. Die Integration verschiedenartiger heterogener<br />

Wissens- und Kompetenzkontexte gehört zu den Grundvoraussetzungen<br />

von jenen kreativen, komplexen und schnellen Problemlösungen, 29 wie sie im<br />

heutigen globalisierten Marktgeschehen immer stärker benötigt werden. 30<br />

’ Organische<br />

Strukturen‘ tragen dazu bei, diese Wissensformen zu mobilisieren und<br />

zu aktivieren. Strategien stellen Ziele und Motivationsanreize zur Fokussierung<br />

von Aktivitäten auf – und doch bildet das Verfügen über eine geeignete komplexe<br />

Wissensbasis erst die notwendige Voraussetzung, um solche innovativen<br />

Prozesse in Gang bringen zu können.<br />

An den beiden referierten Meta-Analysen fällt aber trotz des Fehlens der<br />

zentralen dritten Dimension die Kohärenz in der Art wie in der Richtung der<br />

26 Für eine neuere empirische Unterstützung dieser ” kühnen Vermutung“ vgl. u.a. Smith,<br />

Grimm u. Gannon, Dynamics, wie Anm. 7.<br />

27 So bei Jerald Hage u. Michael Aiken, Social Change in Complex Organizations, New York<br />

1970.<br />

28 Vgl. Cohen u. Levinthal, Absorptive Capacity, wie Anm. 24.<br />

29 So auch Smith, Grimm u. Gannon, Dynamics, wie Anm. 7.<br />

30 Vgl. ausführlicher Hage u. Powers, Lives, wie Anm. 3.<br />

ÖZG 11.2000.1 75


identifizierten Klassen von Schlüsselfaktoren ins Auge, welche <strong>für</strong> die Innovationsgrade<br />

von Firmen konstitutiv und bestimmend werden.<br />

Innovation und Forschungsorganisationen<br />

Die bisherigen Betrachtungen waren ausschließlich im Unternehmensbereich<br />

angesiedelt. Der bisherige ’ Dreitakt‘ von komplexer Arbeitsteilung, riskanten<br />

und komplexen Strategien und organischen Organisationskulturen als Garant<br />

<strong>für</strong> hohe Innovationspotentiale und hohe Innovationsgrade konnte sich empirisch<br />

auf sehr viele empirische Betriebs- und Managementanalysen gründen. In<br />

einem zweiten Schritt soll der bisherige Kernbereich verlassen werden und in<br />

ein anderes organisatorisches ’ Setting‘ gewechselt werden, nämlich weg von den<br />

Märkten und der Ökonomie und hin zur Wissenschaft.<br />

Im Kontext von ’ postindustriellen‘ oder von ’ wissensbasierten‘ Gesellschaften<br />

mit ihren hohen Raten an technischen Veränderungen und Produktinnovationen<br />

können ’ Forschungseinheiten‘ als die ’ Basiskomponenten‘ einer postindustriellen<br />

Wissens-Organisation bezeichnet werden. 31 Auf dem Mikro-Niveau<br />

solcher Forschungseinheiten existieren nun aber vielfältige Befunde der<br />

Wissenschaftsforschung, welche interessanterweise die bisherigen Innovations-<br />

Ergebnisse im Bereich der Unternehmen ergänzen, unterstützen und im wesentlichen<br />

zur selben Konfiguration an innovativen Schlüsselfaktoren führen.<br />

Eine herausragende Arbeit stellt dabei die Studie von Donald Pelz und<br />

Frank Andrews 32 dar, die zudem in einem eigenen Appendix den ’ persönlichen<br />

Faktor‘, nämlich die innovativen Fähigkeiten von Forschern und damit die individuelle<br />

Inputseite der Forschung zu kontrollieren suchte. Die beiden Autoren<br />

konstatieren, daß Wissenschaftler umso ’ produktiver‘ (Anzahl von publizierten<br />

Artikeln, von Forschungsberichten und anderem forschungsrelevantem Output)<br />

und ’ kreativer‘ (Qualität des wissenschaftlichen Outputs) operierten, wenn sie<br />

mit Forschern unterschiedlicher Richtungen und Perspektiven konfrontiert waren,<br />

an verschiedenartigen Forschungsprojekten arbeiteten und ihre Forschungen<br />

mit anderen Tätigkeiten wie Lehre aber auch Administration kombinierten.<br />

Der gemeinsame Nenner, der diese scheinbar heterogenen Ergebnisse in einer<br />

einheitlicheren Perspektive zusammenfaßt, könnte dann folgendermaßen formuliert<br />

werden: Wissenschaftliche Kreativität scheint mit dem Vorhandensein<br />

von komplexen kognitiven Strukturen zu wachsen. Anders ausgedrückt bedeutet<br />

eine komplexe Arbeitsteilung sowohl auf organisatorischer wie auf indivi-<br />

31 Ebd.<br />

32 Donald Pelz u. Frank Andrews, Scientists in Organizations. Productive Climates for Research<br />

and Development, 1. Aufl. New York 1966 (2. veränderte u. erw. Aufl. 1977).<br />

76 ÖZG 11.2000.1


dueller Ebene ein Mehr an ’ wissenschaftlicher Produktivität und Kreativität‘,<br />

obschon auf individuellem Gebiet diese Beziehung keine lineare zu sein scheint.<br />

Verschiedene Punkte lassen sich anführen, um dieses spezielle Ergebnis<br />

näher zu erläutern und abzustützen. Wahrscheinlich eines der erstaunlichsten<br />

Ergebnisse in der Arbeit von Pelz und Andrews liegt darin, daß Wissenschaftler<br />

weniger produzieren, wenn sie hundert Prozent ihrer Zeit der Forschung<br />

widmen können, als wenn sie nur zu achtzig Prozent mit Forschungsaktivitäten<br />

beschäftigt sind. Dieses Resultat erweist sich als hinreichend robust – es ist<br />

unabhängig vom Ort der Forschung, ob in der Industrie, an <strong>Universität</strong>en oder<br />

in staatlichen Stellen und auch unabhängig vom Typus der verbleibenden Aktivitäten.<br />

Ein anderes und speziell <strong>für</strong> das akademische Selbstverständnis mit<br />

seiner Betonung von der ’ Freiheit der Wissenschaften‘ gegenintuitive wie unbequeme<br />

Resultat liegt darin, daß volle akademische Freiheit sowohl die wissenschaftliche<br />

Produktivität – die Anzahl wissenschaftlicher Produktionen – als<br />

auch deren Kreativität – die Qualität des szientifischen Outputs – reduziert. 33<br />

Und so bindet sich denn auch im Bereich der Forschungsorganisation eine komplexe<br />

Arbeitsteilung innerhalb von Forschungseinrichtungen mit einem hohen<br />

Innovationsgrad im wissenschaftlichen Output.<br />

Zudem taucht in den Arbeiten von Pelz und Andrews ein Ergebnis auf, <strong>für</strong><br />

das schon die Folklore die geeigneten Redensarten in Gestalt von ’ Weniger ist<br />

besser‘ oder ’ Allzu viel ist ungesund‘ auf- und vorbereitet hat. Wissenschaftler,<br />

die sich in zu vielen Projekten engagieren oder sich allzu vielen und heterogenen<br />

Perspektiven aussetzen, weisen eine substantielle Reduktion sowohl in der<br />

Menge als auch in der Qualität ihrer wissenschaftlichen Arbeiten auf. Totaler<br />

Eklektizismus – das Bemühen, Elemente auch aus den kognitiv allerweitest<br />

entfernt liegenden Forschungsrichtung zu ’ integrieren‘, – scheint ebenso jenseits<br />

der kreativen Schwellenwerte zu liegen wie die völlig geschlossene Reproduktion,<br />

die sich in der Abwehr selbst des so naheliegenden Guten manifestiert.<br />

Es bedarf jedenfalls als Bedingung wissenschaftlicher Kreativität eines eigenen<br />

Standpunktes, einer ’ Eigen-Perspektive‘, einer Bereitschaft zu ’ konstruktivem<br />

Dialog‘ wie auch einer konstanten Bereitschaft zur Adaption, um kreative Leistungen<br />

auch zur Entfaltung zu bringen.<br />

Diese bisherigen Resultate gewinnen noch an Bedeutung, werden sie um die<br />

mikro- oder sozialpsychologischen Forschungen zur ’ Resistenz gegen Veränderungen‘<br />

erweitert. 34 Im allgemeinen wird in der entsprechenden ’ Bildungs-<br />

Literatur‘ schon seit Jahrzehnten der enge Zusammenhang von höherer Ausbil-<br />

33 Dieses Ergebnis scheint im übrigen noch immer von vielen professionellen akademischen<br />

Gesellschaften oder Assoziationen nicht hinreichend ernst genommen zu werden.<br />

34 Zu diesem Bereich vgl. Gerald Zaltman, Robert Duncan u. Jonny Holbek, Innovations<br />

and Organizations, New York 1973, 85–104 <strong>für</strong> die psychologische Theorie sowie Jerald Hage,<br />

Theories of Organizations. Form, Process, and Transformation, New York 1980, 224–239 <strong>für</strong><br />

die sozialpsychologische Seite.<br />

ÖZG 11.2000.1 77


dung und dem ’ Willen zum Wandel‘ hergestellt. 35 Aber es drängt sich noch ein<br />

anderer, gegenläufiger Konnex zwischen höherer Ausbildung und einer ’ Abneigung<br />

zu Wechseln‘ auf, der auch als ’ fortgeschrittene Sehschwäche‘ etikettiert<br />

werden könnte. Es wird in der Regel viel zu wenig berücksichtigt, daß der<br />

langjährige Ausbildungsprozeß im tertiären Bereich nicht nur ein entsprechendes<br />

Humankapital aufbaut, sondern jede Menge an kognitiven Routinisierungen<br />

und Standardisierungen mit sich bringt, welche an sich interessante Informationen<br />

von vorneherein ’ ausfiltern‘, andere Problemsichten versperren oder die<br />

Suche nach Alternativen gar nicht erst aktivieren. Und gerade diese Phänomene<br />

tragen ihren gewichtigen Teil dazu bei, daß Organisationen so träge auf<br />

den Wandel reagieren. In diesem Zusammenhang kann auch auf die Analysen<br />

von Chris Argyra und Donald Schoen 36 über einfaches und vernetztes Denken<br />

– ’ single loop‘ und ’ double loop-thinking‘ -verwiesen werden. Viele sind nur<br />

in der Lage, Probleme aus der Sicht jener Disziplin zu analysieren, in der sie<br />

ausgebildet wurden und erweisen sich als nicht imstande, ihre analytischen Modelle<br />

und ’ Rahmen‘ an neue Gegebenheiten anzupassen. Und so werden in einer<br />

Art ’ langerlernter Hilflosigkeit‘ Routinen und Heuristiken in Gang gesetzt, obwohl<br />

sie sich bekanntermaßen als ineffektiv erweisen und ins Leere gehen. Auch<br />

aus dieser Richtung erhält der Begriff der ’ kognitiven Komplexität‘ seine Berechtigung,<br />

um zwischen Personen zu differenzieren, die im Falle grundlegend<br />

neuer Herausforderungen auch mit grundlegend neuen Antworten – oder mit<br />

der versuchten ’ Wiederkehr von Gleichem‘ – reagieren.<br />

Da viele Wissenschaftler auch schon zur Zeit der ersten Studie von Donald<br />

Pelz und Frank Andrews aus dem Jahre 1966 in Teams arbeiteten, wurden auch<br />

die Konsequenzen der Teamarbeit wie auch der ’ Produktivitätszyklus‘ solcher<br />

Teams retrospektiv untersucht. Und hier fällt als wichtiges Ergebnis an, daß<br />

auch die Produktivität und die Kreativität innerhalb solcher Ensembles nach<br />

einer rund fünfjährigen Phase zu sinken beginnen. Einer der Gründe <strong>für</strong> diesen<br />

graduellen Niedergang liegt darin, daß die horizontale Kommunikation zwischen<br />

Teammitgliedern wie auch die vertikale Kommunikation mit dem Teamleiter<br />

nachläßt. Weiters wirkt sich die Tendenz in Richtung von vermehrter oder<br />

vertiefter Spezialisierung negativ aus, weil dadurch das Interesse an breiteren<br />

wie auch an teamspezifischen Fragestellungen abnimmt. Anders ausgedrückt<br />

ist die zeitliche Dauer solcher Teams mit Veränderungen in den individuellen<br />

Forschungsheuristiken ( ’ mehr Spezialisierung‘) und der internen Gruppenstrukturen<br />

( ’ weniger Kommunikation‘) verbunden. Dies wiederum führt vor Augen,<br />

daß ein moderater Wechsel in der personellen Zusammensetzung solcher Teams<br />

im Zeitablauf positive Konsequenzen mit sich bringen sollte. Und bei den bisherigen<br />

Resultaten spielt es keine Rolle, ob es sich um disziplinär zusammenge-<br />

35 Für eine Übersicht klassischer Arbeiten vgl. Hage u. Aiken, Social Change, wie Anm. 27.<br />

36 Chris Argyra u. Donald Schoen, Organizational Learning, Reading u.a. 1978.<br />

78 ÖZG 11.2000.1


setzte Gruppen oder um interdisziplinäre Teams handelt. Auch bei interdisziplinär<br />

arrangierten Ensembles lassen sich dieselben kognitiven wie kommunikativen<br />

Desintegrationsprozesse feststellen. Ohne zusätzlichen und neuen Input‘<br />

’<br />

von außen verwandeln sich diese Teams in ein Gehäuse disziplinärer – oder<br />

’<br />

interdisziplinärer – Hörigkeiten‘.<br />

Das Thema von kognitiven Strukturen‘ einer Wissensdisziplin, in die man<br />

’<br />

über ein Studium hineinsozialisiert‘ wird, kann um einen Schritt erweitert wer-<br />

’<br />

den, indem einschlägige wissenschaftshistorische Arbeiten – und hier speziell die<br />

Analysen von Terry Shinn37 – herangezogen werden. Bei Terry Shinn werden<br />

’ kühne Beziehungen‘ zwischen kognitiven und organisatorischen Strukturen in<br />

den Raum gestellt: In vornehmlich deduktiv organisierten Wissenschaftsfeldern<br />

wie beispielsweise der Physik tendiert auch die organisatorische Grundstruktur<br />

der entsprechenden Forschungseinheit dazu hierarchisch zu sein, in der beschränkte<br />

Kommunikation vornehmlich über vertikale Kanäle stattfindet. In<br />

dominant induktiven‘ Wissenschaftsfeldern wie beispielsweise den Computer-<br />

’<br />

wissenschaften scheint hingegen die Forschungsorganisation möglichst flach arrangiert<br />

zu sein und Kommunikationsprozesse sehr vielfältig und horizontal vor<br />

sich zu gehen. Eine wichtige Implikation dieser unterschiedlichen kognitiv- organisatorischen<br />

Strukturierungen liegt auch darin, daß verschiedene Disziplinfelder<br />

unterschiedliche Grade an Offenheit‘ gegenüber Veränderungen entwickeln.<br />

’<br />

’ Ältere‘ und stark organisierte Bereiche wie die Physik oder die Ökonomie zeigen<br />

eine starke Fokussierung auf ein spezielles Paradigma und damit erhöhte<br />

Resistenzen gegen neue Fakten. 38 Es versteht sich aber von selbst, daß über die<br />

Zusammenhänge und die möglichen ko-evolutiven Grundmuster von kognitiven<br />

und sozialen Organisationen ungleich mehr geforscht werden müßte als derzeit<br />

darüber vermutlich gewußt wird.<br />

Es gibt aber auch bedeutsame Verschiedenheiten in den individuellen Wis-<br />

’<br />

sensstilen‘ und in den persönlichen Offenheiten‘ im Informationsverhalten.<br />

’<br />

Einige Personen übernehmen die Rolle von Torwächtern‘ oder weniger de-<br />

’<br />

fensiv: von disziplinären Fensterguckern‘, welche aktiv nach neuen Informa-<br />

’<br />

tionen suchen und sie an andere Mitglieder der Profession‘ oder auch eines<br />

’<br />

Forschungslabors oder einer Forschungseinheit weitergeben. Daraus resultiert<br />

trivialerweise, daß die spezielle Art und Weise der kommunikativen Interaktion<br />

und der Informationsverbreitung einen gewichtigen Einfluß auf die kognitiven<br />

Routinen und Heuristiken der anderen Mitglieder einer Forschungseinheit<br />

ausübt. Und bislang noch sehr wenig untersucht und verstanden ist gene-<br />

37 Vgl. etwa Terry Shinn, Scientific Disciplines and Organizational Specialty. The Social<br />

and Cognitive Configuration of Laboratory Activities, in: Sociology of the Sciences 4 (1982),<br />

239–264.<br />

38 Zu diesem Punkt vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen,<br />

Frankfurt am Main 1973, sowie ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der<br />

Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 1978.<br />

ÖZG 11.2000.1 79


ell die Identifikation jener vielschichtigen Wissensstile und Rollenverteilungen,<br />

die speziell im Falle kreativer, innovativer wissenschaftlicher Problemlösungen<br />

benötigt werden. Louis Tornatsky und Mitchell Fleischer 39 legen in ihrer Zusammenschau<br />

über den Stellenwert von ’ Schlüsselrollen‘ ihr Hauptgewicht darauf,<br />

daß es ein differenziertes Rollenspiel zwischen ’ Fensterguckern‘ (<strong>für</strong> neue<br />

wissenschaftliche Ergebnisse, neue Produkte, neue Prozesse), ’ Ideengeneratoren‘,<br />

’ Problemlösern‘, ’ Produkt-Prozeß-Implementierern‘ und weiteren Rollen<br />

bedarf. Eine der interessantesten Rollenzuschreibungen liegt beispielsweise in<br />

der des F E-Strategen. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt verfügen wir über<br />

keine systematische Forschung über solche ’ wissenschaftlichen Entrepreneurs‘,<br />

die eine ’ große Vision‘ (Joseph A. Schumpeter) eines Forschungsprogramms sowie<br />

eine dynamische ’ Landkarte‘ mit neuartigen ’ Territorien‘ und ’ Forschungswegen‘<br />

entwickeln.<br />

Diese vielfältigen Untersuchungen im Feld der Wissenschaftsorganisation<br />

führen jedenfalls zu einer Reihe neuer Einsichten und Hypothesen, die in<br />

zukünftigen Analysen von Forschungsteams und Forschungseinheiten untersucht<br />

werden könnten – und sollten. Diese Ergebnisse legen es insgesamt nahe,<br />

daß Forschungsgruppen so zusammengesetzt sein sollten, daß die individuellen<br />

Forscher und Forscherinnen komplexe kognitive Strukturen aufweisen. 40<br />

Zumindest ein Gruppenmitglied sollte dabei spezielle Kenntnisse in der Informationsbeschaffung<br />

und im ’ Monitoring‘ neuer Informationen oder Wissenskomponenten<br />

besitzen, welche <strong>für</strong> die jeweilige Einheit als potentiell innovationsträchtig<br />

oder als kognitiv relevant gelten. Mit anderen Worten sollten Forschungseinheiten<br />

zumindest über einen kognitiven/innovativen ’ Fenstergucker‘<br />

verfügen. Im Zeitablauf sollten solche Forschungseinheiten einen graduellen<br />

Wechsel des Personals aufweisen, der grob den sich ändernden Forschungsprioritäten<br />

und Forschungszielen entsprechen sollte. Darüber hinaus müßten solche<br />

Forschungsteams mehrere distinkte kognitive Perspektiven und ’ Approaches‘<br />

aufweisen – und dies auch <strong>für</strong> den Fall, daß das Forschungsteam in einer einzelnen<br />

Disziplin beheimatet ist. Die wechselseitige ’ Befruchtung‘, das ’ Crossing<br />

over‘ von Ideen und Problemlösungen sollte sich in solchen Forschungseinheiten<br />

auf dreierlei Arten vollziehen: erstens über Kommunikations- und Austauschprozesse<br />

mit anderen Forschungseinheiten mit ähnlichen Zielsetzungen; 41<br />

zweitens über ’ verteilte‘ Entscheidungsprozesse innerhalb eines hochdimensionalen,<br />

komplexen Zielgefüges; und drittens über die Rekombination von For-<br />

39 Louis Tornatsky u. Mitchell Fleischer, The Processes of Technological Innovation, Lexington<br />

1990, 105–106.<br />

40 Zur Messung solcher ” komplexen kognitiven Strukturen“ vgl. auch den Artikel von Rogers<br />

J. Hollingsworth u. Ellen Jane Hollingsworth im vorliegenden Heft sowie die Studien des<br />

Autors im Kontext des gemeinsamen Projekts über Nobelpreisträger in der Bio-Medizin.<br />

41 Darin sollte im übrigen ein wichtiger Grund da<strong>für</strong> verborgen sein, warum Unternehmen<br />

mit hohen F E-Ausgaben über vergleichsweise höhere ’ Überlebenschancen‘ verfügen.<br />

80 ÖZG 11.2000.1


schungsaktivitäten mit anderen Arbeitsprozessen und damit auch mit anderen<br />

Denkstilen. Und schließlich läßt sich noch der funktionelle Bedarf nach<br />

’ Ideen-Generatoren‘ wie auch nach Problemlösern‘ anführen, der in solchen<br />

’<br />

innovativen Forschungsteams abgedeckt sein sollte, wollen sie ihre hohen Innovationspotentiale<br />

in vollen Zügen ausschöpfen.<br />

Innovation und Organisation: Eine Verallgemeinerung<br />

Die bisherigen Ausführungen erlauben es, ein generelleres Muster vorzuschlagen,<br />

das die Entstehung des Neuen‘ innerhalb von Organisationen reguliert und<br />

’<br />

steuert. So können nämlich jene drei großen Faktorenkomplexe aus dem Unternehmensbereich<br />

– komplexe Arbeitsteilung, riskante Strategien, organische<br />

’<br />

Strukturen‘ – generalisiert und zunächst auf vier unterschiedliche Organisationsformen<br />

– Unternehmen, wissenschaftliche Institute, Non-Profit-Organisationen<br />

und Bürokratien – ausgeweitet werden. In allen vier Bereichen sorgt, so die<br />

ihrerseits riskante Vermutung, ein spezifisches Zusammenspiel von komplexen<br />

Arbeitsteilungen, von riskanten Strategien wie auch von organischen‘ Organisa-<br />

’<br />

tionskulturen <strong>für</strong> schnelle und vielfältige Innovationen, während eine gegenläufige<br />

Zusammensetzung von einfachen Tätigkeitsprofilen, sicheren‘ und unterdi-<br />

’ ’<br />

mensionierten‘ Strategien42 wie auch von mechanischen‘ Merkmalen der Orga-<br />

’<br />

nisationsstrukturen wie beispielsweise einer hohen Standardisierung wenig Neues<br />

unter der organisatorischen Sonne hervorbringt. Für die nicht-innovatorische<br />

’ Beharrlichkeit‘ und Trägheit‘ von staatlichen Bürokratien scheint dieser inver-<br />

’<br />

se Zusammenhang hinreichend gesichert. Für den Unternehmensbereich wurde<br />

dieser Konnex über eine reichhaltige Palette an empirischen Studien und Ergebnissen<br />

aufgebaut. Für die Wissenschaften wurden ein solcher Zusammenhang<br />

über mehrere empirische Arbeiten und nicht zuletzt über die gemeinsamen Forschungen<br />

des Autors mit Rogers J. Hollingsworth und Ellen Jane Hollingsworth<br />

über die spektakulären bio-medizinischen Durchbrüche im zwanzigsten Jahrhundert<br />

festgestellt. Und die Inklusion von Non-Profit-Organisationen stützt<br />

sich unter anderem auf Studien über ihr Innovationsverhalten. Beispielsweise<br />

förderte eine Organisationsanalyse einer sehr großen <strong>österreichische</strong>n Non-<br />

Profit-Organisation im Innovationsverhalten genau jenes dreifache Faktorengerüst<br />

als Determinanten hoher Innovationsraten zu Tage. 43<br />

42 Als ” unterdimensioniert“ können Strategien dann qualifiziert werden, wenn sie (a) aus<br />

einem einzelnen Leitkriterium wie ’ Effizienz‘ oder ’ Gewinnmaximierung‘ bestehen oder (b) aus<br />

mehreren, aber ’ konservativen‘, ’ no change‘-Kriterien zusammengesetzt sind (z.B. Erhaltung<br />

von Marktanteilen, inkrementale Innovationen, etc.)<br />

43 Vgl. Giuseppe Colangelo, Bernhard Felderer, Maria Hofmarcher u. Karl H. Müller, Evaluationsstudie<br />

Österreichisches Rotes Kreuz, <strong>Wien</strong> 1998.<br />

ÖZG 11.2000.1 81


So wird schließlich ein genereller Überblick zum selbstähnlichen Format‘<br />

’<br />

dieser Faktorengruppe vermittelt, welche sich in scheinbar so unterschiedlichen<br />

Organisationsformen wie wirtschaftlichen Unternehmen, wissenschaftlichen Instituten<br />

oder Non Profit-Einheiten diesseits oder jenseits von Markt und Staat<br />

gleichermaßen manifestiert. Der Ausdruck der Selbstähnlichkeit‘, der ja aus<br />

’<br />

dem Bereich der Theorie dynamischer und komplexer Systeme stammt, 44 wurde<br />

hier nicht zufällig verwendet, denn es kann auf eine Reihe weiterer Merkmale<br />

hingewiesen werden, welche den dynamischen und hochkomplexen Kontext<br />

des Generalthemas von Innovationsprozessen innerhalb der organisierten<br />

’<br />

Welt‘ von Gesellschaften verdeutlichen. Denn neben der Selbstähnlichkeit‘, der<br />

’<br />

Wiederholung eines bestimmten Musters‘ oder Patterns‘ auf unterschiedlichen<br />

’ ’<br />

Ebenen, zeigen organisatorische Innovationen im Zeitablauf auch eine Reihe<br />

weiterer typischer komplexer und dynamischer Merkmale. Dazu gehören unter<br />

anderem<br />

’ Pfadabhängigkeiten‘ und Lock ins‘ – die praktische Unmöglichkeit von<br />

’<br />

Organisationen, einmal eingeschlagene Pfade‘ wieder zu verlassen und reversi-<br />

’<br />

bel zu gestalten;<br />

’ Sensitivitäten von Anfangsbedingungen‘ – die unter Umständen stark divergierenden<br />

Entwicklungspfade einzelner Organisationen bei scheinbar nahezu<br />

gleichen Startwerten‘;<br />

’<br />

’ Nicht-Linearitäten‘ – die mitunter ’ abrupten‘ und sprunghaften‘ Verände-<br />

’<br />

rungen innerhalb von Organisationen;<br />

’ Bewegungen fernab vom Gleichgewicht‘, der Pfeil‘ des organisatorischen<br />

’<br />

Innovationsverhaltens in Richtung des Aufbaus von mehr organisationsinterner<br />

Komplexität.<br />

Diese dynamische Eigenschaftspalette ließe sich noch um eine Reihe weiterer<br />

Merkmale vergrößern. 45 Aber mit und in solchen Charakteristika vollzogen<br />

sich in der Vergangenheit und gehen gegenwärtig wie auch in weiterer Zukunft<br />

jene Prozesse vor sich, die unter dem Generaltitel der Innovation von Organi-<br />

’<br />

sationen wie der Organisation von Innovationen‘ zusammengefaßt wurden.<br />

44 Vgl. zum Thema ’ Selbstähnlichkeit‘ Heinz-Otto Peitgen, Hartmut Jürgens u. Dietmar<br />

Saupe, Bausteine des Chaos. Fraktale, Berlin u.a. 1992, sowie Predrag Cvitanovic, Universality<br />

in Chaos, 2. Aufl., Bristol 1989.<br />

45 Vgl. dazu als Übersicht auch John H. Holland, The Global Economy as an Adaptive<br />

Process, in: Philip W. Anderson, Kenneth J. Arrow u. D. Pines, The Economy as an Evolving<br />

Complex System, Redwood City u.a. 1988, 117–124; ders., Keith J. Holyoak, Richard<br />

E. Nisbett u. Paul R. Thagard, Induction. Processes of Inference, Learning, and Discovery,<br />

Cambridge 1989, ders., Adaptation in Natural and Artificial Systems. An Introductory<br />

Analysis with Applications to Biology, Control, and Artificial Intelligence, Cambridge 1992,<br />

sowie ders., Hidden Order. How Adaptation Builds Complexity, Reading u.a. 1995.<br />

82 ÖZG 11.2000.1


Organisatorische Formen<br />

Schon in der Einleitung war von zwei großen Bedeutungsfeldern eines Artikels<br />

über ’ organisatorische Innovationen‘ die Rede, die einmal als interne Perspektive<br />

nach den innovativen Schlüsselfaktoren innerhalb bestehender Organisationen,<br />

einmal als Frage nach dem Wandel von Organisationsformen selbst auftritt.<br />

Und genau in dieser zweiten Sichtweise kann eine gewichtige weiterführende<br />

Problemstellung aufgerollt werden.<br />

Da wäre nämlich die Frage danach zu stellen, wie viele unterschiedliche<br />

’ Formen‘46 sich innerhalb der einzelnen organisationsökologischen ’ Nischen‘ versammeln.<br />

Und obschon eine rege Diskussion um die komparativen Vor- wie<br />

Nachteile von ’ Form-Veränderungen‘ und ihre Effekte auf die nachhaltige Überlebensfähigkeit<br />

von einzelnen Organisationen besteht, 47 lassen sich sehr wenige<br />

empirische Studien zu diesem Themenkomplex benennen. 48 Aber selbst die vorhandenen<br />

Arbeiten zum ’ Formwandel‘ stellten sich dem Thema nicht in jener<br />

Ausführlichkeit und Breite, die einem fundamentalen Wechsel von Technologien,<br />

Strukturen oder Kontrollen angemessen wäre.<br />

Tabelle 1: Die Organisation der Innovation in innovativen Organisationen: Drei<br />

Faktorgruppen, Dimensionen und mögliche Indikatoren<br />

A. Unternehmen<br />

I. Komplexität der Tätigkeiten: Vielfalt: (1) die Vielzahl von Unternehmens-Bereichen<br />

mit einer heterogenen Aufgaben- oder Kontrollpalette, (2) Anteile von Personen mit<br />

reichhaltigen Berufserfahrungen aus anderen Feldern; Wissensbasis: (1) ’ Tiefe‘ und<br />

(2) ’ Weite‘ an Expertise in jedem der relevanten Produktions- oder Service-Felder.<br />

Integrierte Aktivitäten und Operationen zwischen unternehmensspezifischen Bereichen:<br />

(1) die Häufigkeit und die Intensität von Interaktionen, (2) Gemeinsame Produktions-<br />

oder Service-Aktivitäten, (3) Vorhandensein einer interaktiven, kommunikationsfreundlichen<br />

’ Unternehmenskultur‘.<br />

46 Innerhalb eines der wichtigsten organisationssoziologischen Paradigmata, nämlich der Populationsökologie,<br />

werden Formen als ’ Kombinationen‘ von Technologie, Struktur, Kontrollmechanismen<br />

und Marktnischen definiert, vgl. dazu insbesondere Michel Hannan u. John<br />

Freeman, Organizational Ecology, Cambridge 1989, sowie Michael Hannan u. Glenn Carroll,<br />

Dynamics of Organizational Populations. Density, Legitimation, and Competition, New York<br />

1992.<br />

47 Vgl. dazu vor allem Michael Hannan u. John Freeman, Structural Inertia and Organizational<br />

Change, in: American Sociological Review 49 (1984), 149–164.<br />

48 Vgl. dazu u.a. Joel A. C. Baum, Inertia and Adaptive Patterns in the Dynamics of Organizational<br />

Change, in: Academy of Management Best Papers Proceedings (1990), 165–169;<br />

Dawn Kelly u. Terry Amburgey, Academy of Management Journal (September 1991), 591–612<br />

oder Jitendra V. Singh, R. House u. D. Tucker, Organizational Change and Organizational<br />

Mortality, in: Administrative Science Quarterly 31 (1986), 587–611.<br />

ÖZG 11.2000.1 83


II. Riskante, komplexe Strategien zur ’ Integration‘ unternehmerischer Vielfalt:<br />

(1) Strategische Vision zur Integration unterschiedlicher Unternehmens-Felder wie<br />

auch zur Formierung und ’ Besetzung‘ von Produkt- oder Service-Nischen, (2) Fähigkeit<br />

zur Sicherung ausreichender finanzieller Mittel <strong>für</strong> die Besetzung solcher Nischen,<br />

(3) Fähigkeit zur Rekrutierung eines hochqualifizierten, aber hinreichend diversifizierten<br />

Personals mit Kenntnis oder Zugang zum state of the art im relevanten<br />

Produktions- oder Servicebereich, (4) die Fähigkeit zu Adaptionen und Fehler-<br />

Korrekturen im Kontext einer innovationsfreundlichen, unterstützenden ’ Unternehmenskultur‘.<br />

III. ’ Organische Struktur‘ der Unternehmungen:<br />

Geringe Differenzierung: (1) Kleine Anzahl von Unternehmens-Abteilungen, (2) Beschränkte<br />

Autonomie auf der Ebene von Unternehmens-Abteilungen.<br />

Wenig hierarchische und bürokratische Koordination: (1) Geringe Standardisierung<br />

von Regeln und Abläufen, (2) zentrale Kontrollen von Budget- und Personalmanagement.<br />

Qualität: (1) Effiziente Qualitätskontrollen innerhalb von Unternehmen, (2) Externe<br />

Qualitätskontrollen und Schnittstellen zur weiteren Umgebung.<br />

B. Wissenschaftliche Institute 49<br />

I. Komplexität der Tätigkeiten: Vielfalt: (1) unterschiedliche Disziplinen und Sub-<br />

Disziplinen, (2) Anteile von Personen in einer Disziplin mit Forschungserfahrungen<br />

in anderen Disziplinen und/oder Paradigmen; Wissensbasis: Tiefe (1) und (2) ’ Weite‘<br />

an Expertise in jedem der Wissenschaftsfelder.<br />

Interdisziplinäre und integrierte Aktivitäten zwischen einzelnen Komponenten von<br />

Instituten: (1) die Häufigkeit und die Intensität von Interaktionen, (2) gemeinsame<br />

Forschungstätigkeiten (z.B. gemeinsame Publikationen von Artikeln), (3) Vorhandensein<br />

von ’ sozialen Räumen‘, (4) gemeinsame Mahlzeiten und Freizeitaktivitäten.<br />

II. Riskante, komplexe Strategien: ’ Leadership‘, die Fähigkeit zur Integration wissenschaftlicher<br />

Vielfalt: (1) Strategische Vision zur Integration unterschiedlicher Gebiete<br />

wie auch zur Formierung von Schwerpunktthemen, (2) Fähigkeit zur Sicherung ausreichender<br />

finanzieller Mittel <strong>für</strong> diese Schwerpunkte, (3) Fähigkeit zur Rekrutierung<br />

eines hochqualifizierten, aber hinreichend diversen Personals, so daß die einzelnen<br />

Forschungsgruppen ständig über den momentanen Stand an signifikanten und potentiell<br />

lösbaren Problemfeldern informiert sind, (4) die Fähigkeit zu harter Kritik im<br />

Kontext einer innovationsfreundlichen, unterstützenden Umgebung.<br />

III. ’ Organische Struktur‘ der Instituts-Organisation: Geringe Differenzierung: (1) Geringe<br />

Anzahl von Abteilungen und anderen Einheiten, (2) Beschränkte Autonomie auf<br />

der Ebene von Abteilungen oder anderen Untereinheiten.<br />

Wenig hierarchische und bürokratische Koordination: (1) Geringe Standardisierung<br />

von Regeln und Abläufen, (2) zentrale Kontrollen über Budget und Personal.<br />

Hohe Qualität: (1) Hoher Anteil von Wissenschaftlern an den landesweit angesehensten<br />

Wissenschaftsakademien, (2) hohe Forschungsmittel pro Wissenschaftler.<br />

49 Vgl. dazu ausführlicher den Artikel von Rogers J. Hollingsworth u. Ellen Jane Hollingsworth<br />

im vorliegenden Heft.<br />

84 ÖZG 11.2000.1


C. Non Profit-Organisationen<br />

I. Komplexität der Tätigkeiten: Vielfalt: (1) die Vielzahl von NP-Abteilungen mit<br />

einer heterogenen Aufgaben- oder Kontrollpalette, (2) Anteile von Personen mit<br />

reichhaltigen Berufserfahrungen aus anderen Feldern; Wissensbasis: (1) ’ Tiefe‘ und<br />

(2) ’ Weite‘ an Expertise in jedem der relevanten NP-Service-Felder.<br />

Integrierte Aktivitäten und Operationen zwischen NP-Abteilungen: (1) die Häufigkeit<br />

und die Intensität von Interaktionen, (2) Gemeinsame Service- und genereller: NP-<br />

Aktivitäten, (3) Vorhandensein einer interaktiven, kommunikationsfreundlichen NP-<br />

Organisationskultur.<br />

II. Riskante, komplexe Strategien zur Integration der bestehenden Vielfalt: (1) Strategische<br />

Vision zur Integration unterschiedlicher Gebiete wie auch zur Formierung<br />

und ’ Besetzung‘ von NP-Service-Nischen, (2) Fähigkeit zur Sicherung ausreichender<br />

finanzieller Mittel <strong>für</strong> die Besetzung solcher Nischen, (3) Fähigkeit zur Rekrutierung<br />

eines hochqualifizierten, aber hinreichend diversifizierten Personals, (4) die Fähigkeit<br />

zu Adaptionen und Fehler-Korrekturen im Kontext einer innovationsfreundlichen NP-<br />

Organisationskultur.<br />

III. ’ Organische Struktur‘ der Non Profit-Organisation:<br />

Differenzierung: (1) Anzahl von NP-Abteilungen, (2) Beschränkte Autonomie auf der<br />

Ebene von NP-Abteilungen.<br />

Wenig hierarchische und bürokratische Koordination: (1) Geringe Standardisierung<br />

von Regeln und Abläufen, (2) zentrale Kontrollen über Budget- und Personalmanagement.<br />

Qualität: (1) Effiziente Qualitätskontrollen innerhalb der NP-Organisation, (2) externe<br />

Qualitätskontrollen und Schnittstellen zur weiteren Umgebung.<br />

Der hauptsächliche Fokus der Studien zentrierte sich um die Frage nach dem<br />

Wechsel in den Strategien, die aber einen vergleichsweise untergeordneten Stellenwert<br />

einnimmt. Und das wahrscheinlich <strong>für</strong> die Gegenwart interessanteste,<br />

aber noch völlig ungelöste wie unentschiedene Problem dabei lautet, ob sich<br />

Organisationen form-gemäß von einem mechanischen‘ hin zu einem organi-<br />

’ ’<br />

schen‘ Arrangement verändern müssen, wenn sie das neuartige Spektrum an<br />

fortgeschrittenen Produktions- und Servicetechnologien in vollem Umfang nutzen<br />

wollen. Solch generelle Form-Wechsel betreffen die Kontrolle und Koordination<br />

von Teams, die Einführung von interorganisatorischen Feedbacks‘, die<br />

’<br />

Schaffung flacher Hierarchien‘, die Ermöglichung von horizontalen Kommuni-<br />

’<br />

kationen und vieles andere mehr.<br />

Wie immer die Frage nach der Vielheit von organisatorischen Formen analytisch<br />

aufbereitet und empirisch gelöst wird, es bleibt noch eine zweite fundamentale<br />

und offene Herausforderung <strong>für</strong> die Innovation von Organisationen wie<br />

’<br />

die Organisation von Innovationen‘ bestehen. Und dieser zweite Bereich resultiert<br />

daraus, daß immer mehr Organisationen sich auch untereinander vernetzen<br />

und vernetzen müssen, um in einer Welt globalen und rapiden Wandels präsent<br />

zu bleiben. Solche Vernetzungen können die Form von Informations-Netzen‘,<br />

’<br />

’ Joint Ventures‘, ’ Forschungskonsortien‘ oder systematischen Netzwerken‘ an-<br />

’<br />

ÖZG 11.2000.1 85


nehmen. Catherine Alter und der Autor50 unterschieden insgesamt zwölf systematische<br />

Formen organisatorischer Vernetzungen – und wahrscheinlich ließen<br />

sich noch viel mehr solcher Formen definieren, wenn man noch die Arten von<br />

bestehenden Organisationsformen und die Art und Weise ihrer Organisation –<br />

’ mechanisch‘ oder organisch‘ – in dieser Typologie berücksichtigte. Diese Er-<br />

’<br />

weiterungen in Richtung längerfristiger Organisationsvernetzungen‘ werden im<br />

’<br />

Rahmen des populations-ökologischen Paradigmas nicht vorgenommen – hier<br />

scheint selbst die Idee von symbiotischen Beziehungen‘ zwischen Organisatio-<br />

’<br />

nen aus dem Blickfeld gewichen zu sein. Aber diese Netzwerk- Abhängigkeiten<br />

bedeuten immerhin, daß in den post-industriellen Gesellschaften der Gegenwart<br />

nicht einmal organische Formen und Kulturen innerhalb von Organisationen<br />

hinreichen, um einen kontinuierlichen Strom an Innovationen zu generieren. Es<br />

bedarf auch der passenden Netzwerke mit der Umwelt, um den notwendigen<br />

Innovationsstrom innerhalb von Organisationen nachhaltig zu gewährleisten.<br />

Abschluß<br />

Mit dieser Ausschau in zukünftige organisationssoziologische Formen-Lehren‘<br />

’ 51<br />

und mit der gegenwartsbetonten Generalisierung einer selbstähnlichen‘ Dreier-<br />

’<br />

Faktorengruppe von arbeitsteiliger Komplexität‘, riskanten Strategien‘ und<br />

’ ’<br />

’ organischen Organisationskulturen‘ sollten, gestützt auf eine große Zahl an<br />

Studien aus der Organisations- und der Managementliteratur aber auch aus der<br />

Wissenschaftssoziologie, jene Wegweiser in Richtung verallgemeinerter Schlüsselkomponenten<br />

identifiziert worden sein, welche das Phänomen des Neuen‘<br />

’<br />

innerhalb der organisierten Welt aus der Ecke der völligen Unergründlichkeit<br />

bewegt und in einen wohldefinierten Bereich an normalwissenschaftlichen Erklärbarkeiten<br />

plaziert. Zwar wird ein unerfindlicher kreativer Rest‘ in alle Zu-<br />

’<br />

kunft bestehen bleiben – und speziell der Geist des Widerspruchs‘ wird über<br />

’<br />

den Wassern und anderswo noch immer wehen, wo und wie er will. Aber mag<br />

auch dieser unhintergehbare Rest‘ bestehen, über so viele andere Bereiche jen-<br />

’<br />

seits dieses Rests muß nicht geschwiegen werden. Und weil man so viel vom<br />

organisatorisch Neuen reden kann, wäre Schweigen nachgerade die gegenproduktivste<br />

Strategie.<br />

50 Catherine Alter u. Jerald Hage, Organizations Working Together, Newbury Park u.a.<br />

1993.<br />

51 In diesem Sinne steht übrigens eine ’ Axiomatik‘ – nämlich die (organisatorischen) ’ Gesetze<br />

der Form‘ (George Spencer-Brown) – noch weitestgehend aus.<br />

86 ÖZG 11.2000.1


Karl H. Müller<br />

Wie Neues entsteht<br />

Wem es gelang, den Knoten zu lösen, mit dem die Deichsel von König Gordias Streitwagen<br />

am Joch befestigt war, der würde, so das Orakel, Herrscher der Welt werden.<br />

Es wurden zwei Versionen erwähnt, wie Alexander der Große das getan haben soll.<br />

Natürlich die übliche: daß er ihn mit dem Schwert durchschlagen hat ... Der anderen<br />

zufolge hat er die Stange, die durch Joch und Deichsel führte, aus dem Knoten<br />

herausgezogen ... Er hat die Deichsel und das Joch voneinander getrennt, ohne den<br />

Knoten anzurühren: der fiel anschließend von allein auseinander.<br />

Harry Mulisch, Die Prozedur<br />

In den meisten der bisherigen Darstellungsweisen rückt das Phänomen der Neuheit<br />

in die Nähe jenes ’ blinden Flecks‘, 1 von dem nicht gesehen wird, daß man<br />

ihn nicht sieht: Die Objekte der Analysen scheinen immer schon so zureichend<br />

vorhanden, daß ihr einstiges, gegenwärtiges oder zukünftiges ’ Werden‘ nicht<br />

weiter beunruhigt. Was in diesem Artikel entwickelt werden soll, das liegt in<br />

einem allgemeineren ’ Rahmen‘ und neuartigen Heuristiken, Prozesse der ’ Entstehung<br />

des Neuen‘ in unterschiedlichen Räumen und Zeiten, solchen aus der<br />

∗<br />

Vgl. als gleichnamige Referenz die Artikelsammlung von Thomas S. Kuhn, Die Entstehung<br />

des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 1978.<br />

1 Ein blinder Fleck‘ wird allerdings überhaupt nur dann konstatierbar, wenn es auch ein<br />

’<br />

zumindest kleines sehendes Umfeld‘ gäbe. Dazu zählen heute noch lesenswerte Pionierarbei-<br />

’<br />

ten wie beispielsweise Norwood Russel Hanson, Patterns of Discovery. An Inquiry into the<br />

Conceptual Foundations of Science, London 1965. Zu den sehenswerten‘ Ausnahmen gehören<br />

’<br />

aber auch jene Labor-Studien‘, welche einzelne Wissenschaftsgruppierungen bei der Entste-<br />

’ ’<br />

hung des Neuen‘ begleiten; vgl. dazu besonders Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von<br />

Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt am Main 1984 (inklusive<br />

des illustrativen Leit-Cartoons, nämlich eines einzelnen Wissenschaftlers und einer Kette von<br />

’ Beobachtern‘, 5) oder dies., Epistemic Cultures. How the Sciences Make Knowledge, Cambridge,<br />

MA. 1999. Ebenfalls diesseits des Neuen‘ bewegen sich jene Analysen, die sich um<br />

’<br />

sehr langfristige zukünftige Schwerpunktverlagerungen von Wissenslandschaften bemühen,<br />

vgl. dazu u. a. Tierry Gaudin, 2100. Specie’s Odyssey, Montier 1995. Und auch direkt wie<br />

indirekt dem Neuem‘ erweisen sich jene Richtungen verbunden, die sich mit den Bereichen<br />

’<br />

von Heuristiken‘ und Wissens-Management‘ beschäftigen wie beispielsweise Robert Scott<br />

’ ’<br />

Root-Bernstein, Discovering, Cambridge MA. 1989; Herbert A. Simon, Models of Discovery<br />

and Other Topics in the Methods of Science, Dordrecht u. a. 1977 sowie Helmut Willke,<br />

Systemisches Wissensmanagement, Stuttgart 1998.<br />

ÖZG 11.2000.1 87


Vergangenheit wie auch in der Gegenwart, kognitiv aufregend, anregend und<br />

jedenfalls: hinreichend ’ beunruhigend‘ zu ’ arrangieren‘ beziehungsweise zu ’ rekombinieren‘.<br />

Pointiert zugespitzt soll sich in den nächsten Seiten so etwas wie<br />

eine ’ Übersichtlichkeit des Neuen‘ ausbreiten, die auch ihre zukunftsgewandten<br />

Aspekte kennt. Am Ende müßte sich ein Spektrum an tendenziell verbesserten<br />

Analysewegen versammelt finden, die Entstehung des ’ seinerzeitig Neuen‘ zu<br />

rekonstruieren, wie die Konstruktion des ’ derzeitig noch Ungekannten‘ systematisch<br />

zu verbessern. Zwar werden sich trotz alledem einige prinzipielle Limitationen<br />

finden, welche diese Forschungswege notwendigerweise begrenzen;<br />

ein unhintergehbarer Rest an ’ Offenheit‘, er bleibt. Aber die Forschungswege<br />

bis hin zu jenen prinzipiellen Grenzen, Schranken und Barrieren, sie sollten im<br />

weiteren deutlich verbreitet und ausgeweitet werden. 2<br />

Facetten des Neuen<br />

Seinen Anfang findet diese erstrebte Verbreiterung an ’ Neuheitsanalysen‘ mit<br />

den Kernbegriffen des ’ Neuen‘ oder der ’ Neuheit‘, die sich zudem in mancherlei<br />

begrifflichen Variationen ergehen und von der ’ Emergenz‘ 3 und vom plötzlichen<br />

’ Aufblitzen‘ und ’ Fulgurieren‘ 4 bis hin zu den spontanen Akten der ’ Kreativität‘<br />

wie auch des schöpferisch zerstörerischen Wirkens von ’ Innovationen‘ reichen. 5<br />

Der Begriff des ’ Neuen‘ kann unbeschadet seiner mitunter ’ hypertrophen‘<br />

und ’ spiritualistischen‘ Konnotationen 6 grundsätzlich wohl zweierlei bedeuten.<br />

2 Daß der vorliegende Artikel sich durchaus in schwierigen Gewässern‘ und nicht gerade<br />

’<br />

innerhalb eines Mainstream‘ bewegt, mag auch das nachstehende Zitat verdeutlichen: Denn<br />

’<br />

bei der Frage nach der Entstehung des Neuen‘ braucht man nur die Schwierigkeiten (be-<br />

’ ”<br />

denken), die unserem ohnedies nicht sehr ausgeprägten Verständnis <strong>für</strong> Qualitätswandel und<br />

Phasenübergänge verstärkt erwachsen; die Probleme mit den missing links‘, dem Werden von<br />

’<br />

Leben, Bewußtsein und Denken, jene Denaturierung unserer kindlichen Frage: wieviel Körner<br />

machen einen Haufen Man denke an das Zirkularitätsproblem, da Eigenschaften eine Klasse<br />

bestimmen sollen, die Klasse aber ihre Eigenschaften. Man bedenke nur das Definierbarkeitsund<br />

Begriffsschärfe-Ideal, das zum Wissenschaftsideal der formalisierten Systeme, der Logik<br />

führte.“ Rupert Riedl, Begriff und Welt. Biologische Grundlagen des Erkennens und Begreifens,<br />

Berlin u. Hamburg 1987, 101.<br />

3 Zu diesem Begriff vgl. hier nur John H. Holland, Emergence. From Chaos to Order, Reading,<br />

MA. 1998; und als Hinweis <strong>für</strong> die beschränkte Relevanz des Emergenzkonzepts innerhalb<br />

der sozialen Welt‘ vgl. u. a. Renate Mayntz, Individuelles Handeln und gesellschaftliche<br />

’<br />

Ereignisse: Zur Mikro-Makro-Problematik in den Sozialwissenschaften, Köln 1999.<br />

4 Zu dieser Variation vgl. speziell Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer<br />

Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München u. Zürich 1973, 48 ff.<br />

5 Für die weiteren Darstellungen sollen die Ausdrücke Neuheit‘, Neuerung‘, Innovation‘,<br />

’ ’ ’<br />

’ Kreativität‘ oder kreative Leistung‘ als äquivalent verstanden werden. Einzig der Begriff<br />

’<br />

der Emergenz‘ soll in einer speziellen Bedeutungsnuance verstanden sein, nämlich im Sinne<br />

’<br />

einer prinzipiellen Nicht-Vorhersehbarkeit.<br />

6 Zu derartigen mittlerweile fast klassischen‘ Gunst-Stücken‘ vgl. u. a. Peter A. Corning,<br />

’ ’<br />

88 ÖZG 11.2000.1


Für den ersten Fall wird es typisch, daß vor dem Hintergrund einer Wissensbasis<br />

Ψ ein möglichst allgemein gefaßtes ’ Ensemble‘ oder ’ System‘ σ innerhalb eines<br />

Zeitintervalls ∆t einen Wechsel in seinen Strukturen Ξ – seinen Eigenschaften,<br />

Relationen oder Prozessen – durchläuft: Etwas Neues ɛσ ist zum Zeitpunkt<br />

t ′ vorhanden, das innerhalb der bisherigen Eigenschaften, Relationen, Komponenten<br />

oder Umweltbeziehungen – ausgedrückt als Ωσ(t) – nicht gegeben<br />

war. Da<strong>für</strong> werden sinnvollerweise die folgenden zwei Bedingungen erfüllt sein<br />

müssen: 7<br />

Ξσ,t �= Ξσ,t ′(t′ > t) |Ψt<br />

ɛσ(t, t ′ ) = ∪ Ωσ(τ) − Ωσ(t) |Ψt<br />

t < τ ≤ t ′<br />

’ Neuheit‘ in dieser rundum sehr ähnlich beschriebenen Form besitzt aber neben<br />

dem genetischen‘ Bedeutungsfeld, dem Strukturwandel in der Zeit, noch eine<br />

’<br />

weitere gleich gewichtige Gebrauchsweise, die sehr anschaulich von Stephen J.<br />

Gould auf ihre Begriffe gebracht wurde. Es ist dies die Sichtweise einer Welt,<br />

constructed not as a smooth and seamless continuum, permitting simple extrapolation<br />

from the lowest level to the highest, but as a series of ascending levels, each bound<br />

to the one below it in some ways and independent in others. Discontinuities and<br />

seams characterize the transitions; ’ emergent‘ features not implicit in the operations<br />

of processes at lower levels, may control events at higher levels. 8<br />

In diesem Zitat wird auf einen intimen Zusammenhang von ’ Neuheit‘ und ’ Irreduzibilität‘<br />

oder ’ Nicht-Reduzierbarkeit‘ verwiesen. Und systematischer betrachtet<br />

läßt sich neben dem ’ Strukturwandel in der Zeit‘ auch ein zeitunabhängiger<br />

’ Strukturwandel in den Niveaus‘ aufbauen, der mit dem Label<br />

’ Neuheit2‘ versehen werden kann. Neuheit2 kommt, so scheint es, im Bereich<br />

komplexer und stratifizierter Systeme wie von selbst zustande; dann nämlich,<br />

wenn solche Hierarchien und Stufen sich nicht mehr sinnvollerweise auf eine<br />

einzige ’ basale‘ Ebene reduzieren lassen. In der zweiten Lesart <strong>für</strong> Neues wird<br />

somit von einem bestimmten Darstellungsniveau l’ <strong>für</strong> ein mehrstufiges Ensemble<br />

oder System σ ausgegangen, dessen Relationen, Eigenschaften, Prozesse<br />

und Umweltbeziehungen Ω nicht über eine einzige ’ Referenzebene‘ l* dar-<br />

The Synergism Hypothesis. A Theory of Progressive Evolution, New York 1983 sowie Ken<br />

Wilber, Hg., Das holografische Weltbild. Wissenschaft und Forschung auf dem Weg zu einem<br />

ganzheitlichen Weltverständnis. Erkenntnis der Avantgarde der Naturwissenschaften, Bern<br />

1986.<br />

7 Zu dieser speziellen Definition wie auch zum allgemeinen ’ systemischen‘ Hintergrund im<br />

vorliegenden Artikel vgl. insbesondere Mario Bunge, Treatise on Basic Philosophy. Ontology I:<br />

The Furniture of the World, Dordrecht u. a. 1977 sowie ders., Treatise on Basic Philosophy.<br />

Ontology II: A World of Systems, Dordrecht u. a. 1979.<br />

8 Stephen J. Gould, Is a New and General Theory of Evolution Emerging, in: J. Maynard<br />

Smith, Hg., Evolution Now. A Century after Darwin, London-Basingstoke 1982, 132.<br />

ÖZG 11.2000.1 89


gestellt werden können, sondern vielfältiger Beschreibungsniveaus mit jeweils<br />

neuen Aspekten bedarf.<br />

Ξσ,l ∗ �= Ξσ,l ′(l′ > l ∗ ) |Ψt<br />

ɛ σ(l,l ′ ) = ∪ Ωσ(τ) − Ωσ(l ∗ ) |Ψt<br />

l ∗ < τ ≤ l ′<br />

Im Prinzip können ’ neue‘ Eigenschaften oder Prozesse über drei Hauptveränderungen<br />

hervorgerufen werden: über intra- oder interstrukturelle Veränderungen<br />

der ’ Komponenten‘ oder der ’ Bausteine‘ solcher Ensembles, über deren<br />

zahlenmäßige Zu- oder Abnahmen sowie über Veränderungen mit oder in der<br />

Umwelt, welche zu anderen Verbindungen führen. Kurz, jedes ’ Anderswerden‘<br />

oder ’ Andersmachen‘ in der internen Komposition von Ensembles oder Systemen,<br />

in deren Zusammensetzung untereinander sowie in den Beziehungen mit<br />

der Umwelt führen dazu, daß von ’ Neuem‘ geredet werden kann. 9<br />

Kontexte des Neuen<br />

Mit den bisherigen Definitionsvorschlägen <strong>für</strong> Neues sind implizit einige weitere<br />

Charakteristika oder hintergründigeren Aspekte verbunden, die kurz erläutert<br />

werden sollen.<br />

Die ’ Wissensabhängigkeit‘ des Neuen: Die erste Besonderheit betrifft die<br />

Abhängigkeit des Neuen von den jeweils zuhandenen Wissensbasen. Viel an<br />

Neuem kann nur deswegen auftreten, weil sich die Beschreibungen von Ensembles<br />

und Strukturen im Lauf der Zeiten verschoben und in der Regel erweitert<br />

und vervielfältigt haben. Vielleicht klingt es zu trivial, um eigens betont zu werden:<br />

Doch verdanken sich viele ’ Neuheiten‘ und ’ spektakulären Durchbrüche‘<br />

in der Molekularbiologie der letzten fünfzig Jahre der Verankerung einer neuartigen<br />

Ebene mit neuen ’ Bausteinen‘ innerhalb der szientifischen Wisensbasen,<br />

nämlich der Entdeckung/Erfindung der vier Basen Adenin, Cytosin, Guanin<br />

9 Es sei hier auf die Schumpetersche Umschreibung von Innovationen hingewiesen, der von<br />

Innovationen als jedem ”’ Andersmachen‘ im Gesamtbereich des Wirtschaftslebens“ spricht,<br />

vgl. Joseph A. Schumpeter, Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische<br />

Analyse des kapitalistischen Prozesses, Bd. 1, Göttingen 1961, 91. Einzig eingeschränkt <strong>für</strong><br />

den Unternehmensbereich kann dieses ’ Andersmachen‘ entlang der folgenden Bereiche angesiedelt<br />

sein (vgl. dazu auch Helga Nowotny, The Dynamics of Innovation. The Multiplicity<br />

of the New, Budapest 1995): (1) entlang der ’ Input-Schnittstellen‘ (neue Rohstoffe, Vorprodukte,<br />

Beratungen ...); (2) innerhalb von Unternehmen (neue Organisationen, neue Prozeß-<br />

Technologien, neue IuK-Infrastrukturen, etc.); (3) entlang der ’ Output-Schnittstellen‘ (neue<br />

Produkte, neue Marketing- und Kunden-Netzwerke, etc.); (4) innerhalb von Unternehmens-<br />

Netzwerken (neue Gruppenbildungen, ’ strategische Allianzen‘, ’ Joint Ventures‘, etc.); (5) zwischen<br />

Unternehmens-Netzwerken und Umgebung (neue Netzwerke Wissenschaft-Wirtschaft,<br />

neue staatliche Regulationen oder Deregulationen, neue Konfigurationen in der ’ Triple-Helix‘,<br />

etc.<br />

90 ÖZG 11.2000.1


und Thymin und ihres Doppelhelix-Arrangements. Ohne derartige, erst nach<br />

und nach verankerte und mittlerweile fest eingebettete Bausteine‘<br />

’ 10 hätten sich<br />

viele der großen bio-medizinischen Durchbrüche“, von denen im Artikel der<br />

”<br />

beiden Hollingsworths berichtet wird, nicht als Neuheiten‘ ausbreiten können.<br />

’<br />

Und genau diese Bausteine und deren Grundarrangements waren zu anderen<br />

Zeiten genau genommen unbekannt und unspezifisch reine Spekulation.‘ Der<br />

’<br />

Redeweisen von kleinsten Erbträgern‘ oder kleinsten atomaren wie subatoma-<br />

’<br />

ren Bausteinen‘, von Bausteinen‘ hinter diesen Bausteinen oder von String-<br />

’ ’ ’<br />

Texturen‘ im Innersten, hätte sich vor rund zweihundert Jahren, ja selbst in<br />

Paris, London, Oxford oder <strong>Wien</strong> um 1900, nie und nimmer über den Status<br />

purer Science Fiction‘ hinausbewegt.<br />

’ 11<br />

Hintergrund des ’ bereits Gewußten‘, das den Horizont des Neuen begrenzt; wie<br />

das Meer die Konturen des Festlands. 12<br />

Die ’ Beobachterabhängigkeit‘ des Neuen: ’ Neuheit‘ besitzt aber weiters,<br />

worauf schon vor langer Zeit Carl Gustav Hempel hingewiesen hat 13 , einen<br />

10 Über das komplizierte ’ Werden‘ solcher späteren ’ Fix-Bausteine‘ vgl. den so interessanten<br />

Cartoon bei Bruno Latour über die ” historische Kontextualisierung“ einer mittlerweile<br />

unumstößlichen ’ harten Tatsache‘. Denn die vollzieht sich zunächst vom ” immerwährend subjektungebundenen<br />

kognitiven Öffentlichkeitsgut“ – ” The DNA molecule has the shape of a<br />

double helix“ – bis hin zur ’ Subjektivierung‘ dieses Sachverhalts und zum Zeitpunkt seiner<br />

erstmaligen Entstehung und seines weiteren Kontextes: ” If it had the shape of a double helix“,<br />

” Maybe it is a triple helix“, ” It is not a helix at all“, ” Why don’t you guys do something<br />

serious “ Und von hier aus wandert dieser Satz langsam, unter Vernachlässigung seiner damaligen<br />

Alternativen ( ” Watson and Crick have shown that the DNA molecule has the shape<br />

of a double helix“) herauf bis zu seiner festgefügten Verankerung im gegenwärtig zuhandenen<br />

Wissenskorpus. Zu finden ist diese ’ Re-Kontextualisierung‘ und ihr weitergehender Verlust<br />

in Bruno Latour, Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society,<br />

Cambridge 1987, 14.<br />

11 Vgl. die interessante Zusammenfassung über den unerwarteten wie unerwartbaren Charakter<br />

des wissenschaftlich Neuen am Beispiel des ” Wissenskorpus um 1900“ bei Sir John<br />

Maddox, The Unexpected Science to Come, in: Scientific American 12, 1999.<br />

12 Im übrigen mag der Hinweis intreressant sein, daß sich gegenwärtig drei grundverschiedene,<br />

konträre ’ Grundintuitionen‘ zum Verhältnis zwischen ’ Meer‘ und ’ Festland‘ beziehungsweise<br />

’ Altem‘ und ’ Neuem‘ oder ’ Gewußtem‘ und ’ Nicht-Gewußtem‘ finden. Auf der einen Seite<br />

steht die Annahme eines über die Jahrhunderte weitgehend festgelegten ’ Landbereichs‘, in<br />

dem keine spektakulären Zuwächse mehr erwartet werden können: Das Meer hat seine Größe<br />

und Wildheit und Weite verloren – so die ’ Vision‘ bei John Horgan, The End of Science.<br />

Facing the Limits of Knowledge in the Twilight of the Scientific Age, New York 1996. In der<br />

Mitte findet sich ein zyklisches Muster an Land-Meer-Relationen mit Phasen eines scheinbar<br />

endlosen Meeres, wie offener Horizonte und Perioden großen Landes und geschlossener Perspektiven<br />

– so das Grundmuster bei Nicholas Rescher in: ders., Wissenschaftlicher Fortschritt.<br />

Eine Studie über die Ökonomie der Forschung, Berlin 1982. Und am anderen Ende kann die<br />

gegenläufige ’ systemische‘ Vermutung verortet werden, daß jede erfolgreiche ’ Landnahme‘ das<br />

Meer nur umso größer erscheinen läßt: Mit jedem ’ Wissen‘ wächst auch das ’ Nicht-Wissen‘ –<br />

aber dies immer etwas mehr und stärker.<br />

13 Vgl. nur Carl G. Hempel, Aspects of Scientific Explanation and Other Essays in the<br />

Philosophy of Science, New York u. London 1965, 259–264.<br />

ÖZG 11.2000.1 91<br />

’ Neues‘ entsteht immer nur vor dem


unauslöschlich ’ beobachterabhängigen‘ Charakter, der unabhängig zu jedem<br />

vorrätigen Wissenskorpus besteht. Denn Neues bleibt auch von der genauen<br />

Spezifikation von Anfangsbedingungen und Kontexten abhängig, die vom jeweiligen<br />

Beobachter getroffen werden können. Neuheit sans phrase, das ’ Neue<br />

an sich‘, teilt da anscheinend mit manch ’ an sich‘ anderem das Schicksal prinzipieller<br />

Unerkennbarkeit.<br />

Diese ’ Beobachterabhängigkeit‘ soll an einem konkreten Beispiel verdeutlicht<br />

werden, nämlich am Strukturwandel der Güter und Dienstleistungen in<br />

der Moderne. Werden <strong>für</strong> solche Sektoren über die letzten Jahrhunderte ” evolutionär<br />

stabile Klassifikationen“ 14 wie ” primärer“, ” sekundärer“ oder ” tertiärer<br />

Sektor“ verwendet, dann ändern sich im langen Zeitablauf nur die numerischen<br />

Verteilungen – und nichts Neues in den Güter- und Dienstleistungsgruppen<br />

geschieht. Werden hingegen zeitlich ’ kurzlebigere‘ Beschreibungen wie EDV,<br />

Unternehmensberatungen, Automobil- und Kfz-Bereich oder Handwerke vom<br />

Schlage der Barometerherstellung, der Lumpensammlung, des Mühlenbaus,<br />

der Pechproduktion oder der Perückenmacherei 15 in den Vordergrund gerückt,<br />

dann entsteht mit und in der Zeit ungemein viel an ’ Neuheit‘: Neue ’ Markt-<br />

Nischen‘ und Geschäftsfelder – Informations-Design, Multi-Media-Integration,<br />

Internet-Consulting, e-commerce-Beratung – entstehen und diffundieren, bestehende<br />

Wirtschaftsbereiche verschwinden in die Marginalität oder gänzlich.<br />

’ Neuheit‘ bedarf daher immer einer beobachterabhängigen ’ Strukturbeschreibung‘,<br />

um solche Neuheiten auch zum Vorschein zu bringen. 16<br />

In einer wahrscheinlich bekannten Variation zu Humberto R. Maturana<br />

und Francisco J. Varela läßt sich diese ’ Beobachterabhängigkeit‘ auch so zusammenfassen:<br />

” Alles Neue ist von jemandem gesagt“. 17 Und vergessen soll<br />

auch der Foerstersche Zusatz nicht werden – ” alles Neue wird zu jemanden<br />

gesagt“. 18<br />

14 Über das Konzept von evolutionär stabilen Klassifikationen“ vgl. Günter Haag u. Karl<br />

”<br />

H. Müller., Employment and Education as Non-Linear Network Populations I, in: Günter<br />

Haag, Ulrich Mueller u. Klaus G. Troitzsch, Hg., Economic Evolution and Demographic<br />

Change. Formal Models in Social Sciences, Berlin u. a. 1992, 356–361. Im wesentlichen stellen<br />

” evolutionär stabile Klassifikationen“ ein festgefügtes Kategorien-Gerüst <strong>für</strong> einen langen<br />

Zeitraum dar, das sich nur hinsichtlich seiner numerischen Stärken, nicht aber hinsichtlich<br />

seiner Kategorien zu ändern vermag.<br />

15 So einige Beispiele aus Rudi Palla, Verschwundene Arbeit. Ein Thesaurus der untergegangenen<br />

Berufe, Frankfurt am Main 1994.<br />

16 Solche Beobachterabhängigkeiten in den Strukturbeschreibungen‘ gelten natürlich auch<br />

’<br />

<strong>für</strong> die zweite Version des Neuen, nämlich <strong>für</strong> die Neuheit2. Auch sie hängt von den präzisen<br />

Angaben des Systemniveaus ab und von den zweifachen Möglichkeiten und Potentialen einer<br />

vorhandenen Wissensbasis, verschiedenartige Niveaus auf der einen Seite zu identifizieren<br />

und sie auf der anderen Seite miteinander in Beziehung treten zu lassen.<br />

17 Humberto R. Maturana u. Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen<br />

Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern u. a. 1987, 32.<br />

18 Das Original lautet: Anything said is said to an observer“, zu finden beispielsweise in<br />

”<br />

92 ÖZG 11.2000.1


Die Seinsgebundenheit‘ des Neuen: Schon die beiden ersten Hinweise auf<br />

’<br />

die Wissens- und die Beobachterabhängigkeit des Neuen, so selbstverständlich<br />

sie auch sind, reichen hin, allzu ungebundene Sprechweisen über das Neue‘<br />

’<br />

hintanzuhalten. Eine dritte Besonderheit oder Facette des Neuen‘ besteht nun<br />

’<br />

darin, daß Neues in den meisten Fällen genau besehen immer schon vorhanden<br />

war. Damit wird nicht nur auf den Sachverhalt angespielt, daß ein Gutteil<br />

des Neuen oder von Innovationen darin besteht, aus anderen Kontexten re-<br />

”<br />

zipiert“, imitiert“ oder übernommen“ zu werden.<br />

” ” 19 Auch das Neue, das mit<br />

der Einzigartigkeit‘ von kopernikanischen Wenden‘ und revolutionären Um-<br />

’ ’ ’<br />

brüchen‘ assoziiert wird, beispielsweise Charles Darwins The Origin of Species<br />

by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races<br />

in the Struggle for Life aus dem Jahr 1859, war in vielfacher Hinsicht auch<br />

schon 1857 oder 1848 implizit‘ oder in Fragmenten vorhanden. Betrachtet man<br />

’<br />

nämlich die feinen Unterschiede“ in der langsamen Entstehungsgeschichte die-<br />

”<br />

ses Werks, dann wird man unter Umständen vielgestaltige, vieldimensionale<br />

’ Text-Erweiterungen‘ und Text-Transformationen‘ wahrnehmen, die von den<br />

’<br />

Notizen und Tagebüchern auf der Beagle bis hin zu den ersten Entwürfen sei-<br />

’<br />

ner Theorie‘ in den Notizbüchern und schließlich zur schnell fertiggestellten<br />

publizierten Endversion reichen. 20 Betrachtet man lediglich das veröffentlichte<br />

Endprodukt von 1859 und den Wissensstand‘ um 1800, so wird man in der<br />

’<br />

Tat radikal Neues‘ finden. Widmet man sich hingegen den unzähligen und jahr-<br />

’<br />

zehntelangen Transformations- und Bearbeitungsschritten, so wird man myriadenfache<br />

kleine Veränderungen, Hinzufügungen, Streichungen, Straffungen und<br />

einen graduellen Wechsel von alt zu neu wahrnehmen. In diesen Transformationen<br />

vollzieht sich das Neue‘, wie bei Transformationen üblich, als geordne-<br />

’<br />

ter Übergang. Selbst das einzigartig Neue‘ ist aus einer solchen Transforma-<br />

’<br />

tionsperspektive immer schon im Alten‘ enthalten; wenngleich nicht in seiner<br />

’<br />

schlußendlichen finalen Form‘.<br />

’<br />

Dimensionen des Neuen<br />

Neben den soeben geschilderten Facetten und Kontexten lassen sich auch mehrere<br />

Dimensionen des Neuen anführen, 21 von denen zwei besonders betont wer-<br />

Heinz von Foerster, Cybernetics of Cybernetics, in: Klaus Krippendorff, Hg., Communication<br />

and Control in Society, New York 1974, 5.<br />

19 So stellen an Hand der internationalen ’ Innovationssurveys‘ weit mehr als neunzig Prozent<br />

der in der Wirtschaft getätigten Innovationen solche Neuerungen dar, die nur neu <strong>für</strong> das<br />

Unternehmen oder neu <strong>für</strong> das jeweilige Land, nicht aber neu <strong>für</strong> die Welt insgesamt sind.<br />

20 Zur Primärorientierung vgl. die sehr illustrative Übersicht bei Enrico Bellone, Hg., Darwin.<br />

Ein Leben <strong>für</strong> die Evolutionstheorie, in: Spektrum der Wissenschaft, Biographie 2/1999.<br />

21 Weitere Dimensionen des Neuen, die nicht näher thematisiert werden, betreffen die Be-<br />

ÖZG 11.2000.1 93


den sollen. Diese zwei Grunddimensionen vermögen es, Phänomene des Neuen<br />

innerhalb von vier großen Feldern zu verorten‘ und zu lokalisieren. Diese beiden<br />

’<br />

Dimensionen betreffen auf der einen Seite die Erklär- und Prognostizierbarkeit‘<br />

’<br />

des Neuen und auf der anderen Seite seine Entstehungsart‘.<br />

’<br />

’ Emergenz – Vorhersagbarkeit‘: Die Entstehung oder Ausbreitung des Neuen<br />

kann in einem Kontinuum der Erklär- wie Prognostizierbarkeit auftreten,<br />

an deren Eckpunkten einerseits die vollständige Nicht-Vorhersagbarkeit oder<br />

’ Emergenz‘ und andererseits die vollständige Erwartbarkeit beziehungsweise<br />

Prognostizierbarkeit steht. Gemäß diesem terminologischen Vorschlag muß die<br />

’ Emergenz‘ daher, sehr lose formuliert, sich von der unvorhersehbaren Art dar-<br />

stellen und etwas überraschend Neues unter der Sonne sein – und scheinen.<br />

Um ein paradigmatisches Beispiel zu bemühen, läßt sich – teilweise im Anschluß<br />

an Peter Medawar oder Karl R. Popper – die Entwicklung des Gehirns<br />

als ’ emergenter‘ Prozeß apostrophieren, weil diese Form der neuronalen Organisation<br />

vor dem Hintergrund der seinerzeitig vorrätigen Wissensbasen völlig<br />

unbekannt und unvorhersehbar war. 22<br />

Variation – Innovation: Eine zweite Dimension <strong>für</strong> Neuheiten läßt sich dadurch<br />

gewinnen, daß sich der Mechanismus in der Entstehung des Neuen in<br />

einem Kontinuum von reinen Zufallsänderungen – ” blinder Zufall steuert Neuheit“<br />

– bis hin zur durchgeplanten Innovation – ” gezielte Neuheit kontrolliert<br />

den Zufall“ – bewegt. Im einen Extrem-Fall generiert ein ” blinder Mechanismus“<br />

eines ” blinden Uhrmachers“ (Richard Dawkins) ” blinde Variationen“. 23<br />

Im anderen Extrem findet sich eine genau beschriebene Zielvorgabe, beispielsweise<br />

ein neuartiges und in anderen Kontexten bereits getestetes Organisationsmodell,<br />

welches sukzessive implementiert und innerhalb eines vorgegebenen<br />

Zeit-Rahmens auch vollendet wird. Die Tabelle 1 faßt nochmals die wichtigsten<br />

reiche des Neuen ( ’ Input‘, ’ Withinput‘, Output, Kombinationen dieser Bereiche), Grade der<br />

Neuheit (neu <strong>für</strong> eine Organisation, Region, Land, Kontinent, Welt), oder auch die ’ Historizität‘<br />

des Neuen (weltgeschichtlich erstmalig, geschichtlich mehrmalig ... oftmalig verankert).<br />

22 Trotz alledem sollten auch ’ Emergenzphänomene‘ wie beispielsweise die nachstehende<br />

Darstellung bei Karl R. Popper mit den geforderten Spezifizierungsleistungen hinsichtlich<br />

der temporalen oder niveaumäßigen Kontexte unternommen werden. ” Zu den wichtigsten<br />

emergenten Ereignissen nach heutiger kosmologischer Auffassung zählen wohl die folgenden:<br />

die Emergenz des Bewußtseins, die Emergenz der menschlichen Sprache und des menschlichen<br />

Gehirns.“ Derlei emergent ’ Ungebundenes‘ findet sich etwa in Karl R. Popper u. John Eccles,<br />

Das Ich und sein Gehirn, München u. Zürich 1982, 50.<br />

23 Zwei interessante literarische Variationen zum Thema ” blinde Variation“ stellen auf der<br />

einen Seite der Swiftsche ” Ideen-Generator“ – ein Mechanismus zur zufälligen Aneinanderreihung<br />

von Silben – und auf der anderen Seite Louis Borges ” ungeheuer weiträumige“ Konzeption<br />

der ” Bibliothek von Babel“ dar, die bekanntermaßen jede elementarste Variation<br />

jedes möglichen Werkes enthält. Zum Swiftschen Modell aus der ’ Akademie von Lagado‘<br />

vgl. Jonathan Swift, Reisen in verschiedene ferne Länder der Welt von Lemuel Gulliver –<br />

erst Schiffsarzt, dann Kapitän mehrerer Schiffe, Stuttgart o. J., 280–282; zur ’ Bibliothek von<br />

Babel‘ vgl. Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel, Stuttgart 1974.<br />

94 ÖZG 11.2000.1


Tabelle 1: Dimensionen des Neuen<br />

Dimension1<br />

(Grade der Erklär- und Prognostizierbarkeit)<br />

Emergenz Vorhersagbarkeit<br />

’ Blinde Neues Ausbreitung<br />

Variation‘ Verhaltensmuster eines Verhaltensmusters<br />

Dimension2<br />

(Grade der ’ Zielvorgaben‘)<br />

Geplante Neues Prozeß-/Produkt-<br />

Innovation Produkt innovations-Zyklen<br />

Eckpunkte der bisherigen Diskussion zu den Dimensionen des Neuen zusammen.<br />

In dieser Zusammenstellung verliert die Neuheit viel von dem, was sie<br />

auf den ersten Blick charakterisiert; nämlich ihre subjektiv ’ freischwebende‘<br />

Ungebundenheit und ihren objektiv ’ nicht intelligiblen‘ Status.<br />

Ein Begriffs-Rahmen <strong>für</strong> ’ Neues‘<br />

Nach den verschiedenen Facetten, Kontexten wie Dimensionen des Neuen stehen<br />

im weiteren jene analytischen Bezugsgrößen am Programm, welche <strong>für</strong> das<br />

Leitthema, wie Neues entsteht“, von unmittelbarer Relevanz werden. Sie wer-<br />

”<br />

den in diesem Abschnitt unter den Labels von Bausteinen“, multiplen Ebe-<br />

” ”<br />

nen“, Design-Räumen“, Rekombinationen“, Rekombinations-Operatoren“,<br />

” ” ”<br />

Evaluationsmaßen“ eingeführt und bilden,<br />

” rekursiven Organisationen“ oder ”<br />

wie sich bald herausstellen wird, eine miteinander stark verbundene konzeptionelle<br />

Grund-Architektur in der Analyse dessen, wie Neues entsteht.<br />

Der wichtigste Baustein <strong>für</strong> einen neuartigen konzeptionellen Rahmen des<br />

Neuen ist der ’ Baustein‘ selbst, der in der evolutionstheoretischen Literatur<br />

an sich einen prominenten Stellenwert einnimmt. 24 Die zentrale Anforderung<br />

<strong>für</strong> solche ’ Bausteine‘ liegt darin, daß sie die folgenden vier Grundbedingungen<br />

erfüllen sollten. 25<br />

– Erstens müssen sich solche Bausteine als raum-zeitlich spezifizierbar und ein-<br />

24 Vgl. dazu beispielsweise Francois Jacob, Die Maus, die Fliege und der Mensch. Über<br />

die moderne Genforschung, Berlin 1998 sowie John H. Holland, Keith J. Holyoak, Richard<br />

E. Nisbett u. Paul R. Thagard, Induction. Processes of Inference, Learning, and Discovery,<br />

Cambridge, MA. 1989.<br />

25 Zum weiteren Hintergrund dieser Anforderungen vgl. auch Nelson Goodman, Sprachen<br />

der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie, Frankfurt am Main 1973.<br />

ÖZG 11.2000.1 95


grenzbar ausweisen. Mit anderen Worten muß operative Klarheit bestehen,<br />

was als Baustein gilt und ob eine bestimmte Konfiguration unter einen bestimmten<br />

Baustein zu subsumieren ist – oder nicht.<br />

– Bausteine sollen sich zweitens als kombinierbar‘ herausstellen. Als Baustei-<br />

’ ’<br />

ne‘ sollen nur solche Komponenten in Erscheinung treten, die sich unter<br />

Umständen zu umfangreichen und ausgedehnten Baustein-Ensembles‘ oder<br />

’<br />

’ Schemen‘ zusammenfügen lassen.<br />

– Drittens müssen sich diese Baustein-Kombinationen hinsichtlich ihrer komparativen<br />

Vorteile oder Nachteile im Prinzip als ’ evaluierbar‘ oder ’ bewertbar‘<br />

erweisen. Für solche ’ Baustein-Schemen‘ sollten sich vergleichsweise vorteilhafte<br />

oder nachteilige Merkmale und Charakteristika finden, welche schwache<br />

’ Rangordnungen‘ und ’ Abstufungen‘ solcher ’ Baustein-Schemen‘ ermöglichen.<br />

– Und viertens müssen solche Bausteine und Baustein-Kombinationen dynamisch<br />

in weitere ’ Umgebungen‘ eingebettet sein und innerhalb dieser ’ Environments‘<br />

ihrerseits Veränderungen unterliegen. Bausteine und vor allem:<br />

Bausteinkombinationen tragen keinen Anspruch auf Unveränderbarkeit; gerade<br />

darin liegt der Grund, sie als ’ Bausteine‘ zu klassifizieren.<br />

Die Tabelle 2 offeriert eine Reihe von konkreten Anwendungsfällen möglicher<br />

Bausteine, die von verschiedenartigen ’ Komponenten‘ eingebetteter Code-Systeme<br />

– des genetischen Codes 26 , des neuronalen Codes 27 , von linguistischen<br />

Codes 28 , des Maschinen-Codes oder von Regel-Codes – bis hin zu den ’ Bausteinen‘<br />

von Maschinen, Instrumenten 29 oder anderen Akteur-Netzwerken reichen.<br />

Ein gewichtiges Merkmal solcher Bausteine und ihrer Arrangements liegt<br />

weiters darin, daß sie auf mehreren, in der Regel auf viele Ebenen verteilt<br />

sind. Sprach-Bausteine lassen sich als Buchstaben, Silben, Wörter, Sätze oder<br />

höherstufige Komponenten über verschiedene Niveaus distribuieren. Ein illustratives<br />

Bild <strong>für</strong> diese Viel-Ebenen-Architektur im Bereich der Sprache liefert<br />

Daniel C. Dennett mit der Leitmetapher eines ” Pandämoniums von Wort-<br />

Dämonen“, wo jeder ” linguistische Dämon“ auf der Ebene von Buchstaben-,<br />

Silben-, Wort- oder Satzkombinationen rekursiv auf der Suche nach einem ” passenden<br />

Satz“ beteiligt ist. 30 Aus der Tabelle 2 wird leicht ersichtlich, daß alle<br />

26 Vgl. dazu Steve Jones, The Language of Genes. Solving the Mysteries of Our Genetic<br />

Past, Present and Future, New York 1993.<br />

27 Zum Thema ’ neuronaler Code‘ vgl. u. a. William C. Calvin, The Cerebral Code. Thinking<br />

a Thought in the Mosaics of the Mind, Cambridge MA. 1998.<br />

28 Siehe dazu auch Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972 sowie ders.,<br />

Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt am Main 1981.<br />

29 Zu solchen ’ Baustein-Zugängen‘ im Bereich von Technologien vgl. u. a. Stuart Kauffman,<br />

At Home in the Universe. The Search for the Laws of Selt-Organization and Complexity, New<br />

York 1995, 273–304; Edward Tenner, Why Things Bite Back. Technology and the Revenge<br />

Effect, London 1997.<br />

30 Vgl. Daniel C. Dennett, Consciousness Explained, Boston 1991, 237 f. Aus informations-<br />

96 ÖZG 11.2000.1


der angeführten Beispiele im Rahmen von Viel Ebenen-Architekturen‘ darge-<br />

’<br />

stellt werden sollten – und in der Regel dargestellt werden müssen. Fokussierungen<br />

darauf, daß sich die Sprache des Gehirns‘ nur als Sprache der einzel-<br />

’<br />

nen Neuronen und Neuronenverbindungen analysiert werden dürfte, 31 erweisen<br />

sich als ähnlich sinnvoll wie die Sprach-Wissenschaft einzig und allein aus der<br />

Verbindung von Buchstaben und den feststellbaren Mustern an Buchstabenfrequenzen<br />

aufzubauen. Vom begrifflichen Instrumentarium scheint es jedenfalls<br />

wichtig, zwischen mehreren oder vielen distinkten Ebenen‘ solcher Bausteine<br />

’<br />

zu unterscheiden. An oberster Stelle stehen, wie im weiteren Artikel noch kurz<br />

ausgeführt, jene Top-Arrangements‘, die <strong>für</strong> Fragen der Zielbildung und der<br />

’<br />

Kontrolle von Relevanz werden. An unterster Stelle finden sich jene Bausteine<br />

wieder, deren Veränderungen beziehungsweise Rekombinationen erst die Entstehung<br />

des Neuen effektiv ermöglichen und bedingen. Es sollte allerdings eigens<br />

betont werden, daß sich oben‘ und unten‘ erst nach Maßgabe von Bausteinen<br />

’ ’<br />

und den jeweiligen Erkenntnisinteressen festlegen läßt: Zwei Untersuchungen<br />

über die Entstehung einer wissenschaftlichen Theorie können sich durch deutlich<br />

anders gesetzte basale‘ Bausteinwahlen auszeichnen, indem die eine auf<br />

’<br />

der Ebene der Buchstaben und der Wörter, die andere hingegen viel weiter<br />

’ oben‘, nämlich an größeren thematischen Blöcken ansetzt.<br />

Zentrale Eigenschaften, Strukturen oder Prozesse solcher auf mehreren<br />

Ebenen arrangierten Baustein-Kombinationen lassen sich nun ihrerseits so charakterisieren,<br />

daß sie sich innerhalb eines wohldefinierten ’ Raumes‘ beziehungsweise,<br />

um einen Ausdruck von Daniel C. Dennett hereinzubringen, innerhalb<br />

von ’ Design-Räumen‘ 32 ereignen. Solche ’ Räume‘ oder ’ Design-Räume‘ können<br />

aufgespannt werden, indem man zunächst Mengen und eine eigene ’ Metrik‘<br />

beziehungsweiße ’ Distanzmaße‘ spezifiziert. 33 Ausgehend von einer solchen elementaren<br />

Raum-Definition aus Mengen und Distanzen werden besonders jene<br />

Konstellationen von Interesse, in denen sich n-dimensionale Räume gleich<br />

auf zwei oder mehreren Ebenen finden. Solche Raum-Architekturen werden<br />

vor allem deswegen so wichtig, weil sich dadurch eine funktionale Differenzie-<br />

theoretischer Sicht offeriert auch John Campbell eine Vier-Ebenen-Architektur an Regeln<br />

der Buchstaben-Kombinatorik, um zu ’ normalsprachlichen Aussagen‘ zu gelangen, vgl. John<br />

Campbell, Grammatical Man. Information, Entropy, Language, and Life, Harmondsworth<br />

1984.<br />

31 So noch in den 1970er Jahren die als ’ zentrales Theorem‘ der Neuro-Wissenschaft gehandelte<br />

Barlow-Doktrin von der beschränkten Souveränität der Forschung auf Neuronen-Muster<br />

als einzige und ausschließliche Untersuchungsebene. Konkret zu finden in H. B. Barlow, Single<br />

Units and Sensation. A Neuron Doctrine for Perceptual Psychology In: Perception 1 (1972),<br />

371–394.<br />

32 Vgl. Daniel C. Dennett, Darwin’s Dangerous Idea. Evolution and the Meanings of Life,<br />

New York 1995.<br />

33 Zum formalen Konzept von Räumen, Distanzen und Metriken vgl. Michael Barnsley,<br />

Fractals Everywhere, Boston u. a. 1988, 6–42.<br />

ÖZG 11.2000.1 97


Tabelle 2: ’ Bausteine‘ des Neuen – eine Übersicht<br />

BEREICH BESTIMMUNGSSTÜCKE BAUSTEIN-TYPEN<br />

Spezifizierung Vier Basen: A, C, G, T(U)<br />

Genetischer Code Kombination Triplets, (Doppel-)Helix-Muster<br />

Komparative Vorteile<br />

’ Genetische Fitneß‘<br />

Einbettung Organismen<br />

Spezifizierung Neuronen<br />

Gehirn Kombination<br />

’ Neuronale Gruppen‘<br />

Komparative Vorteile<br />

’ Neuronale Stärken‘<br />

Einbettung Organismen<br />

Spezifizierung Buchstaben<br />

Sprache Kombination Silben, Worte, ’ Sätze‘ u. a.<br />

Komparative Vorteile Performanz-Kriterien<br />

Einbettung Menschliche Gesellschaften<br />

Spezifizierung 0,1<br />

Maschinen-Code Kombination 01-Sequenzen<br />

Komparative Vorteile Performanz-Kriterien<br />

Einbettung<br />

’ Turing-Maschinen‘<br />

Spezifizierung Regeln<br />

Regel-Systeme Kombination Regel-Sequenzen<br />

Komparative Vorteile Performanz-Kriterien<br />

Einbettung Menschliche Gesellschaften<br />

Spezifizierung Maschinen-Bausteine<br />

Maschinen Kombination Maschinelle Kombination<br />

Komparative Vorteile Performanz-Kriterien<br />

Einbettung Sozio-technische ’ Environments‘<br />

Spezifizierung Instrumenten-Bausteine<br />

Instrumente Kombination Instrumenten-Kombination<br />

Komparative Vorteile Performanz-Kriterien<br />

Einbettung Sozio-instrumentelle Umgebungen<br />

Spezifizierung Gestaltungs-Operationen<br />

Kunst-Stile Kombination Werk-Komposition<br />

Komparative Vorteile Stil/Ästhetik-Kriterien<br />

Einbettung Kunst-Systeme von Gesellschaften<br />

Spezifizierung Routinen, Tätigkeiten<br />

Organisationen Kombination Tätigkeits-Abläufe<br />

Komparative Vorteile Performanz-Kriterien<br />

Einbettung Organisations-Ökologie<br />

Spezifizierung Organisations-Komponenten<br />

Organisations- Kombination Organisations-Formen<br />

Formen Komparative Vorteile Performanz-Kriterien<br />

Einbettung Organisations-Ökologien<br />

98 ÖZG 11.2000.1


ung der einzelnen ’ Design-Räume‘ vollziehen und sich verschiedene ’ Kontroll-<br />

Beziehungen‘ zwischen ’ unteren‘ und ’ oberen‘ Niveaus herausbilden können.<br />

Ein kurzer Blick auf die Tabelle 2 sollte genügen, daß sich alle ’ Bausteine<br />

des Neuen‘ innerhalb einer solchen komplexen Mehr Ebenen-Konfiguration befinden.<br />

Vom genetischen Code, von der ’ Sprache des Gehirns‘, von der Sprache<br />

der Menschen oder von Regelsystemen bis hin zur Welt der Maschinen oder<br />

der Organisationsformen hat man es mit Baustein-Arrangements zu tun, die<br />

sowohl innerhalb einer einzelnen Ebene nach mehreren Dimensionen beschreibbar<br />

als auch auf zumindest zwei unterschiedlichen Ebenen angesiedelt werden<br />

können.<br />

Solche multi-dimensionalen und auf mehreren Ebenen verorteten ’ Design-<br />

Räume‘ können ihrerseits auch ’ dynamisch‘ betrachtet werden, indem nach charakteristischen<br />

’ Bewegungen‘ und ’ Veränderungen‘ im Zeitablauf innerhalb oder<br />

zwischen einzelnen Ebenen gesucht wird. Beliebige ’ Neuheiten‘ ’ bewegen‘ sich<br />

in der Zeit innerhalb solcher Design-Räume und entwickeln, um in ein Bild bei<br />

Humberto R. Maturana einzuschwenken, so etwas wie eine jeweils eigenständige<br />

” Drift“. 34 Diese Bewegungen erfolgen in der Regel nach einem einfachen<br />

schrittweisen oder rekursiven Grundschema: Bestimmte Veränderungen werden<br />

immer wieder und immer wieder wiederholt, bis sie zu einem ausgezeichneten<br />

Zustand vorstoßen, an dem diese Operationen nur noch diesen speziellen<br />

Zustand reproduzieren. 35<br />

Und demgemäß ruht ein weiterer Baustein im ’ konzeptionellen Rahmen‘<br />

<strong>für</strong> das Neue in der ’ rekursiven Organisation‘, mit der sich solche Bewegungen<br />

innerhalb von Design-Räumen vollziehen. Die zentrale Komponente dieser<br />

rekursiven Organisation wird durch eine distinkte Menge an rekursiven Operatoren<br />

markiert, welche verschiedene ’ Generatoren‘ <strong>für</strong> die Transformationen<br />

innerhalb solcher Design-Räume umfassen. Dazu zählen in einer typischen Variation<br />

beziehungsweise Rekombination zu einer Liste bei Douglas R. Hofstadter<br />

36 die folgenden Operatoren aus der Tabelle 3.<br />

Eine der Merkwürdigkeiten oder der ’ seltsamen Attraktivitäten‘ des soeben<br />

tabellarisch vorgestellten Rekombinations-Rahmens liegt unter anderem darin,<br />

daß drei an sich unterschiedliche ’ Mechanismen‘ in der Entstehung des Neuen<br />

im Rahmen der Genetik, der Mathematik und der Logik völlig zwanglos in die<br />

neue Sprache der ’ Rekombinations-Operatoren‘ übersetzt werden können.<br />

So setzt sich der Code der RNA aus ’ Triplets‘ der vier Basen-Bausteinen<br />

34 Über den Begriff der ” Drift“ vgl. Maturana u. Varela, Baum, wie Anm. 17.<br />

35 Solche ’ ausgezeichneten Zustände‘ oder ’ Eigen-Zustände‘ dynamischer Systeme lassen sich<br />

in einer Systematik von John L. Casti in die folgenden Hauptgruppen einteilen: in Fix-Punkte,<br />

in Grenzzyklen, in ’ seltsame Attraktoren‘ und in quasi-periodische Bahnen, vgl. John L. Casti,<br />

Reality Rules, Bd. 2, New York 1992, 344.<br />

36 Douglas R. Hofstadter, Fluid Concepts and Creative Analogies. Computer Models of the<br />

Fundamental Mechanisms of Thought, New York 1995, 77.<br />

ÖZG 11.2000.1 99


Tabelle 3: Rekombinations-Operatoren<br />

<strong>für</strong> die Transformationen ’ alt → neu‘<br />

– Adding, d. h. das Hinzufügen neuer Bausteine oder Schemen in ein bestehendes<br />

Schema (A → AB)<br />

– Deleting, d. h. das Entfernen bestehender Bausteine oder Schemen aus einem bestehenden<br />

Schema (AB → A)<br />

– Replacing, d. h. die Ersetzung eines Bausteins oder eines Schemas durch eine Alternative<br />

(AB → AC)<br />

– Duplication, d. h. das Verdoppeln bestehender Bausteine oder Schemen (AB →<br />

ABAB)<br />

– Shortening, d. h. das Verkürzen eines bestehenden Schemas (ABB... → AB)<br />

– Lengthening, d. h. das Verlängern eines bestehenden Schemas (AB → ABB...)<br />

– Inverting, d. h. die Umkehrung eines bestehenden Schemas (ABC → CBA)<br />

– Swapping, d. h. das Vertauschen zweier Bausteine oder Schemen in Schemen (ABC)<br />

(DEF) → (ABD) (CEF)<br />

– Crossing-Over, d. h. das ’ Kreuzen‘ zweier Schemen (ABCD) (EFGH) → (ABGH)<br />

(EFCD)<br />

– Merging, d. h. die Integration bislang getrennter Schemen in ein neues Schema (AB)<br />

(CD) → (ABCD)<br />

– Breaking, d. h. die Differenzierung eines Schemas in disjunktive Schemen (ABCD)<br />

→ (AB) (CD)<br />

– Moving, d. h. die horizontale Bewegung von einem Baustein oder Schema zum<br />

nächsten<br />

– Shifting, d. h. das vertikale Transponieren von einem Niveau Li zu einem davon<br />

verschiedenen Level Lj<br />

Adenin, Cytosin, Guanin und Uracil zusammen, die sich zu Bausteinen oder<br />

Schemen der Art UUU, GGG, AUU, CCU, uws. binden. Solche Triplets bilden<br />

ihrerseits die Basis zur Bildung von insgesamt zwanzig verschiedenen Aminosäuren<br />

wie Glycin, Alanin, Leicin, Serin, Arginin, Prolin, usw. 37 Dieser ge-<br />

’<br />

netische Code‘ besitzt keine Kommas, Leerzeichen oder Rufzeichen, wohl aber<br />

’ Ende-Symbole‘, die ihrerseits als Triplets gehalten sind und – wie im Falle von<br />

UAA, UAG oder UGA - zumeist mit Uracil beginnen. Und schließlich stellt<br />

sich der ’ genetische Code‘ nahezu als kontextfrei dar und ’ codiert‘ bis auf ganz<br />

wenige Ausnahmen 38 mit denselben Triplets dieselben Aminosäuren.<br />

Bezüglich seines Rekombinations-Repertoires lassen sich die folgenden Rekombinations-Operatoren<br />

bemühen, wenn es um die Variationsbreite des genetischen<br />

Code geht. 39<br />

37 Es sollte noch hinzugefügt werden, daß sich der genetische Code im technischen Wortsinne<br />

als ’ degeneriert‘ darstellt, da Triplets wie GGU, GGC, GGA und GGG die Produktion von<br />

Glycin ’ codieren‘ oder GCU, GCC, GCA, GCG die Herstellung von Alanin bewirken können.<br />

38 So fungieren beispielsweise in der mitochondrialen DNA von Menschen AGA and AGG,<br />

welche ansonsten die Produktion von Arginin ’ codieren,‘ als ’ Stop-Symbol‘.<br />

39 Vgl. dazu auch Wolfgang Hennig, Genetik, Berlin u. a. 1995, 485.<br />

100 ÖZG 11.2000.1


– Crossing over, das Spalten zweier Chromosomenstränge und ihre Zusammensetzung<br />

in neue Stränge<br />

– Deletion, die Entfernung eines speziellen Bausteins von einem bestehenden Schema<br />

– Duplication, die ein- oder mehrmalige Einfügung eines identischen Bausteins oder<br />

Schemas<br />

– Inverting, die Schaffung von Kopien mit einer gegenläufigen Folge von Bausteinen<br />

– Merging oder Fusion, die Zusammenführung zweier getrennter Schemen in ein neues<br />

– Moving oder Transposition, den Transport von Bausteinen hin zu neuen Plätzen<br />

Auch Turing-Maschinen, immerhin der Grundmechanismus <strong>für</strong> alle berechenbaren<br />

Funktionen, erweisen sich über die Rekombinationsoperatoren aus der<br />

Tabelle 3 als geschlossen rekursiv organisiert. Denn gegeben eine Standardkonfiguration<br />

von Turing-Maschinen mit = ( , Σ, Γ, δ, 0, , ) 40 bestehen<br />

die wichtigsten Operationen eines Turing-Rechners in der Verwendung der folgenden<br />

vier Rekombinations-Operatoren, welche die ’ effektive Berechenbarkeit‘<br />

von Funktionen rekursiv sicherstellen.<br />

– Moving, d. h. die horizontale Bewegung von einem Baustein zum nächsten<br />

– Deleting, d. h. das Entfernen eines bestehenden Bausteins<br />

– Adding, d. h. das Hinzufügen eines Bausteins<br />

– Replacing, d. h. die Ersetzung eines Bausteins durch einen anderen<br />

Schließlich stellt sich, worauf allerdings nicht mehr näher eingegangen wird,<br />

auch die Logik in der ’ operativen‘ Fassung von Spencer-Brown so dar, daß<br />

ihre Grundoperationen mit einer Untermenge aus der Tabelle 3 zusammengefaßt<br />

werden können. 41 Das Interessante an dieser beispielhaften Aufzählung lag<br />

vor allem darin, daß drei bekannte ’ Mechanismen‘ zur Erzeugung des Neuen<br />

in sehr unterschiedlichen Bereichen mit dem neuen Begriffswerkzeug auf eine<br />

einheitliche und homogene Weise dargestellt werden können.<br />

Als letztes konzeptionelles Element müssen noch ’ Evaluations- oder Bewertungsmaße‘<br />

eingeführt werden, die folgende Grundeigenschaft besitzen: Sie<br />

vermögen die ’ Zwischenprodukte‘ in der Transformation von ’ alt‘ nach ’ neu‘ zu<br />

40 So zu finden beispielsweise in John E. Hopcroft u. Jeffrey D. Ullman, Einführung in die<br />

Automatentheorie, formale Sprachen und Komplexitätstheorie, Bonn u. a. 1990, 159. Die<br />

Symbole stehen <strong>für</strong>: Q bezeichnet eine endliche Menge von Zuständen, Σ die Menge der<br />

Eingabesymbole, Γ eine endliche Menge von erlaubten Bandsymbolen ein, δ eine Übergangsfunktion,<br />

B das Blank, ein Symbol aus Γ, q0 den Anfangszustand und F die Menge der<br />

Endzustände (F Q).<br />

41 Über die Grund-Operation des ’ Breaking‘, die Schaffung einer Unterscheidung im leeren<br />

Raum, über die Operation des ’ Shortening‘, über ein Axiom <strong>für</strong> das ’ Breaking‘ ( ” Wieder-<br />

Kreuzen ist nicht Kreuzen“, so George Spencer-Brown, Laws of Form. Gesetze der Form,<br />

Lübeck 1997 [Erstausgabe 1969], 2.) sowie über die Festlegung von ’ Bausteinen‘ (Token, Arrangement<br />

oder Ausdruck) läßt sich nach und nach der Spencer-Brownsche Kalkül aufbauen<br />

und ’ rekombinativ‘ darstellen.<br />

ÖZG 11.2000.1 101


ewerten und vor allem zwischen komparativ vorteilhafteren von relativ benachteiligten<br />

Varianten zu differenzieren. Solche Evaluationsmaße sind speziell<br />

in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Domänen in einer bunten Vielzahl<br />

zugegen, und reichen allein im Falle der Bewertung einer wissenschaftlichen<br />

Hypothese von induktiven Bestätigungsgraden, statistischen Stützungsmaßen,<br />

Konfirmationsgraden, einem ’ Korroborationsmaß‘ (Karl R. Popper) bis hin zu<br />

eher diffus definierten Maßen wie ’ Problemlösungsfähigkeit‘, ’ Einfachheit‘, ’ Erklärungstiefe‘<br />

und anderem mehr.<br />

Mit den Evaluationsmaßen <strong>für</strong> vielstufig distribuierte Baustein-Schemen,<br />

die rekursiv über Rekombinations-Operatoren innerhalb von ’ Design-Räumen‘<br />

immer wieder, round and round, verändert werden, kann die Kurz-Übersicht zu<br />

den neuen Begrifflichkeiten <strong>für</strong> die Entstehung des Neuen abgeschlossen werden.<br />

Um einen Augenblick hier zu verweilen: Die Sicht der Dinge, oder besser:<br />

Prozesse, welche durch die bisherigen Darlegungen zum Begriff der Neuheit<br />

nahegelegt wird, lädt ein zu Bildern ineinander verwobener, größtenteils irreduzibler<br />

’ Landschaften‘ an evolutionären Ensembles auf den unterschiedlichsten<br />

raum-zeitlichen Niveaus, mit Inseln vergleichsweise höchster Komplexität, beispielsweise<br />

dem menschlichen Gehirn, und viel an kontingenten Bindungen und<br />

Zerfall im Drumherum: zu Bildergalerien großer Ketten des Werdens – und des<br />

Vergehens. 42 Und vor diesem Hintergrund sollen im nächsten und <strong>für</strong> diesen<br />

Artikel wohl zentralen Abschnitt Schlüsselheuristiken <strong>für</strong> die Erklärung des<br />

Neuen bis hin zu einer ’ generativen Tiefengrammatik‘ Stück um Stück aufgebaut<br />

und vorgestellt werden. Damit werden <strong>für</strong> vier unterschiedliche Kontexte<br />

jeweils einheitliche Erklärungs-Rahmen und zum Teil auch passende Modellierungsformen<br />

bereitgestellt, die sich <strong>für</strong> eine Vielzahl sehr unterschiedlicher<br />

gesellschaftlicher, technologischer oder wissenschaftlicher Bereiche gleichermaßen<br />

eignen.<br />

Analyse-Felder <strong>für</strong> Neues<br />

Nach den Facetten, Kontexten wie den Dimensionen des Neuen und nach einem<br />

Begriffs-Rahmen <strong>für</strong> die Untersuchung des Neuen werden im fünften Abschnitt<br />

vier zentrale Analyse-Kontexte aufgespannt, innerhalb deren sich gegenwärtig<br />

und wohl auch zukünftig das ’ Erkenntnisinteresse‘ am Neuen entfalten kann.<br />

Wiederum sollen da<strong>für</strong> zwei unterschiedliche Dimensionen bemüht werden, um<br />

42 Zu ähnlichen Visionen von Ordnungs/Welt-Konstruktionen vgl. u. a. William H. Calvin,<br />

The Cerebral Symphony. Seashore Reflections on the Structure of Consciousness, New York<br />

u. a. 1990; Heinz von Foerster, Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen. Eine<br />

Selbsterschaffung in sieben Tagen, hg. von Albert Müller u. Karl H. Müller, <strong>Wien</strong> 1997; Lynn<br />

Margulis, Symbiotic Planet. A New Look at Evolution, New York 1998 sowie Milan Zeleny,<br />

Hg., Autopoiesis, Dissipative Structures, and Spontaneous Social Orders, Boulder 1980.<br />

102 ÖZG 11.2000.1


Tabelle 4: Vier Analyse-Felder des Neuen<br />

EINBETTUNG/UMGEBUNG NEUHEIT<br />

EXTERN Kontext-Veränderungen bei Diffusion des Neuen<br />

der Diffusion des Neuen (Feld I) (Feld II)<br />

INTERN Kontext-Transformationen Transformationen<br />

’ alt → neu‘ (Feld III)<br />

’ alt → neu‘ (Feld IV)<br />

zu einer elementaren ’ Vierfelder-Wissenschaft‘ der Analysen von Neuheit vorzustoßen.<br />

Die erste der beiden Dimensionen orientiert sich daran, ob der Transformationsprozeß<br />

der ’ Entstehung des Neuen‘ von ’ überkommenen‘ Anfangszuständen<br />

hin zu einem ’ Endzustand‘ des Neuen im Zentrum des Interesses<br />

stehen soll – oder nicht. Demgemäß werden als ’ intern‘ solche Analysen gewertet,<br />

welche die Feinstrukturen und Abläufe solcher Veränderungs- und Transformationsprozesse<br />

zum Ziel erheben. Als ’ extern‘ gelten demgemäß solche Untersuchungen,<br />

welche vor dem Hintergrund von etwas Neuem nach dessen weiterer<br />

Diffusion wie Rezeption fragen und primär an der Art der Ausbreitung<br />

von Neuem orientiert sind. Die zweite Dimension stellt den Gegenstand der<br />

Analyse in den Vordergrund und differenziert in erster Linie danach, ob das<br />

Neue selbst oder dessen Umgebung oder sein Kontext im Brennpunkt der Untersuchung<br />

stehen. 43 Demgemäß gelten als typisches Beispiel von ’ Umgebungsfragen‘<br />

die Beziehungen von Forschungsorganisationen und wissenschaftlichen<br />

Innovationen, wogegen die Analysen von neuen Theorien, neuen Modellen, neuen<br />

Heuristiken oder von neuen Organisationsformen unter die Rubrik ’ Neuheit‘<br />

zu subsumieren sind.<br />

Im weiteren werden diese vier Analyse-Felder näher in ’ normalwissenschaftlicher‘<br />

Manier aufbereitet und erläutert – und das heißt in bearbeitungsfähigen<br />

Erklärungs- oder Prognose-Kontexten dargestellt. Der Weg dieser Darstellung<br />

wird in allen vier Feldern über dieselben ’ Etappen‘ führen und von<br />

den Kern-Fragen und den zentralen Forschungsproblemen des jeweiligen Bereiches<br />

zu einigen empirisch abgesicherten ’ Heuristiken‘ vorstoßen. Diese sollen<br />

ihrerseits dann generalisiert und zu ’ Leitheuristiken‘ <strong>für</strong> die Kernfragen des<br />

jeweiligen Feldes aufgebaut werden. Das Überraschendste – und damit wohl<br />

auch: das Neuartige - an diesen vier zu präsentierenden Kontexten liegt in zweierlei.<br />

Auf der einen Seite können jeweils klar ausformulierte verallgemeinerte<br />

43 Diese Dimension ließe sich auch als ’ Luhmann-Dimension‘ etikettieren, da dort bekanntermaßen<br />

die Trennung von ’ Sprache/Kommunikation‘ und ’ Umwelt‘ als Leitdifferenz firmiert<br />

und ’ psychische Systeme‘ zur ’ Umwelt‘ gerechnet werden, vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme.<br />

Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, 346.<br />

ÖZG 11.2000.1 103


’ Erklärungs-Sketches‘ und in zwei Feldern auch die dazu stimmigen komplexen<br />

Modellierungen präsentiert werden, die im Zentrum des jeweiligen Feldes<br />

stehen und ihrerseits sowohl erklärenden wie prognostischen Charakter tragen<br />

können. Und das zweite neuartige Charakteristikum ist darin zu suchen, daß<br />

diese komplexen Modelle oder Proto-Modelle‘ in unterschiedlichsten Gegen-<br />

’<br />

standsbereichen verwendet werden können und sich im Bereich der Ökonomie<br />

nicht anders darstellen als auf wissenschaftlichen Feldern, in sozio-technischen<br />

Domänen oder innerhalb von verschiedenartigen Computerwelten‘. Die Ent-<br />

’<br />

stehung des Neuen folgt damit, etwas anders ausgedrückt, in scheinbar sehr<br />

heterogenen Domänen einem sehr ähnlichen Grundmuster. Und man wäre speziell<br />

bei den beiden Feldern III und IV fast geneigt, von einer ebenso univer-<br />

’<br />

sellen‘ wie generativen‘ Tiefen-Grammatik‘ <strong>für</strong> die Entstehung des Neuen zu<br />

’ ’<br />

sprechen, die speziell in den letzten Passagen dieses Artikels entgegentreten<br />

wird.<br />

Die konkrete Abfolge der einzelnen Analyse-Kontexte erfolgt im Ausmaß<br />

der in diesem Heft versammelten Erklärungs-Rahmen und wird sich darum ganz<br />

in der Reihenfolge von Tabelle 4 bewegen: Die Kontext-Veränderungen <strong>für</strong> das<br />

extern betrachtet Neue‘ (Feld I) wurden innerhalb dieses Journals vergleichs-<br />

’<br />

weise gut kognitiv gemeistert – und auch die so interessanten Übersichten, die<br />

Albert Müller zum Foersterschen Biological Computer Laboratory präsentiert,<br />

folgen weitgehend diesem Kontext. Die zentralen Fragen des gesamten Heftes<br />

nach der Entstehung des Neuen, speziell nach den Fein-Analysen der viel- und<br />

mannigfaltigen Rekombinationen‘ auf dem Weg zum Neuen (Feld IV) wurden<br />

’<br />

hingegen bisher nur in Spuren und Ansätzen gestreift. Dieser Prozeß gehört<br />

nach wie vor zu den am wenigsten verstandenen und erklärbaren Phänomenen;<br />

er blieb auch innerhalb dieser Ausgabe vorerst noch ein hartnäckig weißer‘,<br />

’<br />

’ dunkler‘ oder blinder‘ Fleck auf den kognitiven Landkarten dieser Journal-<br />

’<br />

nummer.<br />

Analyse-Feld I: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> ein hohes Potential an Neuem<br />

Im ersten Feld geht es primär um den Zusammenhang von hohen Innovationsgraden,<br />

hohen kreativen Leistungen mit ihren organisatorischen ’ Environments‘.<br />

Gesucht wird hier nach jenen ’ Schlüsselfaktoren‘ und vor allem nach<br />

jenen Organisations-Mustern, die mit der Entstehung vieler oder wichtiger neuer<br />

Phänomene verbunden sind: organisatorische Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> wissenschaftliche<br />

Durchbrüche und Revolutionen, eine Fragestellung, die Rogers und<br />

Ellen Jane Hollingsworth sehr ausführlich innerhalb dieses Heftes zur Sprache<br />

brachten; Organisations-Formen, die <strong>für</strong> das Zustandekommen hoher unternehmerischer<br />

Innovationsleistungen vorrangig werden – das Kernthema in Jerry<br />

104 ÖZG 11.2000.1


Hages Artikel in dieser Ausgabe. Wo immer das Problem des Zusammenhangs<br />

von hohen Innovationspotentialen, markanten ’ Kreativitätsausbrüchen‘ und seinem<br />

weiteren organisatorischer Kontext auftaucht, da wird das Analysefeld I<br />

unmittelbar und zentral angesprochen.<br />

Und eine der bemerkenswertesten Konvergenzen im gesamten vorliegenden<br />

Heft hat sich genau bei den Analysen jener ’ Umgebungen‘ vollzogen, welche<br />

<strong>für</strong> einen hohen Grad an ’ extern‘ betrachteter Neuheit verantwortlich zeichnen.<br />

Denn ein starkes Ausmaß an Innovationen entlang der unterschiedlichsten Bereiche,<br />

in wissenschaftlichen Instituten, 44 in Unternehmen 45 oder in verwandten<br />

Organisations-Formen, stellt sich, so die bisherigen Analysen bei Rogers und Ellen<br />

Jane Hollingsworth oder Jerry Hage, dann her, wenn die folgenden drei Faktorengruppen<br />

simultan sich entfalten und verstärken können: riskante Strategien,<br />

Komplexität der Tätigkeiten sowie ’ organische‘ Organisationsmerkmale. 46<br />

Die bisherige Palette an Schlüsselfaktoren kann interessanterweise nach<br />

’ oben‘ hin nochmals erweitert und ausgebaut werden. In einer früheren Arbeit<br />

in dieser Zeitschrift über wichtige Eigenschaften und Charakteristika im sehr<br />

kreativen sozialwissenschaftlichen Netzwerk der <strong>Wien</strong>er Zwischenkriegszeit47 war ebenfalls von Schlüsselfaktoren‘ die Rede, die seinerzeitig zwar nicht in<br />

’<br />

diese Dreier-Gruppe verpackt waren, die aber bruch- und nahtlos in das bisherige<br />

Faktoren-Terzett integriert werden können. Dort war von einem Netzwerk‘<br />

’<br />

stark interagierender interdisziplinärer Gruppen – allen voran Ensembles wie<br />

der <strong>Wien</strong>er Kreis‘, der Austro-Liberalismus‘, der Austro-Marxismus‘ und an-<br />

’ ’ ’<br />

deren die Rede, welche weitgehend abseits der etablierten Stätten der Wissen-<br />

’<br />

schaften‘ – der <strong>Universität</strong>en – eine hoch innovative wissenschaftliche Kultur‘<br />

’<br />

pflegten und bis weit in die Mitte der 1930er Jahre auch erhalten konnten. Die<br />

wichtigsten Merkmale des seinerzeitigen urbanen Netzwerks‘ lassen sich wie<br />

’<br />

folgt dem bisherigen Trio von Schlüsselfaktoren zuordnen.<br />

– Komplexität der Arbeitsteilung: Komplexe Persönlichkeiten mit einer gegenwärtig<br />

erstaunlich anmutenden kognitiven ’ Weite‘ und ’ Tiefe‘ 48 ; komplexe Tätigkeits- und<br />

Diskussionsfelder, da die einzelnen Gruppen sich durch eine hohe disziplinäre Vielfalt<br />

auszeichneten u. a. m.<br />

44 Vgl. den Artikel der beiden Hollingsworths in dieser Ausgabe.<br />

45 Siehe den Artikel von Jerry Hage in diesem Band.<br />

46 Man könnte weiters einige der Ausführungen bei Albert Müller über das BCL als ’ implizite<br />

Unterstützung‘ anführen; und Christian Flecks sehr breit angelegte ’ Organisationsstudie‘<br />

kann nachgerade als Muster da<strong>für</strong> herhalten, warum bei Vernachlässigung einiger zentraler<br />

Schlüsselfaktoren wissenschaftlich Neues nicht sich zu bilden vermag.<br />

47 Vgl. Karl H. Müller, Sozialwissenschaftliche Kreativität in der Ersten und in der Zweiten<br />

Republik, in: Österreichische Zeitschrift <strong>für</strong> Geschichtswissenschaften 1, 1996, 9–43.<br />

48 Zu näheren Details sei auf den Artikel selbst verwiesen, aber auch auf Friedrich Stadler,<br />

Studien zum <strong>Wien</strong>er Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus<br />

im Kontext, Frankfurt am Main 1997.<br />

ÖZG 11.2000.1 105


– Strategische Visionen‘: Riskante‘ kognitive Gruppenziele, die unmittelbar mit der<br />

’ ’<br />

Produktion von Neuheit gekoppelt waren; 49 eigenständige lokale Traditionen‘ wie<br />

’<br />

etwa der Austro-Lioberalismus‘ oder der Austro-Marxismus‘ mit ebenfalls einer<br />

’ ’<br />

’ riskanten Weite‘ an unterschiedlichen Themen u. a. m.<br />

– Organische Organisation‘: Zivile Selbst-Organisation‘ der vielfältigen Gruppen-<br />

’ ’<br />

treffen jenseits von bürokratischen und standardisierten Routinen – und vor allem<br />

auch jenseits der traditionellen <strong>Universität</strong>en; enger Zusammenhang von ziviler<br />

’<br />

Selbst-Organisation‘ und horizontalen Begegnungsformen sowie dichtestgedrängte<br />

Kommunikations- und Austauschbeziehungen u. a. m.<br />

Nur unter der simultanen und ’ an sich‘ seltenen Gegebenheit aller drei Faktorengruppen<br />

konnte sich jenes hochinnovative ’ <strong>Wien</strong>er Netzwerk‘ in der Zwischenkriegszeit<br />

bis zu dem Zeitpunkt entfalten und etablieren, bis es durch<br />

den inner<strong>österreichische</strong>n Austrofaschismus und durch den außer<strong>österreichische</strong>n<br />

Nationalsozialismus vollends und nachhaltig zerstört wurde; als wär’s<br />

nie ein Stück von <strong>Wien</strong> gewesen. 50<br />

Damit liegen mittlerweile hinreichend viele empirisch abgestützte Erklärungs-Muster<br />

vor, die sich als verallgemeinerungsfähig ausweisen. Ein generalisierter<br />

Erklärungs-Sketch <strong>für</strong> den Analyse-Kontext I, <strong>für</strong> die Schlüsselfaktoren<br />

<strong>für</strong> ein hohes Umgebungs-Potential von Neuheit, könnte demnach in folgender<br />

Form präsentiert werden.<br />

Generalisierte Erklärungs-Skizze <strong>für</strong> das Feld I: Evolutionäre Ensembles wie Organisationen<br />

(Unternehmen, wissenschaftliche Institute, Bürokratien, intermediäre Organisationen,<br />

etc.) oder Regionen von einzelnen Städten bis hin zu ganzen Staaten<br />

besitzen ein hohes und nachhaltiges Innovations- oder Kreativitätspotential, wenn sie<br />

über das folgende Faktorengeflecht simultan verfügen und dieses zudem dauerhaft<br />

verbinden können: komplexe Formen der Arbeitsteilung (Faktorengruppe I), eine<br />

dauerhaft riskante Strategie (Faktorengruppe II) und eine organische Organisation<br />

(Faktorengruppe III). Wegen der vielfältigen positiven Relationen zwischen Innovationserfolgen<br />

und Größenwachstum einerseits [Innovationserfolge ↔ Größenwachstum<br />

( )], [Innovationserfolge ↔ Attraktivität <strong>für</strong> außen ( )], etc. und wegen der inver-<br />

49 Die Psycho-Analyse sollte beispielsweise entlang der ’ Schnittstelle‘ von Medizin, Machscher<br />

Mechanik, Psychologie und Psychiatrie wachsen, der <strong>Wien</strong>er Kreis sich im ’ Interface‘<br />

von ’ neuer Logik‘, Wissenschaftsanalyse, Philosophie und Sprachkritik entwickeln; der Austroliberalismus<br />

setzte sich die Ausarbeitung einer komplexen Handlungstheorie mit einem<br />

sehr differenzierten Güterkosmos zum Zielpunkt einer möglichst umfassenden Sozio-Ökonomie,<br />

etc.<br />

50 Man möchte verallgemeinernd hinzufügen: Nur unter einem ähnlichen Zusammenwirken<br />

dieser drei Gruppen an regionalen Schlüsselfaktoren vermögen sich auch gegenwärtig kreative<br />

wissenschaftliche Netzwerke aufzubauen und zu reproduzieren; momentan beispielsweise jene<br />

im Umkreis von Santa Fe oder um Boston. Und es würde zu den wissenschaftshistorisch<br />

spannungsgeladenen Forschungsfragen gehören, ob sich ’ Edinburgh um 1750‘, ’ Paris um 1750‘<br />

oder ’ Berlin um 1920‘ aus einer ähnlichen Faktorenkonstellation begreifen und ansatzweise<br />

erklären lassen.<br />

106 ÖZG 11.2000.1


sen Beziehungen zwischen Größenzuwächsen und organischen Strukturen andererseits<br />

[Größe ↔ Standardisierung ( )],[Größe ↔ Bürokratisierung ( )] [Größe ↔ horizontale<br />

Kommunikationen (-)], [Größe ↔ Hierarchiebildungen ( )], etc. unterminiert<br />

ein hohes Innovationspotential auf die Dauer die Grundlagen seiner Existenz.<br />

Formale Modelle, welche diesen allgemeinen Erklärungs-Sketch reproduzieren<br />

könnten, sind nicht unmittelbar gegeben – und würden an dieser Stelle auch<br />

kaum von unmittelbarem Nutzen sein. Denn die wichtigen Datenquellen <strong>für</strong><br />

diese allgemeine Erklärungs-Skizze lassen sich hauptsächlich über den Weg von<br />

qualitativen Erhebungen, Expertengesprächen oder Organisationsanalysen aufbauen.<br />

Und diese vornehmlich ’ weichen Daten‘ besitzen in der Regel eine starke<br />

Resistenz gegenüber weiterführenden Modellierungen. Summarisch eröffnet sich<br />

aber in Gestalt von Tabelle 5 eine überraschend homogene und empirisch vielfach<br />

gestützte ’ selbstähnliche‘ 51 Heuristik von kontextuellen Schlüsselfaktoren<br />

<strong>für</strong> hohe Innovationspotentiale in so unterschiedlichen Bereichen wie Wissenschaft,<br />

Ökonomie oder einem ’ intermediären Sektor‘ und <strong>für</strong> so divergierende<br />

Niveaus wie <strong>für</strong> einzelne Organisationen oder Regionen.<br />

Damit wäre ein erster Erklärungskontext mit einem allgemeinen Erklärungs-Sketch<br />

gewonnen, der zudem durch mehrere Beiträge in diesem Heft<br />

empirisch abgesichert werden konnte.<br />

Analyse-Feld II: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> die Ausbreitung des Neuen<br />

Ein zweites großes Analyse-Feld, auf dem sich zudem vielfältige empirische<br />

Erfahrung wie Erklärung angesammelt hat, liegt in der Schnittstelle von extern<br />

vorgegebenen Neuheiten und ihrer Diffusion. Die zentralen Fragestellungen<br />

zielen hier nach dem Ausbreitungs-Muster ebendieser Neuheit, die verschiedenartigste<br />

Formen beinhalten. Einerseits kann ’ Neuheit‘ vielerlei bedeuten:<br />

ein neues Produkt, einen neuen Prozeßablauf, eine neue Organisationsweise im<br />

Wirtschaftsleben, eine neue Theorie, ein neues Modell im Wissenschaftsbereich,<br />

neue Instrumente, neue Moden, neue ’ Lifestyle-Trends‘, ein neues literarisches<br />

Werk und vieles, vieles andere mehr; andererseits kann sich Neues schnell, zyklisch,<br />

linear, regional konzentriert, zeitverzögert, geplant, oder auch gar nicht<br />

verbreiten. Wo immer sich das Erkenntnisinteresse an der Ausbreitung oder<br />

auch der Nichtausbreitung neuartiger Phänomene festsetzt, da wird im Kern<br />

das Analyse-Feld II berührt.<br />

51 Der Ausdruck der ’ Selbstähnlichkeit‘ soll allerdings nur dann verwendet werden, wenn sich<br />

ein- und dasselbe ’ Faktorengeflecht‘ auf unterschiedlichen Ebenen – auf solchen der Regionen,<br />

der Staaten oder der Organisationen - applizieren läßt. ’ Selbstähnlichkeit‘ ist auf diese Weise<br />

untrennbar mit einem Niveauwechsel, nicht einem Bereichswechsel verknüpft.<br />

ÖZG 11.2000.1 107


Tabelle 5: ’ Selbstähnliche‘ Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> hohe Kreativitätsund<br />

Innovationspotentiale von Organisationen, urbanen Räumen oder Regionen<br />

BEREICHE FAKTORENGRUPPEN INDIKATOREN<br />

WISSENSCHAFTL.<br />

’ Komplexität der Vielfalt (Heterogenität von Dis-<br />

INSTITUTE Tätigkeiten‘ ziplinen; multi-disziplinäre Kompe-<br />

’<br />

tenzen), Tiefe‘ (Größe und Weite)<br />

’ Riskante‘<br />

’ Leadership‘: Strategische Vision,<br />

Strategien Rekrutierung; Ressourcen; inno-<br />

’<br />

vationsfreundliche Atmosphäre<br />

’ Organische Strukturen‘ Geringer Grad an Differenzierung,<br />

Hierarchisierung und Standardisierung;<br />

horizontale Kommunikationsprozesse<br />

UNTERNEHMEN<br />

’ Komplexität der Komplexe Arbeitsteilungen; kom-<br />

Tätigkeiten‘ plexe Berufs- und Tätigkeitsprofile<br />

u. a.<br />

’ Riskante Strategien‘<br />

’ Leadership‘: Unternehmensvision<br />

<strong>für</strong> Markt-Nischen u. a.<br />

’ Organische Strukturen‘ Relativ geringer Grad an Differenzierung,<br />

Bürokratisierung, etc.<br />

INTERMEDIÄRE<br />

’ Komplexität der Komplexe Arbeitsteilungen; kom-<br />

ORGANISATIONEN Tätigkeiten‘ plexe Berufs- und Tätigkeitsprofile<br />

u. a.<br />

’ Riskante Strategien‘<br />

’ Leadership‘: Visionen <strong>für</strong> die<br />

Umstrukturierung einer Organisation<br />

in intermediäre Nischen<br />

’ Organische Strukturen‘ Relativ geringer Grad an Differenzierung,<br />

Bürokratisierung, etc.<br />

REGIONEN<br />

’ Komplexität der Kognitive ’ Weite‘ und ’ Tiefe‘<br />

(Stadt, Region Tätigkeiten‘ von Personen; Heterogenität von<br />

Staat) Disziplinen in den Gruppen<br />

’ Riskante Strategien‘<br />

’ Leadership‘ : Risikoreiche<br />

Wissenschaftsprogramme<br />

mit genuinem Neuheitswert;<br />

Schaffung passender Organisations-Formen<br />

u. a.<br />

’ Organische Strukturen‘<br />

’ Zivile‘ Selbst-Organisation;<br />

geringer Grad an Standardisierung;<br />

hohes Ausmaß an horizontaler<br />

Kommunikation, etc.<br />

Im Falle des kreativen <strong>Wien</strong>er Netzwerks braucht nur auf ’ Leit-Figuren‘ wie beispielsweise<br />

Sigmund Freud, Alfred Adler, Ludwig von Mises, Otto Neurath oder Moritz Schlick verwiesen<br />

werden.<br />

108 ÖZG 11.2000.1


Für diese ’ Diffusion des Neuen‘ sind im Wissenschaftsbereich völlig unabhängig<br />

voneinander zu zwei verschiedenen Zeitpunkten und zudem <strong>für</strong> verschiedene<br />

Bereiche zwei Erklärungsskizzen entworfen worden. Die erste Version<br />

wird im Bereich der Ökonomie entwickelt und von Joseph A. Schumpeter seit<br />

dem Jahre 1912, dem Erscheinungsdatum seiner ’ Volkswirtschaftlehre‘ immer<br />

mehr verfeinert. 52 Bezogen auf langfristige Produkt-Innovationen liest sich der<br />

Schumpetersche Sketch ungefähr wie folgt.<br />

Zu Beginn zeichnet sich ein Marktsystem – und dies markiert den Beginn seiner ’ Prosperitätsphase‘<br />

– durch eine rasche Diffusion einer Basis-Produktinnovation 53 und<br />

der dadurch induzierten sekundären, tertiären usw. Anpassungsprozesse aus. Weil die<br />

Erträge und Chancen von Kapazitätsausweitungen im neuen Verbund dieser Basis-<br />

Produktinnovation aber im Lauf der Zeit abnehmen stoßen, wird das ökonomische System<br />

insgesamt in die Gegend von ’ Sättigungsgrenzen‘ getrieben. Mit dem Erreichen<br />

solcher Grenzen wandelt sich – und dies markiert den Beginn der ’ Depressionsphase‘ –<br />

der Zustand des ökonomischen Systems. Es kommt, so sich dazu die Möglichkeiten offerieren,<br />

zur Verbreitung von Basis-Prozeßinnovationen, welche aber ihrerseits durch<br />

abnehmende Grenzerträge charakterisierbar sind. Durch die mit der Zeit auch schwindenden<br />

Attraktivitäten von Basis-Prozeßinnovationen und dem parallel damit zunehmenden<br />

Aufbau einer neuen Basis-Produktinnovation wird das ökonomische System<br />

wiederum, und diesmal deshalb, weil während der Depression die Wahrscheinlichkeit<br />

<strong>für</strong> die Suche nach gänzlich anderen Alternativen zunimmt und eine erfolgreiche Basis-<br />

Produktinnovation inmitten einer wenig gewinnträchtigen Umgebung vergleichsweise<br />

schnell imitiert wird, in eine Umgebung voll von ’ offenen Möglichkeiten‘ getrieben.<br />

Nach einer kurzen ’ Scramble‘-Periode, in der sich eine Basis-Produkt-Innovation als<br />

die vergleichsweise stärkste herausstellen muß, kann sich eine neuerliche Aufschwungperiode<br />

entfalten, innerhalb der – aber damit wären wir wiederum beim Anfang zu<br />

diesem Sketch angelangt, der sich im übrigen, weil eine große Zahl der beteiligten<br />

Unternehmensgruppen unkoordiniert, aber gebunden rational entscheidet, auf diese<br />

Weise ad infinitum fortsetzt.<br />

Die Abbildung 1 führt nochmals das Schema einer solchen quasi-zyklischen<br />

’ Schumpeter-Uhr‘ vor Augen, in der einzelne Unternehmen sich im Zeitablauf<br />

einer von insgesamt sechs Netzwerk-Gruppen zuordnen können: CE (core/expansiv)<br />

steht dabei <strong>für</strong> Produkt-Innovationen im Bereich von Schlüsseltechnologien<br />

oder Leitsektoren‘, CR (core/rationalisierend) <strong>für</strong> Prozeß-Innovationen<br />

’<br />

wiederum bei Schlüsseltechnologien, PE (peripher/expansiv) <strong>für</strong> Produktinnovationen<br />

in speziellen Marktnischen, PR (peripher/rationalisierend) <strong>für</strong> Prozeß-<br />

52 Vgl. Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung<br />

über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 3. Aufl.,<br />

München 1931 (1. Aufl. 1912).<br />

53 In historischer Reihenfolge lautet die Sequenz dieser Leit- und Schlüsselsektoren: Textilindustrie,<br />

Eisenbahnen, Chemie-/Elektroindustrie, Automobile, IuK-Technologien, vgl. dazu<br />

auch W. W. Rostow, The World Economy. History Prospect, Austin 1978.<br />

ÖZG 11.2000.1 109


Abbildung 1: Eine Netzwerk-Darstellung der ’ Schumpeter-Uhr‘<br />

Innovationen innerhalb von Marktnischen, CI (core/indifferent) <strong>für</strong> keinerlei<br />

Innovationstätigkeit bei Schlüsseltechnologien oder Leitsektoren und PI (peripher/indifferent)<br />

<strong>für</strong> keinerlei Innovationstätigkeiten innerhalb einzelner Marktnischen.<br />

Eine Art ’ Zyklus‘ wird bei diesem Netzwerk dann dadurch hergestellt,<br />

daß sich in ’ periodischen‘ Abständen relativ starke Konzentrationen innerhalb<br />

des CE-Bereichs – die Stunde der neuen Leitsektoren – mit stärkeren Ballungen<br />

im CR-Segment – die Tage der großen Rationalisierungen – ablösen. Interessanterweise<br />

wurde nun dieser ’ Erklärungs-Sketch‘ zur Ausbreitung des Neuen<br />

innerhalb des Feldes II nochmals erfunden; aber diesmal ereignet sich diese<br />

Diffusions-Geschichte innerhalb eines ganz anderen Gebietes außerhalb der<br />

Ökonomie. Seltsamerweise wurden trotz oder vielleicht: wegen dieser ’ Parallelaktion‘<br />

beide Versionen unabhängig voneinander in ihren jeweiligen Ursprungsdomänen<br />

äußerst populär und avancierten dort nachgerade zu ’ Klassikern‘. In<br />

der Wissenschaftsforschung, da liest sich jedenfalls diese ’ Diffusions-Geschichte‘<br />

mit veränderten Akteuren und anderen Objekten strukturähnlich – so.<br />

Zu Beginn der Geschichte zeichnet sich ein wissenschaftliches Feld – und dies markiert<br />

den Beginn seiner revolutionären Phase – durch eine rasche Diffusion eines innovativen<br />

wissenschaftlichen Grundlagenprogramms – eines ’ Paradigmas‘ – und der<br />

dadurch induzierten sekundären, tertiären usw. Anpassungsprozesse aus. Weil die<br />

Chancen von Applikationsausweitungen im neuen Verbund dieses innovativen Basis-<br />

Programms aber im Lauf der Zeit abnehmen, wird das betreffende Feld insgesamt in<br />

die Gegend von ’ Sättigungsgrenzen‘ und einer Anhäufung von ’ Anomalien‘ getrieben.<br />

110 ÖZG 11.2000.1


Mit dem Erreichen solcher Grenzen‘ wandelt sich – und dies markiert den Beginn<br />

’<br />

einer Periode der Krise‘ – der Zustand des betreffenden Feldes. Es kommt, so sich dazu<br />

’<br />

die Möglichkeiten offerieren, zur Verbreitung von ad hoc-Programmen‘, welche aber<br />

’<br />

ihrerseits durch abnehmende Grenzerträge charakterisierbar sind. Durch die mit der<br />

Zeit auch schwindenden Attraktivitäten von solchen ad hoc-Programmen‘ und dem<br />

’<br />

parallel damit zunehmenden Aufbau neuer Basisprogramme oder Paradigmen wird<br />

aber ein wissenschaftliches Feld wiederum, und diesmal deshalb, weil während der Krisen<br />

die Wahrscheinlichkeit <strong>für</strong> die Suche nach gänzlich anderen Alternativen zunimmt<br />

und erfolgreiche innovative Basisprogramme inmitten einer wenig problemlösungsreichen<br />

Umgebung vergleichsweise schnell imitiert werden, in die Umgebung voll von<br />

’ offenen Möglichkeiten‘ bewegt. Nach einer kurzen Scramble-Periode‘, in der sich ein<br />

’<br />

spezielles Paradigma als das vergleichsweise stärkste herausstellen muß, kann sich<br />

eine neuerliche Revolutionierung‘ entfalten, innerhalb der – aber damit wären wir<br />

’<br />

wiederum beim Anfang zu diesem Sketch angelangt, der sich im übrigen, weil eine<br />

große Zahl der daran beteiligten Forschungseinheiten unkoordiniert, aber gebunden<br />

rational entscheidet, auf diese Weise ad infinitum fortsetzt ...<br />

Und weil ein Erklärungs-Sketch von seinen Grundstrukturen her in zwei sehr<br />

unterschiedlichen Metiers auf nahezu identische Weise entwickelt wurde, sollen<br />

die bisherigen zwei ’ Erklärungs-Rahmen‘ ihrerseits ’ generalisiert‘ und in einen<br />

weiteren Diffusions-Kontext gestellt werden, der solche ’ quasi-zyklischen‘ Muster<br />

als echte Teilmenge enthält.<br />

Generalisierte Erklärungs-Skizze <strong>für</strong> das Feld II: Als Anfangsbedingung zeichnet sich<br />

ein beliebiges Gesamt-System – ökonomische, soziale oder andersgelagerte Akteur-<br />

Netzwerke samt ihren eingebetteten Code-Systemen - durch das Auftauchen eines<br />

neuen Elements – einer Eigenschaft, einer Struktur, eines neuen Bausteins‘, einer<br />

’<br />

Gruppe neuer Bausteine‘ – aus. Diese Neuheit ist an irgendeinem Punkt dieses<br />

’<br />

Gesamt-Systems entstanden und wird wegen ihrer komparativen Vorteile‘ – bewertet<br />

’<br />

an einem einfachen oder zusammengesetzten Evaluationsmaß – vergleichsweise schneller<br />

reproduziert‘, imitiert‘ und in alle mögliche Richtungen rekombinativ erweitert,<br />

’ ’<br />

verbessert und ergänzt. In dieser Phase werden überdies durch die schnellen Imitationen<br />

wie Replikationen sekundäre, tertiäre, quartäre ... Anpassungsprozesse ausgelöst,<br />

welche das Gesamt-System insgesamt stark verändern. Weil aber die Expansionspotentiale<br />

dieses neuartigen Ensembles im Laufe der Zeit abnehmen und nur in den<br />

allerseltensten Fällen einen eliminativen und umgebungsräumenden‘ Charakter be-<br />

’<br />

sitzen, werden weitere Diffusionen an Sättigungsgrenzen‘ stoßen. Es verbreiten sich<br />

’<br />

in der Folge solche Veränderungen, welche das neue Ensemble optimieren‘ und sei-<br />

’<br />

nem dominanten Design‘ nähern. Je nach Art der Umgebung und der Koordination<br />

’<br />

lassen sich diese Diffusionen einerseits in Form von Uhrwerken‘ als quasiperiodi-<br />

’ ’<br />

sche Phasen‘ beschreiben, in denen ein endogenes Faktorengeflecht eine regelmäßige<br />

Sequenz von Expansionsphasen‘, Optimierungszeiten‘ und neuerlichen Expansions-<br />

’ ’ ’<br />

phasen‘ garantiert. Das andere Format <strong>für</strong> Ausbreitungen ist nicht zyklisch gehalten,<br />

sondern in Form von spontanen Bubbles‘ arrangiert, die durch unregelmäßige,<br />

’<br />

a-zyklische Abfolgen von Expansionsphasen‘, Optimierungszeiten‘ und neuerlichen<br />

’ ’<br />

’ Expansionsphasen‘ beschrieben werden können.<br />

ÖZG 11.2000.1 111


Für diesen generellen Erklärungs-Sketch steht gleich eine Reihe an ’ komplexen<br />

Modellierungsstrategien‘ offen, die von der ’ Populations-Dynamik‘ bis hin zu<br />

Diffusions-Gleichungen oder nicht-linearen ’ Räuber-Beute-Modellen‘ reichen. 54<br />

Heuristisch sollte es sich aber vor allem als fruchtbar erweisen, die Diffusionsgeschichte<br />

des Neuen innerhalb von beliebigen Umgebungen – innerhalb<br />

von Akteur-Netzwerken mit ihren eingebetteten Code-Systemen in der Ökonomie,<br />

der Wissenschaften, der Politik oder anderer Bereiche – nach dem ’ Erklärungs-Muster‘<br />

von ’ Mastergleichungen‘ aufzubauen, die eine hinreichend flexible<br />

Modellierungs-Sprache‘ <strong>für</strong> unterschiedlichste Bereiche aufweisen. 55 Für<br />

die ’ Schumpeter-Uhr‘ mit ihren Zuständen von Basis-Produkt-Innovationen,<br />

Basis-Prozeß-Innovationen, <strong>für</strong> die in den Raum gestellte ’ Kuhn-Uhr‘ mit ihren<br />

alten und neuen Paradigmata und <strong>für</strong> ähnlichgelagerte ’ Innovations-Uhren‘ läßt<br />

sich das folgende Modellierungsschema aufbauen, das in vier Grundgleichungen<br />

separiert werden kann. Die erste Gleichung ist eine Art von ’ Bilanzgleichung‘, in<br />

der die Übertrittswahrscheinlichkeit p <strong>für</strong> den Wechsel zwischen verschiedenen<br />

’ Zuständen‘ oder Populationen‘ im Zentrum steht: <strong>für</strong> die Wahrscheinlichkeit<br />

’<br />

des Wechsels eines Unternehmens von einem indifferenten Peripheriebereich<br />

(PI) in ein innovatives Kernsegment (CE), <strong>für</strong> die Änderung einer Wissenschaftlergruppe<br />

von einem alten Paradigma hin zu einem neuen, usw. Diese<br />

Wahrscheinlichkeit hängt, abgesehen von einem generellen Mobilitätsterm‘<br />

’<br />

ν, im wesentlichen von zwei Faktorengruppen ab, nämlich von den Attrakti-<br />

’<br />

vitäten‘ a und den inhärenten Netzwerkbarrieren‘ f.<br />

’ 56 Diese Barrieren können<br />

nun ihrerseits nach mehreren Faktoren aufgesplittet‘ werden. Wichtig wird hier<br />

’<br />

vor allem, daß solche Barrieren oder Constraints je nach untersuchtem Bereich<br />

54 Zu solchen Ansätzen vgl. überblicksweise Josef Hofbauer u. Karl Sigmund, Evolutionstheorie<br />

und dynamische Systeme. Mathematische Aspekte der Selektion, Berlin 1984 sowie<br />

Manfred Peschel u. Werner Mende, The Predator-Prey Model. Do We Live in a Volterra<br />

World, <strong>Wien</strong> u. New York 1986.<br />

55 Zu diesen Master-Gleichungen vgl. u. a. Hermann Haken, Synergetik. Eine Einführung,<br />

Berlin u. a. 1982, ders., Advanced Synergetics. Instability Hierarchies of Self-Organizing Systems<br />

and Devices, Berlin u. a. 1983; Wolfgang Weidlich u. Günter Haag, Concepts and<br />

Models of a Quantitative Sociology. The Dynamics of Interacting Populations, Berlin u. a.<br />

1983; dies., Hg., Interregional Migration. Dynamic Theory and Comparative Analysis, Berlin<br />

u. a. 1988; Günter Haag, Dynamic Decision Theory. Applications to Urban and Regional<br />

Topics, Dordrecht u. a. 1989; Karl H. Müller u. Günter Haag, Hg., Komplexe Modelle in den<br />

Sozialwissenschaften, Sonderausgabe von WISDOM (1994).<br />

56 Bezogen auf die bisher skizzierten Erklärungs-Sketches läßt sich formulieren: Der Wechsel<br />

<strong>für</strong> ein Unternehmen hin zu einer neuen Produkt-Innovation (<strong>für</strong> eine Wissenschaftlergruppe<br />

hin zu einem ’ neuen Paradigma‘) ist umso größer, je attraktiver diese Neuheit klassifiziert<br />

werden kann und je weniger an ’ Constraints‘ oder Barrieren‘ <strong>für</strong> einen solchen Wechsel vorhanden<br />

sind. Die Grundgleichung lautet dabei:<br />

p α ij = ν α (t)f α ijexp [a α i ( −→ n ) − a α j ( −→ n )], i �= j (1.1)<br />

112 ÖZG 11.2000.1


verschieden ausfallen können. 57 In der Gleichung (1.2) wird beispielsweise davon<br />

ausgegangen, daß zwei wichtige Constraints‘, aufgebaut als Distanzen‘ δ<br />

’ ’<br />

zwischen den einzelnen Netzwerkpopulationen, die Bewegungen innerhalb des<br />

Netzwerks erschweren, verlangsamen oder behindern. 58 Damit kann zur Seite<br />

an Attraktivitätsfaktoren‘ übergeschwenkt und wiederum zwischen zwei un-<br />

’<br />

terschiedlichen Gruppen differenziert werden. 59 Auf der einen Seite, den s, stehen<br />

systemische‘ Attraktivitätsfaktoren oder sogenannte Synergie-Parameter‘,<br />

’ ’<br />

die in solchen Akteur-Netzwerken in unterschiedlichem Ausmaß wirken können<br />

und die auf zwei wichtige nicht-lineare Prozesse abzielen: einmal auf die schnelle<br />

Ausbreitung und Auffüllung‘ eines besonders attraktiven Zustands, ein Phäno-<br />

’<br />

men, das auch als Tauben-, Bandwagon- oder Agglomerations-Effekt‘ bekannt<br />

’ ’<br />

ist; und einmal auf jene Sättigungsgrenzen‘ und Schwellen‘, welche solche<br />

’ ’<br />

schnellen Agglomerationsprozesse begrenzen. Unter der Rubrik e können im<br />

Kontext von Gleichung (1.3) dann jene Faktoren spezifiziert werden, welche <strong>für</strong><br />

’ komparative Vorteile‘ abseits der beiden systemischen Größen verantwortlich<br />

zeichnen. Schließlich wird die genaue Formalisierung der beiden Synergiepara-<br />

’<br />

meter‘ so vorgenommen, daß der erste Parameter κ den Tauben‘-, Bandwa-<br />

’ ’<br />

gon‘- oder Agglomerations-Effekt‘ beschreibt und die zweite Größe σ die Sätti-<br />

’ ’<br />

gungsgrenzen‘ zum Ausdruck bringt. 60 Aus den bisherigen Darstellungen – den<br />

beiden Erklärungs-Skizzen <strong>für</strong> die Struktur ökonomischer wie wissenschaftlicher<br />

Revolutionen, aus der Abbildung 1, dem generalisierten Erklärungs-Sketch sowie<br />

aus der Skizzierung eines einzelnen komplexen und nicht-linearen Modells –<br />

kann zur Tabelle 6 übergeleitet werden, in der sich die wichtigsten Schlüsselfak-<br />

’<br />

toren‘ <strong>für</strong> die Ausbreitung des Neuen in unterschiedlichen Domänen versammelt<br />

57 Beispielsweise wird sich der Übergang von einem ’ alten Paradigma‘ zu einem ’ neuen‘ <strong>für</strong><br />

einzelne Wissenschaftsgruppierungen dann als schwierig herausstellen, wenn sich die notwendige<br />

maschinelle oder instrumentelle Infrastruktur <strong>für</strong> die Arbeit im Kontext des neuen<br />

Paradigmas als sehr kostspielig herausstellt, wenn sie deutlich größere Teams erfordert, wenn<br />

sie seltene Kompetenzen verlangt usw.<br />

58 Formal lassen sich diese Barrieren in die folgende Gleichungsform bringen:<br />

59 Formal bedeutet dies nichts anderes als:<br />

f α ij = exp (−µ α δ 1,α<br />

ij − ραδ 2,α<br />

ij<br />

) (1.2)<br />

a α i = s α i + e α i (1.3)<br />

60 Formalisiert lassen sich diese ’ Synergie-Parameter‘ auf die folgende Art wiedergeben:<br />

s α i =<br />

P�<br />

β=1<br />

P�<br />

β�<br />

k αβ n β<br />

i + σ<br />

β=1 γ=1<br />

αβγ n β<br />

i nγi<br />

+ ... (1.4)<br />

ÖZG 11.2000.1 113


finden. Im wesentlichen können zwei verschiedene Gruppen an ’ Schlüsselfaktoren‘<br />

bemüht werden.<br />

Die erste Faktorengruppe – die Faktoren <strong>für</strong> ’ komparative Vorteile‘ – fassen<br />

jene Bestimmungsgrößen zusammen, welche das Neue in seinem Umfeld als<br />

vergleichsweise ’ besser‘, ’ attraktiver‘, ’ nützlicher‘ o. a. m. erscheinen lassen. 61<br />

Im Prinzip können solche ’ komparativen Vorteile‘ in zwei unterschiedlichen Bereichen<br />

liegen, nämlich einerseits im ’ Neuen‘ selbst und andererseits in seinen<br />

Verbindungen und Beziehungen zu seiner ’ Umwelt‘. 62<br />

Und das zweite Faktorenset konzentriert sich auf solche Größen, welche den<br />

Transfer und die Bewegung innerhalb der großen Akteur-Netzwerke behindern,<br />

restringieren und einschränken. So mag es zwischen einer alten und einer neuen<br />

Technologie ganz klare Unterschiede an ’ komparativen Vorteilen‘ geben, allein<br />

der Wechsel kann sich wegen vielfältiger Lock-in-Phänomene‘ – zu geringes<br />

’<br />

’ Know how‘, zu unterschiedliche Größenverhältnisse u. v. a. m. – verzögern oder<br />

überhaupt ganz ausbleiben.<br />

Aus der Tabelle 6 wird zudem auch ersichtlich, daß beide Gruppen an<br />

Schlüsselfaktoren imstande sind, jeweils besondere Dynamiken in der Ausbreitung<br />

des Neuen erzeugen zu können. Ausbreitungs-Uhren‘ stellen jedenfalls nur<br />

’<br />

eines von vielen Diffusions-Mustern‘ des Neuen dar. Insgesamt warten aber<br />

’<br />

im Feld II gleich mehrere ähnlichgelagerte Modelle mit zwei Klassen an erklärungsrelevanten<br />

Schlüsselfaktoren‘ darauf, beliebige Fragestellungen in der<br />

’<br />

Ausbreitung von Neuheiten in einen zwar komplexen, aber durchaus normalwissenschaftlichen<br />

Erklärungs- und Prognose-Rahmen zu überführen. 63<br />

61 Hier wird es wichtig, auf die Kontextgebundenheit solcher ’ komparativen Vorteile‘ eigens<br />

hinzuweisen. Etwas Neues, das in einer speziellen Umgebung starke komparative Vorteile<br />

besitzt, kann sie in anderen Kontexten vollends verlieren, vgl. John Maynard Smith, Evolution<br />

and the Theory of Games, 3. Aufl., Cambridge 1985 sowie Karl Sigmund, Games of Life.<br />

Explorations in Ecology, Evolution and Behaviour, Harmondsworth 1995.<br />

62 Mit diesem Punkt wird auch das technologiehistorisch immer wieder ausgeführte Phänomen<br />

angesprochen, daß ein neues Produkt oder eine neue Technologie auf der Ebene der Performanzen<br />

deutlich besser abschnitt und sich dennoch, wegen seiner fehlenden oder schlechteren<br />

’ Umfeld-Linkages‘, nicht durchsetzen konnte. Zu diesem Punkt besonders James M.<br />

Utterback, Mastering the Dynamics of Innovation. How Companies Can Seize Opportunities<br />

in the Face of Technological Change, Boston 1994; und als Stück subversiver Wissenschaftsliteratur<br />

über die Zentralität solcher ’ Umfeld-Linkages‘ vgl. Bruno Latour, The Pasteurization<br />

of France, Cambridge, MA. 1988.<br />

63 Es sollte eigens betont werden, daß <strong>für</strong> alle der in der Tabelle 6 angeführten Bereiche<br />

bereits komplexe Modelle mit vollständigen empirische Anwendungen vorliegen, vgl. dazu<br />

die Literatur aus Anm. 54 sowie Karl H. Müller u. Günter Haag, Complex Modeling with<br />

NIS-Data. The Austrian Innovation System, Bd. 5, <strong>Wien</strong> 1996.<br />

114 ÖZG 11.2000.1


Tabelle 6: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> die Ausbreitung des Neuen<br />

in Wissenschaft, Ökonomie und Gesellschaft<br />

BEREICHE FAKTORENGRUPPEN INDIKATOREN<br />

PRODUKT- Attraktivitäten Komparative Vorteile des neuen<br />

INNOVATIONEN Produkts; komparative Vorteile<br />

seiner Netzwerkmerkmale<br />

Barrieren Netzwerkhemmnisse durch unterschiedliche<br />

Größenverhältnisse,<br />

technologische Ausstattung, Qualifikationen<br />

u. a.<br />

Dynamik<br />

’ Quasi-periodisch‘<br />

PROZESS- Attraktivitäten Komparative Vorteile einer neuen<br />

INNOVATIONEN Prozeß-Technologie; komparative<br />

Vorteile mit ihrer Umgebungen<br />

Barrieren Netzwerkhemmnisse über unterschiedliche<br />

Größenverhältnisse,<br />

technologische Ausstattung, Qualifikationen<br />

u. a.m.<br />

Dynamik<br />

’ Quasi-periodisch‘<br />

” NEUE Attraktivitäten Komparative Vorteile eines neuen<br />

PARADIGMEN“ Paradigmas; komparative Vorteile<br />

seiner Netzwerkmerkmale<br />

Barrieren Hemmnisse durch unterschiedliche<br />

Größenverhältnisse, Qualifikation,<br />

’ Glaubensstärken‘ u. a.<br />

Dynamik<br />

’ Quasi-periodisch‘ oder kontextabhängig<br />

NEUE POLITISCHE Attraktivitäten Komparative Vorteile einer neuen<br />

PARTEIEN politischen Partei; komparative<br />

Vorteile ihrer Vernetzungsmerkmale<br />

Barrieren Netzwerkhemmnisse über unterschiedliche<br />

sozio-ökonomische,<br />

sozio-demografische oder kognitive<br />

Verteilungen<br />

Dynamik Kontextabhängig<br />

NEUE Attraktivitäten Komparative Vorteile eines neuen<br />

BESCHÄFTIGUNGS- Sektors; komparative Vor-<br />

SEKTOREN teile seiner Vernetzungsmerkmale<br />

Barrieren Netzwerkhemmnisse über unterschiedliche<br />

sozio-ökonomische,<br />

sozio-demografische oder qualifikatorische<br />

Verteilungen<br />

Dynamik Komplexe ’ Räuber-Beute-Muster‘<br />

u. a. m.<br />

ÖZG 11.2000.1 115


Analyse-Feld III: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> die ’ Transformatoren‘ des Neuen<br />

Mit dem Feld III wechselt die bisherige Betrachtungsweise von einer exter-<br />

’<br />

nen‘ in eine interne‘ Perspektive: Es geht um die Abfolgen, Sequenzen, Stufen,<br />

’<br />

Transformationen, Veränderungen, welche die Entstehung des Neuen aus dem<br />

Blick ihrer jeweiligen unmittelbaren Umgebungen‘ heraus untersuchen.<br />

’<br />

Zur Verdeutlichung der speziellen Perspektive im Feld III sei das Beispiel<br />

der wissenschaftlichen Revolutionen und Durchbrüche herangezogen. Worin<br />

unterscheiden sich Feld I-Zugänge, beispielsweise der Approach bei den beiden<br />

Hollingsworths, von einer Feld III-Analyse Nun, der Fokus im Feld III<br />

richtet sich von seinen zentralen Forschungsfragen her auf die wissenschaftlichen<br />

Revolutionäre‘ und Durchbrecher‘ in der Phase ihrer Revolutionen und<br />

’ ’<br />

Durchbrüche: einerseits auf den Theoretiker, die Methodikerin, den Konstrukteur<br />

oder unter Umständen auch auf die Kleingruppe, welche diese spektakulär<br />

neuwertige Theorie, Methode oder jenes radikale Konstrukt geschaffen haben;<br />

und andererseits auf die Orte und die Zeiten, in denen dieser Wechsel von<br />

’ alt‘ zu neu‘ passierte. Es geht somit nicht um die gesamte Geschichte dieser<br />

’<br />

Personen, sondern vielmehr um jene distinkten Kompetenzen‘ und jene fei-<br />

’ ’<br />

nen Veränderungen‘, die sich während und im Vollzug der Schaffung des Neuen<br />

ereignet haben. Eine zentrale Forschungsfrage könnte daher lauten, welche<br />

Schlüsselfaktoren und Schlüsselkompetenzen einzelne Personen oder Umgebungen<br />

aufweisen müssen, um eine konkrete innovative oder kreative Leistung im<br />

Wissenschaftsbereich erfolgreich durchzuführen und zu Ende zu bringen.<br />

An dieser Stelle sei aber gleich hinzugefügt, daß diese Umgebungen‘ oder<br />

’<br />

die Transformatoren‘ mittlerweile nicht mehr einzig und allein auf menschliche<br />

’<br />

Individuen oder Gruppen beschränkt bleiben. Environments‘ <strong>für</strong> das Neue wer-<br />

’<br />

den seit den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend auch<br />

in den Bereichen der Artificial Intelligence, 64 des Artificial Life, 65 oder im Bereich<br />

intelligenter Maschinen‘<br />

’ 66 geschaffen, in denen sich in verstärktem Maße<br />

’ Lern- und Adaptionsprozesse‘ ereignen und damit Neues entsteht. Denn wo<br />

das Lernen in sein Recht tritt, da ist in der Regel das Neue mit im Spiel.<br />

Innerhalb des konkreten Feldes III stehen daher jene detaillierten Folge-<br />

’<br />

oder Sequenz-Analysen‘ am Programm, wie von einzelnen Umgebungen‘ – Per-<br />

’ ’<br />

sonen, Computer, artifizielle Lebewesen, Roboter u. a. – eine bestehende An-<br />

’<br />

fangskonstellation‘ in etwas Neues‘ transformiert wird. Auf den ersten Blick<br />

’<br />

64 Vgl. als Einblick Edward A. Feigenbaum u. Julian Feldman, Hg., Computers and Thought,<br />

Menlo Park 1995.<br />

65 Vgl. dazu lediglich Chris G. Langton, Hg., Artificial Life, Redwood City 1989; ders. u. a.,<br />

Hg., Artificial Life II, Redwood City 1992 sowie ders., Hg., Artificial Life III, Redwood City<br />

1994.<br />

66 Vgl. Ray Kurzweil, Homo S piens. Leben im 21. Jahrhundert – Was bleibt vom Menschen<br />

, Köln 1999.<br />

116 ÖZG 11.2000.1


könnte an dieser Stelle nochmals das Terzett an Schlüsselfaktoren aus dem<br />

Feld I auch dazu verwendet werden, Kreativitäts- und Innovationspotentiale<br />

von Personen 67 , Gruppen oder von anderen ’ Environments‘ in der Genese des<br />

Neuen zu benennen. Beschreibungen wesentlicher Merkmale ’ kreativer Personen‘<br />

wie die nachstehende drängen sich geradezu auf, dem bestehenden Set an<br />

Schlüsselfaktoren aus dem Feld I zugeordnet zu werden.<br />

Originality, articulate and verbally fluent, thinks metaphorically, uses wide categories<br />

and images, flexible and skilled decision maker, makes independent judgements, builds<br />

new structures, finds order in chaos, questions norms and assumptions, alert to novelty<br />

and gaps in knowledge, uses existing knowledge as base for new ideas ... 68<br />

Aus dieser Aufzählung kann nun tatsächlich – als anfängliche Heuristik – eine<br />

konkrete Liste mit ’ Schlüsselfaktoren‘ und wesentlichen Indikatoren zusammengestellt<br />

werden, die <strong>für</strong> kreative Personen oder Kleinteams in unterschiedlichen<br />

Bereichen – in der Wissenschaft, in der Technik u. a. – konstitutiv werden.<br />

Komplexität der Tätigkeiten: Hohe Kompetenz und Vertrautheit mit dem<br />

jeweiligen state of the art; große kognitive Neugierde; hohe verbale Kompetenz<br />

im jeweiligen Bereich, metaphorisches Denken im jeweiligen Feld, Gebrauch<br />

breiter ( ’ lateraler‘) Analogien und Bilder, schneller Aufbau neuer kognitiver<br />

Strukturen, leichte Entdeckung von kognitiven ’ Ordnungen im Chaos‘, Autonomie<br />

in kognitiven Entscheidungen u. a. Riskante Strategien: Unabhängigkeit<br />

in strategischen Entscheidungen; hohe verbale Kompetenz im Strategiebereich;<br />

metaphorisches Denken in Strategie-Feldern; flexibel und kompetent in der<br />

Strategiefindung und im Schaffen neuer Strukturen; leichte Entdeckung von<br />

strategischen ’ Ordnungen im Chaos‘; große strategische ’ Neugierde‘ u. a. ’ Organische‘<br />

Organisation: Unabhängigkeit in der Implementation von Entscheidungen;<br />

flexibel und kompetent in der Strategie-Umsetzung; hohe Kompetenz<br />

in der Verfolgung und Erhaltung neuer Strukturen u. a.<br />

67 Vgl. dazu u. a. Margaret A. Boden, The Creative Mind. Myths and Mechanisms, London<br />

1990; Ronald A. Finke, Thomas B. Ward u. Steven M. Smith, Creative Cognition. Theory,<br />

Research, and Applications, Cambridge MA 1992; Howard Gardner, Creating Minds. An<br />

Anatomy of Creativity Seen through the Lives of Freud, Einstein, Picasso, Stravinsky, Eliot,<br />

Graham, and Ghandi, New York 1993, 359–405; Douglas R. Hofstadter, Metamagical Themas.<br />

Questing for the Essence of Mind and Pattern, New York 1985; Pat Langley, Herbert A. Simon<br />

and Gary L. Bradshaw, Jan M. Zytkow, Scientific Discovery. Computational Explorations of<br />

the Creative Processes, Cambridge MA. 1987; Robert J. Sternberg u. Peter A. Frensch, Hg.,<br />

Complex Problem Solving. Principles and Mechanisms, Hillsdale 1991; Robert J. Sternberg u.<br />

Richard K. Wagner, Hg., Mind in Context. Interactionist Perspectives on Human Intelligence,<br />

Cambridge MA. 1994 oder Thomas G. West, In the Minds Eye. Visual Thinkers, Gifted People<br />

with Learning Difficulties, Computer Images, and the Ironies of Creativity, Buffalo 1991.<br />

68 Twila Z. Tardif u. Robert J. Sternberg, What Do We Know about Creativity , in: Robert<br />

J. Sternberg, Hg., The Nature of Creativity. Contemporary Psychological Perspectives,<br />

Cambridge MA. 1988, 434.<br />

ÖZG 11.2000.1 117


Aber damit wäre, selbst wenn man diese Schlüsselfaktoren‘ generalisierte<br />

’<br />

und sie <strong>für</strong> beliebige Environments‘ gestaltete, noch keine interne Perspekti-<br />

’ ’<br />

ve‘ erreicht, sondern der externe Blick‘ auf seine größtmögliche Weite gebracht.<br />

’<br />

Diese Schlüsselfaktoren können als konstitutiv <strong>für</strong> ein hohes Innovations- oder<br />

Kreativitätspotential <strong>für</strong> Personen oder kleine Teams genommen werden. Am<br />

ehesten ließe sich behaupten, daß damit eine hohe Wahrscheinlichkeit da<strong>für</strong><br />

verbunden ist, neue Elemente innerhalb eines bestimmten Bereiches erfolgreich<br />

’ generieren‘ zu können. Auf diese Weise kann zudem ein direkter und unmittelbarer<br />

Zusammenhang zwischen den externen Schlüsselfaktoren aus dem Bereich<br />

I und den weiterhin vorzustellenden internen Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> die<br />

Umgebungen im Bereich III hergestellt werden. Aber <strong>für</strong> die konkreten Forschungsfragen<br />

und Probleme, welche Umgebungs-Faktoren‘ während und in<br />

’<br />

und durch die Erschaffung von Neuem‘ konstitutiv werden, vermögen diese<br />

’<br />

’ Potential-Größen‘ allerdings kein substantielles Schlaglicht zu werfen. Als Leit-<br />

Motiv <strong>für</strong> eine solche interne‘ Umgebungs-Perspektive mag die nachstehende<br />

’<br />

Äußerung Hofstadters bemüht werden, der die folgenden Bestimmungsstücke‘<br />

’<br />

<strong>für</strong> eine interne‘ Umgebungs-Theorie der Entstehung des Neuen versammelt.<br />

’<br />

Full-scale creativity consists in having a keen sense for what is interesting, following<br />

it recursively, applying it at the meta-level, and modifying it accordingly. 69<br />

In weiterer Folge werden nun die Bestimmungsstücke aus dem Hofstadter-Zitat<br />

sequentiell herangezogen und zu Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> Umgebungen transformiert,<br />

in denen unmittelbar Neues erzeugt wird. Denn mit diesen Grundfestsetzungen<br />

wird auf ein Insgesamt an drei Bereichen verwiesen, welche ein ’ kreativer<br />

Akteur‘ – Personen, Computer, artifizielles Lebewesen, ’ intelligente Maschinen‘<br />

– zu erfüllen hat. Am Beispielfall der ’ wissenschaftlichen Kreativität‘ von Personen<br />

lassen sich diese Schlüsselfaktoren folgendermaßen konkretisieren. Um mit<br />

dem ersten Punkt zu beginnen, nämlich einem ’ keen sense for what is interesting‘,<br />

so bedeutet dieser zunächst das Verfügen von ’ kognitiven Orientierungs-<br />

Mustern‘ oder von ’ kognitiven Karten‘ 70 über szientifische Räume 71 . Solche<br />

69 Hofstadter, Fluid Concepts, wie Anm. 36, 313.<br />

70 Zu diesem Konzept vgl. ursprünglich Edward C. Tolman, Cognitive Maps in Rats and<br />

Man, in: Psychological Review 55 (1948), 189–208 sowie überblicksartig Roger M. Downs<br />

u. David Stea, Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen, New York u. a. 1982. Solche<br />

’ kognitiven Karten‘ lassen sich aber leicht auf Bereiche wie kognitive Räume‘ ausdehnen.<br />

’<br />

Demnach läßt sich als Ausgangspunkt jede Top-Level-Skizze‘, d. h. jedes sprachliche oder<br />

’<br />

grafische Konstrukt auf wenigen Seiten eines größeren Werkes – z. B. eines Buches – als<br />

’ Proto-Version‘ einer kognitiven Karte‘ qualifizieren. Von einem solchen Grundverständnis<br />

’<br />

aus führen sehr rasch die Wege in subtilere Formen des kognitiven Kartografierens‘ im ko-<br />

’<br />

gnitiven Bereich. Zu einer besonders interessanten Karte‘ vgl. u. a. Douglas R. Hofstadter,<br />

’<br />

Gödel, Escher, Bach. An Eternal Golden Braid, 4. Aufl., Harmondsworth 1982, 370.<br />

71 Zum Begriff von intellektuellen‘ oder kognitiven Räumen‘, vgl. Steven Shapin u. Simon<br />

’ ’<br />

118 ÖZG 11.2000.1


’ kognitiven Karten‘ bedeuten Orientierungen auf sehr hoher Abstraktionsstufe<br />

und können deswegen als Top Level-Beschreibungen‘ bezeichnet werden.<br />

’<br />

’ Kognitive Karten‘ mit einer besonderen Betonung von Neuem werden sich in<br />

der Regel durch jene drei Haupteigenschaften auszeichnen sollten, wie sie im<br />

nachstehenden Zitat aufgezählt werden.<br />

First, one may be faced with conflict between staying with tradition and breaking<br />

new ground ... Second, tension may lie in the ideas themselves ... Finally, it may exist<br />

in the constant battle between unorganized chaos and the drive to higher levels of<br />

organization and efficiency.‘ 72<br />

Der ” keen sense for what is interesting“ kann durch solche ’ kognitiven Karten‘<br />

geweckt, angeregt und ausgedrückt werden, die sich durch eine oder mehrere der<br />

folgenden drei Charakteristika auszeichnen: durch das Vorhandensein großer,<br />

aber erreichbarer ’ weißer‘ ( ’ dunkler‘) Flecken und unerforschter Gegenden ( ” explorations<br />

in cognitive space“), durch widersprüchliche Problemlösungen, Theorien,<br />

Modelle, welche eine Klärung erfordern ( ” dissonance in cognitive space“),<br />

oder durch ’ neue Unübersichtlichkeiten‘, welche eine ’ übersichtlichere‘ Rekonfiguration<br />

dieses kognitiven Raumes anregen ( ” ordering of cognitive space“).<br />

Für kreative Leistungen bedarf es, nochmals zusammengefaßt, solcher kognitiver<br />

’ Top Level-Orientierungen‘, in denen das potentiell Neue einen klaren Stellenwert<br />

besitzt. Die zweite Gruppe an Schlüssel-Faktoren verlangt nach einem<br />

ebenso kompetenten wie effizienten Umgang mit Rekombinations-Operatoren,<br />

etwas, das als ’ komplexe Kompetenzen <strong>für</strong> Rekombinationen‘ vorgestellt werden<br />

kann. Diese müssen sich auf die Fähigkeit zu simultanen Rekombinationen<br />

auf verschiedenen Ebenen, auf die Verwendung vielfältiger Operatoren, auf die<br />

passenden Kombinationen solcher Operatoren, auf ihre oftmalige Anwendung<br />

etc. erstrecken. Die Faktorengruppe drei setzt eine effiziente rekursive Organisation<br />

voraus, die sich durch mehrere Eigenschaften auszeichnet: durch eine<br />

hinreichende ’ Flexibilität‘ in der Rekombination von Zwischenlösungen – ’ modifying<br />

it accordingly‘; in den Annäherungen an die Zieldomänen rekursiver<br />

Transformationen sowie durch eine ’ Erfolgskontrolle‘, welche die bisher realisierten<br />

rekombinativen Zwischenschritte in der zuhandenen ’ kognitiven Karte‘<br />

abzubilden und zu verfolgen vermag – ’ applying it at the meta-level‘. Bislang<br />

war die Diskussion der umgebungsrelevanten Schlüssel-Faktoren einzig auf den<br />

Wissenschaftsbereich beschränkt. Doch diese drei Faktorengruppen ermöglichen<br />

es, zu einem verallgemeinerten ’ Erklärungs-Sketch‘ <strong>für</strong> Innovationen und<br />

Kreationen in unterschiedlichen Domänen synthetisiert zu werden.<br />

Schaffer, Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton<br />

1985, 332 ff.<br />

72 Tardif u. Sternberg, Creativity, wie Anm. 68, 431.<br />

ÖZG 11.2000.1 119


Generalisierte Erklärungs-Skizze <strong>für</strong> das Feld III: Umgebungen, in denen Neues unmittelbar<br />

erzeugt wird – Personen, ’ Turing-Maschinen‘, ’ Artificial Life-Kreaturen‘ oder<br />

andere lernfähige dynamische ’ Environments‘ mit einem hohen und nachhaltigen Potential<br />

<strong>für</strong> Neuheit – vollziehen ihre innovativen oder kreativen Leistungen durch<br />

das simultane Zusammenwirken folgender Schlüsselfaktoren: Zunächst zeichnen sich<br />

solche Umgebungen durch ein hohes Ausmaß an Kompetenzen im ’ kognitiven Kartografieren‘<br />

aus, speziell aber durch eine erfolgreiche Top Level-Verortung von ’ riskanten<br />

Neuheiten‘ wie durch die Bewertung ihrer möglichen Relevanzen (Faktorengruppe<br />

I). Durch dieses ’ riskante Kartografieren‘ wird ’ top-down‘ ein Zielfindungs-Prozeß<br />

in Gang gesetzt, der durch vielfältige und komplexe Rekombinations-Kompetenzen<br />

vorangetrieben wird (Faktorengruppe II). Wegen eines hohen Ausmaßes an Adaptivität<br />

und Bereitschaft zu Modifikationen zwischen den ’ kognitiven Ziel-Karten‘ und<br />

der zu gestaltenden Neuheit (Faktorengruppe III) kann dieser seinerseits ’ riskante‘<br />

Herstellungsprozeß auch zu einem zielgerichteten Ende gebracht werden. Wegen der<br />

vielfältigen positiven Relationen zwischen Innovationserfolgen und den zum Zug kommenden<br />

Heuristiken einerseits [Innovationserfolge ↔ verwendete Heuristiken ( )] und<br />

wegen der positiven Beziehungen zwischen Erfolgen und kognitiven Karten andererseits<br />

[Innovationserfolge ↔ kognitiven Karten ( )] andererseits kann eine dauerhaft<br />

hohe Innovationsleistung über sehr unterschiedlichen Bereiche mit divergierenden<br />

Lösungswegen als sehr unwahrscheinliches Ereignis gelten.<br />

Aus diesem Set an Schlüsselfaktoren sowie aus der Aufzählung in der Tabelle<br />

7 ergibt sich klar, daß dynamische kreative Umgebungen speziell <strong>für</strong> die<br />

Neuheiten auf wissenschaftlichen, technologischen oder künstlerischen Feldern<br />

noch lange Zeit auf den Personenbereich beschränkt sein müssen. Für andere<br />

lernfähige ’ Environments‘ – Computer, ’ intelligente Maschinen‘ oder artifizielle<br />

Kreaturen – sind die da<strong>für</strong> notwendigen Kompetenzen auf den beiden<br />

Hauptebenen, dem ’ Top-Level‘ wie der ’ Bottom-Line‘, noch extrem restringiert<br />

und bestenfalls marginal zuhanden. Auf der ’ Bottom-Line‘ erweisen sich die rekombinativen<br />

Kompetenzen bisher auf wenige Operationen eingeschränkt; und<br />

Top-Level ’ riskantes‘ kognitives Kartografieren so komplexer Domänen wie eben<br />

der wissenschaftlichen, technologischen oder künstlerischen Felder kommt gegenwärtig<br />

nicht einmal ansatzweise zum Zuge.<br />

Auf einen Punkt sei noch verwiesen: ’ Kognitive Karten‘, ’ Rekombinationskompetenzen‘<br />

und flexible rekursive Organisationen gelten auf wissenschaftlichtechnischen<br />

Gebiet nicht nur auf der Ebene der Produktion des ’ explizit‘ neuen<br />

Wissens, sondern auch <strong>für</strong> neues ’ implizites Wissen‘. 73<br />

73 Vgl. vor allem Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt am Main 1985, und Michael<br />

Gibbons u. a., The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in<br />

Contemporary Societies, London 1994. Wichtig ist vor allem ein Hinweis: ’ Explizites Wissen‘<br />

und ’ implizites Wissen‘ sind von ihren Baustein-Architekturen her ungleich stärker getrennt<br />

als es die Bezeichnung naheliegen würde. Die Bausteine im ’ expliziten Wissen‘ stellen Buchstaben,<br />

Silben, Sätze, mithin sprachliche Elemente dar; als Bausteine des ’ impliziten Wissens‘<br />

firmieren hingegen – Operationen, Routinen, Tätigkeiten und deren besondere Sequenzen.<br />

120 ÖZG 11.2000.1


Tabelle 7: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> innovative Transformationsprozesse<br />

bei Menschen, Computern, Maschinen oder künstlichen Kreaturen<br />

BEREICHE FAKTORENGRUPPEN INDIKATOREN<br />

PERSONEN<br />

’ Kognitive Karten‘ Riskantes Kartografieren von<br />

Problemen at the edge of chaos“<br />

”<br />

Rekombinations-Kompetenzen Hochdimensionale Rekombinationsfähigkeiten<br />

Rekursive Organisation Flexible Modifikation von Top-<br />

Level-Beschreibungen und Bottom-<br />

Level-Rekombinationen<br />

Geeignete Abbruchbedingungen<br />

<strong>für</strong> Erfolg‘ oder Mißerfolg‘<br />

’ ’<br />

COMPUTER Kognitive Karten‘<br />

’ ’ Riskante Heuristiken‘ <strong>für</strong><br />

neue Programmfelder nur in ganz<br />

eng begrenzten Feldern<br />

Rekombinations-Kompetenzen Nur in einfachen Versionen<br />

erreichbar<br />

Rekursive Organisation Flexible Modifikation von Top-<br />

Level-Beschreibungen und Bottom-<br />

Level-Rekombinationen kaum<br />

realisierbar<br />

ROBOTICS<br />

’ Kognitive Karten‘<br />

’ Riskante Suchstrategien‘<br />

<strong>für</strong> neue tasks‘ oder drafts‘<br />

’ ’<br />

Rekombinations-Kompetenzen Nur innerhalb sehr einfacher Felder<br />

möglich<br />

Rekursive Organisation Flexible Modifikation von Top-<br />

Level-Beschreibungen und Bottom-<br />

Level-Rekombinationen kaum<br />

umsetzbar<br />

ARTIFICIAL<br />

’ Kognitive Karten‘<br />

’ Riskante Suchstrategien‘<br />

LIFE <strong>für</strong> neue Bereiche‘ nur<br />

’<br />

KREATUREN in artifiziell beschränkten Domänen<br />

Rekombinations-Kompetenzen Nur in elementarer Form<br />

exekutierbar<br />

Rekursive Organisation Flexible Modifikationen von Top-<br />

Level- und Bottom-Level-<br />

Beschreibungen kaum vorhanden<br />

Analyse-Feld IV: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> die Transformation des Neuen<br />

Das letzte Feld <strong>für</strong> die Entstehung des Neuen‘, zudem das wichtigste <strong>für</strong> dessen<br />

’<br />

Genese, liegt in den genauen Transformationsprozessen im Wechsel von alt‘ zu<br />

’<br />

’ neu‘. Im Zentrum von Feld IV stehen damit jene neuen Theorien, Methoden<br />

ÖZG 11.2000.1 121


oder andersgeartete Konstrukte (Technologien, Moden etc.), die sich nach so<br />

und so vielen Zwischenschritten aus einem gegebenen Anfangszustand heraus<br />

in ihre neuartigen Formen transformiert haben. Es ist an dieser Stelle wichtig,<br />

den Schwerpunkt der Feld IV-Betrachtungen möglichst klar zu umreißen. Als<br />

illustrativ und beispielhaft sollte es sich herausstellen, wenn mit einer gehörigen<br />

Portion ’ Selbstreferenz‘ der vorliegende Artikel selbst unter eine solche<br />

Feld IV-Transformations-Perspektive getaucht wird. Dann liest sich eine ’ kurze<br />

Entstehungs-Geschichte‘ der vorliegenden Arbeit – so.<br />

Der Anfang wurde durch eine Top-Beschreibung‘ beziehungsweise durch eine erste<br />

’<br />

’ kognitive Karte‘ gesetzt, nämlich durch rund dreiseitige handschriftliche Notizen, in<br />

denen in einem mehrstündigen Verfahren die konstitutiven Themen-Bausteine‘ <strong>für</strong><br />

’<br />

diese Arbeit zunächst additiv aneinandergereiht und dann in ihrer Reihenfolge rekombiniert<br />

wurden. In einem weiteren Schritt wurden aus teilweise veröffentlichten,<br />

teilweise unveröffentlichten Arbeiten mehrere Baustein-Gruppen‘ zusammengefügt,<br />

’<br />

welche damit vollständig den rund fünfzehnseitigen Anfangszustand‘ dieser Arbeit<br />

’<br />

beschreiben. Der Weg zu jenem Produkt, das Sie gerade lesen, erfolgte dann über einen<br />

mehrere Wochen dauernden Prozeß, in dem vor allem auch in der Top-Beschreibung‘<br />

’<br />

immer wieder gravierende Veränderungen vorgenommen worden sind. 74 Erst in den<br />

letzten Tagen vor der Abgabe wurde die kognitive Karte‘ so rekonfiguriert, daß darin<br />

’<br />

im wesentlichen nur noch einzelne Haupteigenschaften wie Begriffs-Gerüste des Neuen<br />

und vier gleichartig strukturierte Erklärungs-Kontexte <strong>für</strong> unterschiedliche Bereiche<br />

von Neuerungen aufschienen. 75 Die folgende symmetrische Skizze offeriert einen Überblick<br />

in die Grundstruktur dieses Artikels, die sich im übrigen sehr deutlich von der<br />

’ Anfangskarte‘ abhebt.<br />

Facetten Kontexte Feld I Feld II<br />

↑ ↑ ↑ ↑<br />

Begriffliches Heuristisches<br />

↓ ↓ ↓ ↓<br />

Dimensionen Grundbegriffe Feld III Feld IV<br />

Zu Beginn war nämlich expressis verbis beziehungsweise kartografisch weitaus mehr<br />

von den ’ Grenzen des Neuen‘, von ’ Fallbeispielen‘ oder auch von der ’ Reduktions-<br />

Thematik‘ die Rede. Auch die anfänglich zuhandenen Baustein-Gruppen aus anderen<br />

Kontexten wurden in diesem Rekombinations-Prozeß nahezu vollständig entfernt, so<br />

74 ‘Ursprünglich‘, im Anfangszustand waren beispielsweise mehrere Fallbeispiele aus der<br />

Wissenschafts- und Technologiegeschichte geplant, die im Laufe der Transformationen immer<br />

stärker reduziert und schließlich nur mehr auf ein einzelnes längeres Beispiel ausgedünnt<br />

wurden, das aber dann aus Platzgründen rund zwei Wochen vor Fertigstellung dieses Artikels<br />

seinerseits mit der Rekombinations-Operation ’ delete‘ vollständig entfernt wurde.<br />

75 Nochmals tief in das ’ Werkbiografische‘ dieses Artikels getaucht sollte erst über die Übersetzungen<br />

der Arbeit der Hollingsworths und jener von Hage der Punkt mit der ’ Universalität‘<br />

in der Entstehung des Neuen immer mehr an Bedeutung gewinnen.<br />

122 ÖZG 11.2000.1


daß aus der hier vorgestellten Rekombinations-Perspektive eine hohe Vielfalt, oder<br />

anders formuliert, ein komplexes Rekombinations-Design erforderlich wurde. Die einzelnen<br />

Zwischenschritte und Zwischenprodukte drifteten‘ in dieser Zeit, bewertet an<br />

’<br />

den Qualitäts- und Bewertungsstandards <strong>für</strong> wissenschaftliche Artikel, entlang einer<br />

’ ansteigenden Linie‘. Vielleicht sollte eigens auf die immense Zahl an solchen Zwischenprodukten<br />

hingewiesen werden: Denn die kleinste diskrete Einheit der Rekombination<br />

stellt der einzelne Buchstabe, das Leerzeichen oder das Sonderzeichen dar. In diesem<br />

Sinne bedeutet bereits das Weglassen eines Leerzeichens oder die Ersetzung eines<br />

einzelnen Buchstaben ein neues Zwischenergebnis. Und erst recht führt das Einfügen<br />

eines Wortes, die Umstellung eines Satzes, die Verschiebung eines Absatzes zu jeweils<br />

neuen Zwischenresultaten, die genau genommen erst mit der endgültigen Drucklegung<br />

zur Endversion‘ und zur Ruhe kommen. Beendet wurden diese Rekombinationen in<br />

’<br />

dem Augenblick, wo die kognitive Schluß-Karte‘ mit allen Ingredienzien und Details,<br />

’<br />

mit den Tabellen, bibliografischen Hinweisen, Zwischentexten, hinreichend erfüllt und<br />

vollendet war. 76<br />

Diese selbstreferentielle Erzählung führt deutlich vor Augen, wie ungewohnt<br />

eine solche Transformations-Perspektive in der Genese eines wissenschaftlichen<br />

Textes ausfällt – und wie weit derzeit noch die Entfernungen zu einer Ära<br />

wissenschaftlicher Artikel im Zeitalter ihrer maschinellen Produzierbarkeiten<br />

gehalten sind. Die generative Erklärung neuer wissenschaftlicher Theorien, Modelle,<br />

aber auch neuer technologischer Systeme aus dem Geist der rekombinativen<br />

Selbstorganisation steckt derzeit bestenfalls in ihren Anfangsstadien. Und<br />

doch finden sich mittlerweile einige Modelle, in denen rekursiv die Entstehung<br />

des Neuen erprobt, simuliert werden kann. Sie sollen zur weiteren Einführung<br />

in die Feld IV-Kontexte dienen.<br />

Der eine Modellierungsstrang, welcher diese Transformation von alt‘ zu<br />

’<br />

’ neu‘ über Rekombinations-Operatoren‘ bewerkstelligt, liegt bei den sogenann-<br />

’<br />

ten genetischen Algorithmen‘ oder Klassifikationssystemen‘, so wie sie in den<br />

’ ’<br />

letzten Jahrzehnten von John H. Holland und vielen anderen aufgebaut worden<br />

sind. 77 Vor dem Hintergrund des hier eingeführten begrifflichen Apparats<br />

lassen sich diese Systeme folgendermaßen beschreiben.<br />

’ Bausteine‘ solcher Systeme stellen Regel-Teile dar, die <strong>für</strong> sich genommen<br />

einerseits aus Umweltbedingungen‘, andererseits aus Aktionen‘ bestehen. Sol-<br />

’ ’<br />

76 Aus der Rekombinations-Perspektive sei noch ein Hinweis angebracht: Der ÖZG-Modus<br />

der Qualitätskontrolle – mehrere Personen lesen konsekutiv einen prospektiven Zeitschriften-<br />

Artikel – garantiert zudem, daß alle Endversionen von ÖZG-Arbeiten ihrem ’ lokalen Optimum‘<br />

sehr nahegerückt sind, da weitere Lese-Kontrollen wahrscheinlich nur mehr zu wenigen<br />

oder gar keinen Veränderungen führen würden.<br />

77 Zu solchen ’ Classifier-Systems‘ beziehungsweise ’ genetischen Algorithmen‘ vgl. neben Holland<br />

u. a., Induction, wie Anm. 24, auch ders., Adaptation in Natural and Artificial Systems.<br />

An Introductory Analysis with Applications to Biology, Control, and Artificial Intelligence,<br />

Cambridge MA. 1992; ders., Hidden Order. How Adaptation Builds Complexity, Reading<br />

MA. 1995.<br />

ÖZG 11.2000.1 123


che Regeln können somit zwanglos zu ’ Wenn-dann Regeln‘ kombiniert werden<br />

und besitzen typischerweise die Form: Wenn ein Objekt mit den Eigenschaften<br />

’ sehr groß‘, ’ gestreift‘, ’ knurrend‘ ’ nahe‘ erscheint (Umweltteil), dann ’ Flucht‘<br />

(Aktionsteil). Die Architektur dieser ’ Classifier-Systeme‘ ist mehrstufig aufgebaut,<br />

weil sich neben den einzelnen rekombinationsfähigen Regeln auch fixe und<br />

unveränderliche ’ operative Prinzipien‘ finden, welche den Prozeß der Regel-<br />

Kombinationen hintergründig koordinieren. 78 Bewertet werden diese Regeln<br />

über ein ’ Evaluationsmaß‘, das sich aus insgesamt drei unterschiedlichen Bewertungen<br />

zusammensetzt. Diese drei Bewertungsdimensionen betreffen erstens<br />

den Grad an ’ Konkretheit‘ einer Regel – konkrete und situationsspezifische<br />

Regeln werden allgemeineren und unspezifischen Regeln vorgezogen. Zweitens<br />

werden Regeln nach ihrem Nutzen in der Vergangenheit bewertet. Und schließlich<br />

wird drittens das Ausmaß an ’ Einbettung‘ oder ’ Unterstützung‘ einer Regel<br />

durch andere Regeln bewertet. Der genaue Modus in der Entstehung des Neuen<br />

bedient sich des ’ Crossing over‘ als Rekombinationsoperator, wodurch sich ein<br />

Austausch der nachstehenden Art vollzieht: Der Wenn-Teil der ersten Regel<br />

wird mit dem Dann-Part der zweiten Regel kombiniert und der Wenn-Teil der<br />

zweiten mit dem Aktions-Teil der ersten.<br />

(R1W R1D), (R2W R2D) → (R1W R2D), (R2W R1D)<br />

Das Interessante an diesen ’ genetischen Algorithmen‘ in der Hollandschen Version<br />

liegt vor allem darin, daß sich bei konkreten Anwendungen eine Transformation<br />

eines anfänglich unspezifischen Regelsets in eine immer spezifischere<br />

und kontextabhängige Regelmenge vollzieht. Das ’ Neue‘ entsteht mit der Zeit<br />

rekombinativ aus dem ’ Alten‘.<br />

Eine zweite Gruppe von Transformationsschemen liegt in Gestalt ’ evolutionsstrategischer<br />

Modelle‘ (ES-Modelle) vor, die sich von den genetischen<br />

Algorithmen in einigen wichtigen Punkten unterscheiden. 79 Von der Grundarchitektur<br />

finden sich hier nicht spezifische Regeln als Bausteine, sondern beliebige<br />

Populationen, die unterschiedlichste Bereiche repräsentieren können. Diese<br />

Bausteine vermögen sich im Zeitablauf zu reproduzieren und werden über<br />

ein Bündel an Eigenschaften als Vektoren reeller Zahlen ’ codiert‘. Ein zentrales<br />

Feature stellt wiederum die Rekombination solcher Bausteine dar, die sich<br />

im einfachsten Fall über die zufällige Variation einer Eigenschaft oder mehrerer<br />

solcher Eigenschaften vollzieht. Und auch hier sorgen die Evaluationsmaße<br />

da<strong>für</strong>, daß einzelne der neuen Rekombinationen unterschiedlich bewertet wer-<br />

78 Zu solchen höherstufigen ’ Inferenzregeln‘ und ’ operativen Prinzipien‘ vgl. Holland u. a.,<br />

Induction, wie Anm. 24, 43–46.<br />

79 Vgl. zur Übersicht Eberhard Schöneburg, Frank Heinzmann u. Sven Feddersen, Genetische<br />

Algorithmen und Evolutionsstrategien. Eine Einführung in Theorie und Praxis der<br />

simulierten Evolution, Bonn u. a. 1994.<br />

124 ÖZG 11.2000.1


den können und über den Weg ihrer Reproduktion sich stärker, schwächer<br />

oder gar nicht auszubreiten vermögen. Über die Architektur dieser ES-Modelle<br />

läßt sich ebenfalls, wie im Falle der genetischen Algorithmen, über sehr viele<br />

Zwischenschritte eine alte‘ Ausgangskonfiguration in einen neuen Endzu-<br />

’ ’<br />

stand‘ transformieren, der zudem schwachen oder starken Optimalitätskriterien<br />

genügt.<br />

Mit den beiden an sich ähnlichen Modell-Beispielen soll nun ein riskanter<br />

Schritt in Richtung einer Generalisierung unternommen werden. Denn auch<br />

<strong>für</strong> das Feld IV kann ein universeller Modus generativen Operierens‘ unter-<br />

’<br />

stellt werden, der entlang der verschiedenartigsten Bausteine aus der Tabelle 2<br />

mit Hilfe desselben Rekombinations-Repertoires aus der Tabelle 3 von einer<br />

’ alten‘ Ausgangslage nach so und so vielen rekombinativen Zwischenschritten<br />

ein neues‘ Endprodukt erzeugt. Durch die rekursive Anwendung dieser<br />

’<br />

Rekombinations-Vielfalt taucht bei beliebigen Bausteinen‘: bei Regelsystemen,<br />

’<br />

bei Programmen, bei Theorien, bei Modellen oder bei andersgelagerten Ensembles<br />

mit der Zeit das Neue hervor. 80 Die passende verallgemeinerte Erklärungs-<br />

Skizze könnte demgemäß so gestaltet sein.<br />

Generalisierte Erklärungs-Skizze <strong>für</strong> das Feld IV: Neue Ensembles wie neue Theorien,<br />

neue Modelle, neue Methoden, neue Technologien, neue Moden, neue Kunst-Stile oder<br />

andere neuerungsfähige Bereiche entstehen durch das simultane Zusammenwirken der<br />

folgenden drei Gruppen von Schlüsselfaktoren: Gegeben eine Anfangskonfiguration<br />

werden durch eine unter Umständen sehr hohe Vielfalt und eine sehr große Zahl an<br />

Rekombinations-Operationen (Faktorengruppe I) Zwischen-Produkte generiert, die<br />

sich, verglichen mit dem Anfangszustand durch deutliche komparative Vorteile auszeichnen,<br />

wenn sie an den da<strong>für</strong> notwendigen Bewertungsmaßen evaluiert werden<br />

(Faktorengruppe II). Durch die Konservierung besser bewerteter Zwischenlösungen<br />

wird im Zeitablauf eine charakteristische ’ Drift‘ (Faktorengruppe III) erzeugt, die an<br />

einem besonderen Punkt der ’ Zielnähe‘ oder der ’ Zielerreichung‘ terminiert werden<br />

kann – und soll.<br />

Mit diesem generalisierten Erklärungs-Sketch kann wiederum in die Tabelle 8<br />

übergeschwenkt werden, welche dieses Set an Schlüsselfaktoren an mehreren<br />

Beispielen auflistet.<br />

Auch an der Tabelle 8 wird nochmals deutlich, daß zum gegenwärtigen<br />

Zeitpunkt das genaue Verständnis der Rekombinations-Prozesse von alt‘ zu<br />

’<br />

’ neu‘ außerhalb sehr enger und extrem eingegrenzter künstlicher Welten‘ weit-<br />

’<br />

gehend fehlt. Andererseits konnten immerhin die Grundarchitekturen wie auch<br />

die Richtungen, wo und wie danach zu suchen wäre, klar benannt werden.<br />

80 Als weitere Modell-Unterstützung kann auch auf die sogenannten ’ Lindenmayer-Systeme‘<br />

verwiesen werden, in denen sich rekursiv die ’ algorithmische Schönheit neuer Pflanzen‘ entfalten<br />

kann, vgl. Przemyslaw Prusinkiewicz u. Aristid Lindenmayer, The Algorithmic Beauty<br />

of Plants, New York u. a. 1990.<br />

ÖZG 11.2000.1 125


Tabelle 8: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> innovative Transformationsprozesse von<br />

Regelsystemen, Programmen, Theorien, Modellen oder technologischen Systemen<br />

BEREICHE FAKTORENGRUPPEN INDIKATOREN<br />

CLASSIFIER Rekombinations-Vielfalt Crossing-over, Adding, Deleting,<br />

SYSTEME Replacing<br />

Komparative Vorteile Zusammengesetztes Evaluationsmaß<br />

(vergangene Nützlichkeit,<br />

Spezifiziät, int. Verbundenheit)<br />

’ Driften‘ Zunehmende ” Spezifizität“<br />

und interne Verbundenheit von<br />

Regeln und Regelsequenzen<br />

EVOLUTIONS- Rekombiations-Vielfalt Adding, Deleting, Replacing<br />

STRATEGIEN Komparative Vorteile Zus.-ges. Evaluationsmaße (kontextabhängig)<br />

’ Driften‘ Weg zu einem lokalen oder globalen<br />

’ Optimum‘<br />

COMPUTER- Rekombinations-Vielfalt Komplexe Rekombination auf mehreren<br />

PROGRAMME Programm-Ebenen<br />

Komparative Vorteile Zus.-ges. Evaluationsmaß über<br />

Performanz-Indikatoren<br />

’ Driften‘ Höhere Feature-Integration, größere<br />

Geschwindigkeit in den Abläufen, usw.<br />

THEORIEN Rekombinations-Vielfalt Komplexe Rekombinationen auf<br />

mehreren Theorie-Ebenen<br />

Komparative Vorteile Zus.-ges. Evaluationsmaß (Erklärungsrelevanz,<br />

Einfacheit, empir.<br />

Support u. a.)<br />

’ Driften‘ Höhere Bereichsintegration,<br />

höhere Generalisierung, höhere<br />

Formalisierung, etc.<br />

MODELLE Rekombinations-Vielfalt Komplexe Rekombination auf mehreren<br />

mehreren Modell-Ebenen<br />

Komparative Vorteile Zus.-ges. Evaluationsmaß (Modellrelevanz,<br />

Einfachheit, empir. Support<br />

u. a.)<br />

’ Driften‘ Höhere Bereichsintegration,<br />

höhere Generalisierung,<br />

höhere Komplexität, etc.<br />

TECHNOLOG. Rekombinations-Vielfalt Komplexe Rekombinationen auf mehreren<br />

SYSTEME System-Ebenen<br />

Komparative Vorteile Zus.-ges. Evaluationsmaß über Performanzindikatoren<br />

’ Driften‘ Zunehmende Leistunsfähigkeit,<br />

Nutzungsgrad, Nachhaltigkeit‘,<br />

’<br />

interne Linkages (z. B. mit dem IuK-<br />

Bereich, etc.) u. a.<br />

126 ÖZG 11.2000.1


Grenzen der Erkennbarkeit des Neuen<br />

Über die Tabelle neun lassen sich nochmals die Schlüsselfaktoren‘ in der Entste-<br />

’<br />

hung des Neuen, aufgeteilt nach den vier möglichen Analyse- und Erklärungsfeldern,<br />

rekapitulieren und zusammenfassen. Aus dieser Tabelle stechen die<br />

relativ homogenen Konstellationen quer über die einzelnen Bereiche hervor,<br />

die sich ungeteilt vom Faktoren-Netzwerk des Feldes I bis hin zur generativen<br />

’ Tiefengrammatik‘ des Neuen im Feld IV erstrecken.<br />

Tabelle 9: Schlüsselfaktoren <strong>für</strong> die Entstehung des Neuen<br />

EINBETTUNG/UMGEBUNG NEUHEIT<br />

EXTERN Riskante Strategien Komparative Vorteile<br />

Komplexität der Arbeitsteilung Wenig Constraints<br />

’ Organische‘ Organisation Eigen-Dynamiken<br />

INTERN Riskantes Kartografieren‘<br />

’<br />

Komplexes Rekombinationspotential<br />

Komparative Vorteile<br />

Rekombinations-Vielfalt<br />

Rekursive Organisation<br />

’ Driften‘<br />

Eine weitere Besonderheit an der Tabelle 9 – Neuheit wäre ebenfalls eine passende<br />

Zuschreibung – liegt daran, daß diese Faktoren-Geflechte auf eine Vielzahl<br />

an konkreten Bereichen und auf unterschiedliche Niveaus appliziert werden<br />

können. Die mannigfaltigen empirischen Beispiele, die innerhalb dieses Heftes<br />

ausgeführt wurden oder auf die innerhalb dieses Artikels hingewiesen wurde,<br />

lassen es jedenfalls als zwar riskante aber lohnende Strategie erscheinen, die<br />

Schlüssel-Heuristiken und Erklärungs-Rahmen <strong>für</strong> die vier Felder an beliebigen<br />

gesellschaftlichen Bereichen zu erproben, in denen sich ein hinreichend starkes<br />

Erkenntnisinteresse an der Entstehung des Neuen‘ geltend macht.<br />

’<br />

Eine Einschränkung sei aber zum Ausklang angeführt, welche eine logische<br />

Grenze in der Erkennbarkeit‘ des Neuen zieht. Denn speziell die Erklärungs-<br />

’<br />

kontexte III und IV, die direkt und unmittelbar mit der Entstehung des Neuen‘<br />

’<br />

gekoppelt sind, besitzen eine unhintergehbare Barriere, die aus der folgenden<br />

Zuspitzung oder Paradoxie resultiert: Neues, aber speziell neues Wissen‘ kann,<br />

’<br />

so vor allem Karl R. Popper, nicht vorhergesagt werden, weil es sonst schon bekannt<br />

wäre: 81 Zukünftiges Wissen ist – in einer Variation zu Johann Nepomuk<br />

Nestroy – gegenwärtig gar keines. Der wahrscheinlich wichtigste Grund <strong>für</strong> diese<br />

’ Asymmetrie des Neuen‘ konnte über den allgemeinen Erklärungs-Rahmen <strong>für</strong><br />

81 Die interessantesten Popperschen Argumentationen dazu finden sich in Karl R. Popper,<br />

The Open Universe. An Argument for Indeterminism. From the ’ Postscript to the Logic of<br />

Scientific Discovery‘, Totowa 1982.<br />

ÖZG 11.2000.1 127


das Feld IV mitgeliefert werden. Das Neue bedarf, als seine Geburtsbescheini-<br />

’<br />

gung‘, eines vielfältigen Rekombinations-Prozesses, der seinen Ausgangspunkt<br />

von bestehenden Ensembles nimmt. Werden diese Rekombinations-Schritte,<br />

Zwischenlösungen und Rekonfigurationen‘ nicht getätigt, so kann auch nicht<br />

’<br />

von Neuem die Rede sein. Was dann möglich bleibt, sind bestenfalls prognostische<br />

Wegweiser, in welchen Richtungen sich Neues wahrscheinlich stark und<br />

in welchen relativ schwach entwickeln wird. Aber das Aufstellen von Wegweisern<br />

ist die eine Sache; die konkreten Wege zum Ziel unter rekombinativen<br />

Umständen und Driften‘ eine ganz andere.<br />

’<br />

Dasselbe Argument von der gegenwärtigen Unzulänglichkeit des zukünftig<br />

Neuen kann, mutatis mutandis, auf andere Bereiche ausgedehnt werden. Eine<br />

zukünftige Technologie kann deswegen prinzipiell nicht präzise prognostiziert‘<br />

’<br />

oder beschrieben‘ werden, weil da<strong>für</strong> alle notwendigen Rekombinationsprozes-<br />

’<br />

se bereits gesetzt sein müssen. Damit wäre aber sie, die Technologie, bereits<br />

zuhanden und nicht länger zukünftig neu‘. Und genau besehen gilt dieses Ar-<br />

’<br />

gument auch <strong>für</strong> zukünftig neue Kunststile oder Moden‘, die alle erst ihre<br />

’<br />

konstitutiven Rekombinationsprozesse zu durchlaufen haben. Neue Horizonte<br />

an Beschreib- und Darstellbarkeiten eröffnen sich erst, wenn die Wege dorthin<br />

beschritten und auch die passenden Umgebungen da<strong>für</strong> aufgebaut worden<br />

sind. An diesem Punkt mag ein Zitat von Ludwig Wittgenstein weiterhelfen:<br />

” Wer träumend sagt Ich träume‘, auch wenn er dabei hörbar redete, hat so-<br />

’<br />

wenig recht, wie wenn er im Traum sagt Es regnet‘, während es tatsächlich<br />

’<br />

regnet. Auch wenn sein Traum wirklich mit dem Geräusch des Regens zusammenhängt.“<br />

82 Rekombinativ umgestellt und in den Kontext der Entstehung<br />

’<br />

des Neuen‘ transferiert, heißt dies: Wer vorausschauend sagt Ich kenne das<br />

’<br />

Wissen der Zukunft‘, auch wenn er dabei prognostiziert, hat sowenig recht,<br />

wie wenn er prognostisch sagt So wird es sein‘ und sich alle daran orientieren.<br />

’<br />

Auch wenn seine Prognose mit dem weiteren Gang des Erkenntnisfortschritts‘<br />

’<br />

übereinstimmt.<br />

Die Gestalten der kognitiven, wissenschaftlichen, technologischen, artistischen<br />

Landschaften der Zukunft werden erst dann klarer erkennbar, wenn man<br />

rekombinativ mitten unter ihnen weilt. Von vorne herein wird immer nur in<br />

grauen Ansätzen von solchen grünen Feldern der Zukunft zu berichten sein.<br />

Das Neue, es entsteht rekombinativ mit der Zeit; und nicht schon davor.<br />

82 Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, Frankfurt am Main 1971, 174, ÜG 676.<br />

128 ÖZG 11.2000.1


Christian Fleck<br />

Wie Neues nicht entsteht<br />

Die Gründung des Instituts <strong>für</strong> Höhere Studien in <strong>Wien</strong> durch Ex-Österreicher und<br />

die Ford Foundation<br />

I.<br />

The first few years of the Institute’s life were a total disaster. The director (...) did<br />

not have the vaguest notion of what the Institute was supposed to be doing, and the<br />

general atmosphere of the Institute was a mixture of Balkan intrigue, considerable<br />

graft and generally lacking in intellectual content.<br />

Peter E. de Janosi, 10. September 1973<br />

Am 12. Februar 1956 schrieb F. A. Hayek, wie sich Friedrich August von Hayek<br />

seit seiner Berufung im Jahr 1931 an die London School of Economics and Political<br />

Science nannte, einem noch Berühmteren einen Brief. Artig stellte er sich<br />

Henry Ford II 1 als Autor von Road to serfdom vor, an das sich Herr Ford viel-<br />

∗ Ich bin den folgenden Institutionen, die mir Archivmaterial zugänglich machten bzw. deren<br />

Bibliotheken ich benutzen konnte, zu Dank verpflichtet: Rockefeller Archive Center, Pocantico<br />

Hill, NY; Harvard Archives, Harvard University, Cambridge, MA; The New York Public<br />

Library, Rare Book and Manuscript Library der Columbia University, ’ Ford Foundation‘, alle<br />

in New York; London School of Economics and Political Science und Internationales Institut<br />

<strong>für</strong> Sozialgeschichte, Amsterdam. Vorarbeiten zu dieser Studie wurden finanziell unterstützt<br />

vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), <strong>Wien</strong>, Projekt P 10061-<br />

Soz und vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank, <strong>Wien</strong>, Projekt 6773. Die<br />

Aufenthalte im Rockefeller Archive Center, Tarrytown, NY und an der London School of<br />

Economics and Political Science wurden mir durch ein Special Grant for Research in the<br />

History of the Social Sciences bzw. EUSSIRF Grant (European Union Social Science Information<br />

Research Facility) ermöglicht. Dieser Aufsatz wurde während meines Aufenthalts als<br />

Fellow am Center for Scholars and Writers der New York Public Library fertiggstellt.<br />

1 Henry Ford II (1917–1987) übernahm nach einem nicht vollendeten Soziologiestudium in<br />

Yale als 25-Jähriger die Leitung der von seinem Großvater gegründeten Firma und reorganisierte<br />

das Unternehmen nach Kriegsende unter Beiziehung von Management-Experten<br />

erfolgreich. Im Unterschied zum autoritären und antisemitischen Firmengründer bemühte<br />

sich dessen Enkel um gute Beziehungen zu den Gewerkschaften, zur Stadt Detroit und war<br />

als Philanthrop tätig.<br />

ÖZG 11.2000.1 129


leicht noch erinnern werde, habe dieses Buch doch einige Aufmerksamkeit auf<br />

sich gezogen. Seit langem habe er gehofft, eine Gelegenheit zu finden ihn, Ford,<br />

zu treffen, um ihm vorzuschlagen, doch der leader of a Detroit Movement‘“ zu<br />

” ’<br />

werden, which in the same manner as the Manchester Movement of last cen-<br />

”<br />

tury could bring the cause of free trade to victory and thus do much to ensure<br />

prosperity and peace.“ 2 Heute wende er sich in einer anderen Sache an Ford<br />

und ersuche ihn um the opportunity of a personal interview.“ Es gehe um die<br />

”<br />

<strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> und darum, den Niedergang der westlichen Zivilisation und<br />

Gelehrsamkeit aufzuhalten. Er habe darüber ein Memorandum verfaßt, über<br />

das er auch schon mit Funktionären der Ford Foundation und der Rockefeller<br />

Foundation gesprochen habe. In beiden Fällen hätten die Gesprächspartner<br />

seiner Einschätzung zugestimmt, allein die Größe seines Plans übersteige nach<br />

Meinung der Stiftungsmitarbeiter ihre Möglichkeiten bei weitem. Es helfe nur<br />

noch der direkte Weg zu Henry Ford II.<br />

Mir ist nicht bekannt, ob es zu dem Treffen kam. Das Projekt, das Hayek<br />

vor Augen hatte, war tatsächlich groß. Den siebzehnseitigen Text, in dem er seinen<br />

Vorschlag erläuterte, überschrieb er mit Memorandum on Conditions and<br />

Needs of the University of Vienna. Die <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong>, eines der größten Zentren<br />

der Wissenschaft, das in den letzten drei oder vier Generationen eine große<br />

Zahl original thinkers“ hervorgebracht habe, sei in Gefahr. Sie sei auf einen<br />

”<br />

” inferior rank“ abgesunken und die intellectual community“ sei zermürbt.<br />

”<br />

The significance of this for the world is not very different from what it would be if<br />

the University of Oxford, or the University of Paris, or the University of Göttingen,<br />

had been devastated by an natural catastrophe and most of the best men of such<br />

a University been dispersed all over the world. If this had happened in Vienna no<br />

doubt help of the scale required could be found. Yet the difference is merely that in<br />

the case of Vienna the same result has been brought about not by a sudden event but<br />

by a slow process extending over twenty years and no less due to irresistible external<br />

forces.<br />

Der Abzug der sowjetischen Truppen aus Österreich, so Hayek weiter, erfolge<br />

gerade rechtzeitig, um noch Hilfe leisten zu können, da ohne Unterstützung<br />

von außen eine ” reconstruction“ nicht möglich sein werde, weil die in <strong>Wien</strong><br />

verbliebenen Kräfte zu erschöpft seien. Auch sei ein erheblicher Teil der <strong>Universität</strong>sangehörigen<br />

nicht aus ” altem Holz“, einige seien über die Jahre hinweg<br />

in ihrem Kampf gegen politische Vorurteile verbittert, andere, ” solid but not<br />

very distinguished men“, hätten nach Jahren der tatsächlichen oder eingebildeten<br />

politischen Verfolgung endlich höhere Positionen erreicht, die sie nun<br />

2 Hayek an Henry Ford II, 12. Februar 1955, Kopie unter Grant number 63-193, Microfilm<br />

reel 2574, Archiv der Ford Foundation. Die im Folgenden zitierten Dokumente befinden sich<br />

unter der zitierten Grant Nummer auf dieser und zwei weiteren Mikrofilmrollen.<br />

130 ÖZG 11.2000.1


eifersüchtig verteidigten; und schließlich habe die Unterrichtsverwaltung ihrerseits<br />

zum Verfall beigetragen, habe sie doch das alte System aufgelassen, jedes<br />

wichtige Fach mit zumindest zwei Lehrstühlen auszustatten, um die Konkurrenz<br />

und damit den Leistungswillen zu erhöhen. Der <strong>Wien</strong>er Lehrkörper könnte<br />

seine alte Blüte wieder erlangen, würde man seine ehemaligen über die ganze<br />

westliche Welt verstreuten Mitglieder wieder einsammeln. Man bräuchte nur<br />

entsprechende finanzielle Mittel, um innerhalb von fünfundzwanzig Jahren das<br />

frühere Ansehen wiederzuerlangen.<br />

Bevor Hayek seinen Rettungsplan näher erläutert, gibt er einen knappen<br />

Überblick über <strong>Wien</strong>s vergangene Größe. 3 Er zitiert Daten, die ihn selbst überrascht<br />

hätten, nennt die Zahl der <strong>österreichische</strong>n Nobelpreisträger bis 1950<br />

und schließt die Vermutung an, daß in Relation zur Bevölkerungszahl <strong>Wien</strong><br />

weltweit an erster Stelle liegen müßte. 4 Für jene Wissenschaften, mit denen<br />

er hinreichend vertraut sei, stellt er drei Generationen nebeneinander: <strong>Wien</strong>er<br />

Gründerväter wie Boltzmann, Brentano, Freud, Lammasch, Mach und Menger;<br />

deren Schüler, die in der Zwischenkriegszeit noch zur Blüte <strong>Wien</strong>s beigetragen<br />

hätten, 5 und jene Generation, die heute vor allem im Ausland tätig<br />

sei. 6 Danach spricht Hayek über <strong>Wien</strong>s Rolle an der Grenze der beiden widerstreitenden<br />

politischen Systeme, seine Ausstrahlung nach dem Osten und<br />

andere Klischees, und behauptet, daß ” massive help extending over a long period<br />

would be likely to bring exceptionally large returns.“ Mit der Hälfte des<br />

Jahresbudgets einer großen amerikanischen <strong>Universität</strong> könne man jedenfalls<br />

eines der größten Zentren der Gelehrsamkeit wieder auf seine Füße stellen.<br />

Hayek schwebte ein ” concerted move“ der Ex-<strong>Wien</strong>er an den Dr. Karl Lueger-<br />

Ring vor. Vierzig neue Professuren in allen vier Fakultäten würden ausreichen,<br />

3 Zu dieser Zeit war Hayek auch damit beschäftigt, eine Liste amerikanischer Wissenschaftler<br />

<strong>österreichische</strong>r Herkunft zusammenzustellen, vgl. Brief Hayek an Dear colleagues vom<br />

Juni 1957, Ford Foundation. An dieser als Hayek/Stourzh Liste bekannt gewordenen Aufstellung<br />

ist bemerkenswert, daß in ihr Opfer der Nazis und Anhänger dieser Partei nebeneinander<br />

stehen. Kopie im Dokumentationsarchiv des <strong>österreichische</strong>n Widerstandes (DÖW,<br />

Akt Nr. 6217).<br />

4 Hayek behauptet, daß bis 1950 zehn Österreicher, 34 Deutsche, 28 Briten, 27 Amerikaner<br />

und je sieben Schweden und Schweizer einen der drei Wissenschaftspreise erhalten hätten.<br />

Eine Überprüfung dieser Angaben ergab nur kleine Abweichungen von Hayeks Zählung;<br />

http://nobel.sdsc.edu/cgi-bin/laureate-search, 12. Februar 2000.<br />

5 Hayek teilt hier wider besseres Wissen jenen Mythos, der seither in alpenländischen Selbstbeschreibungen<br />

einen Stammplatz gefunden hat, gleichgültig, ob sich diese auf Geldscheinen<br />

oder in der Bezeichnung von Wissenschaftspreisen zeigt: Man schmückt sich mit den Namen<br />

jener, die zu Lebzeiten keinen oder nur einen marginalen Platz im kulturellen und wissenschaftlichen<br />

Leben hatten (hier: Alfred Adler, Ludwig Wittgenstein, Joseph Schumpeter).<br />

6 Die Liste ist lang und enthält alle bekannten Namen von Carnap, Gödel, Gombrich, Haberler,<br />

Lazarsfeld, Machlup, Menger, Popper, Weisskopf, aber auch Otto Brunner, Karl Frisch,<br />

Ludwig Bertalanffy und Hans Sedlmayr, deren Abwesenheit von <strong>Wien</strong> bekanntlich andere<br />

Gründe hatte, über die sich Hayek allerdings ausschweigt.<br />

ÖZG 11.2000.1 131


um the decline towards a provincial atmosphere“ umzukehren. Über dreißig<br />

”<br />

Jahre hinweg würden da<strong>für</strong> rund fünfundzwanzig Millionen Dollar nötig sein.<br />

Das kam dann sogar Hayek etwas viel vor, weswegen er hinzusetzte, daß er<br />

nicht glaube, diese Summe von nur einer Stiftung erhalten zu können. Hayeks<br />

Vorschlag erreicht einen absurden Höhepunkt, als er behauptet, first class<br />

”<br />

men“ nur rekrutieren zu können, wenn ihnen im Fall politischer Veränderungen<br />

eine Weiterbeschäftigung außerhalb Österreichs garantiert werde, sie also<br />

eine Art schnelle akademische Eingreiftruppe bilden sollten, die sich von der<br />

’ Front‘ wieder zurückzieht, falls sich herausstellte, daß die gegnerischen Kräfte<br />

stärker sind.<br />

Dieses Memorandum, dessen vertraulichen Charakter Hayek abschließend<br />

betont, war natürlich nicht einmal Wunschdenken eines Mannes, der als Mittfünfziger<br />

schon an die Zeit nach seiner Pensionierung dachte und diese offenbar<br />

gern als Chairman der von ihm ” provisorisch“ so benannten ” Vienna University<br />

Foundation“ verbringen wollte. Kurioserweise bildet Hayeks Memorandum<br />

aber zumindest chronologisch den Anfang der Gründungsgeschichte, die im folgenden<br />

zu erzählen ist. Denn Henry Ford II leitete das Schreiben offenbar an<br />

seine Stiftung weiter, wo zu dieser Zeit massive Anstrengungen unternommen<br />

wurden, die Sozialwissenschaften in Europa zu stärken. 7<br />

Kurze Zeit nach Beginn des ” Tauwetters“ in den kommunistischen Ländern<br />

entsandte der in der Ford Foundation die Abteilung <strong>für</strong> internationale Beziehungen<br />

leitende Shepard Stone 8 eine Delegation nach Polen, um ” promising young<br />

men“ 9 zu finden, denen man Stipendien <strong>für</strong> einen Aufenthalt in den USA anbieten<br />

könne. Die Delegation stand unter Leitung von Frederick Burkhardt 10 und<br />

ihr gehörte auch der Professor <strong>für</strong> Soziologie der Columbia University, Paul F.<br />

Lazarsfeld an. Später weitete die Ford Foundation dieses Programm auch auf<br />

Jugoslawien aus. Lazarsfeld erinnert sich:<br />

7 Vgl. Giuliana Gemelli, Hg., The Ford Foundation and Europe (1950s–1970s). Cross-fertilization<br />

of Learning in Social Science and Management, Brüssel 1998.<br />

8 Stone (1908–1990) war ein exzellenter Kenner Europas, wo er vor dem Zweiten Weltkrieg<br />

als Reporter der New York Times und nach dem Krieg als Leiter der Öffentlichkeitsarbeit<br />

des U.S. High Commissioner for Germany arbeitete. 1953–1968 leitete er die Abteilung <strong>für</strong><br />

internationale Beziehungen der Ford Foundation und gründete danach das Aspen Institut<br />

Berlin. Zu Stone vgl. Volker R. Berghahn, Shepard Stone and the Ford Foundation, in:<br />

Gemelli, Ford Foundation, wie Anm. 7, 69–95.<br />

9 Paul F. Lazarsfeld, The Pre-history of the Vienna Institute for Advanced Studies, 2; Paul F.<br />

Lazarsfeld Papers, Columbia University, Rare Book and Manuscript Library, Box 19.<br />

10 Frederick H. Burkhardt (geb. 1912), Ph.D. Columbia University 1940, danach Assistant<br />

Professor <strong>für</strong> Philosophie an der University of Michigan, ab 1943 zuerst ’ Research Analyst‘<br />

<strong>für</strong> Mitteleuropa im ’ Office of Strategic Services‘, danach im Außenministerium in der Forschungsabteilung<br />

<strong>für</strong> Europa, ab 1947 Präsident des Bennington College, 1950/51 Mitarbeiter<br />

Stones in der Öffentlichkeitsarbeit des U.S. High Commissioner for Germany, 1957–74 Präsident<br />

des ’ American Council of Learned Societies‘, danach Mitherausgeber der Werke William<br />

James’ und der Korrespondenz von Charles Darwin.<br />

132 ÖZG 11.2000.1


While I didn’t know the history of Yugoslavia as well as that of Poland I was surprised<br />

how many good people could be found there (...). I asked Stone to send me on a<br />

similar mission to Austria because I thought I might be able to help some of my<br />

former students and associates. However, I did not find younger people who would<br />

live up to the standards which the Ford Foundation had set up for the granting of<br />

these fellowships. This impression was gained when, in January 1958, I spent ten days<br />

in Vienna. Upon my return I sent a very long Report on Austria to Dr. Stone. 11<br />

Dieser Report on Austria bildet den sachlichen Ausgangspunkt <strong>für</strong> die Bemühungen<br />

der Ford Foundation, in <strong>Wien</strong> ein Institut zu gründen. Auf den ersten<br />

fünf Seiten skizziert Lazarsfeld den ” General Background“. 12 Um die Schwierigkeiten<br />

der <strong>österreichische</strong>n <strong>Universität</strong>en zu verstehen, sei es nötig, drei Tatsachen<br />

zu berücksichtigen: ” Die anti-intellektuellen Auswirkungen der jüngsten<br />

Geschichte Österreichs, die Besonderheiten der gegenwärtigen <strong>österreichische</strong>n<br />

Politik und die Beziehung der Katholischen Kirche zu den Sozialwissenschaften.“<br />

1918 habe <strong>für</strong> <strong>Wien</strong> bedeutet, nicht mehr die Metropole eines beinahe<br />

sechzig Millionen Menschen umfassenden Reiches, sondern die Hauptstadt eines<br />

kleinen Staates von sieben Millionen Einwohnern zu sein. Während seine ” intelligentsia“<br />

früher aus Deutschen, Slawen, Ungarn und Juden bestand, habe nach<br />

1918 ” langsam eine Abwanderung der Intellektuellen“ nach Deutschland und in<br />

die Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches eingesetzt. Dennoch habe es in den<br />

zwanziger Jahren intellektuelles Leben gegeben, zum einen wegen der ” vigorous<br />

activities“ der Gemeinde <strong>Wien</strong>, die Lazarsfeld mit dem zehn Jahre später beginnenden<br />

New Deal in den USA vergleicht, und zum anderen, weil die ” very<br />

intense political battles gave opportunities to prominent men on both the Conservative<br />

and the Social Democratic sides.“ 1934 sei der ” zweite Schock“ erfolgt,<br />

als ein ” faschistische(s) Regime nach italienischem Vorbild“ <strong>Universität</strong>sprofessoren<br />

und andere Intellektuelle entlassen oder in die Emigration getrieben habe.<br />

In dieser Zeit sei der Antisemitismus noch nicht stärker gewesen als in früherer<br />

Zeit; soziale Diskriminierung der Juden habe es immer schon gegeben. 1938<br />

seien dann alle Juden vertrieben worden, und nach dem Ende des Krieges habe<br />

eine vierte ” decimation of talent“ stattgefunden. ” While the denazification<br />

of Austria was politically desirable and carried out more thouroughly than in<br />

Western Germany it cannot be denied that it led to the elimination of what<br />

had remained of intellectual talent between 1918 and 1945.“<br />

11 Lazarsfeld, Pre-history, wie Anm. 9. – Dieses 1973 verfaßte Manuskript hätte den Anfang<br />

einer wissenschaftshistorischen Studie bilden sollen, blieb aber ohne Folgen. Lazarsfeld hatte<br />

vorgeschlagen, seine Dokumentation durch die anderer und durch Oral history zu ergänzen.<br />

Die ’ Pre-history‘ ist im Ton diplomatisch und weniger detailliert als der ’ Report on Austria‘,<br />

aus dem ich hier ausführlich zitiere.<br />

12 Paul F. Lazarsfeld, Report on Austria, Lazarsfeld Papers, Box 38. Daraus alle folgenden<br />

Zitate.<br />

ÖZG 11.2000.1 133


So fragwürdig der Vergleich mit Westdeutschland ist, so richtig dürfte der<br />

Hinweis auf die Auswirkungen der Entnazifizierung auf das geistige Leben sein.<br />

Man dürfe aus dem Umstand, daß in <strong>Wien</strong> bestimmte kulturelle Aktivitäten –<br />

Oper, Theater und Konzerte – gedeihen, nicht auf andere schließen. Darstellende<br />

Kunst sei etwas anderes als kreative Fähigkeiten. Zwar seien <strong>österreichische</strong><br />

Schauspieler im gesamten deutschen Sprachraum gefragt, aber über Jahrzehnte<br />

hinweg habe kein <strong>österreichische</strong>r Schriftsteller ein ” acceptable play“ zustandegebracht.<br />

” University life, which of course requires creative skill, shows the<br />

decline of intellectual level most acutely.“ Die Lage werde durch die aktuellen<br />

politischen Verhältnisse – wir befinden uns im Jahr 1958 – noch verschlimmert.<br />

Die Koalition zwischen ÖVP und SPÖ funktioniere zwar und habe dem Land<br />

auch zu annehmbarem Wohlstand verholfen, aber das intellektuelle Leben leide<br />

darunter. Wichtige Fragen würden, um die Koalition nicht zu gefährden, gar<br />

nicht diskutiert, und Politik bestehe nur in Verhandlungen der Parteien über<br />

Postenvergaben, was Auswirkungen auf junge Leute habe, die nur reüssieren<br />

könnten, wenn sie von einer der beiden Parteien unterstützt würden, der sie<br />

dann ihren Dank abzustatten hätten. Die empirischen Sozialwissenschaften litten<br />

unter diesen Umständen weit mehr als andere intellektuelle Aktivitäten.<br />

The Catholic Church is suspicious of them (i. e. empirical social sciences) for a variety<br />

of reasons: Substantive findings might come in conflict with certain dogmatic<br />

positions; quantitative methods do not seem congenial to a spiritual outlook of life.<br />

Beyond this there is the church’s inclination to favor traditional procedures: philology<br />

is preferable to comparative studies of literature; experimental psychology to psychoanalysis.<br />

It is doubtful whether the ruling bureaucracy in the S.P. has a very genuine<br />

understanding of what empirical social research could do for their cause; but even if<br />

they had they would not put up a major fight for it because they do not want to rock<br />

the boat.<br />

Sozialwissenschaftlich beachtenswert seien nur das Institut <strong>für</strong> Wirtschaftsforschung,<br />

das auf hohem Niveau arbeite, sei ihm versichert worden, und in Linz<br />

gebe es einen Bürgermeister, der eine <strong>Universität</strong> <strong>für</strong> social and political sciences<br />

gründen wolle. 13 Vor diesem Hintergrund seien die Treffen zu sehen, über die<br />

er im zweiten Teil seines Report on Austria berichte.<br />

13 Heinrich Drimmel, der 1973 Lazarsfelds ’ Pre-history‘ mit der Bitte um Ergänzungen und<br />

Kommentare aus seiner Sicht zugesandt bekommen hatte, erklärte, keine Aufzeichnungen<br />

darüber zu haben und daher nur über seine persönliche Sicht schreiben zu können. Obiger<br />

Darstellung Lazarsfelds über die <strong>österreichische</strong>n sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen<br />

widersprach Drimmel heftig: ” Demnach existierten damals außer dem Institut <strong>für</strong><br />

Wirtschaftsforschung (aus dem Kamitz hervorgegangen ist) nur noch 2 (in Worten: zwei) wissenschaftlich<br />

relevante Instanzen in Österreich: die Hochschule in Linz (bei deren Gründung<br />

die Exponenten der SPÖ immer mehr hervortraten) und die ein [!] Gruppe von Linkskatholiken<br />

um Friedrich Heer.“ Drimmel an Gerhart Bruckmann, Direktor des IHS, 8. April 1973,<br />

im Anhang zu Lazarsfeld, Pre-history, wie Anm. 9.<br />

134 ÖZG 11.2000.1


Mit dem Unterrichtsminister Heinrich Drimmel, dessen Karriere Lazarsfeld<br />

knapp schildert 14 und von dem er sagt, daß die ” weit nach rechts gerückten“<br />

Sozialisten am liebsten mit ihm kooperierten, habe er eineinhalb Stunden<br />

lang gesprochen. Drimmel sei sich des Niedergangs der <strong>Universität</strong>en völlig bewußt,<br />

um es aber ändern zu können müßte man, so Lazarsfeld, eine andere<br />

Persönlichkeit als Drimmel sein. Lazarsfeld habe Drimmel über die Arbeitsweise<br />

einer amerikanischen Stiftung aufklären müssen, da dieser sich anläßlich<br />

eines früheren Gesprächs mit Stone davon ein völlig falsches Bild gemacht habe:<br />

” Drimmel (...) expected that one day a check from the Ford Foundation<br />

would arrive“ 15 – und er habe versucht, Drimmels ” European stereotype of the<br />

materialistic Americans“ zu zerstreuen. ” He thinks that we do not appreciate<br />

the spiritual values of the Austrian tradition (and) he felt that Americans are<br />

much more likely to help Germans because they too are materialistic.“ Ausführlich<br />

sei dann darüber gesprochen worden, wie man die Verhandlungen mit der<br />

Ford Foundation führen solle. Drimmel habe vorgeschlagen, den Akademischen<br />

Rat – ” the Council, however, had never been active for reasons I do not quite<br />

understand“ – damit zu beauftragen. Nachdem sich herausgestellt habe, daß<br />

dieser Rat über keinerlei ” administrative machinery“ verfüge, sei man übereingekommen,<br />

zwei ” assistent professors, Rosenmayr and Topitsch“ – ” they both<br />

had been in America on fellowships“ 16 – als ” executive secretary“ zu engagieren,<br />

” to make an inventory of worthwhile projects and to enable the Council to<br />

express preferences.“ Doch noch während seines Aufenthalts in <strong>Wien</strong> sei diese<br />

Idee zugunsten eines eigens eingesetzten Komitees verworfen worden.<br />

Drimmel habe Hayeks ” idea to create in Vienna an Institute of Advanced<br />

Studies which would be free of University supervision“ gekannt und sehr begrüßt,<br />

auch wenn er erkannt habe, daß dies finanziell ” almost impossible“ sei.<br />

Der <strong>österreichische</strong> Unterrichtsminister hoffe, daß ” Dr. Stone or I or somebody<br />

else would find some solution for the intellectual impasse“. Allerdings drückte<br />

14 Drimmel widerspricht Lazarsfelds Charakterisierung seiner politischen Vergangenheit und<br />

schreibt dazu: ” Was meine Person betrifft, so möchte ich feststellen, daß ich im Jahr 1957/58<br />

eine Politik mit dem Einsatz von ’ Privatarmeen‘ längst hinter mir hatte. Das aber ändert<br />

nichts an meiner Wertschätzung <strong>für</strong> Engelbert Dollfuß, der als einziger Regierungschef im<br />

Kampf gegen Hitler gefallen ist.“<br />

15 Das gleiche Mißverständnis drückte der damalige Außenminister Leopold Figl in einem<br />

Brief vom 4. Februar 1958 an Lazarsfeld aus, in welchem er darum bat, die ’ Ford Foundation‘<br />

möge die Einrichtung eines <strong>Wien</strong>er Komitees annehmen, aber nichts darüber sagte, wo<strong>für</strong><br />

man denn nun eigentlich Geld haben möchte. Der Brief ist im Anhang zum ’ Report on<br />

Austria‘ wiedergegeben.<br />

16 Leopold Rosenmayr (geb. 1925) und Ernst Topitsch (geb. 1919) waren 1951 und 1953 ein<br />

Jahr lang als Rockefeller Fellows in den USA gewesen; nach ihrer Rückkehr arbeiteten sie<br />

als <strong>Universität</strong>sassistenten an der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong>. Topitsch taucht später noch einige Male<br />

in den Akten der Rockefeller Foundation und der ’ Ford Foundation‘ auf, übernahm aber nie<br />

eine organisatorische Funktion, vgl. Fellowship Card, RAC.<br />

ÖZG 11.2000.1 135


er diese Hoffnung erst aus, als ihm Lazarsfeld versicherte, daß die Aktivitäten<br />

der Stiftung would not endanger what he considers basic Austrian values. He<br />

”<br />

is also hoping that some intervention from outside would set things into motion.“<br />

Welche <strong>österreichische</strong>n Werte“ nicht gefährdet werden dürften, wird an<br />

”<br />

dieser Stelle des Reports nicht ausgeführt. Was in den folgende Jahren geschah,<br />

ist allerdings durchaus geeignet, sie gleichsam an der Arbeit zu sehen.<br />

Lazarsfeld bezeichnete Drimmel zu Recht als Schlüsselfigur. Warum er<br />

auch zur Ansicht kam, daß fortunately he would undoubtedly also be a good<br />

”<br />

person to work with“, scheint mir jedoch kaum nachvollziehbar. Wahrscheinlich<br />

gelangte er zu dieser Auffassung nach dem Gespräch mit der von ihm auf<br />

Seiten der SPÖ identifizierten Schlüsselfigur: dem damaligen Staatssekretär im<br />

Außenministerium, Bruno Kreisky, by far the most promising combination of<br />

”<br />

personal ability and power.“ Kreisky erzählte Lazarsfeld, daß er sich wöchentlich<br />

mit Drimmel treffe – Kreisky and Drimmel are in some way personal<br />

”<br />

friends and cry on each other’s shoulders about the shortcomings of the political<br />

machines with which they are allied.“<br />

Im dritten Teil seines Report on Austria behandelt Lazarsfeld die Frage,<br />

” how to organize a request for funds.“ Tatsächlich kreisten alle seine Gespräche<br />

in <strong>Wien</strong> darum, wie man die Eingabe“ anlegen sollte. I want to stress the<br />

” ”<br />

paradoxical element in these discussions. Austria has always had a strong bureaucracy<br />

and one of the standard jokes is the role of the petition‘ – Eingabe<br />

’<br />

– in the life of each citizen. It struck many of us as funny that the central<br />

problem of my ten days in Vienna was how I could help the Austrians to draft<br />

an eingabe to the Ford Foundation.“ In ermüdender Ausführlichkeit schildert<br />

Lazarsfeld seine Odyssee durch die Vor- und Hinterzimmer der <strong>österreichische</strong>n<br />

Innenpolitik und die unzähligen Intrigen und koalitionären Junktims: Der <strong>für</strong><br />

Wissenschaften zuständige SPÖ-Abgeordnete Karl Mark war nur unter der Bedingung<br />

bereit, den Akademischen Rat zu akzeptieren, wenn im Gegenzug sein<br />

seit drei Jahren im Nationalrat liegender Antrag auf Gründung eines national<br />

”<br />

scientific council“ behandelt würde. Viel besser wäre es allerdings, gleich diese<br />

neue Institution mit der Planung des neuen Zentrums zu beauftragen. Der eine<br />

” real power in University politics“ darstellende Professor Hubert Rohracher,<br />

der Lazarsfeld den unzutreffenden Eindruck vermitteln konnte, free from po-<br />

”<br />

litical affiliations“ zu sein, lehnte diesen Vorschlag umgehend ab, weil er gegen<br />

die Gründung eines Wissenschaftsförderungsfonds sei, in dem die politischen<br />

Parteien gegenüber den Vertretern der <strong>Universität</strong>en in der Überzahl wären.<br />

Stattdessen schlug er die Befassung der Akademie der Wissenschaften vor, was<br />

allerdings wiederum bei Lazarfeld auf wenig Gegenliebe stieß, sei das doch eine<br />

Institution, die vornehmlich aus old emeriti professors“ bestehe, die weder<br />

”<br />

Einfluß auf noch Wissen über moderne Entwicklungen hätten und von einem<br />

Präsidenten geleitet werde, an den er sich noch aus seiner <strong>Wien</strong>er Studienzeit<br />

136 ÖZG 11.2000.1


als ” very insignificant professor“ erinnern könne, der obendrein in der Lage<br />

gewesen sei, unbeschadet die verschiedenen politischen Wechsel zu überleben,<br />

obwohl er sehr katholisch sei. ” At this point, then, three proposals regarding the<br />

agency to deal with the (Ford) Foundation had been made: the inactive Academic<br />

Council, the non-existing national scientific council and the insignificant<br />

Academy of Science.“<br />

Er habe, berichtet Lazarsfeld weiter, auch noch verschiedene andere mit<br />

Bildung befaßte Einrichtungen kontaktiert, vor allem wolle er aber Stones Aufmerksamkeit<br />

auf eine Gruppe linker Katholiken lenken, die ihm im ” rather<br />

dreary intellectual picture of Vienna“ in der Lage schienen, ” to exercise some<br />

intellectual initiative.“ Ihr ” main spokesman“ sei ein ” unattached historian,<br />

(Friedrich) Heer, who has published many books and who edits a weekly<br />

newspaper, Die Furche, (...) by far the best written and most civilized newspaper<br />

in Austria.“ Diese Gruppe fände ein wenig ” academic support through the<br />

only so-called professor of sociology at the University of Vienna, (August M.)<br />

Knoll.“ Dieser sei ” essentially an historian of Catholic social thought“, werde<br />

aber von Leopold Rosenmayr, dem einzigen, der in <strong>Wien</strong> ” seriously concerned<br />

with empirical social research“ sei, ” fairly“ unterstützt. Daneben gebe es noch<br />

eine Gruppe junger Männer um den Assistenten an der Psychiatrischen Klinik,<br />

Hans Strotzka, die eine Art ” unofficial seminar“ eingerichtet hätten, um ” empirical<br />

social research“ zu diskutieren. Sie dächten sogar daran, ” some studies“ im<br />

Bereich der Industriesoziologie und der Erforschung der öffentlichen Meinung<br />

durchzuführen. Stone möge bei seinem nächsten Besuch in <strong>Wien</strong> diese Gruppe<br />

kontaktieren, um zu sehen, ob ihre Pläne ein realistisches Stadium erreicht<br />

hätten. Beide Gruppen würden es wohl begrüßen, wenn die Verhandlungen<br />

mit der Ford Foundation nicht völlig unter dem Einfluß der beiden regierenden<br />

Parteien gerieten.<br />

Nach ungefähr vierzig Besprechungen, schreibt Lazarsfeld resignierend,<br />

kenne er sich kaum noch aus und be<strong>für</strong>chte, daß jeder versuchen werde, ” to<br />

quote me in the way most suitable for his prejudices.“ 17 Doch trotz aller negativen<br />

Erfahrungen rafft er sich auf, die sich selbst gestellte Frage zu beantworten:<br />

” What can money do in a situation where there is no strong intellectual<br />

initiative from within “ Man könne, erstens, mehrjährige Stipendien an Assistenten<br />

vergeben. Obwohl in <strong>Wien</strong> kaum ein bedeutender Lehrer vorhanden sei,<br />

könne man, wenn einem Professor fünf Assistenten zur Seite gestellt würden,<br />

erwarten, daß einige aus dieser Gruppe ” would go beyond their teachers and<br />

form a kind of internal pressure group for higher academic standards“. Außerdem<br />

sei es nicht unmöglich, daß einige dieser Assistenten ” would broaden their<br />

interests and do better work.“ Ohne diesen Plan zu detaillieren, würde er zu<br />

17 Lazarsfeld deponierte aus diesem Grund in <strong>Wien</strong> eine offizielle Version seiner Absichten<br />

in schriftlicher Form, welche im Anhang zum ’ Report on Austria‘ wiedergegeben ist.<br />

ÖZG 11.2000.1 137


seinen Gunsten argumentieren. Zweitens könnte man <strong>für</strong> die zeitweilige Rückkehr<br />

von Emigranten Gastprofessuren errichten. Friedrich Hacker habe kürzlich<br />

in <strong>Wien</strong> gelehrt, und Lazarsfeld habe sich von der positiven Wirkung, die das<br />

gehabt habe, überzeugen können. Konkret denke er an seine frühere Lehrerin<br />

Charlotte Bühler und an Adolf Sturmthal, 18 die vermutlich beide gewillt<br />

wären, in <strong>Wien</strong> vorübergehend zu lehren. Und er habe gehört, daß auch Hayek<br />

an einer Rückkehr interessiert sei und darüber mit dem (ressortunzuständigen)<br />

Finanzminister Kamitz in Verhandlungen stehe. 19 Drittens könnte man<br />

den Plan unterstützen, in Linz eine neue <strong>Universität</strong> zu errichten, wo eine<br />

Gruppe von ausländischen Beratern das Curriculum, das jetzt ” somewhat oldfashioned“<br />

sei, verbessern helfen könnte. Viertens könnte man ein Institut <strong>für</strong><br />

Osteuropastudien fördern, an dessen Errichtung ein junger <strong>Wien</strong>er Professor,<br />

Stephan Verosta, interessiert sei. 20 Fünftens könnte man bei bestimmten klar<br />

umrissenen Problemen helfen. So sei etwa das Niveau der Tageszeitungen ” especially<br />

bad“ und eine Journalistenschule könnte nützen. Sechstens könnte man<br />

statt der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> die anderen <strong>Wien</strong>er Hochschulen oder die <strong>Universität</strong>en<br />

in der Provinz fördern. Siebentens könnte man den Bibliotheken unter<br />

die Arme greifen, die sich in einem ” deplorable state“ befänden, was ein weiterer<br />

Grund sei, warum ” academic life is at such a low level“. Achtens könnte die<br />

Ford Foundation einen Zuschuß zu den Fulbright-Stipendien leisten, da derzeit<br />

wegen der geringen Stipendienhöhe das Niveau der Bewerber außerordentlich<br />

niedrig sei. Lazarsfeld beendet seinen Report on Austria mit zwei Hinweisen: Er<br />

werde ihn anderen ehemaligen Österreichern in den USA zur Kenntnis bringen,<br />

die alle mit dem Problem beschäftigt seien, und er beschwört die Ford Foundation<br />

geradezu, etwas <strong>für</strong> Österreich zu tun, da es sich nur um ein ” temporary<br />

weakening of intellectual morale“ handle.<br />

18 Adolf F. Sturmthal (1903–1986) war nach Abschluß seines Studiums mehr als zehn Jahre<br />

lang Mitarbeiter Friedrich Adlers in der Sozialistischen Internationale, deren Nachrichtendienst<br />

er edierte. Lazarsfeld wiederum stand Adler nahe, war dieser doch über Jahrzehnte<br />

der Liebhaber seiner Mutter. Sturmthal flüchtete 1938 in die USA, wo er an verschiedenen<br />

<strong>Universität</strong>en lehrte, ehe er ab 1960 eine Professur <strong>für</strong> ’ Labor and Industrial Relations‘ an<br />

der University of Illinois übernahm. Adolf F. Sturmthal, Democracy Under Fire: Memoirs of<br />

a European Socialist, hg. v. Suzanne Sturmthal Russin, Durham 1989.<br />

19 Reinhard Kamitz war als Mitarbeiter des Instituts <strong>für</strong> Konjunkturforschung 1938 ein<br />

Rockefeller Fellowship zugesichert worden, scheint aber auf dieses zu Gunsten des Aufstiegs<br />

im führungslosen Institut verzichtet zu haben, Rockefeller Foundation, R. G. 1.1. General<br />

Correspondence 2-1937, series 705, box 152, folder 1123, sowie General Correspondence 2-<br />

1938, Series 705, box 167, folder 1213, RAC.<br />

20 Schon 1952 hatten Richard Blühdorn und Alfred Verdross versucht, bei der ’ Ford Foundation‘<br />

Geld <strong>für</strong> die Gründung eines Instituts <strong>für</strong> internationale Beziehungen, das der Ausbildung<br />

von Diplomaten und Mitarbeitern internationaler Organisationen dienen sollte, zu<br />

bekommen. Ihr Antrag wurde abgelehnt, weil die ’ Ford Foundation‘ damals noch nicht in<br />

Österreich tätig werden wollte, vgl. Frederick C. Lane, Tagebuch, 10. Oktober 1952, 425,<br />

RAC.<br />

138 ÖZG 11.2000.1


Lazarsfelds Report wurde hier so ausführlich referiert, weil er weitestgehend<br />

zutreffend die politischen Verhältnisse und die Lage der (sozial-)wissenschaftlichen<br />

Forschung in Österreich Ende der fünfziger Jahre schildert. Er mag<br />

sich in der Beurteilung einzelner Personen hinsichtlich ihres Interesses und ihrer<br />

Fähigkeit, an den Verhältnissen etwas zu ändern, geirrt haben, als Sittenbild<br />

des geistigen Lebens der frühen Zweiten Republik kann man diesen Report getrost<br />

an die Seite jenes stellen, der seither zum Synonym des Österreichertums<br />

dieser – und nicht nur dieser – Jahre wurde: Carl Merz’ und Helmut Qualtingers<br />

Der Herr Karl, uraufgeführt 1961, schildert diesselben Verhältnisse und<br />

porträtiert im Souterraine der sozialen Schichtung jenen Sozialcharakter, dem<br />

Lazarsfeld in deren Belles etages begegnete. Die Frage, die zu beantworten die<br />

folgenden Zeilen nicht in der Lage sein werden, die sich allerdings geradezu<br />

unabwendbar stellt, ist: Warum kehrte Paul F. Lazarsfeld nach diesen Erfahrungen<br />

noch einmal nach <strong>Wien</strong> zurück 21 Denn er kehrte zurück, nicht um in<br />

<strong>Wien</strong> Musik zu hören, sondern um ein Institut gründen zu helfen.<br />

Der Report zirkulierte in den USA, wie angekündigt, unter ehemaligen<br />

Österreichern. Im Dezember 1958 berichtete Lazarsfeld an Stone über die Reaktionen<br />

und listete Personen auf, mit denen Stone über die <strong>österreichische</strong>n<br />

Aktivitäten konferieren sollte: Charlotte Bühler, F. A. Hayek, Adolf Sturmthal<br />

und Ludwig Wagner. Wünschenswert wäre es, auch noch einen ” respectable Catholic<br />

refugee“ beizuziehen. 22 Die Konferenz fand Ende März 1959 in Stones<br />

New Yorker Büro unter Teilnahme von Lazarsfeld, Hayek, Sturmthal, Klemens<br />

von Klemperer und Erich Hula statt. Lazarsfeld hatte eine überarbeitete Version<br />

seiner Vorschläge vom Vorjahr vorbereitet. 23 Die Versammelten einigten sich<br />

auf zwei Vorschläge: Die Ford Foundation sollte in <strong>Wien</strong> ein Zentrum <strong>für</strong> ” ad-<br />

21 Im Unterschied zu manchem anderen Emigranten, hatte Lazarsfeld weder Interesse noch<br />

Not an einer ständigen Rückkehr nach <strong>Wien</strong>, wie er in einem der Briefe an Stone unmissverständlich<br />

und ohne Koketterie festhielt: ” to avoid misunderstandings, I have to add a<br />

word about myself. I would be most eager to help in the organization of the projects (...) but<br />

as I told you and everyone else concerned before, it would not be possible for me to join the<br />

faculty (...) as an ex-Austrian, I have, of course, a great desire to relieve the intellectual plight<br />

prevailing now in Vienna. But my commitments in this country [USA] are now so ramified,<br />

that I could not possibly stay away for a long time.“ Lazarsfeld an Stone, 15. Oktober 1960.<br />

22 Lazarsfeld an Stone, 23. Dezember 1958. Charlotte Bühler schrieb am 23. März 1959 an<br />

Stone einen Brief, worin sie bedauert, wegen einer anderen Verpflichtung an dem Treffen nicht<br />

teilnehmen zu können. Sie erklärt sich darin auch bereit, nach <strong>Wien</strong> zu gehen, ” however, I<br />

would of course have to have a reasonable degree of security and the certainty that this<br />

position is at least to degrees equivalent to what I give up.“ Grant number 63-193, reel 2574,<br />

Ford Foundation.<br />

23 Auf dieses Papier wurde später öfters als ” the document“ Bezug genommen. In ’ Prehistory‘<br />

erläutert Lazarsfeld: ” It is my guess that I wrote this memo as a kind of general<br />

summary for Dr. Stone. I consider it quite possible that he collaborated on the wording and<br />

that I also had the help of some other associates. The style of the memo is somewhat more<br />

formal than I am used to writing.“ Lazarsfeld, Pre-history, wie Anm. 9, 6.<br />

ÖZG 11.2000.1 139


vanced teaching and research“ gründen und einigen der existierenden <strong>Wien</strong>er<br />

Einrichtungen Mittel zur Verfügung stellen, um zusätzlich Ausländer anstellen<br />

zu können. Das Zentrum sollte sich mit zwei Aktivitäten befassen: Forschung<br />

über Österreich und Osteuropa und Lehre jener Disziplinen, die an den <strong>Universität</strong>en<br />

nicht oder unzureichend vertreten waren: ” modern social psychology,<br />

empirical study of politics, industrial relations, etc.“ Der Lehrkörper sollte<br />

sich aus ” highly-qualified ex-Austrians returning from America and West European<br />

countries“ und Österreichern zusammensetzen, die am Programm des<br />

Zentrums speziell interessiert und geeignet seien. ” The visiting faculty members<br />

should stay if possible for several years. In exceptional cases life tenure might<br />

be negotiated.“ Ausländische Assistenten und Österreicher, die davor bei ihren<br />

prospektiven Professoren im Ausland studiert haben sollten, könnten weiteres<br />

Personal bilden. Für die Studenten müsse sichergestellt werden, daß ihre<br />

Studien von den <strong>Universität</strong>en anerkannt werden. Absolventen des Zentrums<br />

sollten im öffentlichen Dienst privilegiert, oder ihnen spezielle Assistentenstellen<br />

an den <strong>Universität</strong>en offeriert werden. Die Leitung des Instituts sollte ein<br />

paritätisch aus Österreichern und Amerikanern zusammengesetztes Gremium<br />

übernehmen, dem der Direktor verantwortlich sei. Von Österreich erwarte man<br />

ein geeignetes Gebäude. 24<br />

Im Frühsommer 1959 reiste Lazarsfeld wieder nach Europa, im Juni kam er<br />

nach <strong>Wien</strong>, von wo er an Stone drei lange Briefe schickte. 25 Der Besuchstermin<br />

war, wie Lazarsfeld berichtet, mit Blick auf die <strong>österreichische</strong>n Verhältnisse<br />

nicht gerade gut gewählt, war doch nach der Nationalratswahl Anfang Mai,<br />

die der SPÖ die Stimmen-, aber keine Mandatsmehrheit gebracht hatte, immer<br />

noch keine Regierung gebildet und im vergangenen Jahr war wegen des bevorstehenden<br />

Wahlkampfes in Sachen Institutsgründung nichts weitergegangen.<br />

Die ” famous personal lunches“ von Drimmel und Kreisky seien im beginnenden<br />

Wahlkampf eingestellt worden. ” As a result the plans I had worked last<br />

year got all messed up and I have to start practically from the beginning.“<br />

Neuerlich führte Lazarsfeld ein eineinhalbstündiges Gespräch mit dem voraussichtlich<br />

weiterhin als Unterrichtsminister tätigen Drimmel, um ihm klar zu<br />

24 Inter Office Memorandum, 6. April 1959 und ’ Confidential‘ Protokoll, 30. März 1959,<br />

verfaßt von Lazarsfeld, Ford Foundation.<br />

25 Im ersten Brief entschuldigt er sich bei Stone <strong>für</strong> die äußere Form: ” please remember that<br />

since I came to this country (USA this is) I always had a secretary, so I never learned to<br />

spell let alone to type. But I hope you will get the gist of this first progress report nevertheless.“<br />

12. Juni 1959, Ford Foundation. In Lazarsfelds ’ The pre-history of the Vienna Institute<br />

for Advanced Studies‘, Lazarsfeld Papers Columbia University, bezieht er sich auf deren Inhalt,<br />

notiert allerdings in einer Fußnote auf S. 7: ” I will put these letters into a sealed envelope<br />

for the time being because they contain some remarks on political personalities which should<br />

not be divulged at this moment.“ Stone hatte allerdings Abschriften dieser Briefe herstellen<br />

lassen, von denen sich Kopien zum Teil wiederum unversiegelt in den Lazarsfeld Papers in<br />

der Columbia University finden. Das versiegelte Kuvert scheint verschwunden zu sein.<br />

140 ÖZG 11.2000.1


machen, daß ohne einen von Österreich ausgearbeiteten und der Ford Foundation<br />

übermittelten Vorschlag nichts gehe. Drimmel habe sich wieder <strong>für</strong> die<br />

Verzögerung entschuldigt und ihm versichert, weiterhin an diesem Zentrum interessiert<br />

zu sein: Zum Teil aus patriotischen Gründen, zum Teil um in Österreich<br />

” den Westen“ zu stärken, und schließlich auch wegen der ” few eggheads<br />

in his party“. ” Inversely he is afraid that the socialists – who have a few more<br />

eggheads, although not very many or good ones – will run away with the<br />

Center. When Pittermann came back from NY he boasted how he had good<br />

contacts in the USA and this created great anxiety on the other side. (...) I shall<br />

ask Kreisky tonight (...) to assure Drimmel that the Ford Foundation is not<br />

an agent of Pittermann.“ Lazarsfeld habe Drimmel versichert, er werde da<strong>für</strong><br />

sorgen, daß nicht Pittermann, sondern Kreisky sein Verhandlungspartner auf<br />

Seiten der Sozialisten sei, dessen Außenministerium nach dem Wahlerfolg der<br />

SPÖ nun auch <strong>für</strong> die kulturellen Beziehungen mit dem Ausland zuständig war.<br />

Drimmel habe dann eingestanden, daß er in seiner eigenen Partei Probleme habe.<br />

Hayek, der sich auch gerade in <strong>Wien</strong> befinde, werde nochmals mit Drimmel<br />

reden und ihm die Unterstützung von Kamitz zusagen müssen. 26<br />

Zehn Tage später folgte der nächste Bericht aus <strong>Wien</strong>. Bei einem weiteren<br />

Gespräch mit Drimmel sei es um die akademische Anerkennung der am neuen<br />

Zentrum absolvierten Studien gegangen. Da dies in die autonome Kompetenz<br />

der <strong>Universität</strong> falle, könne diese Frage allerdings nicht vom Ministerium entschieden<br />

werden. 27 In der Zwischenzeit hätten die beiden Parteien auch jemanden<br />

gefunden, dem sie die Koordination der <strong>österreichische</strong>n Seite übertragen<br />

wollten. Lazarsfeld äußerte sich darüber sehr erfreut, weil er Stephan Verosta<br />

von früher kannte und ihn <strong>für</strong> eine gute Wahl hielt. Was er nicht realisierte<br />

war, daß Verosta vor allem damit beschäftigt war, die Balance zwischen den<br />

Parteien zu wahren und dem eigentlich Nötigen, nämlich endlich ein Papier<br />

darüber zu verfassen, wo<strong>für</strong> die Österreicher von der Ford Foundation Geld haben<br />

wollten, weniger Aufmerksamkeit schenken konnte. Verosta fügte dem wissenschaftlichen<br />

Profil des zu gründenden Zentrums eine neue Seite hinzu. War<br />

Hayeks Plan einfach nur groß und Lazarsfelds bisherige Pläne auf eine Aus-<br />

26 ” The problem with Hayek is that he has only a shadowy idea of what it is all about<br />

because he is so involved in his own affaires. Fortunately I had ’ the document‘ with me<br />

and I made him reread it very carefully so that he sticks to the party line.“ In ’ Pre-history‘<br />

drückt sich Lazarsfeld noch deutlicher aus: ” Hayek himself wanted to return to Austria and<br />

concentrated increasingly on his personal plans“. Lazarsfeld, Pre-history, wie Anm. 9, 5.<br />

27 Dieser Hinweis ist <strong>für</strong> die Vorgangsweise des Unterrichtsministeriums gegenüber Uninformierten<br />

geradzu typisch: Was mitgeteilt wird, ist nicht falsch, aber unvollständig, weil<br />

natürlich das Parlament, in welchem ja die beiden Parteien nahezu ohne Opposition waren,<br />

entsprechende Beschlüsse fassen hätte können. Zu früheren irreleitenden Auskünften vgl.<br />

Christian Fleck, Rückkehr unerwünscht. Der Weg der <strong>österreichische</strong>n Sozialforschung ins<br />

Exil, in: Friedrich Stadler, Hg., Vertriebene Vernunft I. Emigration und Exil <strong>österreichische</strong>r<br />

Wissenschaft 1930–1940, <strong>Wien</strong> 1987, 182– 213.<br />

ÖZG 11.2000.1 141


ildungseinrichtung <strong>für</strong> empirische Politik- und Sozialforschung ausgerichtet,<br />

wozu Lazarsfeld als dankbarer Schüler von Charlotte Bühler die Psychologie<br />

anfügte, reklamierte Verosta seine ” hobbies – especially the study of contemporary<br />

history with emphasis on the collection of documents“ in das Konzept. 28<br />

Falls denn überhaupt ein Vorschlag nach New York gelangen werde, warnte Lazarsfeld<br />

Stone, dann werde er eine lange Liste von Forschungsfeldern umfassen<br />

und es sei dann an ihm, sich in den konkreten Verhandlungen durchzusetzen.<br />

The areas which the proposal will stress are likely to be: social research, political<br />

science, contemporary history, and something which has not yet a name but which<br />

is important for Austria, a kind of sophisticated social work, an anthropological approach<br />

to family, youth, and old age, etc. with a sprinkling of social psychiatry – a<br />

term very fashionable here. Oh, and of course industrial sociology and labor relation –<br />

thus altogether five divisions, which don’t need to be started all at once. The question<br />

of economics as a sixth area was under discussion when I left and so I don’t know<br />

how it will turn out. I am against it for various reasons but I try never to inject my<br />

own opinions; and so Hayek, who is still here and with whom Verosta will talk some<br />

more might talk them into it. 29<br />

Ende Juli 1959 schickte Lazarsfeld aus seinem Urlaubsort Opatija einen dritten<br />

Bericht an Stone. Österreich habe eine neue Regierung, sodaß man weiter mit<br />

Drimmel und Kreisky verhandeln könne, und das ” Verosta team is their offical<br />

representative“. Das sei die gute Nachricht, doch die Aussichten auf einen<br />

ordentlichen Antrag stünden schlecht. ” It is just unbelievable for us how inexperienced<br />

the Austrians are in laying out a persuasive and concrete program<br />

of action.“ Dabei handle es sich aber nicht um ein generelles europäisches Unvermögen,<br />

weil beispielsweise die Jugoslawen große Fähigkeiten ” in discussing<br />

and formulating administrative projects“ bewiesen hätten. Er glaube, das Unvermögen<br />

der Österreicher sei das Resultat der allgemeinen Lethargie im Land,<br />

wo Politik vollkommen eine Sache der Aufteilung bestehender Posten geworden<br />

sei, ” instead of developing new ideas.“ 30 Deswegen schlage er vor, die Ford<br />

Foundation möge den Österreichern einen ” initial grant“ geben, damit sie herausfänden,<br />

was sie eigentlich mit dem Zentrum wollten. Lazarsfeld spaßte nicht,<br />

wie aus seiner detaillierten Erläuterung hervorgeht: Stefan Verosta sollte drei<br />

Monate mit Hilfe eines Assistenten und einer Sekretärin ” put his legal mind<br />

to think through all the implications“, um ein gutes Ergebnis zu erzielen. Der<br />

neue Vorgesetzte Verostas, Außenminister Kreisky, unterstütze diesen Plan.<br />

28 Über ein derartiges Institut wurde in <strong>Wien</strong> auch schon lange geredet. F. C. Lane berichtet,<br />

daß er im Dezember 1952 von Drimmel, der damals noch Beamter in jenem Ministerium war,<br />

das er wenig später leiten sollte, über einen derartigen Plan informiert wurde; Lane, Tagebuch,<br />

11. Dezember 1952, 484.<br />

29 Lazarsfeld an Stone, 22. Juni 1959.<br />

30 Lazarsfeld an Stone, 23. Juli 1959.<br />

142 ÖZG 11.2000.1


Mit nochmaliger Hilfe Lazarsfelds 31 schafften es die genannten Personen<br />

schließlich, an die Ford Foundation ein Papier zu schicken, über das dann Ende<br />

Oktober 1959 Stone mit Drimmel in <strong>Wien</strong> verhandelte. Ein Monat nach<br />

der Aussprache sandte ein Sektionschef des Unterrichtsministeriums an Stone,<br />

dessen Vornamen er konsequent falsch schrieb, dessen Titel er aber allesamt<br />

anführte, eine ” Niederschrift“ über die beiden Besprechungen in <strong>Wien</strong>,<br />

zuerst ohne und dann mit Drimmel. Dieses gleichsam amtliche Protokoll ist<br />

nicht nur wegen seines Amtsdeutsch, sondern auch wegen seines Inhalts ein<br />

Stück Realsatire. 32 Drimmel erklärt dem Emissär amerikanischer Philanthropie<br />

rundheraus, daß er dessen Geld nur nehmen würde, wenn daraus kein Unternehmen<br />

entstünde, in dem ein ” sozialistisches Übergewicht“ herrsche. Die<br />

Rechtsform sei nicht entscheidend, aber es gehe nicht an, daß neben einem<br />

schwarzen und einem roten Minister auch noch die Stadt <strong>Wien</strong> eine Rolle spiele.<br />

Interessiert zeigt er sich ” begreiflicherweise“ daran, wer an diesem neuen<br />

Institut beschäftigt sei; eine ” Anrechnung der am Institut verbrachten Zeit<br />

als Vordienstzeit“ müsse zur gegebenen Zeit mit den zuständigen Stellen verhandelt<br />

werden. Auf <strong>österreichische</strong>r Seite, heißt es am Ende von Drimmels<br />

Einleitung, sei vom Gesichtspunkt der Unterrichtsverwaltung als erste Voraussetzung<br />

<strong>für</strong> eine Aktivierung des geplanten Instituts eine Koordinierung der<br />

Auffassung zwischen ihm, Bundesminister Drimmel, und dem Bundesminister<br />

<strong>für</strong> Auswärtige Angelegenheiten, Kreisky, erforderlich. Statt auch nur auf einen<br />

Punkt dessen, was Stone anschließend sagte, einzugehen, erklärt Drimmel abschließend,<br />

daß die Realisierung des Projekts von den Antworten auf drei Fragen<br />

abhängig sei:<br />

1. Kann durch Vereinbarungen zwischen Unterrichtsverwaltung und Außenministerium<br />

als tragende öffentliche Faktoren des Projekts ein haltbares Team gebildet werden<br />

2. Kann es in Kürze gelingen, die von der Ford Foundation erwartete <strong>österreichische</strong><br />

Beitragsleistung – Räume sowie Budget <strong>für</strong> das nicht-wissenschaftliche Personal und<br />

den administrativen Dienst – aufzubringen<br />

3. Welche Persönlichkeiten sollen im Institut die Headmasters sein und wie ist ihre<br />

geistige Haltung 33<br />

31 Dieses ” Expose entstand im Einvernehmen mit den Professoren Verdross, Hantsch und<br />

Rohracher, sowie dem <strong>Universität</strong>sdozenten Dr. Rosenmayr und Dr. (Fritz) Fellner und Dr.<br />

(Ernst) Glaser“, gibt Verosta später zu Protokoll, vgl. Anm. 32.<br />

32 Bundesministerium <strong>für</strong> Unterricht an Stone, 18. November 1959, Niederschrift, Betrifft:<br />

Errichtung eines Österreichischen Instituts <strong>für</strong> Sozialwissenschaften und Zeitgeschichte, Ford<br />

Foundation.<br />

33 Ebd., Lazarsfeld interpretiert in Pre-history, 13 den dritten Punkt als Ausdruck des Mißtrauens<br />

gegen die amerikanische Invasion, obwohl es vermutlich als Umschreibung der Zugehörigkeit<br />

zur richtigen Fraktion zu deuten sein dürfte. Im Anhang befindet sich ein Brief<br />

Drimmels, der um eine Stellungnahme zu dem Manuskript gebeten wurde. Wenigstens zweimal<br />

betont er darin den Unterschied zwischen seiner Auffassung ( ” was meine Person betrifft,<br />

ÖZG 11.2000.1 143


Stone hatte klar gemacht, daß er vor der nächsten Sitzung des Board of Trustees<br />

der Ford Foundation Ende Jänner 1960 einen Vorschlag aus <strong>Wien</strong> erhalten<br />

wollte; Anfang Februar entschuldigte sich Verosta in einem privaten Brief bei<br />

Stone und erklärte, daß vor dem Sommer nicht mit einer Einigung zu rechnen<br />

sei, und ohne jede Spur von Ironie fügte er hinzu, daß eben eine Kommission<br />

eingesetzt worden sei, die die Konstruktion eines neuen Rates <strong>für</strong> die kulturellen<br />

Beziehungen zum Ausland besprechen solle. ” In diesem Rahmen dürfte<br />

auch der Herr Unterrichtsminister nicht abgeneigt sein, sich mit der Unterrrichtsverwaltung<br />

an dem Institut <strong>für</strong> Sozialwissenschaften und Zeitgeschichte<br />

zu beteiligen. Leider wird das noch einige Zeit brauchen.“ 34 Einige Tage später<br />

schrieb Lazarsfeld an Stone: ” I have a copy of Verosta’s letter (...) to you. By<br />

now I feel guilt of association for even having been born in Austria. It is really<br />

an impossible situation.“ 35<br />

In der ersten Jahreshälfte 1961 ergreift Stone die Initiative und schlägt<br />

dem Board of Trustees seiner Stiftung ohne weitere Konsultationen mit <strong>österreichische</strong>n<br />

Stellen die Gründung eines ” Institute for Advanced Studies in Vienna“<br />

vor. Für eine fünfjährige Gründungsphase solle eine Million Dollar zur<br />

Verfügung gestellt werden. Das dreiseitige Dokument unterscheidet sich nur in<br />

wenigen Details von Lazarsfelds früherem Report on Austria und den dort<br />

gemachten Empfehlungen. Es betont die Rolle <strong>Wien</strong>s zwischen den beiden<br />

Blöcken und die sich daraus ergebenden politischen Möglichkeiten – ganz im<br />

Sinn dessen, was in den siebziger Jahren Kreisky zu realisieren versuchte:<br />

Expertentreffpunkt, Studienmöglichkeiten, internationale Agenturen. Über die<br />

<strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> ist Stone keineswegs zurückhaltender als es Lazarsfeld in seinem<br />

Report und in seinen Briefen war: Dort herrsche Mittelmaß, und eben<br />

deshalb scheue man die Rückberufung jener Köpfe, die nun zur Stärke der<br />

amerikanischen, britischen und europäischen <strong>Universität</strong>en beitragen würden.<br />

so möchte ich feststellen, daß ich um 1957/58 eine Politik mit dem Einsatz von ’ Privatarmeen‘<br />

längst hinter mir hatte. Das aber ändert nichts an meiner Wertschätzung <strong>für</strong> Engelbert Dolfuß,<br />

der als einziger Regierungschef im Kampf gegen Hitler gefallen ist.“) und der Reinhard<br />

Kamitz, ” dessen vom Wirtschaftsliberalismus getragenen Ansichten gewissen Erwartungen<br />

weit besser entgegenkamen als die meinigen.“ Heinrich Drimmel an den Direktor des IHS,<br />

8. April 1973, Lazarsfeld papers.<br />

34 Stephan Verosta an Stone, 6. Februar 1960, Ford Foundation.<br />

35 Lazarsfeld an Stone, 15. Februar 1960, Ford Foundation. In seinem Rückblick auf die<br />

<strong>Wien</strong>er Institutsgründung meint Lazarsfeld, sie beide seien Anfang 1960 übereingekommen,<br />

daß weitere Verhandlungen sinnlos seien. Man werde abwarten und zugleich versuchen, die<br />

Schwierigkeiten, die niemand ausdrücklich benannt hat, besser zu verstehen. Der abschließende<br />

Satz gibt die Stimmung des Jahres 1960 wohl besser wieder: ” The year 1960 thus was<br />

devoted to the paradoxical situation that an officer and a consultant of the richest American<br />

foundation in the world looked for some way to have the authorities of a small country to<br />

accept a million dollar grant in support of its professional development.“ Lazarsfeld, Prehistory,<br />

wie Anm. 9, 14.<br />

144 ÖZG 11.2000.1


Zwar hätten die Mitarbeiter und Konsulenten der Stiftung in den letzten beiden<br />

Jahren versucht, die <strong>Universität</strong> dazu zu bringen, sich an die Spitze eines<br />

” reinvigoration process“ zu setzen, aber with reluctance the conclusion has<br />

”<br />

been reached unanimously that the University, for reasons indicated earlier<br />

and owing to almost absolute control by mediocre faculties, is not in a position<br />

to assume the role.“ Deshalb sollte nun ein von der <strong>Universität</strong> unabhängiges<br />

Institut gegründet werden, an dem ” primarily the cultural and social sciences,<br />

including contemporary history, industrial relations and economics, the empirical<br />

study of politics, and modern social psychology“ vertreten sein sollten.<br />

Man beachte, daß die Soziologie hier in ” social sciences“ aufgeht und die Ökonomie<br />

nur im Tandem mit einem Spezialgebiet genannt wird. ” Realistic problems“<br />

Österreichs und Osteuropas sollten an diesem Institut untersucht werden,<br />

dessen Lehrer vor allem ehemalige, emigrierte Österreicher sein würden,<br />

die <strong>für</strong> mehrere Jahre oder sogar auf Dauer nach <strong>Wien</strong> zurückkehren sollten.<br />

Unter anderem hätten sich bereits F. A. Hayek, Karl Popper, Adolf Sturmthal<br />

und Charlotte Bühler an diesem Offert interessiert gezeigt. Ausführlich diskutiert<br />

Stone dann auch die delikate Beziehung zur <strong>Universität</strong> und wie diese auf<br />

längere Sicht verbessert werden könnte. Ausgezeichnete Professoren könnten<br />

am Institut vortragen, was impliziert, daß nicht daran gedacht war, sie in den<br />

regulären Lehrkörper aufzunehmen; hingegen sollten Absolventen des Instituts<br />

in der <strong>Universität</strong> Anstellungen finden, und ” the most distinguished University<br />

professsors“ sollten ins ” advisory council of the Institute“ aufgenommen<br />

werden. Innerhalb eines Jahrzehnts könnte so eine Erneuerung der <strong>Universität</strong><br />

erreicht werden.<br />

Sei es des Abbaus von Schuldgefühlen wegen oder aus welchem Grund auch<br />

immer, Lazarsfeld konnte es nicht lassen 36 und sandte ein halbes Jahr danach<br />

ein langes Schreiben an Stone, der eben dabei war, nach Europa zu fahren, um<br />

ihm nochmals die <strong>Wien</strong>er Sache ans Herz zu legen. Im darauffolgende Sommer<br />

– wir schreiben mittlerweile das Jahr 1961 und das vierte Jahr der Verhandlungen<br />

darüber, wie der reiche Onkel aus Amerika sein Geld in <strong>Wien</strong> los werden<br />

könnte – schickt Lazarsfeld Stone den Entwurf <strong>für</strong> einen Text, den er benutzen<br />

könne, falls er es schon leid sei, allen, die ihn danach fragten, immer die<br />

ganze Geschichte erzählen zu müssen. Den Text könne er auch vertraulich zirkulieren<br />

lassen, um das künftige Lehrpersonal zu rekrutieren. 37 Zwei Wochen<br />

danach erhält Lazarsfeld in seinem Sommerdomizil in Vermont ein Telegramm<br />

aus <strong>Wien</strong>:<br />

36 Später vermutete er, daß ein Teil des <strong>österreichische</strong>n Widerstands auf seine sozialdemokratische<br />

Vergangenheit und darauf zurückzuführen sei, daß einige beteiligte Österreicher<br />

dachten, er wolle selbst nach <strong>Wien</strong> zurückkommen; Lazarsfeld, Pre-history, wie Anm. 9, 15.<br />

37 Lazarsfeld an Stone, o. D. (Monday night) received July 5, 1961. In dem beiliegenden<br />

Memorandum findet sich die Soziologie wieder ausdrücklich genannt.<br />

ÖZG 11.2000.1 145


MINISTERS COUNCIL TODAY APPROVED REPORT ON FORDFOUNDATION PROJECT IN<br />

VIENNA (...) AM VERY OPTIMISTIC STOP SHALL BE BACK IN VIENNA BEGINNING<br />

OF SEPTEMBER = BRUNO KREISKY. 38<br />

Die Eile der Informationsübermittlung kontrastiert merkwürdig mit der Länge<br />

des Urlaubs. Im September 1961 informiert Lazarsfeld Stone dann über seinen<br />

jüngsten Aufenthalt in <strong>Wien</strong>. Diesmal sei es die sozialistische Seite, die Schwierigkeiten<br />

mache. Kreisky habe seine Parteikollegen nicht informiert, und die<br />

Kämpfe zwischen verschiedenen Fraktionen in der SPÖ führten dazu, daß sich<br />

nun sogar der Vorsitzende des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, Franz<br />

Olah, mit Fragen der Wissenschaftspolitik befasse. 39 Der <strong>Wien</strong>er Finanzstadtrat<br />

Felix Slavik habe ihm, Lazarsfeld, erklärt, die Stadt <strong>Wien</strong> würde nichts<br />

unterstützen, wogegen Olah opponiere. Mehrere Tage hinweg habe es Verhandlungen<br />

darüber gegeben, ob Olah ihn empfangen würde. Eines Tages habe<br />

er um neun Uhr morgens einen Anruf der Sekretärin des Gewerkschaftspräsidenten<br />

bekommen: Olah habe um neun Uhr dreißig einige Minuten <strong>für</strong> ihn<br />

Zeit – ” and then he spent two hours with me.“ Bei der ganzen Aufregung<br />

der Sozialisten sei es darum gegangen, daß Kreisky den ÖVP-Politiker Reinhard<br />

Kamitz als Vorsitzenden des zu bildenden Kuratoriums des noch nicht<br />

gegründeten Instituts akzeptiert hätte und andere Sozialisten dies aus verschiedenen<br />

Gründen mißbilligten: die einen, weil sie glaubten, Kamitz bastle<br />

an seiner Machtübernahme in der ÖVP, die anderen, weil sie Kreisky ähnliches<br />

in der SPÖ unterstellten. 40 Inzwischen war Oskar Morgenstern zur Gruppe der<br />

amerikanischen Berater gestoßen und fungierte als Verbindungsmann zur ÖVP,<br />

weil er als ehemaliger Leiter des Instituts <strong>für</strong> Konjunkturforschung mit Kamitz,<br />

der ihm in der Leitung dieses Instituts nachgefolgt war, eine gute Gesprächsbasis<br />

hatte. Lazarsfeld riet Stone, Morgenstern zu bitten, sich bei Kamitz zu<br />

erkundigen, wie dieser Olah beruhigen könnte, damit jener nicht weiter gegen<br />

Kreisky querschieße – ” I think he should remember the Theory of Games and<br />

apply it to the present situation“, schrieb Lazarsfeld maliziös. 41<br />

Mit der Gründung des Instituts schien es langsam ernst zu werden, jedenfalls<br />

begannen sich die ersten Interessenten anzustellen. Bevorzugte Makler<br />

waren jene Ex-Österreicher, die einen direkten Draht zur Ford Foundation hatten,<br />

weil die Prätendenten offenbar der Meinung waren, die bezahlende Stif-<br />

38 Lazarsfeld, Pre-history, wie Anm. 9, 17a.<br />

39 Olah scheint auch noch einige Zeit später Interesse an Wissenschaftspolitik gehabt zu<br />

haben; ob das so war, weil er meinte, unter diesem Titel verberge sich ein weiteres Sonderprojekt,<br />

läßt sich nur vermuten. Jedenfalls kontaktierte er während eines USA-Aufenthalts<br />

Anfang 1962 auch Vertreter der Ford Foundation.<br />

40 Lazarsfeld an Stone, 16. September 1961.<br />

41 Ebd. Lazarfeld behauptet, daß er Morgenstern wegen dessen politischer Nützlichkeit vorgeschlagen<br />

habe, Pre-history, 15.<br />

146 ÖZG 11.2000.1


tung würde bei der Stellenvergabe ein Wort mitzureden haben. 42 Aber nicht<br />

nur stellen- und geldhungrige junge <strong>Wien</strong>er brachten sich ins Spiel, auch ein<br />

alter Bekannter trat an Stone heran und erkundigte sich – wieder ” confidential“<br />

– nach Möglichkeiten, von der Ford Foundation unterstützt zu werden.<br />

F. A. Hayek stand in Chicago vor der Pensionierung und erkundete künftige<br />

Möglichkeiten. 43 Das <strong>Wien</strong>er Ministerium habe ihm kürzlich eine Professur <strong>für</strong><br />

Sozialphilosophie an der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> angeboten, ” which apparently would<br />

give me almost unlimited scope to do what I regard most important.“ Er habe<br />

sich, da die Details nicht klar seien, noch nicht entschieden, wolle aber bei<br />

Stone anfragen, ob im Falle, daß das Ministerium ihm finanziell zuwenig biete,<br />

das neue Institut ihm eine zusätzliche Anstellung offerieren könne. ” I shall not<br />

be surprised“, setzt er hinzu, ” if to this you can not give me an answer.“ Noch<br />

wichtiger als diese persönliche Angelegenheit sei ihm allerdings etwas anderes.<br />

Er habe eine ” enormous library, comprising close to 6000 volumes and covering<br />

a great part of the social sciences“ und wäre bereit, diese dem neuen Institut<br />

zur Verfügung zu stellen, wenn die Transportkosten von Chicago nach <strong>Wien</strong><br />

übernommen würden. Ein Freund von ihm, es war wohl Eric Voegelin, habe<br />

eine vergleichbare, wenn auch kleinere Bibliothek anläßlich seiner Berufung<br />

von Louisiana nach München gebracht, und die Transportkosten von ungefähr<br />

5.500 Dollar habe das bayrische Ministerium übernommen. Da er annehme, daß<br />

das <strong>Wien</strong>er Ministerium nicht so großzügig sein werde, biete er die Bibliothek<br />

dem neuen Institut an. Er habe auch ein Offert der <strong>Universität</strong> Freiburg im<br />

Breisgau, aber falls er überhaupt nach Europa übersiedle, würde er <strong>Wien</strong> den<br />

Vorzug geben. 44<br />

Hayeks Bibliothek landete nicht in <strong>Wien</strong>. Statt sich um den billigen Erwerb<br />

einer hervorragend sortierten Privatbibliothek zu kümmern, feilschte man<br />

Anfang 1962 in <strong>Wien</strong> um die Zahl der Posten und deren Besetzung im neuen<br />

Institut und benutzte dazu wie gewohnt auch die Presse, die bereitwillig<br />

mitspielte. Kamitz, mittlerweile Ex-Minister und Präsident der Nationalbank<br />

und des Kuratoriums, und sein Stellvertreter Kreisky stritten darum, ob ein<br />

Direktor ausreiche oder doch zwei nötig seien. Naturgemäß setzte sich der Proporzgedanke<br />

durch. 45 Nun mußte man Kandidaten <strong>für</strong> zwei Direktorenposten<br />

42 Es würde dem Bedürfnis manchen Lesers einer wissenschaftlichen Zeitschrift nach Abwechslung<br />

in Form der Lektüre erbaulicher Gerüchte entgegenkommen, all die Namen anzuführen,<br />

die genannt und wieder verworfen wurden, aber der Platz würde nicht ausreichen.<br />

Als Faustregel kann man formulieren, daß der Name nahezu jedes damals in <strong>Wien</strong> lebenden<br />

Geistes- und (so weit vorhanden) Sozialwissenschaftlers mit oder ohne <strong>Universität</strong>sabschluß<br />

genannt wurde.<br />

43 Hayeks zweite Frau Helene, eine gebürtige <strong>Wien</strong>erin, habe ihn gedrängt, nach Österreich<br />

zurückzukehren. John Cassidy, The Price Prophet, in: The New Yorker, 7.2.2000, 44–51.<br />

44 Hayek an Stone, 11. Februar 1962, Ford Foundation.<br />

45 Einer der Zeitungsartikel erschien bezeichnenderweise unter dem Titel ’ Proporz <strong>für</strong> Ford<br />

Institut‘, in: Die Presse, 10.3.1962, 10.<br />

ÖZG 11.2000.1 147


egutachten, was die Bestellung des ersten Direktors hinauszögerte, weil der erste<br />

nicht ohne den zweiten bestellt werden konnte. Aussichtsreichster Kandidat<br />

<strong>für</strong> den Posten des Direktors war Slawtscho D. Sagoroff. 46 Als ihm beigeordneter<br />

Direktor war Adolf Kozlik vorgesehen. Zuvor hatte sich Lazarsfeld darum<br />

bemüht, andere Kandidaten zur Bewerbung <strong>für</strong> das Direktorat zu überreden.<br />

Von den berühmten Ex-Österreichern war allerdings nicht mehr die Rede. Wer<br />

Sagoroff als erster ins Spiel brachte, läßt sich nicht mehr feststellen – Lazarsfeld<br />

konnte das schon 1973 nicht mehr herausfinden. Eine zumindest vermittelnde<br />

und verbindende Rolle kam nach Lazarsfelds Erinnerung Leopold Rosenmayr<br />

zu, der mit Assistenten des von Sagoroff geleiteten Instituts <strong>für</strong> Statistik der<br />

<strong>Wien</strong>er <strong>Universität</strong> kooperierte. 47 Die Entscheidung lag bei Kamitz und Stone;<br />

nach einer zwei Tage dauernden Diskussion mit Sagoroff empfahl auch Lazarsfeld<br />

diesen an Stone.<br />

Der zu dieser Zeit in den USA lehrende <strong>Wien</strong>er Psychologe Walter Toman,<br />

48 der seit 1961 zum Beraterstab der Ford Foundation gehörte, hatte Sagoroff<br />

schon davor getroffen und darüber ebenfalls an Stone berichtet:<br />

I learned from Sagoroff that he was the last director of the Rockefeller Institute for<br />

Economic Research in Sofia, then a special ambassador to the King of Bulgaria in<br />

Berlin until 1942 and according to his account successful in preventing Bulgaria from<br />

participating in the War against Russia and the Allies and from having to deliver any<br />

Bulgarian jews to the Nazis. After Bulgaria had declared war against Germany he<br />

was interned in Bavaria until the American troops arrived. He worked for Botschafter<br />

Murphy in Frankfurt, later moved to Switzerland and Stanford University, before<br />

accepting the Ordinariat at the Statistical Institute of the University of Vienna. His<br />

wife died in America. He has two daughters, one married in Switzerland, the other<br />

in the U.S. and a son who is an engineer in Boston, a graduate of M.I.T. Sagoroff<br />

is an Austrian citizen now, with no political connections whether to Bulgaria or the<br />

Bulgarian exile government. 49<br />

Die bunte Karriere des 1898 geborenen Sagoroff, der sein Doktorat in Leipzig<br />

erworben hatte, 1933/34 mit einem Rockefeller-Stipendium in den USA unter<br />

anderem bei Schumpeter studiert und von der Rockefeller Foundation 1937<br />

noch einmal ein Stipendium <strong>für</strong> Studien in England, der Schweiz und Österreich<br />

erhalten hatte, ist auch insofern beachtlich, als er 1955 als Arbeitsloser<br />

46 Er selbst buchstabierte seinen Namen Zagoroff und unterschrieb auch so, vgl. Rockefeller<br />

Foundation, R. G. 1.2, series 704, box 10, folder 84, RAC.<br />

47 Diese Zusammenarbeit wurde den Statistikern von Mitarbeitern der sozialwissenschaftlichen<br />

Abteilung der Rockefeller Foundation zugute gehalten; vgl. Rockefeller Foundation,<br />

R. G. 1.2, series 705, box 10, folder 84, RAC.<br />

48 In seiner Autobiografie erwähnt er diese Aktivitäten und die folgende Tätigkeit am ’ Ford<br />

Institut‘ nicht, vgl. Walter Toman, Selbstdarstellung, in: Ernst G. Wehner, Hg., Psychologie<br />

in Selbstdarstellungen, Bern 1992, Bd. 3, 329–366.<br />

49 Toman an Stone, 27. März [1962]. Ein ’ Rockefeller Institut‘ gab es in Bulgarien nicht.<br />

148 ÖZG 11.2000.1


zum Ordinarius <strong>für</strong> Statistik und Nachfolger Wilhelm Winklers an der <strong>Universität</strong><br />

<strong>Wien</strong> ernannt worden war. 50 Gleich nach seiner Ernennung unternahm er<br />

einige Anstrengungen, in das Förderungsprogramm der Rockefeller Foundation<br />

aufgenommen zu werden. Im Frühjahr wollte er den Assistenten des <strong>Wien</strong>er Instituts<br />

zu Stipendien verhelfen und erkundete Möglichkeiten, den Ankauf eines<br />

” electronic computer“ subventioniert zu erhalten. Wie üblich zog die Rockefeller<br />

Foundation Erkundigungen ein. Gerhard Tintner, ein gebürtiger Österreicher,<br />

der als Statistiker und Ökonom aus dem <strong>Wien</strong>er Institut <strong>für</strong> Konjunkturforschung<br />

kam und 1934–36 mit einem Fellowship der Rockefeller Foundation in<br />

den USA und in England studiert hatte und ab 1937 Professor in Iowa51 war,<br />

antwortete am ausführlichsten. Die <strong>Wien</strong>er Professur <strong>für</strong> Statistik sei zuerst<br />

ihm angeboten worden – but unfortunately did not feel able to take it“ –<br />

”<br />

und das vergangene Jahr habe er als Gastprofessor in <strong>Wien</strong> gelehrt. Während<br />

” the general standard of economics and related social sciences (much to my<br />

dismay) had declined substantially at the University since my student days“,<br />

seien die Statistiker dort dank des Wirkens von Wilhelm Winkler viel besser<br />

als in Deutschland oder der Schweiz. Sagoroff sei kein ” outstanding theoretical<br />

statistician (...) but quite competent and very good in his specialization on economic<br />

statistics.“ Eine Unterstützung des Instituts sei zu be<strong>für</strong>worten, würden<br />

dessen Mitarbeiter doch auch ” giving consulting services to people interested in<br />

econometric, medical and industrial research.“ 52 Aus Stanford, der zeitweiligen<br />

Wirkungsstätte Sagoroffs, traf eine knappere und weniger vorteilhafte Stellungnahme<br />

ein: Sagoroff hätte dort eine Zeitlang dem ” staff of the Food Research<br />

Institute“ angehört, seine Arbeit über ” agriculture in World War II (...) was<br />

not considered outstanding“ und er sei ” reasonably intelligent but certainly not<br />

a trained statistician in the modern sense.“ Die Veröffentlichungen der <strong>Wien</strong>er<br />

Assistenten befänden sich hingegen auf dem Niveau vergleichbarer Arbeiten in<br />

den USA. 53 Eine dritte Stellungnahme wurde offenbar mündlich abgegeben;<br />

ihr Inhalt findet sich auf einem stiftungsinternen Memo: ” Zagoroff had grant<br />

at Stanford, FRI, for study which ended in 1954. He was then out of job –<br />

MKBennett did not wish to keep him on as he felt he was not suitable for the<br />

FRI. Evidently he has ended up as the Director in Vienna!“ 54<br />

50 Rockefeller Foundation, Directory of Fellowship Awards for the Years 1917–1950.<br />

51 Tintner, Fellowship Card, RAC.<br />

52 Tintner an Erskine McKinley, 8. Jänner 1958, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705,<br />

box 10, folder 84, RAC.<br />

53 Albert H. Bowker an Erskine W. McKinley, 6. Februar 1958, Rockefeller Foundation,<br />

R. G. 1.2, series 705, box 10, folder 85, RAC.<br />

54 PH an Norman S. Buchanan 6/1; Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705, box 10,<br />

folder 84, RAC. In den Erläuterungen zum folgenden ’ grant-in-aid‘ heißt es: ” 1953/4 grant<br />

to Stanford University provided 7.500 for use by its Food Research Institute in support of<br />

Professor S. Zagoroff’s research on national energy input in the United States and Russia<br />

since 1900“.<br />

ÖZG 11.2000.1 149


Im Frühjahr 1958 genehmigte die Rockefeller Foundation 80.350 US-Dollar<br />

<strong>für</strong> den Ankauf eines Burroughs Datatron computer.“ Der erste in Öster-<br />

”<br />

reich der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung stehende Computer wurde<br />

faktisch nur von der Rockefeller Foundation finanziert, da die zweite Hälfte<br />

des Anschaffungspreises von der Herstellerfirma als educational grant“ nicht<br />

”<br />

in Rechnung gestellt wurde und Österreich nur <strong>für</strong> die Transportkosten aufkommen<br />

mußte. Wo keine <strong>österreichische</strong>n Werte“ bedroht schienen und die<br />

”<br />

” geistige Haltung“ nicht einer eingehenden Prüfung unterzogen werden mußte,<br />

durfte eine amerikanische Stiftung Österreich sogar etwas schenken.<br />

Der seit Hayeks Memorandum gehegten Hoffnung, man könne erstklassige<br />

Wissenschaftler nach <strong>Wien</strong> zurückbringen, wenn nur die Bezahlung stimme,<br />

entsprach die Bestellung Sagoroffs wohl nicht. Lazarsfelds Prognose, the choice<br />

”<br />

of the Director will, of course, be crucial“, stellte sich bald als richtig heraus.<br />

Auch über sein Gespräch mit Sagoroffs Co-Direktor Kozlik berichtete Toman<br />

ausführlich an Stone:<br />

Dr. Kozlik sent me a mimeographed curriculum vitae. Born 1912 in Vienna, Dr.<br />

of law at University of Vienna, including political sciences and economics. Work at<br />

Austrian Institute for Trade Cycle Research until 1938, assistant to Röpke in Geneva,<br />

Assistant Professor for Economics at Iowa State College, research in level of living and<br />

production on Europe for League of Nations at Princeton until 1942, director of Office<br />

of European Economic Research (35 employees and research assistants) until the<br />

Office was absorbed by OSS. Then research in ethnology and work for private firms in<br />

Mexico from 1944 to 1949, with lectures and some editing on the side. During 1949/50<br />

he lectured at University of Vienna on ’ modern economic thought ’ and supervised the<br />

economics curriculum of the Sozialakademie (der Arbeiterkammer). 1951–59 he was<br />

consultant for market research in Mexico City where he also had two businesses of his<br />

own (printing, pharmaceutics). Then he returned to Vienna and worked as economic<br />

adviser to the Länderbank before becoming director of the Urania.<br />

He speaks German, English, Spanish and French perfectly, Russia and Czech<br />

adequately. He reads Italian, Romanian, Portuguese, Dutch, Swedish, Danish, Norwegian,<br />

Polish, Bulgarian, Serbo-Croatian.<br />

His publication in economics and sociological journals are concentrated between<br />

1937 and 1943. He is co-author of books on war economics, level of living in Europe,<br />

monopoles in Austria. Most recently: Volkshaushalt und dein Haushalt, Vienna 1961.<br />

I had already learned from my interview with him that he is a Mexican citizen,<br />

married to a Spanish woman who lived in Mexico, no children. 55<br />

Tomans Bericht über Kozlik ist, soweit sich die Angaben heute noch überprüfen<br />

lassen, zutreffend. Läßt man die ein wenig zu umfangreich wirkende Liste der<br />

55 Toman an Stone, 27. März 1962, Ford Foundation. Die Angaben entsprechen denen, die<br />

Kozlik 1942 im Mitgliederverzeichnis der ’ American Economic Association‘ abdrucken ließ.<br />

Directory of the American Economic Association, in: The American Economic Review 32<br />

(1942), 1–126.<br />

150 ÖZG 11.2000.1


Sprachen unberücksichtigt, genügt der Rest <strong>für</strong> einen Endvierziger zwar auch<br />

nicht, um an die all die Jahre beschworenen Erstklassigen heranzureichen, aber<br />

zum ” beigeordneten Direktor“, wie sein Titel lautete, sollte es wohl reichen. 56<br />

Wie sich jedoch bald herausstellte, hatten beide Personalentscheidungen geradezu<br />

katastrophale Folgen <strong>für</strong> das neue Institut.<br />

Noch aber standen dem ” Institut <strong>für</strong> fortgeschrittene Studien“ 57 mehr<br />

als eineinhalb Jahre Vorgeschichte bevor, ehe es im Herbst 1963 offiziell zwar<br />

nicht seine Pforten öffnete, aber die erste Zahlung der Ford Foundation in<br />

Empfang nahm. Bis dahin setzte sich fort, was Lazarsfeld, Stone und andere<br />

mit ungläubigem Staunen verfolgten: Untätigkeit, Intrigen und Postenschacher.<br />

Doch trotz gelegentlicher Verzweiflungsanfälle hielten die Verantwortlichen der<br />

Ford Foundation weiter am Projekt fest. 58 Von der ursprünglichen Absicht der<br />

Initiatoren blieb aber nicht allzu viel übrig: Die Unabhängigkeit von der <strong>Universität</strong><br />

<strong>Wien</strong>, deren niedriges Niveau ja erst den Anstoß gegeben hatte, an<br />

die Gründung eines außeruniversitären Instituts zu denken, wurde vereitelt,<br />

indem mit Sagoroff jemand als Direktor akzeptiert wurde, der dieses Amt neben<br />

seiner Professur auszuüben gedachte. Die Lehrtätigkeit von erstklassigen<br />

Ex-Österreichern schien ferner denn je. Und die Konstruktion eines von Spitzenpolitikern<br />

der Regierungsparteien besetzten Aufsichtsgremiums ( ” Kuratorium“)<br />

garantierte, daß die Kuratoren dem Institut wenig Zeit widmen, umso<br />

mehr auf Zuträgerdienste angewiesen und Intrigen ausgeliefert sein würden. 59<br />

Die Schwammigkeit und wiederholte Änderung des inhaltlichen Profils sowie<br />

die Rücksichtnahme auf den Parteien-Proporz ließen eine gezielte Auswahl der<br />

<strong>für</strong> Leitungspositionen am besten geeigneten Kandidaten nicht zu. Paul F. La-<br />

56 Natürlich stand von vornherein fest, daß die Sozialisten nur Anspruch auf den nachgereihten<br />

beigeordneten Direktor erheben konnten. Monatelang wurde darüber gestritten, was<br />

er, wenn er weder Mitsprache- noch Vetorecht haben werde, denn überhaupt dürfe. Die jenseits<br />

aller Proporzpolitik wichtigen Standesdünkel hielt Kamitz in einem Protokoll fest: Als<br />

”<br />

Geschäftsführer kommt nur ein Wissenschaftler im Range eines <strong>Universität</strong>sprofessors in Frage,<br />

da dieser die Möglichkeit haben muß, Einladungen und Absagen so zu begründen, daß<br />

diese Begründungen auch zur Kenntnis genommen werden.“ Kamitz an Kreisky, 15. März<br />

1962, Ford Foundation.<br />

57 Leopold Rosenmayr an Reinhard Kamitz, 26. März 1962, Ford Foundation.<br />

58 So schrieb Lazarsfeld am 2. Mai 1962 an den damaligen Justizminister Christian Broda:<br />

” I realize that you do not like to get mixed up with topics which are not part of your official<br />

duties. I do want, however, to bring to your attention how badly the plan of the Viennese<br />

Ford Center is developing. (...) It seems to me perfectly grotesque that a practically unlimited<br />

supply of funds for social science work in Austria should got lost just because an amount of<br />

confusion has been created which hardly can be understood from here let along be remedied.“<br />

59 Eines der Kuratoriumsmitglieder, Franz Josef Mayer-Gunthof, erklärte seinem von der<br />

’ Ford Foundation‘ nominierten Kollegen in diesem Gremium unumwunden: On the Institute<br />

”<br />

he had fairly little to say. He relies on Kamitz and trusts him.“ Frederick Burkhardt, A<br />

Journal of a Visit to Vienna, June 17–28, 1963 as a Consultant to the Ford Foundation‘ on<br />

’<br />

the Institute for Advanced Studies‘, 19. Ford Foundation, reel 2574.<br />

’<br />

ÖZG 11.2000.1 151


zarfeld, der in diesen Jahren über einen Mangel an Aufgaben nicht zu klagen<br />

hatte, investierte weiterhin eine Menge Zeit und Energie, um das Institut zu<br />

gründen und auf das richtige Gleis zu setzen. Als jemand, der jeweils nur ein<br />

paar Tage in <strong>Wien</strong> war und hier von einem Treffen zum anderen hastete, irrte<br />

er sich mehr als einmal in der Beurteilung von Personen und deren Interessen<br />

an der Gründung des Instituts. An der Misere trug er dennoch die geringste,<br />

wenn überhaupt irgendeine Schuld. Hayek nicht allein die Initiative zu überlassen<br />

und auch später zu versuchen, den Schwerpunkt auf Lehre und Forschung<br />

im Bereich der empirischen Sozial- und Politikforschung zu legen und andere<br />

Fächer an den Rand zu drängen, machte durchaus Sinn, waren doch Nationalökonomie<br />

und Geschichtswissenschaften an der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> vertreten,<br />

während zu dieser Zeit weder Soziologie noch Politikwissenschaften an einer<br />

<strong>österreichische</strong>n <strong>Universität</strong> gelehrt wurden.<br />

Die Absichten der Ford Foundation und jener, die sie berieten, hätten<br />

nur dann erfolgversprechend verwirklicht werden können, wenn nahezu alle<br />

Bedingungen günstig gewesen wären. Doch wann ist das schon der Fall Der<br />

wohlmeinende Plan, die in Österreich wenig entwickelten Sozialwissenschaften<br />

aufzumöbeln, wurde in <strong>Wien</strong> vereitelt, weil die Bürgerkriegsgegner von einst<br />

einander immer noch derart mißtrauten, daß jede Partei nahezu alles tat, um<br />

der anderen auch nur den kleinsten Erfolg zu vermiesen, wozu weitestgehende<br />

Informationskontrolle über die Pläne und Schritte der anderen Seite die<br />

Voraussetzung war. 60 Insofern hatte Lazarsfeld mit seinem Hinweis auf die<br />

Spieltheorie mehr als recht. In <strong>Wien</strong> waren beide politischen Parteien an sich<br />

wiederholenden nicht-kooperativen Spielzügen interessiert und es hätte keiner<br />

Vorlesung Morgensterns bedurft, um zu erkennen, wohin eine derartige Strategie<br />

führen wird. Das Vorhaben scheiterte aber auch daran, daß niemand gefunden<br />

werden konnte, der sowohl das Vertrauen der amerikanischen Geldgeber<br />

und Berater hatte als auch eine organisatorische Struktur schaffen konnte,<br />

die gegenüber Einmischungen eifersüchtiger universitärer Konkurrenten und<br />

argwöhnischer Politiker abgeschirmt hätte werden können. Schließlich war in<br />

dieser ’ de-novativen‘ – oder wie sonst soll man das Gegenteil von Innovation<br />

nennen – Lage die Etablierung einer neuen Lehr- und Forschungseinrichtung<br />

einfach zu ambitiös. Wie kann man einer Stadt, die in selbstzufriedener Provinzialität<br />

verharrt, klar machen, daß ihr etwas zur Wiedererlangung vergangener<br />

Größe fehlt<br />

Lazarsfeld hatte in seinen Urteilen immer dann recht, wenn es nicht um<br />

Personen, sondern um strukturelle Zusammenhänge ging: ” I do know that the<br />

future of new institutions is mainly decided by the decisions which are made<br />

60 Rudolf Blühdorn erklärte schon 1952 dem Mitarbeiter der ’ Rockefeller Foundation‘, Frederic<br />

C. Lane, wenn man in Österreich etwas Neues machen wolle, ginge das nur, wenn beide<br />

Parteien eingebunden würden. Lane, Tagebuch, December 11, 1952, 483, RAC.<br />

152 ÖZG 11.2000.1


during the first few months.“ 61 Wohl deshalb kam nicht nur er, sondern auch<br />

Frederick Burkhardt noch vor der offiziellen Eröffnung des Institut <strong>für</strong> Höhere<br />

Studien nach <strong>Wien</strong>, um nach dem Rechten zu sehen. Burkhardt, der seit längerem<br />

mit der <strong>Wien</strong>er Gründung nichts mehr zu tun gehabt hatte, nun aber als<br />

Vertreter der Ford Foundation in das Kuratorium entsandt worden war, hielt<br />

sich im Juni 1963 elf Tage in <strong>Wien</strong> auf und verfaßte darüber ein Protokoll. Die<br />

meiste Zeit verbrachte er mit den beiden neuen Direktoren Sagoroff und Kozlik,<br />

die, obwohl sie sehr gut entlohnt wurden, 62 ihre früheren Stellen behielten.<br />

Sagoroff erledigte seine Aufgaben als Professor <strong>für</strong> Statistik an der <strong>Universität</strong><br />

<strong>Wien</strong> nach eigener Aussage in vier Stunden pro Woche. Der Umgang beider<br />

Direktoren miteinander war von Anfang an nicht friktionsfrei, was angesichts<br />

der Bestellungsprozedur auch nicht verwundern kann. In solchen Situationen<br />

entwickelt sich kooperatives Handeln höchst selten, weil die Zukunft der Institution<br />

und ihrer Funktionsträger nicht von persönlicher Leistung, sondern von<br />

politischen Kräften abhängt, die sie nicht beeinflussen können. Gemeinsames<br />

Handeln der beiden Direktoren hätte die politischen Parteien, die sie entsandt<br />

hatten, wahrscheinlich sogar argwöhnisch werden lassen. Dies alles zementierte<br />

die Abhängigkeit der Direktoren von ihren Protektoren. So betrachtet, war<br />

es aus ihrer Sicht auch nicht unvernünftig, ihre früheren Stellen zu behalten.<br />

Keiner der beiden konnte wissen, ob sich das politische Tauschgeschäft nicht<br />

unversehens gegen ihn wenden würde.<br />

In nur zehn Tagen gewann Burkhardt – unabhängig von Lazarsfeld – ein<br />

annähernd vollständiges Bild: Die Politiker hatten <strong>für</strong> ihn kaum Zeit – Österreich<br />

erlebte gerade die sogenannte Habsburg-Krise –, waren schlecht informiert<br />

und verließen sich jeweils auf ihren Vertrauensmann im Kuratorium. Die bislang<br />

engagierten Mitarbeiter – neben den beiden Direktoren eine Generalsekretärin<br />

und einige Assistenten – wußten nicht so recht, wo<strong>für</strong> sie engagiert worden<br />

waren. Zu einer gemeinsamen Planung der Instituts-Tätigkeit konnten sie sich<br />

nicht aufraffen. Außerhalb des ” Ford-Instituts“, wie das Institut anfangs meist<br />

genannt wurde, warteten einige darauf, an die Futtertröge der finanzierenden<br />

Foundation heranzukommen; andere langten bereits kräftig zu. Im Vier-Augen-<br />

Gespräch, so Burkhardt, ” the dam burst right away“ und zum Vorschein kam,<br />

was Peter de Janosi 1973 in seinem Abschlußbericht über die Erfahrungen der<br />

Ford Foundation in <strong>Wien</strong> zu jenem vernichtenden Urteil veranlaßte, das diesem<br />

Beitrag vorangestellt ist. 63<br />

61 Lazarsfeld an Stone, 5. Oktober 1962, Ford Foundation.<br />

62 Sagoroff bekam 12.000 und Kozlik 11.000 als Jahresgehalt.<br />

63 Peter de Janosi (geb. 1928), Studium der Nationalökonomie in Wesleyan und Michigan,<br />

Mitarbeiter der ’ Ford Foundation‘. Die Zitate sind der ’ Final Evaluation‘ entnommen, September<br />

10, 1973, Ford Foundation, reel 2574.<br />

ÖZG 11.2000.1 153


II.<br />

Im Mittelpunkt von Aufmerksamkeit, Neid und Hoffnung vieler stand in diesen<br />

Jahren Leopold Rosenmayr, jener junge <strong>Wien</strong>er Dozent, von dem Lazarsfeld<br />

hoffte, er würde der von ihm bevorzugten empirischen Sozialforschung in <strong>Wien</strong><br />

zur Etablierung verhelfen. Am 23. Juli 1959 schrieb Lazarsfeld an Stone:<br />

Rosenmayr is about the only Austrian who really knows his way around; but he is<br />

scared of all his superiors and envelops himself in a vague talk of an Austrian ’ Geist‘<br />

which at the long run would deteriorate his work. Still you were quite right when you<br />

decided to give him special support. I intimated to him your good will but did not<br />

know whether you had made any final decision. I shall see him at the International<br />

Congress on September 8th and if you could let me know your plans about his application<br />

by then it would help. Incidentally I made Horkheimer in Frankfurt offer him<br />

a job and as a result R(osenmayr) will probably be made Extraordinarius next fall. I<br />

strongly urged him to stay in Austria and to use the Frankfurt offer only as blackmail<br />

with the Vienna authorities.<br />

Ein anderer zeitweiliger Protege Lazarsfelds, Terry N. Clark, beschrieb kürzlich<br />

in wenig freundlicher Weise das akademische Verhalten seines Lehrers an<br />

der Columbia University unter dem Begriff ’ Patronage‘. 64 Hätte Clark Rosenmayrs<br />

Karriere gekannt, hätte er wohl eine Dimension beachtet, die bei ihm<br />

völlig fehlt: daß nämlich die Protegierten ihre eigenen Strategien verfolgen und<br />

dabei manchmal der Protektor zur Marionette wird. Um das zu zeigen, müssen<br />

wir jedoch an den Beginn von Rosenmayrs Beziehungen zu amerikanischen<br />

Stiftungen zurückgehen.<br />

Der 26-jährige Leopold Rosenmayr verbrachte das Studienjahr 1951/52<br />

dank eines Stipendiums der Rockefeller Foundation in den USA. Zwei Jahre davor<br />

hatte er in <strong>Wien</strong> mit einer den damaligen Standards durchaus genügenden<br />

65-seitigen Dissertation promoviert und das Jahr darauf sich mit Jobs in der Industrie<br />

und beim Gewerkschaftsbund durchgebracht. 65 Leland DeVinney, 66 ein<br />

64 Terry N. Clark, Paul Lazarsfeld and the Columbia Sociology Machine, in: Jacques Lautman<br />

u. Bernard-Pierre Lecuyer, Hg., Paul Lazarsfeld (1901–1976). La sociologie de Vienne<br />

a New York. With Annotations, Comments, and Alternative Interpretations by Robert K.<br />

Merton, John Meyer, Immanuel Wallerstein, Hans-Dieter Klingemann, Bernard Barber, Allen<br />

H. Barton, Andrew M. Greeley, Guido Martinotti, Elizabeth Noelle-Neumann, David L.<br />

Sills, Harriet Zuckerman u. Robert B. Smith, Paris 1998, 289–360.<br />

65 Leopold Rosenmayr, Wissenssoziologische Kritik an Adolf von Harnacks Beurteilung der<br />

altchristlichen Geistesentwicklung, ungedruckte phil. Diss., <strong>Wien</strong> 1949.<br />

66 Leland DeVinney, geb. 1906, Studium University of Wisconsin, MA 1933 und University<br />

of Chicago, PhD 1941, instructor in Chicago, Associate Professor an der University of<br />

Wisconsin, ab 1946 Lecturer und Associate Director des Laboratory of Social Science Relations,<br />

Harvard; während dieser Zeit Mitarbeiter an der <strong>für</strong> die Entwicklung der empirischen<br />

Sozialforschung bahnbrechenden Studie ’ The American Soldier‘; ab 1948 in der ’ Division of<br />

154 ÖZG 11.2000.1


amerikanischer Soziologe, der als Mitarbeiter der Rockefeller Foundation 1951<br />

Europa bereiste und dabei auch <strong>Wien</strong> besuchte, berichtete über Rosenmayr und<br />

dessen Professor, August M. Knoll, ausführlich in seinem offiziellen Tagebuch.<br />

Über Knolls Interessen und Arbeitsschwerpunkte notierte er zutreffend:<br />

He is working on the relation of theological and legal conceptions of commercial<br />

regulation. He is also interested in the sociology of religion and has published a study<br />

of the controversy between Jesuits and Dominicans over the taking of tributes from<br />

the people. He has attempted to explain the opposing views of these two orders on<br />

the basis of their differing histories and organizational structures. He gives general<br />

lectures on sociology to students of law and lectures on the sociology of religion and<br />

the history of sociological thought to students of philosophy. 67<br />

In Knolls Seminar würden Scheler, Mannheim, Weber diskutiert und ihre Schriften<br />

im Lichte des sozialen Hintergrundes interpretiert, der in ihren Biographien<br />

gefunden werde. Knoll ermuntere Studenten auch zu empirischen Arbeiten, aber<br />

diese schienen DeVinney ” exclusively bibliographical and highly theoretical. No<br />

statistics is taught in the faculty of philosophy at all, and there appears to be no<br />

interest in genuine empirical research.“ Rosenmayr habe als Dissertation eine<br />

Literaturarbeit, eine ” library study“, durchgeführt und arbeite gegenwärtig an<br />

einem weiteren Buch, das er zu veröffentlichen hoffe. ” This is an analysis of<br />

liturgical hymns produced during the first five centuries of the Christian era<br />

and an attempt to relate differences between them to differing social factors<br />

revealed in biographical information about their authors.“ Gegenwärtig habe<br />

Rosenmayr keine reguläre <strong>Universität</strong>sstelle, er hoffe aber, seinen Amerikaaufenthalt<br />

dazu benutzen zu können, eine Studie fertigzustellen, die er als Habilitation<br />

einreichen könne. Mehr noch: Knoll und Rosenmayr hofften, daß an<br />

der Philosophischen Fakultät eine Professur <strong>für</strong> Soziologie eingerichtet werden<br />

würde, die Rosenmayr bekommen sollte. Über die politische Orientierung und<br />

die Arbeitspläne des künftigen Professors heißt es dann:<br />

R(osenmayr) is a member of the left or liberal wing of the People’s (Catholic) Party.<br />

He is currently working on the preparation of a social exposition being prepared<br />

jointly by the Arbeiter Kammer (an official body representing all employees) and the<br />

Confederation of Trade Unions. This is to be a graphical presentation of the struggle<br />

of Austrian labor from early in the nineteenth century to the present time, showing<br />

their gains and setbacks and present goals. The main theme, as R(osenmayr) hopes,<br />

will be to show that the major advances during the nineteenth century were made by<br />

Social Science‘ bei der ’ Rockefeller Foundation‘ tätig, zuerst als Assistant Director, 1950–54<br />

Associate Director, Acting Director 1954/55, Associate Director 1955–62, Deputy Director<br />

Humanities and Social Science 1962–64, Associate Director Social Science 1964–71.<br />

67 DeVinney, Tagebuch, 19.–21. Juli 1951, 131 [Kopie unvollständig]. Daraus auch die folgenden<br />

Zitate.<br />

ÖZG 11.2000.1 155


the Christian Democrats, the main advances during the twenties were made by the<br />

Socialists, the losses suffered during the Nazi regime and the war were suffered by both<br />

groups, and the present is the period of combined effort of the two groups together.<br />

R(osenmayr), who is a devout Catholic but embarrassed by some of the reactionary<br />

actions of the Dollfuss regime, is deeply concerned to find ways to eliminate the<br />

anticlerical feelings in the socialist and labor groups and to bring about a genuine<br />

alliance between the Catholic and Social Democratic groups in Austria.<br />

Rosenmayr wolle in Harvard vor allem bei Pitirim Sorokin 68 studieren. DeVinney<br />

rät ihm, sich doch auch mit den Forschungen anderer Mitglieder seines<br />

ehemaligen Department vertraut zu machen und vor allem deren Methoden<br />

kennenzulernen. Rosenmayr, heißt es abschließend, ” appears to be an intelligent,<br />

able, and quite intense young man. It is rather doubtful, however, in<br />

view of his background and training and the circumstances at the University<br />

of Vienna that he will shift his interests from theoretical and literary studies<br />

to empirical research.“ In letzterem Punkt sollte sich DeVinney – vorerst –<br />

nicht irren, obwohl es in der ersten Eintragung auf Rosenmayrs Fellowship<br />

Card heißt, daß er sich in Harvard mit den ” jüngsten methodologischen Entwicklungen<br />

in der Soziologie und Sozialpsychologie“ vertraut machen wolle. 69<br />

Das Jahr verbrachte er dann allerdings vor allem in Harvards Widener Library,<br />

wie DeVinney anläßlich eines Besuches in Cambridge, Massachusetts, feststellen<br />

mußte: ” LR has done no formal work and regards Professor Talcott Parsons<br />

as his chief advisor (TP later reported to LCD that he had not had more than<br />

5 conferences with LR during the year and knew little about the work he had<br />

done). (...) He (i. e. Rosenmayr) has not exposed himself to any empirical work<br />

or research methods. LCD is somewhat disappointed.“ 70 Rosenmayr teilte De-<br />

Vinney mit, daß er <strong>für</strong> das darauffolgende Studienjahr eine Stelle als Instructor<br />

an der katholischen Fordham University in New York angeboten bekommen<br />

habe, danach wolle er nach <strong>Wien</strong> zurückkehren, um seine Habilitationsschrift<br />

zu verfassen.<br />

Im Jänner 1953 traf Rosenmayr den Assistant Director der sozialwissenschaftlichen<br />

Abteilung der Rockefeller Foundation, Frederic C. Lane und unter-<br />

68 Rosenmayr konnte vermutlich nicht wissen, daß sich der Stern Sorokins bereits im Abstieg<br />

befand, seit er sich der Erforschung des Altruismus widmete. Barry V. Johnston, Introduction,<br />

in: Pitirim A. Sorokin, On the Practice of Sociology, Chicago 1998.<br />

69 Rosenmayr hat seine Jugend in drei autobiographischen Beiträgen geschildert: Josef Langer,<br />

Hg., Geschichte der <strong>österreichische</strong>n Soziologie. Konstituierung, Entwicklung und europäische<br />

Bezüge, <strong>Wien</strong> 1988; Christian Fleck, Hg., Wege zur Soziologie nach 1945. Autobiographische<br />

Notizen, Leverkusen 1996, sowie Karl Marin Bolte u. Friedhelm Neidhardt, Hg.,<br />

Soziologie als Beruf. Erinnerungen westdeutscher Hochschulprofessoren der Nachkriegsgeneration,<br />

Baden-Baden 1998.<br />

70 De Vinney, Tagebuch, 19. Mai 1952, sowie Fellowship Card, wo nur der letzte Satz eingetragen<br />

wurde. LCD steht <strong>für</strong> Leland C. DeVinney.<br />

156 ÖZG 11.2000.1


hielt sich mit ihm über seine Zukunft. Lane hatte einige Zeit in <strong>Wien</strong> studiert<br />

und an der Stadt Gefallen gefunden. 71 In einer detaillierten Tagebucheintragung<br />

hielt er das Gespräch mit Rosenmayr über dessen geplante Rückkehr nach<br />

<strong>Wien</strong> fest. Dieser wolle sich dort um einen ” job in the industry or in the People’s<br />

Party“ umschauen, weil er als junger Vater <strong>für</strong> eine Familie zu sorgen habe,<br />

und daneben versuchen, seine Habilitation – ” his statement of its theme was<br />

cloudy“ – fertigzustellen, ” but he seemed much pleased that our talk opened<br />

a possibility of his receiving a living wage while staying in academic life.“ Im<br />

Gespräch habe Rosenmayr dann einige Themen genannt, die er zu untersuchen<br />

sich vorstellen könne. ” I (i. e. Lane) said that the Rockefeller Foundation<br />

would wish more specific definition of problems and especially description of<br />

the method of research to be used, and told him to write me a letter about that<br />

and also about the amount of support that would be needed, for himself and<br />

student research assistants.“ 72 Im März 1953 schickte Rosenmayr ein langes<br />

Schreiben an Lane, in dem er sein künftiges Forschungsvorhaben erläuterte.<br />

Seine Habilitation solle den theoretischen Teil der Studie darstellen, anschließend<br />

wolle er empirisch untersuchen, wie sich die ” verschiedenen Schichten der<br />

<strong>Wien</strong>er Bevölkerung mit Österreich identifizieren“. 73 Das umfangreiche Expose<br />

Rosenmayrs scheint unter dem Titel ” Studies under the direction of Dr. Leopold<br />

Rosenmayr of factors which contribute to the basic social, economic, and<br />

political views of major groups in Vienna“ in der folgenden Zeit in den internen<br />

Dokumenten der Rockefeller Foundation auf. Rosenmayr schlug darin vor,<br />

71 Frederic C. Lane (1900–1984) studierte 1923–24 in Europa, Ph.D. Harvard 1930, lehrte<br />

ab 1928 bis zu seiner Emeritierung 1966 an der Johns Hopkins University in Baltimore,<br />

unterbrochen durch die Tätigkeit als Assistant Director Social Science Division Rockefeller<br />

Foundation 1951–54; Lane war Spezialist <strong>für</strong> venetianische Geschichte, Präsident der ’ American<br />

Economic History Association‘ (1956–58), der ’ International Economic History Association‘<br />

(1965–68) und der ’ American Historical Association‘ (1965), Herausgeber des ’ Journal<br />

of Economic History‘ 1943–51.<br />

72 Lane, Tagebuch, 9. Jänner 1953, 7 f. Dem Offert an Rosenmayr war ein Gespräch mit<br />

Knoll in <strong>Wien</strong> vorausgegangen (Lane, Tagebuch, 9. Dezember 1952, 477), über das Lane<br />

während eines Staff Meetings am 7. Jänner 1953 in New York berichtete. Der Soziologe<br />

unter den Rockefeller Foundation-Mitarbeitern und Lanes Vorgesetzter, DeVinney, äußerte<br />

sich über Rosenmayr deutlich skeptisch: ” LCD thinks that if Rosenmayr wants to return<br />

to Vienna, either we should put more money into his training or count the money invested<br />

in his year’s fellowship lost.“ Minutes DSS Staff Meeting 141, 7. Jänner 1953, Rockefeller<br />

Foundation, R. G. 1.2, series 705, box 9, folder 80, RAC.<br />

73 Das klingt ein wenig nach den damals beliebten Nationalcharakterstudien, könnte aber<br />

auch der Lektüre von ” Lonely Crowd“ zu verdanken sein: David Riesman in Collaboration<br />

with Reuel Denney and Nathan Glazer, The Lonely Crowd: A study of the Changing<br />

American Character, New Haven 1950. In dem Gespräch Anfang Jänner hatte Rosenmayr<br />

spontan noch andere Themen genannt: Beispielsweise eine Studie über den sinkenden ’ class<br />

status‘ und die Situation der ” lower bourgeoisie (...) somewhat like Mills’ study“. Bei letzterem<br />

dürfte es sich um die folgende Studie gehandelt haben: C. Wright Mills, White Collar.<br />

The American Middle Classes, New York 1951.<br />

ÖZG 11.2000.1 157


nach seiner Rückkehr und nach Abschluß der halbjährigen Arbeit an der Habilitation<br />

zuerst eine einjährige Pilot-Studie und danach ein Projekt mit zweibis<br />

dreijähriger Laufzeit durchzuführen. Lane äußerte in seiner be<strong>für</strong>wortenden<br />

Stellungnahme Kritik an der Breite des Projekts und bezweifelte, ob Rosenmayr<br />

methodologisch ausreichend ausgebildet sei, um diese Untersuchung<br />

durchführen zu können. Er gab zu bedenken, ob man nicht einen amerikanischen<br />

Experten zu seiner Hilfe nach <strong>Wien</strong> senden sollte, wie man das auch<br />

schon bei vergleichbaren Studien in Deutschland gemacht habe. 74 Ohne Rosenmayrs<br />

weitreichende Vorhaben als Ganzes zu genehmigen, sollte man die<br />

Pilotstudie fördern, sei Rosenmayr doch derzeit der einzige in <strong>Wien</strong>, der derartige<br />

Methoden ausprobiere. Außerdem habe er die Unterstützung des Rektors<br />

und August M. Knolls, was beide schriftlich und mündlich zum Ausdruck gebracht<br />

hätten. 75 Diese offizielle Unterstützung war von entscheidender Bedeutung,<br />

weil die Rockefeller Foundation Förderungen nur an Institutionen, und<br />

nicht an Personen vergab.<br />

Im Mai 1953 genehmigte der Direktor der Social Science Division fünfhundert<br />

US-Dollar, damit Rosenmayr nach seiner Rückkehr, ohne sich materielle<br />

Sorgen machen zu müssen, seine Habilitationsschrift, wie angekündigt,<br />

bis Jahresende fertig stellen könne. 76 Etwa ein Monat später wurde auch die<br />

Pilotstudie genehmigt. Rosenmayrs Zukunft war damit bis ins Frühjahr 1955<br />

hinein gesichert. Sein Projektleiterhonorar betrug 1.560 US-Dollar – oder nach<br />

dem Umrechnungsschlüssel, den er in einem seiner Schreiben erläuterte, das<br />

Doppelte eines <strong>Wien</strong>er Assistentengehalts. Am 28. August 1953 beendete Rosenmayr<br />

seinen zweijährigen Aufenthalt in den USA und kehrte an Bord der<br />

SS Liberte nach Europa zurück, wie die Fellowship Card der Rockefeller Foundation<br />

penibel festhält.<br />

In den nächsten Monaten ist im Schriftverkehr Rosenmayrs mit Funktionären<br />

der Rockefeller Foundation von den Habilitationsplänen nichts mehr zu<br />

74 Lane erwähnt ausdrücklich die sog. Darmstadtstudie, wo Nels Anderson von der ’ Rockefeller<br />

Foundation‘ als Konsultant nach Deutschland entsandt wurde. Raffaele Rauty, Introduction,<br />

in: Nels Anderson, On Hobos and Homelessness, Chicago 1998.<br />

75 Lane, Recommendation, 22. April 1953, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705,<br />

box 9, folder 80, RAC; dort befindet sich auch das Schreiben von Rektor Alfred Verdross und<br />

August M. Knoll an den Direktor der ’ Social Science Division‘ der ’ Rockefeller Foundation‘<br />

Joseph H. Willits vom 17. Juni 1953, worin es einleitend heißt: ” im Sinne des traditionellen<br />

Interesses der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> am Ausbau der Sozialwissenschaften“ und später wird<br />

Rosenmayrs Forschungsvorhaben so charakterisiert: ” Diese Forschung setzt sich zum Ziel<br />

die Analyse der wichtigsten öffentlichen und privaten Gruppen, mit denen sich die <strong>Wien</strong>er<br />

Bevölkerung identifiziert, und strebt darnach, die Prozesse solcher Identifizierung und die<br />

Auswirkungen derselben auf die breitere <strong>österreichische</strong> Bevölkerung zu ermitteln.“<br />

76 Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705, Box 9, folder 80, RAC. Nach Rosenmayrs<br />

eigenen Berechnungen verfügte er damit über ein Monatseinkommen in vier- bis sechsfacher<br />

Höhe der Bezüge einer Wissenschaftlichen Hilfskraft bzw. um über die Hälfte mehr als ein<br />

<strong>Universität</strong>sassistent in diesen Jahren verdiente.<br />

158 ÖZG 11.2000.1


lesen. Nach Ablauf des halbjährigen Sonderzuschusses wendet er sich energisch<br />

der Pilotstudie zu, worüber er gemeinsam mit Knoll im April 1954 Lane gesprächsweise<br />

berichtet. Lane notiert in seinem Tagebuch, dies sei jene Studie<br />

” for which Rockefeller Foundation made a grant-in-aid, with high hopes (...)<br />

All the work this coming year will focus on home life; attitudes towards work<br />

will be left for future study.“ Über die Studie selbst weiß Lane nicht viel mehr<br />

zu berichten. Andere Fragen nehmen hingegen breiten Raum ein: Rosenmayrs<br />

ungesicherte Stellung an der <strong>Universität</strong>, die Möglichkeiten, weiter Geld von<br />

der Rockefeller Foundation zu bekommen, die Nennung der Namen potentieller<br />

Stipendienbezieher, und abschließend der Hinweis Rosenmayrs, daß er zwar<br />

” strongly attached to Vienna“ sei, aber sollte es disheartening“ werden, wol-<br />

”<br />

le er sich in den USA um einen Job umsehen. 77 Ein Viertel Jahr später wird<br />

Rosenmayr Lanes Vorgesetztem De Vinney gegenüber deutlicher:<br />

After I have been able to build up the Research Laboratory with the help of some<br />

excellent collaborators against prejudice I now feel free to ask you to write a few lines<br />

to Prof. Knoll which will be instrumental in his hands in keeping up the decision of<br />

the Law Faculty to have me appointed by Jan. 1 t , 1954 ( , vermutlich 1955).<br />

Dr. Heinz Drimmel who is responsible for University affairs in the Ministry of<br />

Education has promised to support Prof. Knoll from the budgetary angle.<br />

My habilitation thesis has been delayed by the complicated negotiations and<br />

organizational work that had to be done a long time before the official start of the<br />

project.“ 78<br />

Rosenmayr war offenbar der Meinung, daß die Gründung eines Vereins als Nachweis<br />

wissenschaftlicher Tätigkeit genüge und die von der Rockefeller Foundation<br />

<strong>für</strong> die Fertigstellung der Habilitationsschrift genehmigte Summe da<strong>für</strong><br />

auch gut angelegt sei. Sein Versuch, die amerikanische Stiftung dazu bringen,<br />

ihn bei seinem Bemühen, sich eine fixe Anstellung an der <strong>Universität</strong> zu sichern,<br />

zu protegieren, wurde in einem höflichen aber unzweideutigen Antwort-<br />

77 Lane, Tagebuch, 1. u. 2 April 1954, 29.<br />

78 Rosenmayr an DeVinney o. D. [Juli 1954]. Drimmel war damals als Ministerialrat <strong>für</strong> die<br />

Hochschulen zuständiger Beamter. Als Beilagen sandte Rosenmayr einen Artikel aus ’ Die<br />

Presse‘ vom 7. Juli 1954 mit, der berichtet, daß mit stadtsoziologischen Untersuchungen<br />

begonnen worden sei. ” Die Soziologen der <strong>Wien</strong>er <strong>Universität</strong> haben Psychologen, Ärzte,<br />

Volkskundler, Statistiker und Juristen als ständige Mitarbeiter herangezogen. Sie sind mit<br />

den neuesten erpobten sozialwissenschaftlichen Methoden, wie sie im Ausland angewendet<br />

werden, vertraut, gehen aber von den <strong>Wien</strong>er Verhältnissen aus.“ Rockefeller Foundation,<br />

R. G. 1.2 series 705, box 9, folder 80, RAC. Der ebenfalls mitgesandte Fragebogen der schriftlichen<br />

Befragung mußte einem Soziologen wie DeVinney, der tatsächlich mit den neuesten<br />

sozialwissenschaftlichen Methoden vertraut war, die Haare aufstellen: Mehrdeutige Frageformulierungen<br />

und dichotome Klassifikationen über Wohnverhältnisse und -wünsche, wie z. B.<br />

die Frage nach dem Grund, warum jemand einen Beruf ausübt ( ” aus finanziellen Gründen,<br />

aus Freude am Beruf oder warum “).<br />

ÖZG 11.2000.1 159


ief zurückgewiesen und stattdessen die Frage aufgeworfen, wie es um seine<br />

Habilitation stehe. 79 Diese Frage ließ Rosenmayr unbeantwortet und sandte<br />

stattdessen vierteljährlich zwei- bis dreiseitige Briefe an DeVinney. Später reklamierte<br />

er diese Schreiben als ” progress reports“. Nach einem halben Jahr<br />

Arbeit an der Pilotstudie warf er die Frage der Fortsetzung der Finanzierung<br />

auf. Nach DeVinneys Antwort, <strong>für</strong> die Weiterfinanzierung werde auch nach<br />

dem Stand seiner Habilitation gefragt werden, sandte er in deutscher Sprache<br />

mit beigeschlossener englischer Übersetzung eine Bestätigung der beiden ” Vertreter<br />

von Dr. Rosenmayrs Habilitation“ und des Dekans der philosophischen<br />

Fakultät, wonach ” deren Einreichung demnächst bevorsteht.“ 80 Das Antwortschreiben<br />

war knapp gehalten: Sollte die Habilitation nicht bald abgeschlossen<br />

und das Verfahren positiv erledigt sein, werde die Rockefeller Foundation die<br />

weitere Finanzierung einstellen. 81 Alarmiert schreibt Rosenmayr, seit Anfang<br />

1955 Wissenschaftliche Hilfskraft an der Lehrkanzel <strong>für</strong> Soziologie, im Jänner<br />

1955 einen langen Brief an DeVinney und erklärt die Verzögerung bei der Habilitation<br />

mit den allgemeinen Widrigkeiten in <strong>Wien</strong>: ” Not even a typewriter“ sei<br />

am Institut vorhanden; er berichtet von den Widerständen gegen die empirische<br />

Soziologie und einem Motorradunfall, den er im Jahr davor gehabt habe.<br />

Zum Schluß gibt er dem Brief jene persönliche Note, die alle seine Schreiben<br />

charakterisiert: ” It is with great pleasure that I am able to add to this letter<br />

a personal message. My little American daughter received an Austrian brother,<br />

Stephen Leopold, on December 23, 1954. With the very best wishes to<br />

you and Mrs. DeVinney (...)“ 82 Schon davor, Mitte Dezember 1954, hatte Rosenmayr<br />

den Abschlußbericht über die Pilotstudie nach New York geschickt.<br />

Auf der Suche nach den ” factors which contribute to the basic social, economic,<br />

and political views of major groups“, die Rosenmayr bekanntlich studieren<br />

hatte wollen, kam er über Zwischen-Etappen, wo er realisierte, ” that I could<br />

not use any verified hypotheses or empirical generalizations as points of departure“<br />

und daß ” so far no empirical attitude research on a broad basis had been<br />

carried through“, zur Entscheidung ” to limit the study to the exploration of<br />

79 DeVinney an Rosenmayr, 20. Juli 1954, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705,<br />

box 9, folder 80, RAC.<br />

80 A. M. Knoll und Leo Gabriel an DeVinney, 13. Dezember 1954. Das Schreiben wurde<br />

vom Dekan der Philosophischen Fakultät, Karl M. Swoboda, vidiert: Zl. 1236/1 aus 1954/55,<br />

obwohl das Institut <strong>für</strong> Soziologie und Knolls Professur an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen<br />

Fakultät lokalisiert waren. Rosenmayr habilitierte sich dann auch zwei Mal:<br />

1955 <strong>für</strong> Sozialphilosophie an der Philosophischen und 1959 <strong>für</strong> Soziologie an der Rechtsund<br />

Staatswissenschaftlichen Fakultät. Der feine Unterschied scheint vielen, vor allem allen<br />

im Ausland, entgangen zu sein.<br />

81 DeVinney an Rosenmayr, 1. Oktober 1954, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2 series 705,<br />

box 9, folder 80, RAC.<br />

82 Rosenmayr an DeVinney, January 10, 1955. Rockefeller Foundation, R. G. 1.2 series 705,<br />

box 9, folder 81, RAC.<br />

160 ÖZG 11.2000.1


the attitude of Vienna society toward the home and life. This way we could<br />

concentrate on a changing sociological problem rooted in the stable necessity<br />

to have a place to live in.“ Die folgende Präsentation der vorläufigen Resultate<br />

hätte dann auch jemandem, der mit den Methoden der Sozialforschung nicht<br />

vertraut war, die Augen da<strong>für</strong> öffnen müssen, daß die ganze Studie nicht mehr<br />

war als die Sammlung einiger Daten über Wohnverhältnisse und Wohnwünsche,<br />

die höchst willkürlich mit ein paar pseudosoziologischen Konzepten verknüpft<br />

wurden. 83 Am Ende des fünfseitigen Briefes kündigt Rosenmayr eine 200 Seiten<br />

starke Publikation an und ersucht um die Fortsetzung der Finanzierung in<br />

Höhe von 9.820 US-Dollar. 84<br />

Im Frühjahr 1955 treffen in New York Briefe verschiedener Förderer Rosenmayrs<br />

ein, die alle die baldige Fertigstellung der Habilitation ankündigen<br />

und die rasche Erledigung des Habilitationsverfahrens in Aussicht stellen. 85<br />

Am 1. Juli 1955 kann Rosenmayr schließlich erleichtert berichten, daß seine<br />

Habilitation angenommen worden sei und er ab Wintersemester als Dozent Vorlesungen<br />

halten werde. 86 Die Erlangung der Lehrfreiheit setzt bei Rosenmayr<br />

auch Energien <strong>für</strong> andere Unternehmungen frei. Er nimmt sich der darniederliegenden<br />

Österreichischen Gesellschaft <strong>für</strong> Soziologie (ÖGS) an, deren inaktiver<br />

Präsident zu dieser Zeit Knoll war. 87 Tom Bottomore, Sekretär der International<br />

Sociological Association, der die ÖGS unmittelbar nach ihrer Gründung<br />

1950 beigetreten war, an die sie aber nie die Mitgliedschaftsbeiträge überwiesen<br />

hatte, überredet Rosenmayr, aus der korporativen eine individuelle Mitgliedschaft<br />

zu machen. Vier Jahre später, 1959, schlägt er während des in Stresa<br />

abgehaltenen World Congress of Sociology vor, die korporative Mitgliedschaft<br />

wieder zu erneuern, weil ” the basis of the Austrian Sociological Society has<br />

83 Beispielsweise suchte Rosenmayr nach einer Erklärung <strong>für</strong> die geringe Kinderzahl und<br />

behaupte sie im Wertesystem gefunden zu haben, in welchem Kinder keinen hohen Wert<br />

darstellten. Das meiste erklärte er allerdings aus dem Vorhandensein eines ” negativen Individualismus“,<br />

ein Terminus, der sich auch in den folgenden Berichten prominent findet.<br />

84 Die Studie ’ Wohnen in <strong>Wien</strong>. Ergebnisse und Folgerungen aus einer Untersuchung von<br />

<strong>Wien</strong>er Wohnverhältnissen, Wohnwünschen und städtischer Umwelt‘ erschien in ’ Der Aufbau‘<br />

als Band 8, und das <strong>Wien</strong>er Stadtbauamt zeichnet als Verfasser des 108 Seiten umfassenden<br />

Berichts.<br />

85 Dekan Karl M. Swoboda am 2.3.1955, Richard Meister, Präsident der Akademie der Wissenschaften<br />

am 4.3., Leo Gabriel am 5.3., Rektor Johann Radon am 5.3., August M. Knoll<br />

o. D.; Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705, box 9, folder 81, RAC.<br />

86 Rosenmayr an DeVinney, 1. Juli 1955. Leopold Rosenmayr, Soziologie der Vorstellungen<br />

und Werte. Eine Darstellung der Wechselwirkungen zwischen Vorstellungen und Werten und<br />

den Strukturen der Gesellschaft, mit einem geschichtlichen Überblick und unter Berücksichtigung<br />

neuerer empirischer Forschungen, unveröffentlichte masch. Habilitationsschrift, <strong>Wien</strong><br />

1955.<br />

87 Rosenmayr berichtet darüber auch DeVinney am 31. August 1955: ” Inside Austria the<br />

Sociological Society is in the process of being revived also with the purpose to make known results<br />

of current research to wider circles of the population.“ Rockefeller Foundation, R. G. 1.2,<br />

series 705, box 9, folder 81, RAC.<br />

ÖZG 11.2000.1 161


een broadened considerably during the last two years“, so there ” is no danger<br />

that the neglect (of paying the fees) will reoccur.“ 88 Auch auf anderen internationalen<br />

Bühnen, wie beispielsweise der UNESCO, wird Rosenmayr in den<br />

folgenden Jahren aktiv und etabliert damit nicht nur viele neue internationale<br />

Kontakte, sondern zementiert auch den Eindruck, in Österreich der einzige<br />

Soziologe zu sein.<br />

War es Rosenmayr zwischen 1953 und 1957 gelungen, von der Rockefeller<br />

Foundation Gelder in Höhe von insgesamt 22.320 US-Dollar einzuwerben<br />

– was ungefähr vierzehn Mannjahren jenes Gehalts entspricht, das er im ersten<br />

Antrag <strong>für</strong> sich veranschlagt hatte 89 – bemühte er sich 1958/59 darum,<br />

<strong>für</strong> ein zweijähriges Projekt weitere 24.700 US-Dollar zu erhalten. Die ersten<br />

fünfhundert Dollar hatte Rosenmayr noch aufgrund der alleinigen Fürsprache<br />

Knolls erhalten. Gleichzeitig mit dem Bemühen um Förderer seiner Habilitation<br />

rekrutierte er einige prominente Professoren als Unterstützer seiner Anträge<br />

an die Rockefeller Foundation, was deren Mitarbeiter in den Erläuterungen zu<br />

den Anträgen, die sie übergeordneten Instanzen der Stiftung zur Genehmigung<br />

vorzulegen hatten, hervorhoben. Zur gleichen Zeit versuchen Stiftungsmitarbeiter<br />

gemäß einer alten Tradition, Urteile kompetenter internationaler Kollegen<br />

einzuholen. Die Angeschriebenen kennen Rosenmayr, können aber über ihn<br />

und seine Kompetenzen meist nicht sehr detailliert Auskunft geben. 90 Trotz<br />

aller Bedenken und nachdem Rosenmayr die beantragte Summe auf die Hälfte<br />

reduziert hat, weil ihm die Rockefeller Foundation mitgeteilt hatte, eine weitere<br />

Finanzierung sei nur dann zu erwarten, wenn auch <strong>österreichische</strong> Stellen<br />

begännen, seine Forschung zu finanzieren, wird seinem Wunsch Rechnung getragen<br />

und er erhält <strong>für</strong> eine ” study of the influences of changing family structure<br />

on the behavior of adolescent youth“ <strong>für</strong> eine zweijährige Laufzeit den genannten<br />

Betrag. 91 In der Begründung <strong>für</strong> die Genehmigung des Antrags heißt<br />

es 1959: Als im Jahr 1954 die Sozialwissenschaftliche Forschungsstelle an der<br />

<strong>Wien</strong>er Lehrkanzel <strong>für</strong> Soziologie gegründet wurde, unternahm es seit ” Marie<br />

Jahoda’s and Paul Lazarsfeld’s now famous analysis of a suburban community<br />

88 International Sociological Association (ISA) Archive, diverse Schreiben in boxes 24.2.<br />

Austria, 30.1 Collective members, 37.2 Individual membership; Internationales Institut <strong>für</strong><br />

Sozialgeschichte, Amsterdam.<br />

89 Aus <strong>Wien</strong>er Quellen erhielt Rosenmayr Zuwendungen in der Höhe von 4.600. Genehmigungsschreiben,<br />

17. Mai 1956. Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705, box 9, folder 80,<br />

RAC.<br />

90 Lane, Tagebuch, 13. April 1959. Zur Rockefeller Foundation internen Kritik an Rosenmayr<br />

siehe Lane, 28. Dezember 1954, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2., series 705, box 9, folder 80,<br />

RAC, und den Eintrag auf seiner Fellowship Card unter 6/9/58, wo es heißt: Reprint received<br />

”<br />

’ Befragung der <strong>Wien</strong>er Verkehrspolizisten‘ this is a Soziologische Erkenntnisse!“<br />

91 Executive Committee, 22. Mai 1959, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705, Box 9,<br />

folder 80, RAC. Erskine W. McKinley bezeichnete Rosenmayrs Plan im April 1959 noch als<br />

” pretty weak“, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705, box 9, folder 82, RAC.<br />

162 ÖZG 11.2000.1


during the depression of the late twenties“ – wie es wenig zutreffend formuliert<br />

wurde – ” the first study in empirical sociology“. Ausgehend von einem ” deep<br />

concern about severe postwar desillusionment, embittered cleavages among social<br />

groups, and widespread lack of interest in national unity and welfare which<br />

pervaded Vienna, Dr. Rosenmayr embarked on a study of fundamental convictions<br />

and values of major groups in Vienna and the factors which seemed<br />

to account for them.“ Zuerst habe er sich dem Studium des Familienlebens<br />

gewidmet, und prompt seien Regierungsstellen an ihn herangetreten, um weitere<br />

Studien in Auftrag zu geben. Er habe es dennoch zustande gebracht, diese<br />

angewandten Forschungen mit grundlegenden Forschungsfragen zu verbinden.<br />

Seine Veröffentlichungen hätten Aufmerksamkeit und günstige Kommentare<br />

in europäischen und amerikanischen wissenschaftlichen Zeitschriften erhalten.<br />

Tatsächlich erschienen über Rosenmayrs Wohn-Studie Besprechungen auch in<br />

den beiden führenden soziologischen Zeitschriften Amerikas. Auffälligerweise<br />

lauten die ersten paar Sätze der Besprechung von Morris Janowitz auf Wort<br />

und Irrtum fast gleich wie der Text, mit welchem innerhalb der Rockefeller<br />

Foundation 1959 der Verlängerungsantrag begründet wurde. 92<br />

Wie schon <strong>für</strong> andere Rezensenten 93 liegt es nahe, die beiden einzigen, aus<br />

Mitteln der Rockefeller Foundation mitfinanzierten <strong>österreichische</strong>n soziologischen<br />

Forschungseinheiten und ihre Resultate zu vergleichen. Die Höhe der <strong>für</strong><br />

die Marienthal-Studie Lazarsfelds gewährten Zuschüsse der Arbeiterkammer,<br />

der <strong>österreichische</strong>n Regierung und aus dem fluid grant, der den Bühlers zur<br />

Verfügung stand, läßt sich nicht mehr genau feststellen, dürfte aber über den<br />

Zeitraum von zwei Jahren nicht mehr als den Gegenwert eines Jahresgehalts<br />

eines Assistenten ausgemacht haben. Dem stehen im Fall von Rosenmayrs Forschungsstelle<br />

über den allerdings auch viel längeren Zeitraum von acht Jahren<br />

Mittel in Höhe von etwa dreißig Mannjahren oder pro Jahr etwa vier bezahlte<br />

Mitarbeiter gegenüber. Die Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle unter<br />

Lazarsfeld produzierte neben Die Arbeitslosen von Marienthal (1933) einige<br />

Aufsätze, und man könnte noch die eine oder andere Dissertation im Umfeld<br />

92 Morris Janowitz, Besprechung von Wohnen in <strong>Wien</strong>, in: American Journal of Sociology 63,<br />

1957, 236 f. Bei Janowitz heißt es, Rosenmayrs Studie sei nach Marienthal ” one of the first<br />

studies in empirical sociology (...) in Austria“ gewesen. Es ist nicht entscheidbar, wer <strong>für</strong> die<br />

Übernahme des historischen Rückblicks aus Janowitz’ Besprechung in den formalen Antrag<br />

der ’ Rockefeller Foundation‘ verantwortlich war. Üblicherweise bauten die Förderungsanträge<br />

auf den Informationen auf, die die Förderungswerber zur Verfügung stellten. Rosenmayr<br />

jedenfalls griff den historischen Hinweis wenig später auf: Leopold Rosenmayr, Vorgeschichte<br />

und Entwicklung der Soziologie in Österreich bis 1933, in: Zeitschrift <strong>für</strong> Nationalökonomie 26<br />

(1966), 268–282.<br />

93 Kurt B. Mayer, in: American Sociological Review 22 (1957), 610 f. und noch Jahre später<br />

E. K. Francis, in: American Journal of Sociology 71 (1965), 360 f., anläßlich einer Besprechung<br />

einer weiteren Rosenmayr-Studie über Familienbeziehungen und Freizeitgewohnheiten<br />

jugendlicher Arbeiter.<br />

ÖZG 11.2000.1 163


anführen. Rosenmayr veröffentlichte in den acht Jahren, in denen die Rockefeller<br />

Foundation seine Sozialwissenschaftliche Forschungsstelle förderte, zwei<br />

selbständige Forschungsberichte, schrieb seine unveröffentlichte Habilitationsschrift<br />

und publizierte sechs Aufsätze. 94 Während Marienthal zum Klassiker<br />

wurde, verblich der Ruhm von Rosenmayrs Veröffentlichungen aus diesen Jahren<br />

innerhalb jener Frist, die mit dem unzutreffenden Bild der Halbwertszeit<br />

wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu bestimmen versucht wurde. Aus der<br />

Gruppe um Lazarsfeld gingen trotz der Widrigkeiten, die ihre Mitglieder im Zusammenhang<br />

mit ihrer Flucht aus Österreich überwinden mußten, anerkannte<br />

Soziologen und Psychologen hervor (Marie Jahoda, Hans Zeisel, Hertha Herzog,<br />

die zum Kern der Forschungsstelle gehörten, sowie Katherine Wolf, Else<br />

Frenkel-Brunswik, Hedda Bolgar, Lotte Danzinger, die auf die eine oder andere<br />

Art von der Nähe zu dieser Gruppe profitierten). Rosenmayr hingegen<br />

blieb ziemlich allein. Von jenen, die mit ihm schon in den fünfziger Jahren zusammenarbeiteten,<br />

erwarb nur Hans Strotzka später selbständig Reputation.<br />

Erst in den sechziger Jahren betraten die ersten jungen <strong>Wien</strong>er Soziologen die<br />

Bühne, auf der sich Rosenmayr schon so lange tummelte – was allerdings wenigstens<br />

teilweise auf die Wirkungen des 1963 eröffneten Instituts <strong>für</strong> Höhere<br />

Studien zurückzuführen ist.<br />

Noch bevor sich die Rockefeller Foundation zur nochmaligen Unterstützung<br />

Rosenmayrs entschlossen hatte, trat dieser an die zweite große US-Stiftung,<br />

die Ford Foundation, mit einem Förderungsantrag heran, nachdem er schon<br />

im Sommer des Vorjahres mit Stone ein Gespräch geführt hatte. Ein halbes<br />

Jahr danach schaltet sich Rosenmayrs transatlantischer Protektor Lazarsfeld<br />

ein und schreibt an Stone ein geradezu überschwengliches Empfehlungsschreiben:<br />

” I have studied the application of Dr. Leopold Rosenmayr. It is a thoroughly<br />

professional job and there is no doubt in my mind that it should be<br />

supported. As a matter of fact, of the many foreign applications I have seen<br />

in recent years this is the one which shows the most understanding of how<br />

organized social research should be developed and what Foundation funds can<br />

contribute.“ 95 Ausführlicher als die Stellungnahme zu Rosenmayrs Forschungsprojekt<br />

fällt dann Lazarsfelds Kommentar dazu aus, wie ” Rosenmayr’s plans<br />

fit the general Austrian program“, das er ein Jahr davor entwickelt hatte. Rosenmayr<br />

wolle an der <strong>Universität</strong> ein Zentrum <strong>für</strong> Sozialforschung etablieren<br />

und die Ford Foundation sollte zusätzlich auch ein zweites, außeruniversitäres<br />

Zentrum fördern. Dabei dachte Lazarsfeld nicht an das geplante spätere Institut<br />

<strong>für</strong> Höhere Studien, sondern an eine Gruppe junger Sozialwissenschaftler im<br />

94 Seine Ankündigung, eine Kritik von Helmut Schelskys jugendsoziologischem Bestseller<br />

’ Die skeptische Generation‘ zu liefern, konnte er nicht einlösen. Erskine W. McKinley interview<br />

with Leopold Rosenmayr, 4. November 1958, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series<br />

705, box 9, folder 82, RAC.<br />

95 Lazarsfeld an Stone, 12. Jänner 1959, Ford Foundation, reel 0565.<br />

164 ÖZG 11.2000.1


Gewerkschaftsbund. Deren Vertreter hätten zwar nicht annähernd the polish<br />

”<br />

which Rosenmayr has“, aber sie verdienten Hilfe. Abschließend kommt Lazarsfeld<br />

doch noch einmal auf Rosenmayrs Projekt und seinen Inhalt zu sprechen:<br />

” The study of values, of family life, and of rural communities (...) have a rat-<br />

her universal character which should be studied in Austria and also has been<br />

studied in many other places. There are however special Austrian topics of<br />

great interest (...). What I mean to say is that Rosenmayr proposes a highly<br />

competent program within a narrow academic framework. This should be supplemented<br />

by other activities which are more sensitive to the current national<br />

problems to which social research could contribute.“ 96<br />

Was Lazarsfeld nicht wissen konnte war, daß Rosenmayr dieselben Studien<br />

auch schon der Rockefeller Foundation vorgeschlagen hatte. Wir sehen, wie<br />

sich ein Protege gegen die Pläne seiner Förderer selbständig machen konnte:<br />

Lazarsfeld, der seiner Geburtsstadt unbedingt Gutes tun wollte, war genötigt,<br />

jemanden zu protegieren, der zur Hand war – auch wenn der partout nicht das<br />

untersuchen wollte, was er untersuchenswert fand. 97 Im Mai 1959, knapp vor<br />

seinem mehrwöchigen Aufenthalt in Europa, währenddessen er die weiter oben<br />

zitierten Briefe an Stone schreiben sollte, in denen er die <strong>Wien</strong>er Malaise in epigrammatischer<br />

Kürze als ” no brains, no initiative, no collaboration“ beklagte, 98<br />

sandte Lazarsfeld Stone eine weitere Stellungnahme zu Rosenmayrs Antrag und<br />

retournierte das zur Begutachtung überlassene Material.<br />

Rosenmayr submitted to you requests for three specific studies and one for a program<br />

of ’ Scientific Exchange Instruction and Training ’ . (...) (W)hile I respect Rosenmayr’s<br />

research ability, I don’t think that the three topics he wants to study are of very<br />

great originality. On the other hand, I feel that a general training program would<br />

be of great help. After all, Rosenmayr cannot do much if he doesn’t develop a good<br />

young generation of assistants and graduate students.<br />

The general training program (...) falls into two parts. He wants 28,000 for his<br />

center and 26,000 for visiting Americans. The latter doesn’t make much sense in<br />

view of your general plans for an advanced study center. My advice, therefore, is that<br />

96 Ebd. Lazarsfeld detailliert dann auch noch seinen allgemeinen Hinweis und schlägt vor,<br />

daß man zum einen das Management der verstaatlichten Industrie vergleichend mit einer<br />

’ free enterprise industry‘ studieren sollte und andererseits das Problem der <strong>österreichische</strong>n<br />

’ intelligentsia‘ einer eingehenderen Untersuchung wert wäre: As I have pointed out in my<br />

”<br />

first report, a sequence of purges has led to a great scarcity of competent intellectuals.<br />

How they are now being recruited from various social classes and what could be done to<br />

speed up this intellectual reforestation deserves also careful study“. Man darf mit Sicherheit<br />

annehmen, daß Lazarsfeld diese Ideen auch seinen <strong>österreichische</strong>n Gesprächspartnern nicht<br />

vorenthielt. Bekanntlich wurde keines der beiden Probleme je von einem <strong>österreichische</strong>n<br />

Soziologen studiert.<br />

97 Clark berichtet in Paul Lazarsfeld and the Columbia Sociology Machine‘, daß Lazarsfeld<br />

’<br />

heftig darauf gedrängt habe, seine Sicht der Dinge zu berücksichtigen.<br />

98 Lazarsfeld an Stone, 22. Juni 1959, Ford Foundation, reel 2574.<br />

ÖZG 11.2000.1 165


he should get the 28,000 for the part (...) which I have encircled for your special<br />

attention. The 5,000 included for visiting Europeans seemed to me justified in view<br />

of the Austrian isolation. 99<br />

Im Juli 1959 genehmigte der Präsident der Ford Foundation auf Antrag von Stones<br />

Abteilung <strong>für</strong> Internationale Angelegenheiten der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> 25.000<br />

US-Dollar ” to strengthen the program of its Social Science Research Center for<br />

training young social scientists“. Die Begründung spiegelt nicht nur Lazarsfelds<br />

Empfehlung vom Jänner, sondern nennt Lazarsfeld als ihren Gewährsmann, der<br />

den Antrag studiert habe und ihn zu fördern empfohlen habe. Auch Lazarsfelds<br />

weitergehende Forschungsvorschläge finden darin kurioserweise Erwähnung. 100<br />

Rosenmayr hätte sich glücklich schätzen können. Aber er hatte die Kommunikationsdichte<br />

amerikanischer Stiftungen, ihrer Mitarbeiter und Berater<br />

wohl unterschätzt. Im September 1959 erreichte ihn der Brief eines sichtlich<br />

verärgerten Lazarsfeld – ” Copy to Dr. Stone“ –, worin dieser ihn über den<br />

Verhaltenskodex im Umgang mit mehr als einer Stiftung in Kenntnis setzt:<br />

American foundations cooperate gladly on supports given to academic work. They<br />

do however expect that grantees keep them clearly informed about the whole range<br />

of American help they ask for or obtain. (...) It might be that I contributed to the<br />

confusion because I had understood you to say that your Rockefeller project is essentially<br />

over and that you now got a small grant for its completion. Dr. Stone, however,<br />

knows that your new Rockefeller grant is of rather substantial size. 101<br />

Nur acht Tage später antwortet Rosenmayr in einem ausführlichen Brief an<br />

Stone und erklärt, daß das Geld der Rockefeller Foundation <strong>für</strong> Projekte verwendet<br />

würde, die in keinerlei Beziehung zu dem von Ford finanzierten Vorhaben<br />

stünden. Was die Rockefeller Foundation fördere ” is geared to furnish<br />

results for practical purposes of education and general social work connected<br />

with adolescent youth.“ 102 Wenige Monate davor hatte es gegenüber DeVinney<br />

noch anders geklungen: Das Geld der Rockefeller Foundation würde eine Studie<br />

über ” family relations of the male youth (14–18)“ fortzuführen und erheblich<br />

zu verbessern erlauben und somit Grundlagenforschung ermöglichen. 103<br />

Mit halbjähriger Verspätung wird die Finanzierung genehmigt. Im Jänner<br />

1960 trifft der Scheck der Ford Foundation über 25.000 US-Dollar in <strong>Wien</strong> ein<br />

und wird umgehend in 645.712 Schilling gewechselt. In den folgenden beiden<br />

Jahren wird rund ein Fünftel dieser Summe dazu benützt, um einer Gruppe von<br />

99 Lazarsfeld an Stone, 19. Mai 1959, Ford Foundation, reel 0565.<br />

100 International Affairs Ford Foundation, 21. Juli 1959, Ford Foundation, reel 0565.<br />

101 Lazarsfeld an Rosenmayr, 22. September 1959, Ford Foundation, reel 0565.<br />

102 Lazarsfeld an Stone, 30. September 1959, Ford Foundation, reel 0565.<br />

103 Rosenmayr an DeVinney, 20. März 1959, Rockefeller Foundation, R. G. 1.2, series 705,<br />

Box 9, folder 82, RAC.<br />

166 ÖZG 11.2000.1


Studenten Stipendien zu bezahlen und ausländische Vortragende einzuladen,<br />

ungefähr die Hälfte wird <strong>für</strong> Datenerhebung, -aufbereitung und -auswertung<br />

ausgegeben. Knapp vor Ablauf der zwei Jahre wendet sich Rosenmayr wieder<br />

an Stone und ersucht um eine ” unauffällige Verlängerung“ der Förderung, weil<br />

das in Gründung befindliche Ford-Institut nicht früher als 1963 eröffnet werde.<br />

Warum Rosenmayr dieses Mal die Publicity scheut, erläutert er nicht. 104 Die<br />

gewünschte Summe erhält er anstandslos, weil andernfalls ” a valuable initiative<br />

would be lost and an important Austrian source of supply for the new Institute<br />

for Advanced Studies would be submerged if the Center failed to obtain<br />

assistance.“ 105 Die Begründung <strong>für</strong> diese vorläufig letzte direkte Förderung<br />

Rosenmayrs bzw. der von ihm gegründeten Forschungsstelle (dem Center in<br />

obigem Zitat) offenbart, daß die Funktionäre und Berater der Ford Foundation<br />

bei ihrem Versuch, sich im Labyrinth des <strong>österreichische</strong>n Minotaurus zurechtzufinden,<br />

die Hilfe Ariadnes gut hätten gebrauchen können. Die Idee, in <strong>Wien</strong><br />

ein Institut <strong>für</strong> sozialwissenschaftliche Forschung zu gründen, war aus dem Umstand<br />

erwachsen, daß die <strong>Universität</strong> so schlecht sei. Und nun war man nicht<br />

nur dabei, einen Professor zum Direktor des außeruniversitären Instituts zu<br />

machen, sondern päppelte auch noch das Zentrum eines anderen Professors auf<br />

und füttert es über die Jahre hinweg, weil sonst bei der Eröffnung des eigenen<br />

neuen Instituts niemand vorhanden wäre, um hier ein postgraduate Studium<br />

zu beginnen. Wer den Minotaurus töten wollte, hatte das Problem zu lösen,<br />

nach vollbrachter Tat aus dem Labyrinth wieder hinauszufinden – die Philanthrophen<br />

der Ford Foundation wußten mittlerweile offenbar weder, warum sie<br />

das <strong>österreichische</strong> Labyrinth betreten hatten, noch was sie hier tun sollten.<br />

III.<br />

Während des zehntägigen Aufenthalts des Präsidenten des American Council of<br />

Learned Societies (ACLS) Frederick Burkhardt in <strong>Wien</strong> stand die Rolle Rosenmayrs<br />

und seiner ’ Sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle‘ mehrfach zur Debatte.<br />

Im Gespräch mit Co-Direktor Kozlik erfuhr Burkhardt, daß das gesamte<br />

soziologische Forschungsprogramm des Instituts <strong>für</strong> Höhere Studien (IHS) von<br />

Rosenmayrs Forschungsstelle betrieben würde. Auf die Frage, was dabei <strong>für</strong><br />

das IHS abfalle, antwortete Kozlik: praktisch nichts. ” The institute (ours) was<br />

becoming a sort of Ford Foundation to the rest of the University“, notiert<br />

Burkhardt trocken. Kozlik kämpfe dagegen nicht an, sondern zeige eine ” halfhumorous<br />

attitude“, obwohl er es <strong>für</strong> unnötig und unsinnig halte, jemandem<br />

Geld zu geben, der es nicht wirklich brauche. Kozlik und die Generalsekretärin<br />

104 Rosenmayr an Stone, 1. Dezember 1961, Ford Foundation, reel 0565.<br />

105 International Affairs Ford Foundation, 2. Februar 1962, Ford Foundation, reel 0565.<br />

ÖZG 11.2000.1 167


des IHS, die davor bei der UNESCO in Paris gearbeitet hatte und in den Dokumenten<br />

als Freda Pawloff aufscheint und später als Freda Meissner-Blau 106<br />

bekannter werden sollte, waren davon überzeugt, daß Rosenmayr <strong>für</strong> Projekte<br />

bezahlt würde, die längst durchgeführt, in einem Fall gar schon publiziert seien.<br />

Die Offenheit der beiden kontrastiert stark mit der Vagheit Sagoroffs und es<br />

verwundert nicht, daß Burkhardt sich öfter mit diesen beiden unterhielt. Professoren<br />

der <strong>Wien</strong>er <strong>Universität</strong> hätten Pawloff bereits darauf angesprochen,<br />

daß Sagoroff Forschungen Rosenmayrs finanziere, die schon vor Jahren abgeschlossen<br />

worden seien; Gerüchte seien im Umlauf. Aufschlußreich ist daher,<br />

was der amerikanische Konsulent der Ford Foundation über das Gespräch mit<br />

dem kurz davor zum Ordinarius avancierten Rosenmayr festhielt:<br />

Rosenmayr arrived for his appointment with me. We talked for an hour. I pushed him<br />

pretty hard on the four research projects for which his Institute had received support<br />

from our Institute. His argument was a new one. He reasoned that the distinguished<br />

professors coming to our Institute would not find enough people prepared to understand<br />

what they were talking about; the research projects would give students and<br />

Assistenten at the University some real experience in modern sociological techniques<br />

and problems. The project would also provide Austrian materials for the professors<br />

to talk about. Otherwise they would have to talk about their own experience and<br />

cases – presumably mostly American. This was all very well said but I’m not sure it<br />

is really so. I’m quite sure Sagoroff doesn’t know about this argument. Rosenmayr is<br />

a pretty slick article. 107<br />

Der Versuch, Burkhardt zu schmeicheln, wurde von diesem mit großer Reserve<br />

aufgenommen. Später teilte eine dritte Person Burkhardt mit, Rosenmayr sei<br />

über sein Eintreffen beunruhigt gewesen: ” Who is this Burkhardt We must find<br />

out what we can about him!“ Konkrete Auskünfte konnte Rosenmayr nicht<br />

geben. Einige der IHS-Assistenten seien ” political appointments“, aber drei<br />

Viertel seien gute Leute. Einer der IHS-Assistenten, fand Burkhardt heraus,<br />

werde bezahlt, um an Rosenmayrs <strong>Universität</strong>sinstitut zu unterrichten.<br />

Lazarsfeld, der nach <strong>Wien</strong> gefahren war, um dort Burkhardt zu treffen<br />

und selbst nach dem Rechten zu sehen, bestätigte Stone, daß Burkhardt in der<br />

kurzen Zeit ein ” detailed, in my opinion, perfectly correct picture“ gewonnen<br />

hätte. Er stimme ihm nur in einem Punkt, dem Urteil über Sagoroff, nicht<br />

106 Freda Meissner-Blau (geb. 1927), Journalistin; Volksschule in Linz, Höhere Bundeslehranstalt<br />

<strong>für</strong> wirtschaftliche Frauenberufe in <strong>Wien</strong>, Gymnasium Reichenberg (1945 Kriegsmatura),<br />

Studien der Medizin (sechs Semester), der Soziologie und Psychologie, Cambridge<br />

Certificate. Journalistin und freie Mitarbeiterin bei der UNESCO 1961, Assistant International<br />

Development of the Social Sciences (Paris), Generalsekretär am Institut <strong>für</strong> Höhere<br />

Studien und Wissenschaftliche Forschung (<strong>Wien</strong>) 1962–1968; später Nationalratsabgeordnete<br />

der Grünen, http://www.parlinkom.gv.at/, 14. Februar 2000.<br />

107 Burkhardt, A Journal of a Visit to Vienna, wie Anm. 59, 19.<br />

168 ÖZG 11.2000.1


zu. Man müsse nämlich – und hier spricht Lazarsfeld pro domo – zwischen<br />

Administratoren und Organisatoren unterscheiden. Sagoroff werde eine ” lot of<br />

messes“ produzieren, aber zugleich glaube er, daß er auch ” a lot of imagination“<br />

habe und improvisieren könne. Im folgenden Absatz nimmt er dieses<br />

hoffnungsfrohe Urteil aber wieder zurück, was ihm auch selbst auffällt: ” My<br />

new uneasiness with Sagoroff is due to another observation. (...) Sagoroff, so<br />

far, doesn’t make good use of his staff, doesn’t take advice easily, and has a<br />

tendency to make all decisions, even insignificant ones, himself, which will become<br />

increasingly impossible. He creates a prima donna atmosphere, which, of<br />

course, is different from leadership.“ 108<br />

In einem separaten offiziellen Memorandum formuliert Lazarsfeld sehr diplomatisch<br />

Vorschläge, wie Sagoroff am besten mit dem Kuratorium umgehen<br />

sollte – durch die Bildung von Zwei-Mann-Sub-Komitees, wie der Direktor mit<br />

seinen Mitarbeiter kommunizieren solle – durch schriftliche Memoranden; wie<br />

man gute Studenten anziehen könne – indem man den Absolventen bei der Arbeitssuche<br />

behilflich sei; wie man das Lehrprogramm verbessern könne – durch<br />

Verpflichtung von Ausländern; und woran man den Erfolg des Instituts messen<br />

sollte – ” saving Austria from intellectual dessication“ durch Verbesserung<br />

<strong>österreichische</strong>r Institutionen und des Niveaus einzelner Österreicher. 109<br />

Doch trotz dieser guten Ratschläge hatte das Institut <strong>für</strong> Höhere Studien<br />

(IHS) nach seiner offiziellen Eröffnung im Herbst 1963 noch weitere Jahre mit<br />

Problemen zu kämpfen. Nicht nur mit solchen, denen sich junge Institutionen<br />

üblicherweise gegenüber sehen, sondern auch mit Schwierigkeiten, die vor allem<br />

aus den <strong>österreichische</strong>n Verhältnissen erwuchsen. Gegen Ende des ersten<br />

Jahres trat der beigeordnete Direktor Adolf Kozlik zurück, der in den letzten<br />

Wochen seiner Tätigkeit mit Direktor Sagoroff nicht einmal mehr gesprochen<br />

hatte, blieb aber dem Institut weiterhin als Gastprofessor erhalten. Burkhardt,<br />

der im Juni 1964 wieder in <strong>Wien</strong> war, führt das Zerwürfnis vor allem auf Kozliks<br />

Temperament zurück: ” Kozlik is honest, rude, and dogmatic and acted<br />

more like an FBI agent in the Institute than as a Deputy.“ 110 Seine ruppige<br />

Art war die eine Seite des Problems, die unmögliche Position, die er einzunehmen<br />

hatte, die andere. Als Vertrauensmann der SPÖ mußte er das Mißtrauen<br />

seines Vorgesetzten auf sich ziehen. Seine ” outspokenness“ und sein Gehabe,<br />

das Amerikaner wie Burkhardt als Marotte hinzunehmen bereit waren, irritierten<br />

andere zutiefst. In einem derartigen Klima mußte jemand, der eine ” sharp<br />

tongue“ hatte und meinte, daß das neue Institut ” a straight Marxist point of<br />

108 Lazarsfeld an Stone, 4. Juli 1963, Ford Foundation, reel 2574.<br />

109 Lazarsfeld Memorandum: Terminal Suggestions Regarding the Viennese Ford Center,<br />

July 5, 1963. Abschließend schlägt Lazarsfeld Stone vor, ” you as a professional and I as an<br />

amateur historian“ sollten sich zusammensetzen und ” describe the different phases through<br />

which this project went“.<br />

110 Burkhardt an Stone, 7. Juli 1964, Ford Foundation, reel 2574.<br />

ÖZG 11.2000.1 169


view“ vertreten sollte, auf Ablehnung stoßen. Da half es ihm auch nicht, daß<br />

er nach Meinung Burkhardts im Vergleich mit Sagoroff der fähigere Mann war,<br />

der im Verein mit Frau Pawloff, mit der er sich gut verstehe, aus Sagoroff<br />

” micemeat“ machen könnte. Offene Konkurrenz zwischen dem Direktor und<br />

seinem Stellvertreter stand nicht am Spielplan. Und offene Hemdkragen auch<br />

nicht. Während Burckhardt Kozliks Stil, nie Krawatten zu tragen, erwähnt,<br />

um dessen Habitus zu charakterisieren, erblickten andere darin ein Zeichen intellektueller<br />

Minderbemittelheit. Der Schweizer Nationalökonom Edgar Salin,<br />

der in Heidelberg im elitären George-Zirkel groß geworden war, beklagt sich<br />

in einem Schreiben an Oskar Morgenstern bitterlich über einen Mann, dessen<br />

Namen er nicht einmal hinschreiben wollte:<br />

Daß der zweite Mann, mit dem Sagoroff sich auch gar nicht vertragen hat, demnächst<br />

abgeht, hörte ich durch Stone. Dies scheint mir ganz unerläßlich und darf nicht durch<br />

irgendwelche politischen Eingriffe rückgängig gemacht werden. Er besitzt zwar beträchtliche<br />

Einzelkenntnisse; es fehlt ihm aber jedes Verständnis <strong>für</strong> geistige Zusammenhänge,<br />

und er legt offensichtlich Wert darauf, den Proleten zu spielen. Beim Diner<br />

des Außenministers erschien er in einem Flanellhemd mit offenem Kragen. Das ist ein<br />

Protest-Stil, der vor 1914 Sinn hatte, zwischen den Weltkriegen eventuell noch begreiflich<br />

war, aber heute die innere und äußere Unsicherheit des Trägers in peinlicher<br />

Weise verrät. 111<br />

Zur Charakterisierung des Klimas – und vermutlich auch jener ” <strong>österreichische</strong>n<br />

Werte“, die Drimmel von Anfang an in Gefahr sah – eignet sich eine<br />

andere Episode, die Burkhardt berichtet. In einer Kuratoriumssitzung im Juni<br />

1964 unterbreitete nahezu jedes Mitglied ein Vorhaben, das ihm wahrscheinlich<br />

nicht persönlich am Herzen lag, das aber von jemanden herangetragen worden<br />

sein mußte, dem man das nicht abschlagen wollte oder konnte. Kreisky wollte<br />

Friedrich Hacker, dessen sozialwissenschaftliche Kompetenz Lazarsfeld nun<br />

in Zweifel zog, als Vortragenden, weil er auch in der Diplomatischen Akademie<br />

unterrichten sollte, die aber die Reisekosten nicht tragen könne. Kamitz<br />

protegierte eine Woche philosophisch-theologischer Vorlesungen und Diskussionen;<br />

ein <strong>Wien</strong>er Theologieprofessor wolle das, und an der <strong>Universität</strong> werde<br />

gegenüber dem IHS bereits der Vorwurf laut, atheistisch zu sein; deswegen<br />

müsse man zeigen, daß das IHS an spirituellen Fragen interessiert sei. ” Drimmel,<br />

Kamitz and Kreisky were for it – Kreisky if the agnostic position was<br />

represented!“ Burkhardts Hinweis, das habe schlicht nichts mit den Ausbildungszielen<br />

des Instituts zu tun, wurde beiseite geschoben. ” The point is that<br />

this project had been rejected by Sagoroff when it was put to him by Professor<br />

Gabriel of the University. Gabriel then went to Kamitz.“ 112<br />

111 Edgar Salin an Oskar Morgenstern, 16. Oktober 1964, Ford Foundation, reel 2845.<br />

112 Burkhardt an Stone, 7. July 1964, Ford Foundation, reel 2574.<br />

170 ÖZG 11.2000.1


Bei der Auswahl des Nachfolgers von Kozlik spielte – jedenfalls soweit die<br />

Akten der Ford Foundation darüber Auskunft geben – der Krawattenzwang<br />

keine, die Frage der politischen Haltung allerdings die bestimmende Rolle. Ein<br />

<strong>Wien</strong>er Rechtsanwalt, der als Vertrauter Olahs ins Kuratorium nominiert wurde,<br />

schlug vergeblich ” one Marz – an old-time radical socialist party man, not<br />

a scholar“ 113 vor, während Lazarsfeld einen seiner ehemaligen Studenten (oder<br />

Teilnehmer einer der Ferienkolonien der sozialistischen Studenten ) ausfindig<br />

machte: Fritz Kolb konnte das Kriterium ” a scholar“ zu sein nicht erfüllen, aber<br />

er scheint nirgendwo auf starken Widerstand gestoßen zu sein. 114<br />

Trotz des organisatorischen Chaos funktioniert im ersten Jahr zumindest<br />

die Einladung von Gastprofessoren. Von den vielen Ex-Österreichern, die in<br />

den Jahren vor der Eröffnung des IHS ihr Interesse bekundet hatten oder vorgeschlagen<br />

worden waren, blieben nicht viele übrig. Die Liste der Gastprofessoren<br />

war dennoch außerordentlich beeindruckend: James Coleman, Wassily<br />

Leontieff, Karl Menger, Adolf Sturmthal und Gerhard Tintner waren im ersten<br />

Jahr am IHS tätig. Zufrieden waren die ausländischen Gastprofessoren selten,<br />

aber nur Coleman ergriff die Initiative und schrieb einen dreiseitigen Brief über<br />

seine Erfahrungen an ” To whom it may concern“, da er nicht wisse, wer in der<br />

Ford Foundation oder sonst wo eigentlich <strong>für</strong> das <strong>Wien</strong>er Institut zuständig<br />

sei. Zwar habe er zugesagt, auch im folgenden Jahr nach <strong>Wien</strong> zu kommen,<br />

wenn sich allerdings die Bedingungen dort nicht grundlegend änderten, wäre<br />

das reine Zeitverschwendung. Coleman listet die Mängel dann im einzelnen<br />

auf. Der Proporz sei vielleicht im Kuratorium und bei den beiden Direktoren<br />

noch hinzunehmen, daß allerdings auch die Assistenten nach Parteizugehörigkeit<br />

ausgewählt würden, habe ernste Konsequenzen <strong>für</strong> das Funktionieren des<br />

Instituts. Weil die Assistenten obendrein derart gut bezahlt würden, daß sie<br />

mehr verdienten als <strong>Universität</strong>sprofessoren, könnten die Direktoren, die jeder<br />

die Hälfte der Assistenten auswählen dürften, keine zu jungen Leute nominieren.<br />

Deshalb säßen Vierzigjährige – Alterskollegen Colemans 115 – am Institut<br />

herum und gingen gleichzeitig anderen Berufen nach, die mit Sozialforschung<br />

nichts zu tun hätten. Die einzige Aufgabe der Assistenten bestünde darin, bei<br />

den Vorlesungen der Gastprofessoren anwesend zu sein, worüber Anwesenheitslisten<br />

geführt würden. Bei der Einstellung sei jedem Assistenten von Sagoroff,<br />

113 Eduard März (1908–1987), Studium der Nationalökonomie in <strong>Wien</strong> und nach der Emigration<br />

in Harvard, unter anderem bei Schumpeter, 1953 Rückkehr nach <strong>Wien</strong>, wo er 1956<br />

die Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung der <strong>Wien</strong>er Arbeiterkammer aufbaute. Habilitationsversuche<br />

an der <strong>Wien</strong>er <strong>Universität</strong> scheiterten an seinen marxistischen Auffassungen.<br />

114 Fritz Kolb geht in seinen Erinnerungen nicht auf seine Tätigkeit am IHS ein: Es kam<br />

ganz anders. Betrachtungen eines alt gewordenen Sozialisten, <strong>Wien</strong> 1981.<br />

115 James S. Coleman (1926–1995) studierte an der Columbia <strong>Universität</strong> und arbeitete<br />

am dortigen ’ Bureau of Applied Social Research‘, ab 1959 war er an der Johns Hopkins<br />

<strong>Universität</strong> und ab 1973 an der <strong>Universität</strong> Chicago tätig.<br />

ÖZG 11.2000.1 171


der ” absolutely incompetent to administer such an institute“ sei, abverlangt<br />

worden, ein Buch zu schreiben. Deren Themen stünden manchmal mit vergangenen<br />

Tätigkeiten oder Interessen der Assistenten in Verbindung, in keinem<br />

Fall jedoch mit dem, was die Gastprofessoren vortragen würden.<br />

As a consequence, the guest lecturers found themselves lecturing to people who had<br />

no intellectual reason to be there, and quickly found themselves wondering what in<br />

the world they were doing there. (...) In short one could say that the Institute operates<br />

in a vacuum, and is held together only by the fact that for the assistants it provides<br />

more income than they will ever make again, and for the guest professors a pleasant<br />

stay in Vienna.<br />

Coleman, der an der Columbia University bei Merton und Lazarsfeld studiert<br />

hatte, sparte nicht mit Kritik an den ursprünglichen Plänen, durch die Institutsgründung<br />

die vergangene kulturelle Blüte <strong>Wien</strong>s wiederherzustellen. Mit einer<br />

” outspokenness“, die der Kozliks nicht nachstand, zertrümmerte er die Grün-<br />

dungsidee seines Lehrers Lazarsfelds: ” An ’ Institute for Advanced Study ’ covering<br />

only Austria is wholly inappropriate; that is like an Institute for Advanced<br />

Study for the state of Tennessee.“ 116 Seine Kritik brachte Coleman<br />

einen neuen Job ein. 117 Wenige Tage nach Einlangen des Briefes lud Stone<br />

Lazarsfeld, Morgenstern, Burkhardt und Coleman zu sich nach Hause ein und<br />

nach Diskussion des Briefes schlug Stone vor, daß Coleman als Konsulent der<br />

Ford Foundation nach <strong>Wien</strong> fahren solle, um Sagoroff zu helfen, ” firm curriculum<br />

and administrative plans for the future“ auszuarbeiten. Im Oktober<br />

1964 verbrachte Coleman eine Woche in <strong>Wien</strong>, worüber er akribisch berichtet.<br />

Am ersten Tag stand eine Besichtigung des Gebäudes auf dem Programm.<br />

Die 29 Studenten hätten, obwohl genug Platz vorhanden sei, weder eigene Arbeitsräume<br />

noch Schreibtische. Die ungefähr 29 Assistenten, die Zahl lasse sich<br />

wegen Halb- und Viertelbeschäftigten nicht genau angeben, hätten Arbeitszimmer,<br />

benützten sie aber nicht. Während seines gesamten Aufenthalts sei das<br />

Gebäude leer gewesen. Ein Treffen Colemans mit den Assistenten konnte erst<br />

nach fünf Uhr nachmittags anberaumt werden, weil einige Assistenten anderen<br />

Vollzeitbeschäftigungen nachgingen. Einer sei in Afrika, zwei andere schon in<br />

Deutschland Professoren – alle aber bezögen weiter ihr <strong>für</strong>stliches Gehalt. Direktor<br />

Sagoroff sei ein netter Mensch, der zu allem, was Coleman vorschlage,<br />

ja sage, aber funktionieren würde immer noch nichts. Die Bibliothek habe fast<br />

keine Bücher, und das Gebäude werde um acht Uhr abends zugesperrt. Am Wo-<br />

116 Coleman an Ford Foundation, 10. September 1964, Ford Foundation, reel 2845.<br />

117 Coleman leitete zu dieser Zeit die Erhebung, die als ’ Coleman Report‘ in die Geschichte<br />

der Soziologie und der amerikanischen Debatte über organisatorische Maßnahmen zur Reduktion<br />

der Ungleichheit zwischen Schwarzen und Weißen im Bildungswesen einging, vgl.<br />

Morton Hunt, Profiles of Social Sesearch. The Scientific Study of Human Interactions, New<br />

York 1985.<br />

172 ÖZG 11.2000.1


chenende hätte sich nicht einmal der Direktor mit ihm dort treffen können. Die<br />

Generalsekretärin sitze ohne Arbeit herum, weil ihr Sagoroff offenkundig mißtraue.<br />

In ihrem Umgang mit den zahlreichen Sekretärinnen und Mitarbeitern<br />

demonstriere sie wiederum alle Stereotype einer ” upper class Austrian.“ Der<br />

beigeordnete Direktor Kozlik sei zwar zurückgetreten, als Gastprofessor aber<br />

immer noch am Institut – seine Forschungen über soziale Schichtung und höhere<br />

Bildung in Österreich fand Coleman übrigens interessant. Über die Assistenten<br />

weiß Coleman nahezu nur Negatives zu berichten. Die Mehrheit sei, falls überhaupt<br />

fachlich qualifiziert, von minderer Qualität, die meisten allerdings garantiert<br />

falsch am Platz. Einige bezögen Gehälter vom IHS, obwohl sie eigentlich<br />

an der <strong>Universität</strong> beschäftigt seien, andere, die ein persönliches Interesse am<br />

neuen Institut hätten, fänden keinerlei Unterstützung in ihrem Bemühen, sich<br />

zu qualifizieren. Nach einem längeren Gespräch mit einer von den Sozialisten<br />

protegierten Assistentin <strong>für</strong> Soziologie ist Coleman von ihrem Bemühen und Interesse<br />

ernsthaft überzeugt, aber ” she is a sociologist insofar as she is anything<br />

academic, and she is a well-informed intelligent woman, but she is a sociologist<br />

in the sense that all socialist intellectuals are sociologists, not in a sense that<br />

would equip her to train a new generation of sociologists.“ Forschung fände<br />

am Institut faktisch keine statt. Einige Assistenten schrieben Habilitationen,<br />

andere würden an Projekten ihrer <strong>Universität</strong>sinstitute arbeiten, wodurch wenigstens<br />

irgendein Nutzen des Instituts entstünde. Sagoroffs und Rosenmayrs<br />

<strong>Universität</strong>sinstitute seien die eigentlichen Nutznießer des Ford-Instituts, und<br />

vielleicht wäre es nicht schlecht, Rosenmayr formell in das Institut zu integrieren,<br />

wäre er doch dann genötigt, auch die Interessen des IHS zu vertreten. Auf<br />

diesem Weg könnte man den ” einzigen modernen Soziologen Österreichs“ gewinnen.<br />

Am vielversprechendsten erscheinen Coleman einige der jungen Scholaren,<br />

die allerdings ihre Ausbildung selbst in die Hand nähmen oder sie offenbar<br />

anderswo erworben hätten. 118<br />

Zurück in den USA, schreibt Coleman umgehend an Stone und schickt<br />

ihm nicht nur die Chronik, sondern auch zehn Empfehlungen <strong>für</strong> ihm notwendig<br />

erscheinende Änderungen. Das Kuratorium des IHS müsse einer klaren<br />

Kompetenztrennung zwischen den beiden Direktoren zustimmen. Die finanziellen<br />

Zuwendungen sollten so lange ausgesetzt werden, bis das Institut eine<br />

funktionierende Einrichtung geworden sei. Die Zahl der ausländischen Scholaren<br />

und Assistenten müsse erhöht und ihr Anteil fixiert werden, Gehälter an<br />

nicht am Institut Tätige dürften nicht mehr bezahlt werden. Für Soziologie,<br />

Ökonomie und Politologie sollte je ein ” department chairman“ ernannt werden.<br />

Mit Hilfe des wissenschaftlichen Beirates müsse rasch ein funktionierendes<br />

System von einführenden Lehrveranstaltungen, die von Assistenten abgehalten<br />

118 Coleman, Notes on Institute for Advanced Study from trip of October 22–26, 1964, Ford<br />

Foundation, reel 2845.<br />

ÖZG 11.2000.1 173


werden sollten, von gemeinsamen Seminaren und darauf besser abgestimmten<br />

Lehrangeboten der Gastprofessoren entwickelt werden. 119<br />

Noch während Colemans <strong>Wien</strong>er Aufenthalt verließ Kozlik endgültig das<br />

Institut und starb am 2. November 1964 auf der Reise nach Mexiko in Paris<br />

an Herzversagen. Im Mai 1965 entließ das Kuratorium Sagoroff mit goldenem<br />

Handschlag: Er erhielt bis Jahresende sein Gehalt weiterbezahlt. Interimistisch<br />

übernahm zuerst der ab Jänner 1965 im Amt befindliche beigeordnete Direktor<br />

Fritz Kolb die Leitung, der Ende 1966 das IHS verließ. Mehrere Nachfolger<br />

wechselten einander rasch ab. Von September 1965 an leitete Morgenstern ein<br />

Jahr lang das Institut. Walter Toman übernahm interimistisch die Leitung, zog<br />

es dann jedoch vor, eine Professur in Erlangen anzutreten. Schließlich wurde<br />

Ernst Florian Winter, der dem Institut von Beginn an als Assistent angehört<br />

hatte, zum Direktor ernannt; 1968 wurde auch er mit goldenem Handschlag<br />

verabschiedet. Erst mit der anschließenden Ernennung des Statistikers Gerhart<br />

Bruckmann 120 gelang es, den ursprünglichen Ideen der amerikanischen<br />

Gründer, Finanziers und Ratgeber wenigstens nahegekommen. 121<br />

Die Ford Foundation sandte, beginnend 1963, über sechs Jahre hinweg<br />

jährlich eine Viertel Million Dollar nach <strong>Wien</strong>. Von der <strong>österreichische</strong>n Bundesregierung<br />

hieß es, daß sie dem Institut jährlich drei Millionen Schilling zur<br />

Verfügung stellte, was etwa der Hälfte des Jahreszuschusses der Ford Foundation<br />

entsprach. Die Stadt <strong>Wien</strong> beteiligte sich durch die Überlassung des<br />

119 Coleman Recommendations und Brief an Stone, 2. November 1964, Ford Foundation,<br />

reel 2845.<br />

120 Geb. 1932, studierte Bauingenieurwesen an der Technischen <strong>Universität</strong> Graz 1949–1951,<br />

Volkswirtschaft am Antioch College, USA 1951–1952, der Versicherungsmathematik an der<br />

Technischen <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> (Staatsprüfung) 1952–1953, Mathematik, Physik, Statistik an<br />

der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> 1953–1955, Versicherungswissenschaften und Statistik an der <strong>Universität</strong><br />

Rom (Dr. phil.) 1955–1956; Habilitation aus Statistik an der <strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong> 1966,<br />

Referent <strong>für</strong> Statistik an der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft 1957–1967, ordentlicher<br />

Professor an der <strong>Universität</strong> Linz 1967–1968, ordentlicher Professor an der <strong>Universität</strong><br />

<strong>Wien</strong> 1968–1992, Direktor des Instituts <strong>für</strong> Höhere Studien <strong>Wien</strong> 1968–1973. Später Abgeordneter<br />

der ÖVP; http://www.parlinkom.gv.at/, 14. Februar 2000.<br />

121 Daß auch diese Ernennung nicht ohne Kalamitäten abging, versteht sich angesichts des<br />

bisher Gesagten fast von selbst. Allerdings hatte zu diesem Zeitpunkt die SPÖ wegen des<br />

Ausscheidens aus der Bundesregierung eine deutlich schwächere Position, aber immer noch<br />

ein Wort mitzureden. Das änderte sich nach 1970, aber die ÖVP wurde danach ebenso wenig<br />

übergangen wie die SPÖ während der Alleinregierung der ÖVP. Man wird es kaum glauben,<br />

aber auch die Katholische Kirche spielte eine Rolle als Interventionspartei: Im September<br />

1968 erhielt Morgenstern in Princeton einen ’ collect call‘ eines ehemaligen Scholars des IHS,<br />

der in der Zwischenzeit zwar als Dozent an der Theologischen Fakultät wegen seiner offenen<br />

Kritik an einer Enzyklika des Papstes in Schwierigkeiten geraten war, aber immer noch<br />

vom <strong>Wien</strong>er Erzbischof unterstützt wurde. Er erkundigte sich bei Morgenstern auf dessen<br />

Rechnung danach, ob er Direktor des IHS werden könnte, was Morgernstern und andere<br />

später nur wegen seiner kontroversiellen Rolle in der Öffentlichkeit <strong>für</strong> unangebracht hielten.<br />

Ford Foundation, reel 2845.<br />

174 ÖZG 11.2000.1


Gebäudes in der Stumpergasse. Die jährliche Zuwendung der Ford Foundation<br />

entsprach dem Gegenwert von sechzig Jahresstipendien der Rockefeller<br />

Foundation dieser Zeit! Das Geld wurde in <strong>Wien</strong> mit vollen Händen ausgegeben,<br />

anfangs <strong>für</strong> exorbitante Gehälter, später <strong>für</strong> den Aufbau einer Bibliothek,<br />

schließlich durch den Ankauf eines leistungsfähigen IBM Computers. Aber es<br />

blieb immer noch Geld übrig, also legte man es in gut <strong>österreichische</strong>r Manier<br />

auf ein Sparbuch, auf dem sich in flagrantem Widerspruch zu den Vorschriften<br />

und Ideen der Geldgeber bis 1968 der Gegenwert von eineinhalb Jahreszuwendungen<br />

der Ford Foundation angesammelt hatte, ohne daß diese davon<br />

informiert worden wäre. Als Mitarbeiter in New York diesen Skandal entdeckten<br />

und die umgehende Rückzahlung verlangten, verstanden die Österreicher<br />

dieses Ansinnen nicht. Man einigte sich dann darauf, daß das IHS in der Folge<br />

insgesamt 100.000 Dollar weniger als die geplanten 1,5 Millionen Dollar erhielt.<br />

Überhaupt scheint den Österreichern ihr Verhalten selten unangemessen erschienen<br />

zu sein. Meist traten sie den amerikanischen Geldgebern gegenüber<br />

recht selbstbewußt und fordernd auf. Selbstlob ersetzte dabei die Lieferung<br />

überprüfbarer Daten. Im 1966 gestellten Verlängerungsantrag hieß es:<br />

In evaluating the achievements of the Institute it should be further born in mind that<br />

the effects of teaching and research are always diffuse – spread over time and persons.<br />

There is no clear ’ pay off‘ for any institution of higher learning, especially in the short<br />

run. If one had asked for example after 4 years what the achievements were of the<br />

Institute for Advanced Study in Princeton, it would have been exceedingly difficult<br />

to give a decisive answer other than to state that a number of excellent scholars<br />

had been assembled. At the Vienna Institute this too has been done under far more<br />

difficult conditions and with many more constraints, and the consequences will not<br />

fail to make themselves felt. 122<br />

Weniger als ein halbes Jahr nach der Nationalratswahl, die zur Alleinregierung<br />

der ÖVP führen sollte, beantragten im Proporz einträchtig verbunden die beiden<br />

Vorsitzenden des Kuratoriums, Wolfgang Schmitz und Bruno Kreisky, bei<br />

der Ford Foundation eine Verlängerung der Förderung. Dem Antrag, dem zu<br />

entnehmen war, daß seit der Eröffnung vor drei Jahren 73 Gastprofessoren,<br />

33 Assistenten und 50 Scholaren tätig waren und daß Ende 1966 die ersten<br />

40 Absolventen zu verzeichnen sein würden (was eine Lehrer-Schüler-Relation<br />

paradiesischer Dimension bedeutet), lagen Empfehlungsschreiben von Bundeskanzlers<br />

Josef Klaus, eines Vertreters der Handelskammer, des Leiters des Wirtschaftsforschungsinstituts<br />

und eines des <strong>Wien</strong>er Erzbischofs Franz König bei,<br />

der erklärte, daß ihn Dozent Adolf Holl über die Arbeit des IHS informiert<br />

habe und er diese Arbeit begrüße und unterstütze.<br />

122 Wolfgang Schmitz und Bruno Kreisky an Ford Foundation, 27. Juli 1966, Ford Foundation,<br />

reel 2845.<br />

ÖZG 11.2000.1 175


IV.<br />

Die Schilderung der Vorgeschichte und der ersten Jahre des IHS hätte ohne<br />

Schwierigkeiten noch mit weiteren Details ausgeschmückt werden können.<br />

Ebensogut hätte ich mich aber auch mit der Wiedergabe der drei Seiten langen<br />

” Final Evaluation“ Peter de Janosis begnügen können, aus der das diesem Text<br />

vorangestellte Motto stammt. Aber vermutlich hätte den harschen Urteilen des<br />

Mannes aus dem Ausland kein <strong>österreichische</strong>r Leser und keine heimische Leserin<br />

Glauben schenken wollen. 123<br />

Ich will mich abschließend in gebotener Kürze der Frage zuwenden, wie<br />

diese <strong>Wien</strong>er Episode erklärt werden könnte. Offenkundig wurden in der Ford<br />

Foundation schwere Fehler gemacht, aber diese Seite will ich hier undiskutiert<br />

lassen und mich ganz auf die <strong>österreichische</strong>n Anteile an diesem Desaster konzentrieren.<br />

Mit anderen Worten geht es darum, die Debatte über die kreativen<br />

Anfangsjahre des eben zu Ende gegangenene Jahrhunderts auf eine über den<br />

anschließenden Niedergang auszuweiten.<br />

Will man das geistige Leben Österreichs in der zweiten Hälfte des zwanzigsten<br />

Jahrhunderts erklären, muß man zuerst und vor allem die völlige Unterordnung<br />

aller Teile des öffentlichen Lebens unter die Oberaufsicht der beiden<br />

Parteien nennen. Die Etiketten, mit denen dieses Phänomen im Allgemeinen<br />

bezeichnet wird: Proporz und Korporatismus, helfen wenig, wenn man herausarbeiten<br />

will, welche Auswirkungen es auf das intellektuelle Leben hatte.<br />

Die zwei wichtigsten und <strong>für</strong> die Wissenschaften folgenreichen Ausprägungen<br />

des Proporzsystems sind das wechselseitige Kontrollbedürfnis der Nachfolgeparteien<br />

des Bürgerkriegs der dreißiger Jahre und die Zentralisierung dieser<br />

Kontrolle in den Händen der Mitglieder der Spitze der politischen Elite. Beides<br />

führt unmittelbar zur Erstarrung des sozialen Lebens, da jede Art von Initiative<br />

als Bedrohung des fragilen Gleichgewichts des Mißtrauens betrachtet<br />

wurde. Die Zentralisierung aller Entscheidungen bei einer Handvoll von Akteuren<br />

beider Seiten hat Langsamkeit und Degradierung der minderen Mitglieder<br />

der politischen Elite zur Folge. Verlangsamt werden alle Vorgänge, weil die fehlende<br />

Arbeitsteilung unter einer größeren Zahl von politischen Akteuren und<br />

die Weigerung der Überantwortung eines Teils des sozialen Lebens an andere<br />

als professionelle Politiker zur Überforderung der wenigen echten Machthaber<br />

führen muß. Das Gefühl der Machtlosigkeit muß sich dann wohl bei all jenen<br />

einstellen, die zwar nominell in irgendeinem Gremium sitzen, aber wissen, daß<br />

sie ohne Rücksprache mit den Mächtigsten der politischen Oligarchie nichts<br />

123 In analoger Weise hatte de Janosi schon 1973 versucht, seinen amerikanischen Lesern das<br />

<strong>Wien</strong>er Desaster verständlich zu machen. Er griff dazu auf einen Vergleich von Martin Shubik<br />

zurück, der über das <strong>Wien</strong>er Institut gesagt hatte: ” this place is to the Ford Foundation as<br />

Viet Nam is to the U.S.“ Final Evaluation, September 10, 1973, Ford Foundation, reel 2845.<br />

176 ÖZG 11.2000.1


entscheiden dürfen. Aber erst die Kombination der beiden Mechanismen hat<br />

fatale Folgen. Der bloße Umstand, daß in allen Organisationen auf allen Ebenen<br />

Personen tätig sind, die entweder der Partei A oder B angehören, ist auch<br />

im internationalen Vergleich noch nicht ungewöhnlich. Wenn allerdings diese<br />

vielen nur jene Entscheidungen treffen dürfen, zu denen sie von allerhöchster<br />

Ebene ermächtig worden sind, dann tritt eine Blockade gegen Veränderung auf.<br />

An die Seite der strukturellen Versteinerung tritt der Mangel an Personen,<br />

die gewillt oder in der Lage gewesen wären, etwas Neues zu wagen. Die archivierten<br />

Akten der Rockefeller Foundation enthalten eine große Zahl von Fällen,<br />

wo die Stiftung bereit gewesen wäre, Österreichs Sozialwissenschaftlern nach<br />

1945 Geld zu geben und, verkürzt gesprochen, die Österreicher unfähig waren,<br />

dieses in Empfang zu nehmen und damit etwas anzufangen. Die vergebliche<br />

Suche nach einem fähigen Direktor <strong>für</strong> das IHS verweist damit auf den breiteren<br />

Kontext des Zustands der Sozialwissenschaften im Nachkriegsösterreich<br />

im Allgemeinen. Um den Personalmangel 124 zu erklären, verweisen die meisten<br />

Autoren auf die Vertreibung und Ermordung der Juden, die eine Lücke<br />

gerissen hätten. Dieses Bild scheint mir irreführend zu sein. Weder im Bewußtein<br />

der Nachgeborenen der ersten Generationen noch im faktischen Sinne<br />

existierte diese Lücke. Die Mehrheit der Flüchtlinge, die später im Ausland<br />

sozialwissenschaftlich arbeiten sollten, ging aus Österreich weg, ohne eine Stelle<br />

freizumachen, die jemand anderer einnehmen hätte können. Ihre Emigration<br />

eröffnete daher <strong>für</strong> andere kaum Möglichkeiten, in eine Lücke einzuströmen und<br />

dort eine nicht-jüdische Intellektuellensubkultur auszuformen. Bei jenen, die in<br />

der hier betrachteten Periode der Zweiten Republik sozialwissenschaftlich eine<br />

Rolle spielten, gab es weder ein Bewußtsein einer ausfüllbaren Lücke noch eines<br />

einer nicht mehr wieder gut zu machenden Vertreibung.<br />

In Österreich traten Personen mit einem Interesse an Fragen des Sozialen –<br />

sieht man von Teilen des Klerus ab – erst im Zuge der Expansion des tertiären<br />

Bildungswesens und des parallelen Kulturimports von Rock’n’Roll und Gesellschaftstheorie<br />

auf. Nur vier Jahre nach dem krawattenlosen Rebellen Kozlik<br />

rumorte es auch unter den Scholaren des IHS – aber sie beriefen sich nicht auf<br />

ihren autochtonen Vorgänger, sondern auf die Importwaren Kritische Theorie,<br />

Konflikttheorie und reflexive Soziologie. Erst die Ausweitung des teritären<br />

Bildungswesens, die nicht in Österreich erfunden wurde, sondern ein weiteres<br />

Importgut – diesfalls aus den UNESCO und OECD Warenhäusern – darstellt,<br />

schuf sozialwissenschaftliche Studiengänge und erhöhte die Zahl der <strong>Universität</strong>sabsolventen.<br />

So lange dieser Prozeß nicht in Gang gekommen war, also<br />

124 Es gibt viele Indikatoren, die das zu illustrieren vermögen; erinnert sei hier nur an die<br />

Schwierigkeit Lazarsfelds, <strong>österreichische</strong> Studenten <strong>für</strong> ein Stipendium in den USA zu finden.<br />

Ich habe das am Beispiel der Rockefeller Fellows illustriert, vgl. Christian Fleck, Deutschsprachige<br />

sozialwissenschaftliche Rockefeller Fellows 1924–1964, in: Newsletter des Archivs<br />

<strong>für</strong> die Geschichte der Soziologie in Österreich, H. 17, Juni 1998, 3–10.<br />

ÖZG 11.2000.1 177


vor den sechziger Jahren, 125 hatte die Schicht der Intellektuellen über mehrere<br />

Jahrzehnte hinweg einen Kontraktionsprozeß durchlaufen, der die Zahl derer,<br />

die als Kommunikationspartner in Frage gekommen wäre, auf eine derart geringe<br />

Zahl reduzierte, daß die ’ kritische Menge ’ <strong>für</strong> Initiativen, Organisationen<br />

oder Forschungszusammenhänge jedenfalls nie erreicht wurde. Eine detaillierte<br />

Analyse würden zeigen können, daß was hier pauschal behauptet wurde,<br />

vor allem <strong>für</strong> Soziologie und Politologie gilt, während in anderen Disziplinen<br />

diskursive Rudimente den epochalen Zivilisationsbruchs überlebten; die Nachkriegspsychologen<br />

und -ökonomen wußten immerhin noch, daß es in ihren Disziplinen<br />

früher bemerkenswerte einheimische Leistungen gegeben hatte, <strong>für</strong> die<br />

zuerst genannten Fächer wird man ein derartiges Bewusstsein in den fünfziger<br />

und frühen sechziger Jahre mit gutem Recht in Abrede stellen können.<br />

Auch die sozialmoralische Haltung der Wissenschaftler erodierte im Durchgang<br />

durch mehrere gesellschaftliche und politische Systembrüche und -wechsel.<br />

Der wichtigste Grund scheint in einem Patronagesystem zu suchen zu sein,<br />

das vollständig partikularistisch funktionierte: Im sozialen Normfall die Mitgliedschaft<br />

in einer Partei und im Feld der akademischen Betätigung die Nähe<br />

zu einem Mitglied des universitären Machtkartells, dem man sich als Gefolgsmann<br />

andient und dessen monopolistische Stellung man erben konnte, ohne<br />

zur Erbringung irgendwelcher Leistungen genötigt zu sein, die einem an einem<br />

anderen Ort einen Aufstieg eingebracht hätte. Das Fehlen fachlicher oder sozialer<br />

Kontrolle durch Peers und das dumpfe Wissen darum, daß vor nicht allzu<br />

langer Zeit auch universitäre Positionen arisiert wurden, ließ die intellektuelle<br />

Unabhängigkeit im Kern verrotten. Belohnt wurde in dem System, <strong>für</strong> das<br />

der Name des über viele Jahre hinweg <strong>für</strong> die <strong>Universität</strong>en zuständigen Ministerialbeamten<br />

und späteren Ministers Heinrich Drimmel als Synonym steht,<br />

das Bekenntnis zu diffusen <strong>österreichische</strong>n Werten und nicht die Erbringung<br />

universalistisch prüfbarer wissenschaftlicher Leistungen.<br />

Bleibt darauf hinzuweisen, daß Paul F. Lazarsfeld mehrfach dazu aufgefordert<br />

hatte, die Vorgeschichte des IHS zu analysieren, weil man daraus vielleicht<br />

etwas lernen könnte: Die einzigen, die diesem Appell folgten, waren Mitarbeiter<br />

der Ford Foundation, die herausfinden wollten, warum es zum <strong>Wien</strong>er Desaster<br />

gekommen war. Die <strong>Wien</strong>er reagierten wie auch bei anderen Aufrufen,<br />

sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen, mit der charakteristischen Mischung<br />

aus Abwehr und Vereinnahmung: zum Dreißig-Jahr-Jubiläum erschien<br />

eine Festschrift. 126<br />

125 Als einfachen Indikator kann man die Zahl der <strong>Universität</strong>sstudenten nehmen. Diese Zahl<br />

war 1956 gleich wie 1922 und steig erst in den sechziger Jahren an. Für die Identifizierung<br />

der Schicht sozialwissenschaftliche Intellektueller sind diese Indikatoren zu grob; die ersten<br />

Abvsolventen sozialwissenschaftlicher Ausbildungsgänge gab es erst Ende der sechziger Jahre.<br />

126 Bernhard Felderer, Hg., Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zwischen Theorie und<br />

Praxis. 30 Jahre Institut <strong>für</strong> Höhere Studien in <strong>Wien</strong>, Heidelberg 1993.<br />

178 ÖZG 11.2000.1


Abstracts<br />

Albert Müller: A short history of the BCL. Heinz von Foerster and the Biological<br />

Computer Laboratory, pp. 9–30.<br />

The articles presents a short outline of the history of the Biological Computer<br />

Laboratory created in 1958 as a special research unit within the Department<br />

for Electrical Engineering of the University of Illinois, Urbana. The founder of<br />

the laboratory, the Austrian-born Heinz von Foerster, part of the cyberneticsmovement<br />

of the 1940ies and 1950ies, tried to develop and to “apply” findings<br />

of the so-called Macy-group to biology with a special emphasis to problems<br />

of perception. The consequent transdisciplinary approach of the BCL led to<br />

certain conflicts with the main stream in the fields involved. Other conflicts<br />

emerged on grounds of teaching experiments undertaken since the late 1960ies.<br />

In the seventies the laboratory failed in substituting diminishing research funds<br />

from military research ressources. In the consequence, the BCL was closed.<br />

Ideas produced there had a major impact on other cognitive domains especially<br />

on the social sciences in Europe.<br />

J. Rogers Hollingsworth and Ellen Jane Hollingsworth: Radical Innovation and the<br />

Organization of Research. An Approximation, pp. 31–66.<br />

On the basis of broad empirical investigations the authors present a study of<br />

28 institutions to which major discoveries in the bio-medical sciences can be<br />

ascribed in contrast with hundred institutions doing ‘normal science’. Some<br />

factors turned out to be of major significance for the probability to come to a<br />

‘major break-through’. They include hybridity of the cognitive domains, ‘integrated’<br />

or ‘organic’ structures within an institution, a high degree of horizontal<br />

communication structures among its members and well defined goals.<br />

Jerald Hage: The Innovation of Organizations and the Organization of Innovations,<br />

pp. 67–86.<br />

The author describes the prerequesites of innovation in companies and other<br />

organizations from a comparative and trans-cultural perspective. The notion of<br />

complex division of labour turns out to be the difficult balance between differentiation<br />

and de-differentiation of the activities of the single actors involved in<br />

organizations. ‘Risk-taking strategies’ and integrated cultures of organization<br />

represent two groups of factors influencing innovation. Then, this categories<br />

ÖZG 11.2000.1 179


gained in the context of management research is applied to research institutions.<br />

Karl H. Müller: How new things emerge, pp. 87–128.<br />

The question of the emergence of the ‘new’ is not raised very often as an explicit<br />

problem. The article has two primary aims. Firstly, the notion of the new will<br />

be defined in terms of normal science and various aspects of ‘novelty’ will be<br />

introduced. In a second step four contexts of analyses are proposed. For each of<br />

these contexts sketches of explanations and models are described. This should<br />

allow a common view on the fields of knowledge, sciences, technology, and all<br />

other domains which produce new ensembles permanently<br />

Christian Fleck: How new things do not emerge. The founding of the Institute of<br />

Advanced Study in Vienna by ex-Austrians and the Ford-foundation, pp. 129–178.<br />

On the basis of recently discovered sources the author is able to rewrite the<br />

prehistory and early history of the Viennese Institut fuer Hoehere Studien as a<br />

complex story of communications decision-making and revising decisions within<br />

a small group of Austrian emigrees (among them: Friedrich von Hayek, Paul<br />

Lazarsfeld, and Oskar Morgenstern), American foundations, Austrian government<br />

officials and a group of Austrian social scientists profiting from the development.<br />

The Austrians sides in many ways apparently unable to transscend<br />

their own interest of the day produced a series of obstacles and barriers to<br />

establish this new institute. Thus, the massive impact of American money apparently<br />

produced a variety of unintended effects and consequences.<br />

180 ÖZG 11.2000.1


Ruth Beckermann<br />

Toleranz und Zeitgeschichte<br />

Am 20. Oktober 1999, noch unter dem<br />

Eindruck des Plakatgelbs in den <strong>Wien</strong>er<br />

Straßen, noch unter dem Eindruck<br />

der patriotischen Solidarisierungen und<br />

Imagetouren, der Ausflüchte und Abwiegelungen,<br />

schrieb ich auf:<br />

” Was jetzt noch fehlt, ist ein Haus der<br />

Toleranz. Bauen wir ihr ein Haus, wo wir<br />

sie besuchen können, die alte Oma. Groß<br />

soll es sein und hell; wir wollen ja lange<br />

dort verweilen, ausruhen von der bösen<br />

Gegenwart. Vor Kaffee und nach Kuchen<br />

wollen wir uns erschüttern lassen von Bildern<br />

abgemagerter KZler, Gaskammern<br />

und allem, was sonst noch bewegen und<br />

betroffen machen könnte, um dann, innerlich<br />

geläutert, auf die Straßen <strong>Wien</strong>s<br />

hinauszutreten. Aufatmen.“<br />

Jetzt lieben wir sie wieder, die vorher<br />

doch unheimlich gewordene Stadt. Jetzt<br />

lieben wir sie wieder, unsere Stadt, wo<br />

keiner mordet, nicht einmal die Straßenkehrer<br />

verhöhnt und auf die Knie gezwungen<br />

werden. Jetzt stören uns die<br />

Plakate nicht mehr. Ist doch alles halb<br />

so schlimm.<br />

Ja, bauen wir uns ein Haus der Toleranz.<br />

Nach Waldheim gab’s ein Jüdisches<br />

Museum, klein und provinziell,<br />

∗ Rede anläßlich der Enquete ’ Jenseits der<br />

Häuser. Sinn und Unsinn einer Musealisierung<br />

der Zeitgeschichte in Österreich‘,<br />

21. Jänner 2000, Institut <strong>für</strong> Zeitgeschichte,<br />

<strong>Wien</strong>.<br />

doch die Torten sind gut und den Touristen<br />

gefällt’s.<br />

Nun, bei Haider und den Seinen, muß<br />

schon was Größeres her – ein ganz großes<br />

Haus, das zufällig niemand als Büroraum<br />

begehrt. Die Lage, sie ist wichtig. Denn<br />

man muß sich zu diesem Asyl durchschlagen,<br />

an Plakatgelb vorbei, vielleicht bald<br />

wirklich schlagen. Aber so schlimm wie<br />

auf den Photos, die uns dort empfangen,<br />

wird’s nicht werden. Keine Panik.<br />

Das ist neu, das ist noch keinem eingefallen.<br />

Das ist wienerisch. Ein Holocaust-<br />

Museum zur Verharmlosung der gegenwärtigen<br />

Gemeinheit, Rohheit und<br />

Menschenverachtung. Endlich hat der<br />

Holocaust auch bei uns hier einen praktischen<br />

Nutzwert, der eine Ausstellung<br />

lohnt.<br />

Ein Haus der Toleranz. Une maison de<br />

la tolerance. Das ist ein Puff. Ein geduldetes<br />

Haus eben. Das haben inzwischen<br />

auch schon diejenigen bemerkt, die sich<br />

dieses Projekt ausdachten. Das ist peinlich<br />

und schade, würde der Name ” Haus<br />

der Toleranz“ doch gut zu den von allen<br />

vier Parteien eingebrachten Toleranzanträgen,<br />

ja aller vier, daran kann man<br />

schon die im Parlament waltende Toleranz<br />

erkennen, passen. Brauchen wir bei<br />

einem solchen Parlament überhaupt noch<br />

eine maison?<br />

Kann es sein, daß keiner weiß, daß die<br />

Begriffe Toleranz und Intoleranz Verhältnisse<br />

zwischen Ungleichrangigen bezeich-<br />

ÖZG 11.2000.1 181


nen Duldung eben. Oder soll es so sein<br />

Soll in diesem Haus die Duldung von Juden<br />

und Fremden gepredigt werden<br />

Ja, es soll so sein; inzwischen habe<br />

ich die rote ” Haus der Toleranz“-Studie 1<br />

und die schwarze ” Haus der Geschichte“-Studie<br />

2 gelesen. Toleranz, nicht Menschenrechte,<br />

Toleranz, nicht einmal Dialog,<br />

wird da gepredigt. Gepredigt wird<br />

auf jeden Fall. Aus einem Bewußtsein<br />

heraus, das nicht nur hinter die Deklaration<br />

der Menschenrechte zurückfällt, sondern<br />

hinter jenes der Kirche, der echten,<br />

katholischen, die immerhin bereits von<br />

Dialog spricht, um die Gleichrangigkeit<br />

der Glaubensgemeinschaften zu betonen.<br />

Auf Seite 25 der roten Studie wird<br />

vorgeschlagen, dieses ” Haus der Toleranz“<br />

könnte ” auch den Namen eines<br />

durch den Holocaust umgebrachten Menschen<br />

tragen“ – der Holocaust als Täter,<br />

einen muß es ja geben. ” Vorstellbar<br />

wäre“, heißt es weiter, ” etwa der Name<br />

eines Kindes, da durch einen Kindernamen<br />

das ’ Unschuldsmoment‘ der Opfer<br />

stärker in den Vordergrund gestellt<br />

würde.“ Ist der Revisionismus inzwischen<br />

soweit fortgeschritten, daß man meint,<br />

mit ermordeten Kindern, vielleicht auch<br />

noch blonden, überzeugen zu müssen, daß<br />

Auschwitz kein Straflager war Oder sassen<br />

die Verfasser nach ihren Studienreisen<br />

in die USA der Illusion auf, <strong>Wien</strong><br />

könne Hollywood werden Der Holocaust<br />

auch bei uns zu einem Produkt der Unterhaltungsindustrie,<br />

das Haider konkurrenziert.<br />

Wie in Amerika will man den Holocaust<br />

ausstellen. Will man und will man<br />

doch nicht. Auf einer der wenigen inhaltlichen<br />

Seiten der Studie heißt es: ” Zentraler<br />

inhaltlicher Punkt der Ausstellung<br />

ist der Holocaust mit seinen spezifischen<br />

zentraleuropäischen Aspekten“. Also<br />

ein Holocaust-Museum, gleich <strong>für</strong> ganz<br />

Zentraleuropa, schließlich war <strong>Wien</strong> ja<br />

einmal Residenzstadt. Nein, doch nicht,<br />

denn gleich darauf heißt es: ” Allerdings<br />

ist nicht erneut das Trauma zu illustrieren,<br />

sondern eher die Fassungslosigkeit<br />

seiner Entwicklung angesichts der aufzeigbaren<br />

Normalität jüdischen Lebens<br />

im Zentrum Europas.“ Der Holocaust als<br />

Trauma, als illustrierte Fiction. Doch ein<br />

Remake ist nicht geplant, soll das Trauma<br />

doch nicht erneut illustriert werden.<br />

Der Holocaust dient diesem Projekt<br />

durchgehend als Vorwand, ja er wird bereits<br />

im ersten Satz der Studie <strong>für</strong> die<br />

Existenzberechtigung eines ” Hauses der<br />

Toleranz“ instrumentalisiert. Der Holocaust,<br />

heißt es da, sei ” Ausgangspunkt <strong>für</strong><br />

die Bestimmung eines Hauses der Toleranz.“<br />

Also doch ein Holocaust-Museum<br />

Nein, denn wie sich gleich im nächsten<br />

Absatz zeigt, will man – vom Ausgangspunkt<br />

weg – die gesamte <strong>österreichische</strong><br />

Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts<br />

darstellen.<br />

Nicht allein aus Zeitgründen kann ich<br />

hier nur polemisch und kursorisch auf<br />

die vorliegenden Studien eingehen. Beide<br />

Machbarkeitsstudien lassen leider Vorarbeiten<br />

und Grundlagen vermissen, von<br />

denen die Diskussion erst ausgehen könnte.<br />

Damit meine ich einerseits die Reflexion<br />

des heutigen Standes der wissenschaftlichen<br />

Forschung und Diskussion zu<br />

Fragen des kollektiven Gedächtnisses, der<br />

Erinnerungskultur, der Museologie etc.<br />

Andererseits eine Reflexion der Veränderungen<br />

des <strong>österreichische</strong>n Geschichtsbildes<br />

in den letzten beiden Jahrzehnten,<br />

eine Standortbestimmung aus heutiger<br />

Sicht und erst davon abgeleitet, Vorstellungen<br />

über die Zielrichtung des jeweiligen<br />

Projekts. Die bisher geäußerte<br />

Kritik an den beiden Projekten konzentriert<br />

sich stark auf den ersten Punkt,<br />

auf die Frage nach Sinn und Unsinn einer<br />

Musealisierung von Zeitgeschichte.<br />

Ich kann die grundsätzliche Kritik vieler<br />

Kollegen an der Einrichtung von Museen<br />

nicht teilen. Es zeigt sich, daß gerade<br />

mit zunehmender Virtualisierung un-<br />

182 ÖZG 11.2000.1


serer Kommunikation, sowohl die Schaffung<br />

öffentlicher Foren der Begegnung<br />

im städtischen Raum an Bedeutung gewinnt,<br />

wie auch die persönliche Anwesenheit<br />

bei Veranstaltungen wie der heutigen,<br />

die wir rein technisch gesehen auch<br />

als Chat im Netz hätten abhalten können.<br />

Wann immer ein neues Medium entsteht,<br />

prophezeihen Studien die Verdrängung<br />

der älteren Medien, ob es sich<br />

nun um TV und Buch oder CD-Rom<br />

und Museum handelt. Und Gegenstudien,<br />

vor allem aber die Realität, beweisen,<br />

daß durch neue Entwicklungen keine Verdrängung,<br />

sondern eine Veränderung aller<br />

Kunstformen bewirkt wird. Das Kino<br />

hat das Theater nicht ersetzt, und der<br />

Fernseher nicht das Kino.<br />

Die Darstellung von Geschichte in<br />

einem Museum ist der Entwurf eines kollektiven<br />

Selbstbildes in einem bestimmten<br />

historischen Moment, nämlich dem<br />

der Eröffnung. Wobei es natürlich nicht<br />

um Objektivität gehen kann, wie sie die<br />

” Haus der Geschichte“-Studie einfordert.<br />

Man möchte dort zum Beispiel das in<br />

”<br />

den letzten zwei Jahrzehnten international<br />

in Diskussion geratene Bild Österreichs<br />

objektivieren.“ 3 )<br />

” Ein Selbstbild“, schreibt Jan Philipp<br />

Reemtsma im Katalog der Ausstellung<br />

200 Tage und ein Jahrhundert‘,<br />

’<br />

” ein Selbstbild stimmt in einem trivialen<br />

Sinn sowieso nie. Es handelt sich immer<br />

um den Ausdruck eines Bedürfnisses, wie<br />

man die Tatsachen gerne sehen möchte“. 2<br />

Andererseits sei es von nicht geringer Bedeutung,<br />

wie beschaffen das Bild ist, das<br />

einer – oder eine Generation, ein Land,<br />

eine Kultur, von sich entwirft.<br />

Damit komme ich zur zweiten, meines<br />

Erachtens nach wesentlichsten Voraussetzung<br />

jeglichen Geschichts- bzw. Erinnerungsprojekts:<br />

Der Reflexion des Wandels<br />

des <strong>österreichische</strong>n Selbstbildes und der<br />

Analyse der aktuellen Situation. Ob nun<br />

die <strong>österreichische</strong> Geschichte des zwan-<br />

zigsten Jahrhunderts ausgestellt werden<br />

soll oder die Geschichte des Holocaust,<br />

in beiden Fällen wird der Bewußtseinsstand<br />

Österreichs zu Beginn des einundzwanzigsten<br />

Jahrhunderts dokumentiert.<br />

Und genau da beginnen die Schwierigkeiten,<br />

denen die Autoren auszuweichen versuchen.<br />

Etwa vierzig Jahre lang war die<br />

Irrealisierung des Nazismus die <strong>österreichische</strong><br />

Form, mit der Vergangenheit umzugehen.<br />

Irrealisierung ist weder Vergessen<br />

noch Leugnen. Günther Anders nennt<br />

es ” eine Aktion, die in den üblichen Moralschemata<br />

nicht vorkommt.“ 3 Irrealisieren<br />

bedeutet, unmoralische Handlungsweisen<br />

mit einer Ausnahmesituation wie<br />

Krieg, Hunger, ich würde hinzufügen,<br />

auch Wahlkämpfe, zu rechtfertigen und<br />

so – wie bei Nichtbegangenem – der<br />

Notwendigkeit von Analysen und Konsequenzen<br />

zu entkommen.<br />

Auf der persönlichen, politischen und<br />

wirtschaftlichen Ebene wurde das Dritte<br />

Reich aus der Kontinuität der <strong>österreichische</strong>n<br />

Geschichte ausgeklammert. Auch<br />

Historiker, die in den 70er und achtziger<br />

Jahren heftig z. B. über die Einschätzung<br />

des Ständestaates stritten, waren sich<br />

im wesentlichen einig, wenn es um den<br />

sog. ” Kampf um Österreich“ ging, den<br />

die einen patriotisch verbrämten, die<br />

anderen antifaschistisch-patriotisch darstellten.<br />

Während in der Bundesrepublik<br />

Deutschland die Auseinandersetzung<br />

mit der Massenvernichtung der Juden im<br />

Zentrum der Beschäftigung mit der NS-<br />

Zeit stand, ging in Österreich mit der<br />

1.Republik auch die Geschichte unter, um<br />

mit Österreich II wieder aufzuerstehen.<br />

Proporz, Opferlüge und Antisemitismus<br />

hielten die Zweite Republik mehr als vierzig<br />

Jahre lang prächtig zusammen.<br />

Dann trat Kurt Waldheim auf und es<br />

wurde gelb auf den Straßen und ein Lichtstrahl<br />

fiel in die dunklen sieben Jahre.<br />

Man wird nie wirklich wissen, ob es aus<br />

Naivität oder Dummheit geschah, jeden-<br />

ÖZG 11.2000.1 183


falls hatte sich der Präsidentschaftskandidat<br />

Waldheim nicht an die gewohnte<br />

Praxis der offiziellen Opferlüge gehalten,<br />

von der die gesamte Bevölkerung wußte,<br />

daß sie ein Schmäh ist, den sie jedoch augenzwinkernd<br />

als – günstigen – Preis <strong>für</strong><br />

Wohlstand und Wohlgefühl akzeptierte.<br />

Jedenfalls war der Geist aus der Flasche.<br />

Übrigens war es nicht die FPÖ, die im<br />

Jahre 1986 Jetzt erst recht“ gelb plaka-<br />

”<br />

tierte und nicht die FPÖ, die gegen die<br />

” Ostküste“ herzog. Es waren diejenigen,<br />

die dieses Land mit Proporz, Opferlüge<br />

und Antisemitismus fest zusammenhielten.<br />

Trotzdem und gleichzeitig ging ein<br />

Aufatmen durchs Land, als sich das Bewußtsein<br />

der Kriegsgeneration‘ endlich<br />

’<br />

demaskierte. Es schien, als würde die Irrealisierung<br />

der NS-Zeit langsam der Bereitschaft<br />

weichen, sich der Tatsache zu<br />

stellen, daß die Österreicher als Kollektiv<br />

auf Seiten der Täter standen, und gleichberechtigt<br />

mit den Deutschen demütigten,<br />

raubten und mordeten; hier ums<br />

Eck und wo immer sie als pflichterfüllende<br />

Führer und Untertanen des Dritten<br />

Reichs hinkamen.<br />

Was geschah seither Einerseits gab es<br />

einen Boom an wissenschaftlicher, aber<br />

auch schulischer, medialer, öffentlicher<br />

Beschäftigung mit der NS-Zeit und mit<br />

den Spuren jüdischen Lebens in Österreich<br />

bzw. deren Auslöschung. Von den<br />

Eichmännern bis zum Kunstraub, auf<br />

vielen Gebieten wurde die <strong>österreichische</strong><br />

Täterschaft erforscht und bewiesen.<br />

Vranitzky-Rede, Einrichtung des Nationalfonds<br />

und der Historikerkommission<br />

zeigen ein zögerliches, doch tendenzielles<br />

Zugeben der Beteiligung am Massenmord<br />

und, was schwieriger ist, weil eben mit<br />

Konsequenzen verbunden, am Raub des<br />

’ jüdischen‘ Vermögens.<br />

Andererseits und parallel dazu begann<br />

der Aufstieg Haiders trotz oder wegen<br />

seiner allen bekannten Aussprüche, das<br />

Eindringen seiner Partei in alle Gesellschaftsschichten.<br />

Resultat: die Pogromstimmung<br />

des gelben Herbstes 1999 und<br />

die Regierungsbeteiligung der FPÖ.<br />

Der Erfolg einer rassistischen, mit Elementen<br />

des Nazismus spielenden Ideologie<br />

führt – wie der Erfolg Waldheims –<br />

bei einer Mehrheit der Bevölkerung nicht<br />

zu Abgrenzung und politischem Kampf,<br />

sondern zu patriotischer Solidarisierung,<br />

d. h. zur Empörung gegen das empörte<br />

” Ausland“, das sich wieder einmal einmischt.<br />

Statt Analysen hört man vor allem<br />

Verschiebungen, Ausflüchte, Moralpredigten.<br />

Erstaunlich an beiden Projektvorschlägen<br />

ist nun, wie sehr sie sich immer<br />

noch an der Opferlüge abarbeiten und<br />

wie sehr sie – jeder auf diametral andere<br />

Art – zu einer Irrealisierung bzw. Mythologisierung<br />

des Holocaust tendieren.<br />

Das Haus der Geschichte“-Projekt<br />

”<br />

entledigt sich der Problematik auf die<br />

bewährte Weise. 20 Jahre erste Repu-<br />

”<br />

blik und Ständestaat, 7 Jahre Drittes<br />

Reich und 55 Jahre 2. Republik“ lautet<br />

das Programm und jeder weiß, was gemeint<br />

ist. Nämlich: Davor war man interessant,<br />

danach war man fesch und dazwischen<br />

war man net da. Die simple<br />

propagandistische Ausrichtung des Projekts<br />

wird offen angesprochen, nämlich<br />

das Bild Österreichs im Ausland korrigieren<br />

zu wollen. Die Funktion eines solchen<br />

Hauses der Geschichte“ scheint die<br />

”<br />

eines Heimatmuseum zu sein, in dem man<br />

sich in einer unüberschaubaren, rasch<br />

verändernden Welt der eigenen Existenz<br />

und ihrer Kontinuität versichert. In Anbetracht<br />

der Umbrüche und Identitätskrisen,<br />

in denen sich Österreich seit dem<br />

Ende des Kalten Krieges und der Entstehung<br />

eines sich nach Osten ausweitenden<br />

Europa befindet, könnte meiner Ansicht<br />

nach die Diskussion eines neuen Selbstbildes<br />

anhand eines – allerdings nicht parteigebundenen<br />

und überhaupt ganz an-<br />

184 ÖZG 11.2000.1


deren – Museumsprojekts durchaus spannend<br />

sein.<br />

Das ” Haus der Toleranz“-Projekt wählt<br />

einen anderen, neuen Fluchtweg aus der<br />

Verantwortung. Nicht zurück in die alte<br />

Opferlüge, sondern hinübergewechselt zu<br />

den Opfern, was zur unreflektierten Übernahme<br />

von Ideen aus den USA und Israel<br />

führt, zu einem Sprung in die Opfer-<br />

Identität.<br />

Das ” Haus der Toleranz“-Projekt versucht<br />

einen Perspektivenwechsel. Es versucht,<br />

Inhalte und Formen, die in den<br />

Gesellschaften der Alliierten und Überlebenden<br />

möglich sind, in eine Tätergesellschaft<br />

zu übernehmen. Auf diese Weise<br />

flüchtet es vor der Auseinandersetzung<br />

mit der Täterseite, setzt also auf neue<br />

Weise die Opferlüge fort. Es wird nicht<br />

allein geleugnet und ausgeklammert, sondern<br />

man eignet sich die Opferpersepektive<br />

einfach an. Das Gegenüber wird nicht<br />

mehr benötigt. So kommt man wahrlich<br />

ohne Dialog aus.<br />

Solange man sich nicht ernsthaft mit<br />

der Tatsache auseinandersetzt, daß die<br />

Österreicher genauso demütigten, mordeten<br />

und raubten wie die Deutschen, wird<br />

man zur Verharmlosung der Jahre 1938–<br />

45 nach Amerika, Zentraleuropa oder in<br />

die Nichtexistenz flüchten müssen. Solange<br />

man die Pogromstimmung des Herbstes<br />

1999 ebenso irrealisiert wie man jede<br />

einzelne Haider-Aussage ihrer Konsequenzen<br />

beraubt, können auch die als<br />

Fremde imaginierten Anderen in diesem<br />

Land lediglich toleriert werden.<br />

Anmerkungen:<br />

1 Anton Pelinka u. a., Machbarkeitsstudie<br />

<strong>für</strong> ein ” Haus der Toleranz“, <strong>Wien</strong> 1999.<br />

2 Stefan Karner u. Manfried Rauchensteiner,<br />

Haus der Geschichte der Republik Österreich<br />

(HGÖ). Machbarkeitsstudie, im Auftrag des<br />

BMUK, Graz, <strong>Wien</strong> u. Klagenfurt 1999.<br />

3 Ebd., 25.<br />

4 Jan Philipp Reemtsma, ...und 1 Jahrhun-<br />

dert; in: Hamburger Institut <strong>für</strong> Sozialforschung<br />

(Hg.), 200 Tage und 1 Jahrhundert.<br />

Gewalt und Destruktivität im Spiegel des<br />

Jahres 1945, Hamburg 1995, 58.<br />

5 Günther Anders, Die Schrift an der Wand.<br />

Tagebücher 1941–1966; München 1967, 147.<br />

ÖZG 11.2000.1 185


Götz Aly<br />

Adolf Eichmanns späte Rache<br />

Das im März vom israelischen Staatsarchiv<br />

freigegebene Eichmann-Manuskript<br />

liegt in maschinenschriftlich transskribierter<br />

Fassung vor. Sie ist bequem lesbar,<br />

enthält aber zahlreiche Schlampereien.<br />

Der ” rieg gegen Angland“ enträtselt<br />

sich leicht, ” Dr. Fledscher“ heißt Feldscher,<br />

” Gläcks“, Glücks usw.; wo das<br />

Wort ” ansiedeln“ mit kenntnisfreier Hartnäckigkeit<br />

in ” aussiedeln“ verkehrt wurde,<br />

hilft nur spezielle Quellenkunde<br />

weiter; an Freud geschulte politische<br />

Psychologie wird gebraucht, wo schon<br />

im Inhaltsverzeichnis Deportationsangelegenheiten<br />

zu ” Reparationsangelegenheiten“<br />

werden.<br />

Adolf Eichmann hatte den Text als<br />

Selbstdarstellung angelegt. Der Arbeitstitel<br />

Götzen sollte ausdrücken, daß der<br />

später eines Besseren belehrte Autor die<br />

NS-Führer lange vergottet, ihnen ” mit allen<br />

Fasern“ geglaubt hatte. Dem Autobiographen<br />

erlaubte der Titel zudem die<br />

gelegentliche, verfremdende Distanz: ” Jedes<br />

Jahr einmal, im Herbst, hielten die<br />

Götter Heerschau. Sie stiegen von ihrem<br />

Olymp herab und zeigten sich in breiter<br />

Front den Massen ...“ Oder: ” Inzwischen<br />

war ich längst zum Offizier avanciert<br />

und meine Verhaftung an die Götter war<br />

noch bindender geworden.“ Vollständig<br />

sei diese ” Verhaftung“ allerdings nie gewesen.<br />

Zum Beispiel begründete Hitler<br />

seine berühmt-berüchtigte Androhung<br />

zur ” Vernichtung der jüdischen Rasse in<br />

Europa“ mit der angeblichen Kriegstreiberei<br />

des internationalen Finanzjuden-<br />

”<br />

tums“. Nein“, ereifert sich Eichmann<br />

”<br />

über mehrere Seiten, die internationale<br />

”<br />

Hochfinanz war und ist mit das größte aller<br />

Übel; daran gibt es nichts zu rütteln.<br />

Aber hier den Tenor auf das Wort Jude‘<br />

’<br />

legen, heißt die Sachlage verkennen.“<br />

Alternativ zu Götzen erwog Eichmann<br />

den bildungsbürgerlichen Titel Gnothi<br />

”<br />

seauton“, was salopp soviel meint wie<br />

” Geh’ in dich“, pathetischer: Bedenke die<br />

Grenzen deines Menschseins. Einen noch<br />

unbestimmten Lektor bat er um gelegentliche<br />

Satzauflockerung“, damit sein<br />

”<br />

” sachlich- nüchterner<br />

’ Amtsstil‘ leichter<br />

lesbar“ würde; der Schutzumschlag<br />

sollte einfarbig in Perl- oder Tauben-<br />

”<br />

grau“ gehalten sein, die Titelei in kla-<br />

”<br />

rer, linienschöner Schrift“. (Auch wenn<br />

es geschichtspolitisch tätige Graphiker<br />

hartnäckig ignorieren, das nationalsozialistische<br />

Deutschland hatte die Frakturschrift<br />

als unmodern verpönt und in den<br />

Schulen die lateinische anstelle der deutschen<br />

Schreibschrift eingeführt.)<br />

Das überlieferte Konvolut von 676 Blättern<br />

gliedert sich in drei Teile. Teil I handelt<br />

von der Judenpolitik in Deutschland,<br />

Österreich, Böhmen und Mähren, dem<br />

annektierten und besetzten Polen, ver-<br />

”<br />

bunden damit die Stellung des Befehlsempfängers<br />

im Durcheinander mit seiner<br />

Innenschau“. Teil II befaßt sich mit<br />

” Deportationsangelegenheiten in 12 eu-<br />

186 ÖZG 11.2000.1


opäischen Ländern“. Teil III führt zum<br />

inneren Monolog nach dem Sturz des<br />

”<br />

eben noch Gültigen“. Den beiden ersten<br />

Teilen ist jeweils eine lange Liste von numerierten<br />

Beweisdokumenten angefügt,<br />

die alle in den Jerusalemer Prozeß eingebracht<br />

worden waren. Im laufenden Text<br />

verweist Eichmann auf diese gerichtsbekannten<br />

Urkunden.<br />

Der Exposition folgt die wirre, oft<br />

endlos wiederholende Durchführung, die<br />

von jeder noch so bescheiden angesetzten<br />

Druckreife weit entfernt bleibt. Gleichwohl<br />

hielt der Autor seine Arbeit am<br />

6. September 1961 <strong>für</strong> im wesentlichen<br />

abgeschlossen. Mit dem Abstand von<br />

zwei Monaten vermerkte er im November,<br />

er halte das Geschriebene nach dem<br />

abermaligen Überfliegen <strong>für</strong> gelegentlich<br />

”<br />

unvollständig“, zu leer und zu ober-<br />

”<br />

flächlich“, auch fühlte er sich durch die<br />

mögliche israelische Zensur seines Manuskripts<br />

gehemmt: Am liebsten wäre<br />

”<br />

mir, ich könnte es ausführlicher u. freundlicher<br />

neufassen.“ Es handelt sich also<br />

um einen Text, den Eichmann nicht<br />

<strong>für</strong> endgültig gehalten hat, wobei sich<br />

sein Zögern und seine späteren Veränderungen<br />

hauptsächlich aus der Furcht erklären,<br />

einzelne Sätze könnten zu seinem<br />

” Nachteil ausgelegt oder gedeutet“ werden.<br />

Einige Passagen strich er nicht nur,<br />

er machte sie unleserlich, vorzugsweise in<br />

den historisch interessanteren Partien.<br />

Wie in seinen polizeilichen und gerichtlichen<br />

Aussagen hielt sich Eichmann<br />

beim Schreiben der Götzen strikt an sein<br />

Verteidigungskonzept. Demnach hatte er<br />

sich <strong>für</strong> eine planvoll gelenkte Auswan-<br />

”<br />

derung“ der Juden aus innerer Überzeugung<br />

eingesetzt, um den Bedrängten<br />

– was verantwortungsethisch gerechtfertigt<br />

erscheinen sollte – zum kleinsten al-<br />

”<br />

ler Übel“ zu verhelfen. Die Transformation<br />

dieses teilweise realisierten Vorhabens<br />

zum Massenmord habe sich infolge<br />

der Kriegslage ergeben, befohlen von<br />

den ” Göttern und Untergöttern“. Eichmann<br />

bestreitet die Massenerschießungen,<br />

Todeslager und Gaskammern nicht.<br />

Wie im Prozeß spricht er vom ” kapitalsten<br />

Verbrechen in der Menschheitsgeschichte“,<br />

” dem größten und gewaltigsten<br />

Todestanz aller Zeiten“.<br />

Er selbst habe sich aber dabei stets<br />

korrekt verhalten und den Verfolgten die<br />

insgesamt bedrohliche Situation eher erleichtert<br />

als erschwert. Alle seine Schreibtischtaten,<br />

die zur ’ Endlösung‘ beitrugen,<br />

will Eichmann nur auf Befehl, im Zustand<br />

der ” Persönlichkeitsspaltung“ begangen<br />

haben, weil seine innere Stimme ihm zwischen<br />

” Fahneneidbruch“ und Staatsverbrechen<br />

keinen Ausweg gewiesen habe.<br />

Diese prozeßrechtlich legitime Argumentation<br />

ist in jedem Punkt unwahr. Hunderte<br />

von Dokumenten zeigen das Gegenteil:<br />

Die Lust des über seine ursprünglichen<br />

Bildungsgrenzen hinaus aufgestiegenen<br />

SD-Offiziers an der großen organisatorischen<br />

Herausforderung wie an der<br />

kleinen persönlichen Gemeinheit. Eichmann<br />

war nicht ” der Architekt des Holocaust“<br />

(eine Figur, die es ohnehin nicht<br />

gab), aber er war um praktische, vor allem<br />

praktikable Vorschläge zum Deportieren,<br />

Erschießen und Vergasen niemals<br />

verlegen. Und diese Art von extrem destruktiver<br />

Konstruktivität erwartete er<br />

von seinen nachgeordneten Mitarbeitern.<br />

Sie alle begriffen ihre Arbeit als kreative<br />

Herausforderung. Sie dachten mit, waren<br />

teamfähig, identifizierten sich mit ihrer<br />

Aufgabe – hoch motivierte Mitarbeiter.<br />

Wo es um seine eigentliche Tätigkeit<br />

geht, lügt Eichmann, verschweigt,<br />

schwindelt sich an der Wahrheit entlang,<br />

beruft sich auf Befehle oder weicht<br />

auf anekdotisches Spielmaterial aus: etwa<br />

höchst geheime Ermittlungen über die zu<br />

einem Zweiunddreißigstel getrübte Rassenreinheit<br />

der ” Diätköchin des Führers“,<br />

Fräulein Eva Braun. Seine besonders<br />

ÖZG 11.2000.1 187


langatmigen Einlassungen zur Sache, zu<br />

einzelnen, im Grunde unwichtigen Dokumenten<br />

und Interpretationen während<br />

der Beweisaufnahme, wirken wie verzweifelte<br />

Nachträge des Angeklagten <strong>für</strong> seine<br />

realen Richter, die die Beweisaufnahme<br />

zwar abgeschlossen, aber weder<br />

den Schuldspruch noch das Strafmaß<br />

verkündet hatten.<br />

Im allgemeinen ist der Text in einem<br />

berichtenden, schubweise im kitschigliterarisierenden<br />

Stil gehalten. Zum Beispiel:<br />

” Die deutschen Panzer rasselten<br />

durch Prag. Die goldene Stadt an der<br />

Moldau. ’ Slata Praha‘ wie der Ceche zu<br />

seiner Hauptstadt sagt.“ Da gleiten dann<br />

die Blicke aus verträumten Gäßchen hoch<br />

zum Veitsdome, da umweht, raunt und<br />

kündet es im gar heimeligen städtebaulichen<br />

Kleinod. Papperlapapp. Diese Methode<br />

funktioniert auch, wo es um die inneren<br />

Folgen einer Massenerschießung bei<br />

Minsk geht. Eichmann will nur als verspäteter,<br />

angewiderter Zwangszuschauer<br />

teilgenommen haben, der sich hernach die<br />

Spritzer eines Kindergehirns vom Mantelaufschlag<br />

wischen lassen mußte. Das besorgte<br />

zwar sein Fahrer, Eichmann ging<br />

es, folgt man seiner Darstellung, dennoch<br />

nicht gut: ” Ich fand keine Ordnung mehr<br />

im Wollen und Willen des Waltens.“<br />

Aber er kann auch nüchterner: ” Noch<br />

als SS-Obersturmbannführer küßte ich<br />

sehr herzlich meine halbjüdische Cousine,<br />

die mich mit meinem Vater auf<br />

meiner Dienststelle besuchte, und man<br />

brach am Abend in einer netten Weinstube<br />

in Belin einigen netten Flaschen<br />

den Hals. Und warum sollte ich meine<br />

bildhübsche zwanzigjährige halbjüdische<br />

Cousine nicht küssen, sagte ich zu meinem<br />

’ ständigen Vertreter‘, dem Sturmbannführer<br />

Günther; so was kann doch<br />

unmöglich Reichsverrat sein. Er hatte<br />

diesbezüglich strengere Auffassungen.“<br />

Selbst wenn diese Episode zurechtgeschönt<br />

sein wird, so steht doch fest, daß<br />

Eichmann keine besonderen antisemitischen<br />

Prägungen erfahren hat. Sich selbst<br />

ordnet er als durchschnittlichen Vertreter<br />

seiner Generation ein, der ” von tausend<br />

Idealen beseelt gleich vielen anderen<br />

in eine Sache hineingeschlittert“ sei,<br />

als Jungaktivisten des nationalen Aufbruchs.<br />

Zugleich sieht er sich als Passivum,<br />

” als eines von vielen Pferden in den<br />

Sielen“, die ” gemäß dem Willen und den<br />

Befehlen der Kutscher weder nach links<br />

noch nach rechts ausbrechen konnten“.<br />

Seine Neigung zur metaphorisch vielgestaltigen<br />

Umschreibung des Rädchens in<br />

dem Uhrwerk, das andere stets von neuem<br />

aufgezogen haben sollen, sind aus<br />

den publizierten Vernehmungs- und Prozeßaufzeichnungen<br />

gut bekannt, neuerdings<br />

auch aus dem Film Ein Spezialist.<br />

Solche scheinauthentischen Dokumentenfetzen,<br />

die der erklärten Verteidigungslinie<br />

eines Schreibtischmörders folgen,<br />

werden gern ins Erinnerungsangebot<br />

gerückt, weil sie ein handliches Bild vom<br />

autoritären, absolut uncoolen, und daher<br />

fernen Zwangscharakter bieten.<br />

Wo kämen wir hin, wenn einer beispielsweise<br />

so anfinge: ” Meine gefühlsmäßigen<br />

politischen Empfindungen“, so<br />

äußert sich Eichmann in seinen Götzen<br />

mehr als einmal, ” lagen links, das Sozialistische<br />

mindestens ebenso betonend<br />

wie das Nationalistische.“ Er und seine<br />

Freunde hätten während der Kampfzeit<br />

” den Nationalsozialismus und den<br />

Kommunismus der sozialistischen Sowjetrepubliken“<br />

als ” eine Art Geschwisterkinder“<br />

angesehen. Am Ende hat Willy<br />

Brandt womöglich Recht, der in einem<br />

seiner letzten, nachdenklich-befreiten Interviews<br />

zu Protokoll gab, im Grunde seien<br />

sich am Ende der Weimarer Republik<br />

die jüngeren Anhänger rechts- oder<br />

linksradikaler Parteien sehr ähnlich gewesen.<br />

Genug. Die biographische Disposition<br />

mag <strong>für</strong> die Einordnung des nationalen<br />

Sozialismus in größere Zusammenhänge<br />

188 ÖZG 11.2000.1


von Interesse sein, da<strong>für</strong> wird Eichmann<br />

allenfalls als Fußnote gebraucht. Die historischen<br />

Fragen richten sich an den<br />

Fachmann <strong>für</strong> Judendeportation und -<br />

vernichtung.<br />

Da viele einschlägige Entscheidungen<br />

ausdrücklich nur mündlich verhandelt,<br />

die meisten Schriftstücke vorsätzlich<br />

1944/45 verbrannt wurden, und die überlebenden<br />

Tatbeteiligten anschließend zur<br />

wahrheitsgemäßen Auskunft nicht bereit<br />

waren, stützt sich die gesamte Holocaust-<br />

Forschung allein auf die Fülle dokumentarischer<br />

Bruchstücke und -stückchen.<br />

Die Kunst besteht in der Verifizierung<br />

und in der plausiblen Zuordnung. Niemand<br />

hat das zentrale, <strong>für</strong> sich selbst<br />

sprechende Dokument je gefunden. Es<br />

existiert nicht. Auf dem Weg gewissenhafter<br />

Detailkunde ist es in den vergangenen<br />

Jahrzehnten jedoch gelungen,<br />

die Kenntnisse über die Vorgeschichte<br />

und den Ablauf des Mordes an den europäischen<br />

Juden stark zu verdichten.<br />

Viele Fragen konnten so geklärt und außer<br />

Streit gestellt werden.<br />

In engen Grenzen wird Eichmanns Manuskript<br />

dieser Forschung weiterhelfen.<br />

Nehmen wir zum Beispiel den 1940, nach<br />

der Niederlage Frankreichs, entwickelten<br />

Plan, alle Juden aus dem deutschen<br />

Machtbereich nach Madagaskar zu verschleppen.<br />

Eichmann behauptet im Sinne<br />

seiner Verteidigungsstrategie, er habe<br />

dieses Umsiedlungsprojekt erfunden. Unsinn,<br />

das zeigen die Dokumente eindeutig.<br />

Dann heißt es aber: ” Ich persönlich<br />

gedachte die Dinge der Insel an Ort und<br />

Stelle zu steuern. Dazu hatte ich bereits<br />

die Genehmigung meiner Vorgesetzten<br />

erwirkt. Es wäre bestimmt kein Konzentrationslager<br />

geworden. Und sieben Millionen<br />

Rinder auf der Insel waren ein beruhigender<br />

Schatz. Bis hoch in das Jahr<br />

1941 arbeitete ich an der Realisierung.“<br />

Der letzte Satz ist gelogen, weil ein von<br />

ihm unterzeichneter Vermerk <strong>für</strong> Himm-<br />

ler beweist, daß Eichmann den Madagaskarplan<br />

spätestens am 4. Dezember 1940<br />

aufgegeben hatte und wenige Wochen<br />

danach auf die Ostraumlösung“ setz-<br />

”<br />

te: auf die Deportation der europäischen<br />

Juden in die noch zu erobernden, extrem<br />

unwirtlichen nordöstlichen Zonen<br />

der Sowjetunion. Unbekannt, aber durchaus<br />

möglich ist seine Bewerbung um<br />

die Leitung des geplanten Reservats“.<br />

”<br />

Immerhin wurden im Sommer 1940 –<br />

der Achsenpartner Italien stand bereits<br />

in Somalia – in der Kanzlei Hitlers<br />

schon Namen <strong>für</strong> den Gouverneursposten<br />

in einem wiedereroberten Deutsch-<br />

Ostafrika gehandelt. Mehr noch: Obwohl<br />

es in den einschlägigen Studien (etwa<br />

bei Markus Brechtgen) übersehen wird,<br />

so sind von einigen Mitarbeitern Eichmanns<br />

just aus dieser Zeit Tropentauglichkeitsprüfungen,<br />

ja sogar entsprechende<br />

Impfungen im einstigen Nazi-Archiv<br />

Erich Mielkes überliefert. Die Herren bereiteten<br />

sich also ganz persönlich auf die<br />

” insulare Lösung der Judenfrage“ vor.<br />

Warum nicht auch Eichmann<br />

Der Madagaskar-Plan schloß den Tod<br />

von Hunderttausenden Deportierten unausgesprochen<br />

ein, war aber von der Massenvergasung<br />

noch weit entfernt. Daher<br />

ist Eichmanns Hinweis auf die sieben Millionen<br />

Rinder von Interesse. Warum diese<br />

Zahl Drei der Gutachten, die professorale<br />

Hilfsverbrecher im Rahmen des Madagaskarprojekts<br />

während der Sommermonate<br />

1940 erstellt haben, sind bekannt.<br />

Sie handeln, unterkühlt gesagt, von den<br />

räumlichen Verhältnissen der Insel, von<br />

der tatsächlichen sowie der angeblich<br />

möglichen Besiedlungsdichte und von der<br />

montanwirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit.<br />

Aus Erfahrung – und nach Eichmanns<br />

Hinweis erst recht – spricht manches<br />

da<strong>für</strong>, daß auch ein Agrarwissenschaftler<br />

an der Vorbereitung dieses geplanten<br />

Deportationsverbrechens mitgewirkt<br />

hat. Vielleicht läßt sich ein solches<br />

ÖZG 11.2000.1 189


Gutachten noch finden im Nachlaß eines<br />

berühmten und verdienten Großvaters.<br />

Wenn ja, dann würden die Kenntnisse<br />

über die Geschichte der ” Endlösung“ um<br />

ein Faktum ergänzt, an das sich möglicherweise<br />

neue Fragen anschlössen.<br />

Groteske Spekulationen haben sich in<br />

der Fachliteratur um eine Reise Eichmanns<br />

gerankt, die dieser nach einer Aussage<br />

von Rudolf Höß, des Kommandanten<br />

von Auschwitz, Anfang September<br />

1941, unternommen haben soll. Der Termin<br />

deckte sich mit der inzwischen widerlegten,<br />

vor zehn, zwanzig Jahren herrschenden<br />

Meinung, in den Tagen vor dem<br />

31. Juli 1941, ” auf dem Höhepunkt der<br />

Siegeserwartung im Krieg gegen die Sowjetunion“,<br />

sei der Mord an den europäischen<br />

Juden endgültig beschlossen<br />

worden, und eben deshalb – logisch! –<br />

sei Eichmann Anfang September nach<br />

Auschwitz gereist.<br />

Erst nach langer Zeit schoben jüngere<br />

Wissenschaftler diesen ’ Beweis‘ als unzuverlässige<br />

Aussage beiseite und datierten<br />

die Entscheidung immer weiter in<br />

Richtung Winter, auf die Niederlage vor<br />

Moskau. Dem standen die zu Anfang<br />

eher unbestimmten, schwankenden Angaben<br />

Eichmanns entgegen, die dieser in<br />

seinen ersten polizeilichen Vernehmungen<br />

gemacht hatte. Sie wurden im begrenzten<br />

Manuskriptdruck rasch publiziert und<br />

standen daher als die Eichmann-Quelle<br />

an vielen Orten zur Verfügung.<br />

Wie im Film Ein Spezialist, der<br />

die Hauptverhandlung dokumentiert, gab<br />

Eichmann hinsichtlich seiner Reisen auch<br />

in den Götzen die wahrscheinlich richtigen<br />

Daten an: Im Herbst 1941 besuchte<br />

er eine Massenerschießung in Minsk,<br />

später – vermutlich im November – das<br />

noch im Bau befindliche Vernichtungslager<br />

Belcez, die Gaswagenstation Chelmno<br />

(Kulm) nördlich von Lodz inspizierte<br />

er während des Vernichtungsbetriebs<br />

im Januar und erst danach, ” im<br />

Frühjahr 1942“, das Vernichtungszentrum<br />

Auschwitz: ” Höß, der Kommandant,<br />

sagte mir, daß er mit Blausäure<br />

töte. Runde Pappfilze waren mit diesem<br />

Giftstoff getränkt und wurden in die<br />

Räume geworfen, worin die Juden versammelt<br />

wurden. Dieses Gift wirkte sofort<br />

tötlich.“<br />

Aus den Länderkapiteln im Abschnitt II<br />

der Götzen soll hier der späte und extreme<br />

Fall Ungarn herausgegriffen werden.<br />

Es ist durchaus glaubhaft, wenn<br />

Eichmann berichtet: Sein Vorgesetzter<br />

Heinrich Müller habe ihm um den<br />

10. März 1944 herum mündlich mitgeteilt,<br />

Himmler habe ” die Evakuierung<br />

sämtlicher Juden aus Ungarn, aus strategischen<br />

Gründen von Ost nach West<br />

durchkämmend, befohlen“. Deshalb hatte<br />

sich Eichmann umgehend nach Mauthausen<br />

zu begeben und später nach Budapest,<br />

nachdem Hitler am 18. März<br />

die Besetzung des bis dahin verbündeten<br />

Landes angeordnet hatte. Eichmann<br />

organisierte mit Hilfe seines Kommandos<br />

und einer äußerst kooperativen ungarischen<br />

Gendarmerie binnen knapp acht<br />

Wochen die Deportation von 437.402<br />

jüdischen Männern, Frauen und Kindern<br />

nach Auschwitz. Solange, bis der<br />

nicht völlig entmachtete, adelige Reaktionär<br />

Horthy die Deportation der Budapester<br />

Juden wenigstens vorübergehend<br />

unterbinden konnte. Nach dem 15. Oktober<br />

1944 organisierte Eichmann dann<br />

die Fuß- und Todesmärsche eines Teils<br />

der bis dahin entronnenen Juden in Richtung<br />

<strong>Wien</strong> und Mauthausen. Totz oder<br />

wegen des schnellen Vorstoßens der Roten<br />

Armee blieb es sein erklärtes ” Endziel“,<br />

noch die völlige ” Ausräumung des<br />

ungarischen Raumes zu erreichen“.<br />

An diesem ungeheuren letzten Massenverbrechen<br />

beteiligten sich beachtliche<br />

Teile der ungarischen Verwaltung<br />

und Bevölkerung, das deutsche Auswärtige<br />

Amt, der Militärbefehlshaber Un-<br />

190 ÖZG 11.2000.1


garn, der Reichsbevollmächtigte, und<br />

Himmlers Wirtschaftsbeauftragter wirkten<br />

ebenfalls mit. Diese Verantwortlichen<br />

hatten nach dem Krieg möglichst viel von<br />

ihrer Schuld auf den totgeglaubten, jedenfalls<br />

verschwundenen Eichmann abgewälzt<br />

und mit dem Täterkreis auch die<br />

sehr verschiedenen, einander verstärkenden<br />

Deportationsmotive und -interessen<br />

eingeschränkt. Schon deshalb sind die<br />

achtzig von Eichmann dazu verfaßten<br />

Seiten als Quelle lesenswert. Um ein<br />

annähernd realistisches Bild zu gewinnen,<br />

müssen die unterschiedlichen Schutzbehauptungen<br />

der einstigen Komplizen miteinander<br />

konfrontiert werden. Es ist<br />

nicht Eichmann zuzurechnen, was das<br />

Auswärtige Amt seinerzeit an den Chef<br />

der deutschen Besatzungsverwaltung in<br />

Budapest telegraphierte: Ich bitte Sie,<br />

”<br />

den Ungarn bei der Durchführung aller<br />

Maßnahmen, die sie in den Augen unserer<br />

Feinde kompromittieren, nicht hinderlich<br />

in die Arme zu fallen. Es liegt sehr<br />

in unserem Interesse, wenn die Ungarn<br />

jetzt auf das allerschärfste gegen die Juden<br />

vorgehen.“<br />

Eichmann hat in Ungarn hunderte erschlagene,<br />

erschossene, zusammengebrochene<br />

Jüdinnen und Juden gesehen, hunderttausende<br />

in den Tod geschickt. In<br />

seinem Bericht über die letzten Monate<br />

des Götzen“-Reiches finden sich al-<br />

”<br />

lein von Tieffliegern zerhackte Deut-<br />

”<br />

sche“. Um die Jahreswende 1944/45 kehrte<br />

er dann nach Berlin zurück. Wegen der<br />

” anglo-amerikanischen Bomber stank es<br />

dort nach verbranntem Fleisch und verwesenden<br />

Leichen“, das war <strong>für</strong> diesen<br />

einfachen Befehlsempfänger doch unangenehm,<br />

weswegen <strong>für</strong> ihn – eine Rose auf<br />

das Grab von Bomber-Harris – an eine<br />

”<br />

geregelte Behördenarbeit nicht mehr zu<br />

denken war“.<br />

In Jerusalem sah sich Eichmann gut<br />

fünfzehn Jahre später als Opfer einer<br />

Siegerjustiz – zweierlei Maß, zweierlei<br />

”<br />

Recht!“ Einsicht und Reue zeigt er an<br />

keiner Stelle. Wenige Tage nachdem die<br />

Arbeit an dem Manuskript abgeschlossen<br />

war, bot ein Pfarrer in Ruhe, Paul Achenbach,<br />

dem 1906 in Solingen geborenen<br />

und evangelisch getauften Adolf Eichmann<br />

seelsogerischen Beistand an. Er riet<br />

ihm brieflich, sich im Lichte der Ewigkeit<br />

und der möglichen Gnade Gottes der<br />

” ganzen Schuldfrage an der Vernichtung<br />

der Juden“ zu stellen. Er solle vor dem irdischen<br />

und damit dem himmlischen Gericht<br />

bekennen, wie er zum willfähri-<br />

”<br />

gen Werkzeug“ geworden war. Frech-<br />

”<br />

heit!!“ vermerkte der Adressat am Rand<br />

und legte den Brief als letztes Blatt zu<br />

den Götzen.<br />

ÖZG 11.2000.1 191


Rezensionen<br />

Klaus Naumann, Der Krieg als Text.<br />

Das Jahr 1945 im kulturellen Gedächtnis<br />

der Presse, Hamburg: Hamburger Edition<br />

1998. 1<br />

Klaus Naumanns Studie liest sich wie ein<br />

spannender Roman, und die Medienberichterstattung<br />

über das Jahr 1945 mutet<br />

oft tatsächlich wie Fiction an. Was Medien<br />

schreiben und welche Realitäten diskursiv<br />

konstruiert werden, ist trotz unseres<br />

kritischen Wissens immer wieder<br />

überraschend! Oder doch nicht überraschend,<br />

wenn man die Schwierigkeiten<br />

des Umgangs mit belastenden Vergangenheiten<br />

bedenkt. Ich rezensiere dieses<br />

Buch aus mehreren Perspektiven: als interessierte<br />

Leserin; als Forscherin, die mit<br />

anderen Methoden eine ähnliche, allerdings<br />

interdisziplinäre Studie mit Florian<br />

Menz, Richard Mitten und Frank Stern<br />

über <strong>österreichische</strong> Gedenkkultur unternommen<br />

hat; und letztlich als Diskursforscherin,<br />

nicht jedoch als Politikwissenschaftlerin<br />

oder als Historikerin. Dementsprechend<br />

fokussiere ich einerseits die<br />

wichtigsten inhaltlichen Stränge und Resultate<br />

der Studie, andererseits Fragen<br />

der Methode und der Diskursforschung.<br />

Den politologischen und historischen Forschungszusammenhang<br />

in Deutschland<br />

muß ich aus Mangel an Kompetenz aussparen.<br />

Naumann untersucht die Berichterstattung<br />

in lokalen, regionalen und nationalen<br />

Zeitungen in Deutschland zu<br />

den Gedenkfeiern und Gedenken der Ereignisse<br />

von Jänner bis Mai 1945 im<br />

Jahr 1995. Ganz unterschiedliche Bege-<br />

benheiten kommen da vor: die Bombardierungen<br />

von Nürnberg, Dresden und<br />

anderen deutschen Städten durch die Alliierten;<br />

Menschen auf der Flucht; die<br />

Befreiung der Konzentrationslager, insbesondere<br />

von Auschwitz; Stellenwert<br />

und Wirkung der Wehrmachtsausstellung<br />

Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht<br />

1941 bis 1944; Kapitulation, Befreiung<br />

und Besatzung; letztlich die Berichterstattung<br />

zum Gedenken über den<br />

8. Mai 1945. Jede Stadt und jedes Dorf<br />

besitzen ihre eigenen Erinnerungen, die<br />

in dieser Zeit hochkommen und wieder<br />

verdeckt werden, also nur in bestimmter<br />

Form zugelassen werden.<br />

Eingebettet ist dieser Diskurs der Erinnerung<br />

und des Gedenkens in eine Vielzahl<br />

<strong>für</strong> Deutschland wichtiger Momente,<br />

die allerdings von Naumann nur kurz<br />

oder nicht in Erwägung gezogen werden,<br />

jedoch <strong>für</strong> eine solche Berichterstattung<br />

wesentlich wären: Das Ausland<br />

hat bestimmte Erwartungen, schaut zu<br />

und bewertet die Erinnerungs- und Gedenkkultur<br />

der Deutschen. Es stellen sich<br />

die Fragen von Schuld, Scham, Reue<br />

und Wiedergutmachung in bezug auf die<br />

Kriegsverbrechen und Verbrechen an der<br />

Menschheit. Welchen Einfluß besitzt die<br />

signifikant andere Nachkriegsgeschichte<br />

der beiden Deutschland sowie die Wiedervereinigung<br />

in diesem Zusammenhang<br />

Wie sieht die Erinnerungs- und Gedenkkultur<br />

in anderen europäischen Ländern<br />

aus, wobei zu unterscheiden ist zwischen<br />

damals okkupierten Ländern und solchen,<br />

die mit Deutschland ideologisch<br />

und praktisch zusammengegangen sind<br />

192 ÖZG 11.2000.1


Zu Beginn stehen theoretische und methodische<br />

Erwägungen. Allerdings fehlt<br />

eine wesentliche Erörterung: Welche Vorstellung<br />

von einer ’ richtigen‘ und ’ adäquaten‘<br />

Erinnerungs- und Gedenkkultur gilt<br />

Naumann als Maßstab <strong>für</strong> seine Analyse<br />

und Interpretation Denn eine solche<br />

Vorstellung müßte vorhanden sein, um alle<br />

Medienereignisse einordnen und beurteilen<br />

zu können. 2 Kein Forscher, keine<br />

Forscherin tritt als tabula rasa an Texte<br />

heran, Texte werden immer auf ein bestimmtes<br />

Vorwissen, kognitiv wie emotional<br />

auf bestimmte Werte und Einstellungen<br />

bezogen. Die Präsentation der Daten<br />

ist niemals nur nüchtern, sondern immer<br />

auch wertend und klassifizierend. Die<br />

theoretischen Überlegungen zu Beginn<br />

beziehen sich vor allem auf Einfluß und<br />

Wirkung von Texten und von Zeitungen,<br />

besonders in bezug auf die Funktionen<br />

des Gedenkens. Hier fehlen Bezüge auf<br />

die reichhaltige kommunikationstheoretische<br />

und diskursanalytische Literatur zur<br />

diskursiven Konstruktion von Realitäten<br />

durch die Eliten und durch Zeitungen 3<br />

und auch der methodische Vergleich oder<br />

die Abgrenzung von ähnlichen Analysen.<br />

Das methodische Verfahren wird kurz auf<br />

den Seiten 27 und 28 beschrieben, ausgehend<br />

von dem Satz ” Der Text ist der<br />

Text“. Naumann bezieht sich auf die Arbeiten<br />

der Frankfurter Schule und auf<br />

die qualitative Inhaltsanalyse. Der zitierte<br />

Satz bleibt unkommentiert; Verfahren<br />

und Instrumentarium werden nicht ausgeführt.<br />

Das sind gewiß Mängel, die aber<br />

relativiert werden müssen, denn Naumann<br />

schreibt kein traditionell akademisches<br />

Buch, sondern eines, das lesbar sein<br />

und breit rezipiert werden soll. Es ist sicher<br />

schwierig, die richtige Balance zwischen<br />

Wissenschaftlichkeit und Lesbarkeit<br />

zu finden; meiner Meinung nach ist<br />

es dem Autor hervorragend gelungen, LeserInnen<br />

zu fesseln und wichtige Informationen<br />

spannend zu präsentieren. Und<br />

dies ist meines Erachtens relevanter, als<br />

wissenschaftlichen Kriterien in allen Details<br />

Genüge zu leisten. Wichtig ist daher<br />

die Absicht des Autors, die er folgendermaßen<br />

zusammenfaßt: Der vorliegen-<br />

”<br />

de vielgliedrige Textkorpus wird vielmehr<br />

als Dokument betrachtet. Doch gefragt<br />

wird nicht danach, ob dieses Dokument<br />

die historischen Vorgänge, über die berichtet<br />

wird, richtig‘ wiedergibt oder ob<br />

’<br />

die gemeldeten Ereignisse und Vorgänge<br />

so stattgefunden haben, wie sie im Text<br />

beschrieben werden.“ (28 f.) Fokussiert<br />

wird also ausschließlich der Text, anders<br />

als in dem diskurshistorischen Ansatz der<br />

Studie über das <strong>österreichische</strong> Gedenken,<br />

wo eine Vielzahl von Genres einbezogen<br />

und im Sinne der Rekontextualisierung<br />

von Topoi und Argumentationen<br />

miteinander konfrontiert wurde (Reden,<br />

elektronische Medien) und die diskursiv<br />

konstruierten Geschichtsbilder dekonstruiert<br />

und implizite und explizite<br />

Ideologien herausgefiltert wurden. Naumanns<br />

Anspruch ist ein anderer. Er analysiert<br />

schlüssig und kohärent eine riesige<br />

Menge von Daten (Zeitungsartikel, Serien,<br />

Schlagzeilen, Annoncen, Leserbriefe,<br />

Fotos usw.), wobei er von folgenden drei<br />

Hypothesen ausgeht:<br />

” 1. Zunächst ergibt sich aus der hier<br />

vorgetragenen Skizzierung des Kontextes,<br />

daß die Textproduktionen des Gedenkjahres<br />

unter einer dreifachen Herausforderung<br />

standen. Sie hatten auf veränderte<br />

erinnerungspolitische Rahmenbedingungen<br />

zu reagieren, mußten sich<br />

– implizit oder explizit – mit dem Generalthema<br />

deutscher Schuld beziehungsweise<br />

Verantwortung auseinandersetzen,<br />

und sie hatten über kollektive Schockerfahrungen<br />

zu berichten. Doch dies war<br />

nicht die einzige Erfahrung, die sich in<br />

den Texten mitteilte.<br />

2. Es ist deutlich geworden, daß die<br />

Presse im erinnerungskulturellen Feld<br />

zweierlei Funktionen wahrnimmt, die sich<br />

ÖZG 11.2000.1 193


nur analytisch trennen lassen: Sie erinnert,<br />

rekapituliert und erzählt – und<br />

sie gedenkt, mahnt und belehrt. Erinnern<br />

und Gedenken aber stehen in<br />

einem antinomischen Verhältnis zueinander.<br />

Während das Erinnern sich als offener,<br />

unabgeschlossener und diskursiver<br />

Prozeß darstellt, lebt das Gedenken vom<br />

verbindlichen und endlichen Ritus. Wie<br />

Emile Durkheim bemerkte, ist das eine<br />

’ profan‘, das andere heilig‘. Kurzum, die<br />

’<br />

Doppelfunktion der Presse, Museum wie<br />

Andachtsraum in einem zu sein, mußte<br />

zu weiteren Verwerfungen in den Texten<br />

führen.<br />

3. Schließlich geben die Texte einen<br />

Eindruck von kollektiven Befindlichkeiten.<br />

Indem sie – anläßlich des Gedenkjahres<br />

– die symbolische Nähe oder Ferne<br />

des Krieges und des Kriegsendes zur<br />

Sprache brachten, vollzogen sie eine bestimmte<br />

Form der Selbstthematisierung<br />

dieser Gesellschaft in ihrem Verhältnis<br />

zum Krieg. Es war nicht die geringste<br />

Herausforderung an die Zeitungsbeiträge<br />

des Gedenkjahres, welcher Selbstund<br />

Fremdbilder sie sich bedienten. Wenn<br />

sie von den Deutschen‘ schrieben, wen<br />

’<br />

meinten sie damit Waren das Besieg-<br />

’<br />

te‘ und/oder Befreite‘ Wer war Opfer‘<br />

’ ’<br />

und wer Täter‘ in den Geschichten vom<br />

’<br />

Ende Wo verflochten sich diese Unterscheidungen<br />

– und wo war an ihnen festzuhalten<br />

Und was besagte das alles im<br />

Hinblick auf die deutsche Gegenwart der<br />

neunziger Jahre “(29 ff.)<br />

Diese drei Ausgangsfragen bestimmen<br />

die Analyse und Ordnung der untersuchten<br />

Texte wie auch die Interpretationen.<br />

Alle drei Hypothesen sind wichtig und<br />

auch über die deutsche Situation hinaus<br />

relevant: Die Fragen von Schuld und<br />

Verantwortung bestimmen die diskursive<br />

Verarbeitung. Wie die Analyse der Berichterstattung<br />

1988 in Österreich zeigen<br />

konnte, war das stille und auch explizite<br />

Übereinkommen, von einer österrei-<br />

chischen Schuld abzusehen und sich als<br />

Opfer der deutschen Besetzung zu begreifen,<br />

Voraussetzung <strong>für</strong> den Duktus<br />

der Erinnerung und des Gedenkens, von<br />

ganz wenigen Ausnahmen abgesehen. In<br />

Deutschland stellt sich diese Situation<br />

aber grundsätzlich anders dar, ein Rekurs<br />

auf einen Opferstatus ist so nicht<br />

möglich. Wie soll man sich aber dann<br />

der Frage der Schuld stellen, noch dazu<br />

in den Nachkriegsgenerationen Richard<br />

Mitten 4 gibt dazu recht differenzierte<br />

Antworten <strong>für</strong> die <strong>österreichische</strong><br />

Nachkriegssituation und unterscheidet<br />

zwischen verschiedenen Opferdiskursen.<br />

Außerdem müsse man sich mit der<br />

rechtlichen, pragmatischen und moralischen<br />

Ebene auseinander- und sich auch<br />

in die damalige Zeit hineinversetzen. 5 Die<br />

Nachkriegsdiskurse in die Untersuchung<br />

der Gedenkkultur einzubeziehen, hätte<br />

sicherlich auch <strong>für</strong> Deutschland einen<br />

wichtigen Stellenwert. 6<br />

Naumann betont die kollektiven Wir-<br />

Diskurse und die Perspektive der deutschen<br />

Ingroup. In den Zeitungen gehe<br />

es vor allem um eine deutsche Sicht.<br />

Trotzdem bleibt die Frage bestehen, wer<br />

eigentlich die Opfer und wer die Täter<br />

sind: Bombenopfer, Zivilopfer, Menschen<br />

auf der Flucht, Juden und Lagerinsassen<br />

Eine genaue Analyse der ” Akteure im<br />

Text“ 7 würde in diesem Fall auch die semantische<br />

Konstituierung der Agenten in<br />

ihren unterschiedlichen Rollen und Funktionen<br />

erlauben.<br />

Nach der Besichtigung der Ausstellung<br />

über den Vernichtungskrieg. Verbrechen<br />

der Wehrmacht 1941 bis 1944, die bekanntlich<br />

vehemente Skandale auslöste<br />

und damit auf das Tabu und den Mythos<br />

rund um die Wehrmacht hinwies, oder<br />

des Holocaustmuseums in Washington<br />

wird klar, daß das Ausmaß an Schrecklichkeit,<br />

organisiertem Verbrechen und<br />

letztlich Sadismus derart überwältigend<br />

ist, daß wahrscheinlich die meisten da-<br />

194 ÖZG 11.2000.1


von in unterschiedlicher Weise betroffenen<br />

Menschen unter der Last des Geschehenen<br />

zusammenbrechen oder sich<br />

nur mit Leugnen, Aufrechnen, Verzerren<br />

und Rationalisieren retten können.<br />

Wie Klaus Naumann schlüssig nachweist,<br />

herrscht letztlich Stille über Auschwitz<br />

(91 ff.), denn es konnte bislang keine<br />

adäquate Form des Erinnerns und Gedenkens<br />

gefunden werden. Der Ausweg<br />

besteht darin, zu schweigen. Gleichzeitig<br />

wird Auschwitz zu einem kollektiven<br />

Symbol. Welche adäquate Form des Gedenkens<br />

wäre denn möglich Wie kann<br />

man sich differenziert und auch kritisch<br />

mit solchen Ereignissen und Realitäten<br />

auseinandersetzen Naumann trifft mit<br />

diesen Fragen genau in die offene Wunde<br />

der Gedenkversuche.<br />

Die analytischen Trennungen von Er-<br />

’<br />

innern‘ und Gedenken‘ und profan‘ und<br />

’ ’<br />

’ rituell‘ sind fruchtbar und bestimmen<br />

auch die Präsentation der ausgewählten<br />

Texte. Zwar ist die Intention der TextproduzentInnen<br />

nicht bekannt, aber die<br />

Wirkung auf die LeserInnen könnte fallweise<br />

getestet werden. In diesem Buch<br />

können wir nur die Wirkung auf einen Leser,<br />

den Autor, nachvollziehen, eine bestimmte<br />

Lesart. Fokusgruppen oder Interviews<br />

mit LeserInnen hätten die Wirkung<br />

der Berichterstattung zumindest<br />

punktuell einfangen können. Also bleibt<br />

die Frage bestehen: Wie haben LeserInnen<br />

reagiert Teilweise erfahren wir dies<br />

durch Leserbriefe, die jedoch mit Vorsicht<br />

zu behandeln sind. Ansonsten gibt der<br />

Autor keine Hinweise auf die Wirkung der<br />

Texte, daher gelten die Annahmen über<br />

die Entwicklung der deutschen Gedenkdiskurse<br />

nur beschränkt und bleiben spekulativ.<br />

Die Pressetexte selbst sind ambig, teilweise<br />

belehrend, teilweise berichtend und<br />

auch voll von Floskeln, die die rituelle<br />

Funktion belegen. Klar tritt die Tabuisierung<br />

einiger Themen aus der Analy-<br />

se hervor, die Möglichkeit, anderer zu gedenken,<br />

und manche können tatsächlich<br />

auch berichtet und erinnert werden. Beeindruckend<br />

gestalten sich die Erinnerungen<br />

von BewohnerInnen von kleinen<br />

Städten, die tatsächlich erst kurz vor<br />

Kriegsende mit dem Krieg und der Gewalt<br />

konfrontiert wurden. Daß Naumann<br />

auch regionale und lokale Medien einbezieht,<br />

ist eine Stärke seiner Arbeit.<br />

Die dritte untersuchungsleitende Fragestellung<br />

ist besonders interessant: Welches<br />

Image oder welche Bilder werden<br />

konstruiert, welche Ingroups und Outgroups<br />

durch bestimmte Etiketten und<br />

Akteure kreiert Diese Analyse zeigt die<br />

Widersprüche in der Presseberichterstattung<br />

auf und auch die Systematik, den<br />

Versuch, mit Etiketten Ereignisse zu benennen<br />

und damit auch in eine bestimmte<br />

Richtung zu interpretieren. Die Kapitel<br />

über die Wehrmacht (124 ff.), über das<br />

Kriegsende (171 ff.) und über den 8. Mai<br />

1945 (227 ff.) machen die unterschiedlichen<br />

Narrative explizit. Mitten 8 schlägt<br />

<strong>für</strong> das Verstehen, wie Vergangenheiten<br />

konstruiert und verarbeitet werden, die<br />

Metapher der Mozartkugel vor. Letztlich<br />

entscheide bei den vielen Schichten der<br />

Mozartkugel die Macht der Eliten (und<br />

dazu gehören Zeitungen), welche Vergangenheitsbilder<br />

als gültig und repräsentativ<br />

anerkannt werden. In Naumanns Materialien<br />

lassen sich die unterschiedlichen<br />

Geschichtsbilder gut nachvollziehen, die<br />

immer auch bestimmte Werte und Ideologien<br />

manifestieren. Und daher stellt sich<br />

die spannende Frage, welches Narrativ<br />

über die deutsche Kriegsgeschichte gültig<br />

bleiben und etwa in Schulbücher Eingang<br />

finden wird oder schon gefunden hat.<br />

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie<br />

werden von Naumann in drei Punkten<br />

zu Ende des Buches resümiert<br />

(308 ff.): Der unterschiedliche Umgang<br />

mit Auschwitz und anderen Lagern weise<br />

auf eine Historisierung und gleichzei-<br />

ÖZG 11.2000.1 195


tig auf eine Enthistorisierung hin. Manche<br />

Ereignisse gewännen eine internationale<br />

und europäische Dimension, andere<br />

verschwänden letztlich in die Schublade.<br />

Weiters zeige sich, wie schwierig<br />

es ist, mit dem 8. Mai 1945 umzugehen<br />

(ähnlich und anders in Österreich). In<br />

der Suche um eine neue deutsche Identität<br />

müsse ein Gründungsmythos gefunden<br />

werden. Im Zuge der Wiedervereinigung<br />

werde dies neu debattiert, doch<br />

zeichne sich noch keine ’ Lösung‘ ab, die<br />

Konstruktion einer oder mehrerer deutscher<br />

Identitäten bleibe umstritten und<br />

schwierig. Letztlich bleibe zu fragen, wie<br />

man zum Konzept des Krieges und der<br />

Gewalt steht: Wer sind die Täter und wer<br />

die Opfer Darüber herrsche in der Presse<br />

keine Einigkeit: Stimmen aus den einzelnen<br />

Dörfern stoßen auf Erzählungen von<br />

Zeitzeugen und Politikern. Naumann gelingt<br />

es, dieses Stimmengewirr plastisch<br />

zu illustrieren.<br />

Klaus Naumann hat ein sehr lesbares,<br />

spannendes Buch geschrieben und<br />

eine Unmenge von Material meisterhaft<br />

in eine Collage verpackt. Durch die Vielfalt<br />

der Texte gewinnt man Einblick in<br />

die Widersprüchlichkeiten der heutigen<br />

Gesellschaft in Deutschland, und man<br />

versteht, wie schwierig der Umgang mit<br />

den schrecklichen Vergangenheiten ist. Es<br />

muß jedoch nochmals angemerkt werden,<br />

daß diese Studie kein wissenschaftliches<br />

Buch im traditionellen Sinne ist,<br />

da<strong>für</strong> fehlen wichtige Elemente. Als Methode<br />

wird zwar die Inhaltsanalyse benannt<br />

(siehe oben), nirgendwo sind jedoch<br />

die Kategorien abgeleitet und definiert.<br />

Das Auswahlverfahren der Texte<br />

bleibt unklar; die einzelnen Textsorten<br />

innerhalb der Zeitung werden nicht getrennt,<br />

was aber aus diskursanalytischer<br />

Sicht notwendig gewesen wäre, denn ein<br />

Kommentar ist signifikant anders getextet<br />

als ein Bericht. Die vielfältige Verwendung<br />

linguistischer Termini und dis-<br />

kursanalytischer Begriffe bleibt <strong>für</strong> eine<br />

Fachfrau verwirrend: Welchen Diskursbegriff<br />

verwendet Naumann, was sind etwa<br />

” Verwerfungen eines Textes“ Trotz<br />

dieser Mängel ist dieses Buch ein wichtiger<br />

und sehr aufschlußreicher, blendend<br />

geschriebener Essay, der viele relevante<br />

Fragen zur Aufarbeitung von Vergangenheit<br />

illustriert und einer breiten Leserschaft<br />

zugänglich macht. Damit erfüllt es<br />

eine sehr wichtige Aufgabe: nämlich gerade<br />

Tabuthemen in einer Weise zu präsentieren,<br />

die akzeptabel ist und nicht sofort<br />

Widerstand und Abwehr hervorruft. Es<br />

ist zu hoffen, daß Naumanns Buch auch<br />

in Schulen Eingang finden und zur Reflexion<br />

verhelfen wird.<br />

Ruth Wodak, <strong>Wien</strong><br />

Anmerkungen<br />

1 Ich bin Richard Mitten und Alexander<br />

Pollak <strong>für</strong> ihre wichtigen und anregenden Bemerkungen<br />

sehr dankbar.<br />

2 Vgl. Ruth Wodak u. a., ” Wir sind alle unschuldige<br />

Täter“, Frankfurt am Main 1990,<br />

sowie dies. u. a., Die Sprachen der Vergangenheiten,<br />

Frankfurt am Main 1994.<br />

3 Beispielsweise Teun Van Dijk, Ideology,<br />

London 1998, sowie Robert Fowler, Language<br />

in the News, London 1995.<br />

4 Richard Mitten, Jews and other Victims.<br />

The ’ Jewish Question‘ and Discourses of Victimhood<br />

in post-war Austria. Delivered to<br />

the Conference ” The Dynamics of Antisemitism<br />

in the Second Half of the Twentieth<br />

Century“ SICSA, Jerusalem, June 1999.<br />

5 Siehe auch Tony Judt, The Past is Another<br />

Country. Myth and Memory in Postwar<br />

Europe, in: Daedalus 121 (Fall 1992), sowie<br />

Istvan Deak, A Fatal Compromise The Debate<br />

Over Collaboration and Resistance in<br />

Hungary, in: East European Politics and Societies<br />

9 (Spring 1995), 209–23.<br />

6 Vgl. Frank Stern, The Whitewashing of the<br />

Yellow Badge, London 1990.<br />

7 Theo Van Leeuwen, The Representation of<br />

Social Actors, in: Roa Caldas-Coulthard u.<br />

Malcolm Coulthard, Hg., Texts and Practices,<br />

London 1997, 32–70.<br />

196 ÖZG 11.2000.1


8 Richard Mitten, The Politics of Antisemitic<br />

Prejudice. The Waldheim Phenomenon in<br />

Austria, Boulder (Co.) 1992.<br />

Johanna Gehmacher, ” Völkische Frauenbewegung“.<br />

Deutschnationale und nationalsozialistische<br />

Geschlechterpolitik in Österreich,<br />

<strong>Wien</strong>: Döcker 1998.<br />

Johanna Gehmachers Buch über die<br />

Frauenpolitik der Deutschnationalen und<br />

der Nationalsozialisten in Österreich zwischen<br />

1920 und 1938 bietet eine differenzierte<br />

Analyse von Organisationsstrukturen,<br />

Zielen und Aktivitäten des<br />

weiblichen, völkischen Milieus vor 1938<br />

und konfrontiert diese mit Selbstaussagen<br />

und rückblickenden Einschätzungen<br />

der Aktivistinnen. Die Autorin zeigt<br />

die Unterschiede in den frauenpolitischen<br />

Programmen der beiden Parteien, aber<br />

auch und vor allem, wie über gemeinsame<br />

Aktivitäten und die Konstruktion<br />

einer ” völkischen Frauenbewegung“ das<br />

deutschnationale Milieu im Nationalsozialismus<br />

aufging.<br />

Das Buch gliedert sich in drei große<br />

Kapitel zur deutschnationalen und zur<br />

nationalsozialistischen Geschlechterpolitik<br />

sowie zu den ” Koalitionen ’ völkischer‘<br />

Frauen“ zwischen 1933 und 1938.<br />

In allen Kapiteln wird die Darstellung<br />

der Organisationsformen und Ideologien<br />

der Parteien mit sozialhistorischen<br />

und geschlechterpolitischen Analysen<br />

verknüpft. Den Abschluß der Kapitel<br />

bilden biographische Untersuchungen<br />

prominenter Parteifrauen, in denen<br />

die zuvor erarbeiteten Ergebnisse noch<br />

einmal verdichtet dargestellt werden. Johanna<br />

Gehmacher versteht ihre Arbeit<br />

auch als einen Beitrag zur neueren Nationalismusforschung,<br />

indem sie nach der<br />

Konzeption der Nation aus geschlechterpolitischer<br />

Sicht fragt. Die ” gedachte<br />

Ordnung“ (M. R. Lepsius) der Nati-<br />

on ist <strong>für</strong> die hier untersuchten Gruppen<br />

identisch mit einer rassistisch definierten<br />

’ deutschen Volksgemeinschaft‘. Es war<br />

dieser Begriff der Volksgemeinschaft‘,<br />

”<br />

der eine tragfähige Brücke zwischen den<br />

zunächst unterschiedlichen geschlechterpolitischen<br />

Konzeptionen der GDVP und<br />

der NSDAP schuf und somit eine zentrale<br />

Funktion <strong>für</strong> ein Zusammengehen der<br />

beiden Gruppen übernahm.<br />

In der Großdeutschen Volkspartei,<br />

1920 als konservative Sammlungspartei<br />

gegründet, gab es nur geringe Vertretungsmöglichkeiten<br />

<strong>für</strong> Frauen. Zugleich<br />

bot jedoch der Charakter einer Sammlungspartei<br />

einzelnen Frauen Möglichkeiten<br />

zur Agitation und zum Aufbau<br />

von Gruppenzusammenhängen. Die Gesamtpartei<br />

behinderte zwar den Ausbau<br />

solcher Frauenvereine nicht, da sie<br />

auch auf die weiblichen Wähler angewiesen<br />

war, doch zeigte man im Großen<br />

und Ganzen eher Desinteresse an frauenpolitischen<br />

Themen. Auf diese Weise<br />

zugleich begrenzt und frei, konnten<br />

großdeutsche Politikerinnen wie Emmy<br />

Stradal daran gehen, Frauenfragen in<br />

die Partei zu integrieren. Themen wie<br />

die Ausbildung der Mädchen, Erwerbsfragen<br />

lediger Frauen, die Ehegesetzgebung<br />

oder Gleichstellungsfragen wurden,<br />

oft in enger Zusammenarbeit mit dem<br />

” Bund Österreichischer Frauenvereine“,<br />

intensiv diskutiert und fanden zum Teil<br />

auch eine Formulierung in Gesetzesvorhaben.<br />

Das großdeutsche Frauenvereinsmilieu,<br />

insbesondere der Reichsverband<br />

”<br />

Deutscher Frauenvereine“, bildete dabei<br />

einen günstigen Rahmen <strong>für</strong> die Initiativen<br />

der Politikerinnen – die dann allerdings<br />

an der nicht vorhandenen Vertretung<br />

von großdeutschen Frauen im Nationalrat<br />

und der Ignoranz männlicher Politiker<br />

scheiterten. Nach offizieller Parteimeinung<br />

sollten Frauen vor allem <strong>für</strong><br />

Frauenthemen agitieren, doch verstanden<br />

die großdeutschen Politikerinnen ih-<br />

ÖZG 11.2000.1 197


e Tätigkeit eher als gesamtgesellschaftliche<br />

Aufgabe: Frauenpolitik sei Ausdruck<br />

einer Politik, die dem Wohl der Gemeinschaft,<br />

nämlich der Volksgemeinschaft,<br />

diene. Über die Verknüpfung der Kategorien<br />

Mutter‘ und Volk‘ wurden (völki-<br />

’ ’<br />

sche) Frauen als die berufenen Vorkämp-<br />

”<br />

ferinnen des Gedankens der Volksgemeinschaft“<br />

gedacht und somit in das Zentrum<br />

großdeutscher Politik gerückt. Alle<br />

Frauen seien Hausfrauen und/oder<br />

Mütter und hätten daher – anders als<br />

die Männer – überwiegend gemeinsame<br />

Interessen. Die Bürgerin wurde auf diese<br />

Weise als Hausfrau definiert und eine vorgebliche<br />

sozialübergreifende Interessenidentität<br />

hergestellt. In der politischen<br />

Programmatik der GDVP spiegelte sich<br />

dieser Anspruch wider: Man verstand sich<br />

als eine Partei der Volksgemeinschaft,<br />

war aber tatsächlich vorwiegend eine Partei<br />

der antiklerikal eingestellten Mittelschichten<br />

und des Beamtentums. Gerade<br />

im Themenkomplex Hausfrauenpoli-<br />

’<br />

tik‘ zeigte sich deutlich die politische Zielrichtung<br />

der GDVP-Frauen sowie einiger<br />

Vorfeldorganisationen wie z. B. dem Ver-<br />

”<br />

band deutscher Frauen Volksgemein-<br />

’<br />

schaft‘“. Über die Einrichtung von Hauswirtschaftskammern<br />

sollte ein spezifisch<br />

weiblicher Zugang zur Politik konstruiert<br />

werden, der in seiner ständischen<br />

Grundlage aber der demokratischen Verfassung<br />

Österreichs widersprach. Die vorgebliche<br />

Interessensidentität der Hausfrauen<br />

wurde als Grundlage <strong>für</strong> die Verwirklichung<br />

der Volksgemeinschaft gesehen<br />

– verknüpft mit einer antisemitischen<br />

Definition, wer denn überhaupt zur<br />

” deutschen Volksgemeinschaft“ gehöre.<br />

An diese Frauenpolitik der GDVP<br />

konnte der Nationalsozialismus erfolgreich<br />

anknüpfen. In den zwanziger Jahren<br />

war dieser nur eine marginale Gruppierung<br />

in Österreich und zudem noch<br />

intern in zwei Fraktionen gespalten. Bis<br />

zum Beginn der dreißiger Jahre wa-<br />

ren auch die Frauenorganisationen des<br />

NS nur rudimentär entwickelt, so etwa<br />

der 1926 gegründete ” Bund Nationalsozialistischer<br />

Frauen <strong>Wien</strong>s“. Mit dem<br />

Verbot der nationalsozialistischen Bewegung<br />

im Frühjahr 1933 wurden auch<br />

die ersten Frauengruppen aufgelöst, allerdings<br />

mit einer folgenschweren Ausnahme.<br />

Der <strong>Wien</strong>er Frauenbund nannte<br />

sich nun ” Bund nationaler deutscher<br />

Frauen <strong>Wien</strong>s“, entging damit dem Parteiverbot<br />

und konnte sich erfolgreich als<br />

Organisationsnetz <strong>für</strong> die illegale Bewegung<br />

betätigen. Programmatisch versuchten<br />

die Nationalsozialistinnen, die offensichtlichen<br />

Widersprüche der Partei in<br />

bezug auf Frauen zu lösen. Über die Konstruktion<br />

eines neuen Maßstabes <strong>für</strong> erfolgreiche<br />

Gleichberechtigung wollte man<br />

gerade erwerbstätige und in der Öffentlichkeit<br />

tätige Frauen <strong>für</strong> sich einnehmen:<br />

Nicht mehr die Gleichberechtigung zwischen<br />

Männern und Frauen stand zur Debatte,<br />

sondern die Gleichstellung der ledigen,<br />

berufstätigen mit der verheirateten,<br />

nicht erwerbstätigen Frau. Gegenüber der<br />

Frauenpolitik der GDVP betonte aber<br />

der Nationalsozialismus hier und in allen<br />

anderen Programmpunkten den Primat<br />

ihrer rassistischen Politik. Jede Maßnahme<br />

habe zuerst und vor allem die<br />

Nutzanwendung <strong>für</strong> das Volk als Rasse<br />

zu berücksichtigen. Entsprechend wurde<br />

Mutterschaft nicht nur als ein natürlicher,<br />

sondern auch als ein politischer Beruf<br />

aufgefaßt. Die ” deutsche Ehe“ wurde<br />

so zur Grundlage der ” deutschen Volksgemeinschaft“.<br />

Johanna Gehmacher kommt<br />

hier zum Schluß, daß sich die nationalsozialistische<br />

Programmatik hinsichtlich<br />

der ” Rassenfrage“ deutlich von den großdeutschen<br />

Inhalten unterscheide, da der<br />

Rassismus nun ” Ausgangspunkt jeder Erklärung“<br />

sei, nicht mehr nur ” Platzhalter<br />

<strong>für</strong> das Unerklärte“ (S. 134). Inwiefern<br />

dies nur eine Frage des zeitlichen Abstandes<br />

zwischen der GDVP in den zwan-<br />

198 ÖZG 11.2000.1


ziger Jahren und der NSDAP in den dreißiger<br />

Jahren oder doch eine grundsätzliche<br />

Differenz zwischen der GDVP und<br />

der NSDAP war, bleibt leider offen.<br />

Der Aufbau des Buches betont jedoch<br />

eher die Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten<br />

der beiden Gruppen, weniger<br />

die Unterschiede, wenn im abschließenden<br />

Kapitel die Koalitionen völki-<br />

”<br />

scher Frauen“ in das Zentrum der Betrachtung<br />

kommen. Über die gemeinsame<br />

Tätigkeit großdeutscher und nationalsozialistischer<br />

Frauen zwischen 1933<br />

und 1938 <strong>für</strong> die illegale NSDAP verfestigte<br />

sich das völkische Frauenvereinsmilieu.<br />

Die 1931 gegründete Völkische<br />

”<br />

Nothilfe“ beispielsweise wurde von beiden<br />

Gruppen als Kampfbündnis“ in-<br />

”<br />

terpretiert und war somit ein wichtiger<br />

Stein auf dem Weg zum Anschluß. Viele<br />

Frauenaktivitäten trugen dazu bei, das<br />

nationalsozialistische Milieu zu stabilisieren<br />

und auszuweiten: Wohltätigkeitsarbeiten,<br />

Hausfrauenagitation und nicht<br />

zuletzt die eigene Presse in Form der Zeitschriften<br />

Die deutsche Frau“ und Frau<br />

” ”<br />

und Welt“. All dies konnte erfolgreich<br />

sein, weil die Behörden ein grundsätz-<br />

”<br />

liches Desinteresse“ an der Tätigkeit von<br />

Frauen zeigten. Die einseitige Wahrnehmung<br />

der Beamten, nur Männer würden<br />

politische Arbeit leisten, trug nicht unerheblich<br />

zur Stärkung des Nationalsozialismus<br />

bei. Im Schatten der legalen Frauenwohltätigkeit<br />

bauten die Nationalsozialistinnen<br />

überaus erfolgreich ihre eigenen<br />

Strukturen auf. Sieben Monate nach dem<br />

” Anschluß“ an das Deutsche Reich war<br />

diese Aufbauarbeit abgeschlossen. Paradigmatisch<br />

<strong>für</strong> den Übergang der völki-<br />

”<br />

schen Koalition“ zum NS stellt Gehmacher<br />

am Ende die großdeutsche Nationalratsabgeordnete<br />

Maria Schneider vor, die<br />

nach dem März 1938 eine zentrale Position<br />

in der NS- Frauenschaft erhielt.<br />

Johanna Gehmacher hat eine sehr detaillierte<br />

und vielseitige Untersuchung<br />

des völkischen Frauenvereinsmilieus in<br />

Österreich vor 1938 geschrieben. Die<br />

Komplexität des Themas erfordert einen<br />

mehrdimensionalen Zugriff: Neben klassischen<br />

politik- und sozialhistorischen<br />

Fragen werden in diesem Buch auch<br />

diskurs- und textanalytische Perspektiven<br />

verfolgt. Manches wird dabei nur<br />

sehr thesenartig präsentiert und gestandene<br />

Sozialhistorikerinnen werden vielleicht<br />

den einen oder anderen statistischen<br />

Nachweis vermissen. Diese vermeintliche<br />

Schwäche des Buches ist aber<br />

zugleich seine Stärke: Die pointierte Argumentation<br />

Johanna Gehmachers hinterfragt<br />

scheinbare historische Gewißheiten<br />

und regt damit das eigene (kritische)<br />

Mitdenken nachhaltig an.<br />

Kirsten Heinsohn, Hamburg<br />

ÖZG 11.2000.1 199


Anschriften der Autorinnen und Autoren<br />

Götz Aly, Stubenrauchstraße 11, D-12203 Berlin.<br />

Ruth Beckermann, Marc Aurel-Straße 5, A-1010 <strong>Wien</strong>.<br />

Christian Fleck, Institut <strong>für</strong> Soziologien,<br />

<strong>Universität</strong> Graz, <strong>Universität</strong>sstraße 15, A-8010 Graz.<br />

Jerald T. Hage, Center for Innovation,<br />

University of Maryland, College Park, MD 20742, USA.<br />

Kirsten Heinsohn, Historisches Seminar,<br />

<strong>Universität</strong> Hamburg, Von-Melle-Park 6,<br />

D-20146 Hamburg.<br />

Ellen Jane Hollingsworth, University of Wisconsin,<br />

4111 Humanities Building, 455 North Park Street,<br />

Madison WI 53706, USA.<br />

J. Rogers Hollingsworth, University of Wisconsin,<br />

4111 Humanities Building, 455 North Park Street,<br />

Madison WI 53706, USA.<br />

Albert Müller, Institut <strong>für</strong> Zeitgeschichte,<br />

<strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong>, Spitalgasse 2, A-1090 <strong>Wien</strong>.<br />

Karl H. Müller, Institut <strong>für</strong> Höhere Studien,<br />

Stumpergasse 56, A-1060 <strong>Wien</strong>.<br />

Ruth Wodak, Institut <strong>für</strong> Sprachwissenschaft,<br />

<strong>Universität</strong> <strong>Wien</strong>, Berggasse 11, A-1090 <strong>Wien</strong>.<br />

200 ÖZG 11.2000.1

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