17.12.2012 Aufrufe

WIR HEIMKINDER Von 1949 bis 1957 war ich (mit Unterbrechung ...

WIR HEIMKINDER Von 1949 bis 1957 war ich (mit Unterbrechung ...

WIR HEIMKINDER Von 1949 bis 1957 war ich (mit Unterbrechung ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>WIR</strong> <strong>HEIMKINDER</strong><br />

MEINE KURZBIOGRAFIE über 5 Jahre Kindheitserinnerungen<br />

im Ev. Johannesstift Berlin-Spandau<br />

<strong>Von</strong> <strong>1949</strong> <strong>bis</strong> <strong>1957</strong> <strong>war</strong> <strong>ich</strong> (<strong>mit</strong> <strong>Unterbrechung</strong> von 2 Jahren) im Quellenhof auf der<br />

Kinderstation im 1. OG untergebracht. Die Heimleitung hatte Schwester Mathilde<br />

Trillhaas, die eine dominante Rolle für uns Heimkinder im Stöckerhaus und Quellen-<br />

hof spielte, Tante Agnes Wiegel <strong>war</strong> die Stellvertreterin.<br />

Weil meine Mutter wegen Brot und Kohlen Schlange stand, und für Berlin als Trüm-<br />

merfrau diente, wuchs <strong>ich</strong> die ersten 4 Lebensjahre bei meiner Oma auf. Wegen früh-<br />

kindl<strong>ich</strong>em Gelenkrheuma <strong>mit</strong> Befall aller Gelenke, folgten zahlre<strong>ich</strong>e Krankenhaus-<br />

aufenthalte, <strong>bis</strong> <strong>ich</strong> <strong>mit</strong> 6 Jahren meine Heimkarriere im Ev. Johannesstift begann.<br />

Oma gab m<strong>ich</strong> <strong>1949</strong> auf der Kinderstation im Quellenhof ab und besuchte m<strong>ich</strong> noch<br />

einige male, wobei sie dann immer alle Zimmerpflanzen auf der Station pflegte. Als sie<br />

n<strong>ich</strong>t mehr kam, vermisten alle Kinder sie. Irgendwie ver<strong>mit</strong>telte man mir, dass sie ver-<br />

storben <strong>war</strong>. Nun hatte <strong>ich</strong> keine Bezugsperson mehr nach draußen, <strong>ich</strong> <strong>war</strong> allein gel-<br />

assen und vergessen in einem „Fürsorge-Heim“.<br />

Ich bekam einen Vormund, aber Frau Benthe <strong>war</strong> im guten Glauben, dass <strong>ich</strong> in der<br />

christl<strong>ich</strong>en Anstalt gut aufgehoben <strong>war</strong>. Gelegentl<strong>ich</strong> besuchte sie m<strong>ich</strong>, Gespräche<br />

fanden ausschließl<strong>ich</strong> in Gegen<strong>war</strong>t der Heimleitung statt. Der Anfang meiner Leidens-<br />

zeit begann.<br />

Ich <strong>war</strong> klein und schmächtig, und lag am Tag der Einschulung auf einer Liege. Wir<br />

gehunfähigen Kinder wurden tägl<strong>ich</strong> an die Treppe gestellt, um in den Schulraum<br />

in das benachbarte Stöckerhaus zu kommen. Abwärts rutschten wir Stufe für Stufe<br />

auf dem Hosenboden die Treppe runter, was aufwärts schon sehr viel schwieriger<br />

<strong>war</strong>. Wir hingen im Geländer und hangelten uns sehr mühsam die Treppe nach<br />

oben. Immer unter der Androhung:<br />

„wenn Du es n<strong>ich</strong>t schaffst, bekommst Du n<strong>ich</strong>ts zu essen“.<br />

Die Macht der Peinigerinnen <strong>war</strong> unbegrenzt und sie durften über alles entscheid-<br />

en. Sie beherrschten uns, wir Kinder durften nie eigene Entscheidungen treffen.<br />

Ich kann m<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t an liebevolle Momente erinnern, oder dass von ihnen jemals<br />

Fragen an uns gestellt wurden. Sie bestimmten, was <strong>ich</strong> wann esse, was <strong>ich</strong> anziehe,<br />

dass <strong>ich</strong> kratzende Wollstrümpfe tragen musste, dass ärztl<strong>ich</strong>e Eingriffe vor genom-<br />

2/12


2/12<br />

men wurden, dass <strong>ich</strong> <strong>mit</strong> Horst (der keinen Darmschließmuskel hatte) die Bade-<br />

wanne teilen musste, dass wir tägl<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem Rücken an ein heißes Wasserrohr<br />

lehnen mussten u.v.m. Alles geschah gegen unseren Willen.<br />

Toilettengänge <strong>war</strong>en zeitl<strong>ich</strong> vorgeschrieben. Schnell begriff <strong>ich</strong>, dass die Notdurft<br />

bei Jungen dringender ist. Je lauter sie wild zappelten und nach Hilfe schrien, desto<br />

zynischer reagierten die Tanten. Ganz mutig <strong>war</strong>en die Mädchen, die ihnen die Urin-<br />

flasche re<strong>ich</strong>ten.<br />

Wenn wir n<strong>ich</strong>t gehorchten, gab es Prügel. Diese Prügelattacken gehörten zur Tag-<br />

esordnung. Lothar <strong>war</strong> schon auf der Jugendstation untergebracht. Als er und seine<br />

Freunde s<strong>ich</strong> mal jenseits des Anstaltszaunes entfernten, wurden sie nach ihrer Rück-<br />

kehr kollektiv brutal <strong>mit</strong> einem Tepp<strong>ich</strong>klopfer auf dem nackten Hintern verdrosch-<br />

en. Das fand unter Ausschluss anderer Personen auf dem Dachboden hinter versch-<br />

lossener Tür statt. Schließl<strong>ich</strong> <strong>war</strong> absoluter Gehorsam oberstes Gebot.<br />

Mit 23 Jahren hatte Lothar s<strong>ich</strong> selbstständig eine Arbeitsstelle in der freien Wirt-<br />

schaft gesucht. Das freudige Ereignis <strong>war</strong> da<strong>mit</strong> gekrönt, dass Schwester Mathilde<br />

ihn fristlos aus dem Heim rausschmeißen wollte. Wenn s<strong>ich</strong> da n<strong>ich</strong>t Tante Ann-<br />

chen eingemischt hätte, so dass er noch einige Wochen bleiben durfte, <strong>bis</strong> er in<br />

die Freiheit entlassen wurde.<br />

Manchmal gab es Essen, was der Geschmacksnerv einfach n<strong>ich</strong>t schlucken konnte.<br />

Immer wenn die vollschlanke Schwester Erika ihren Auftritt hatte und s<strong>ich</strong> die<br />

Gummischürze demonstrativ umband, dann wirkte das sehr bedrohl<strong>ich</strong> auf uns.<br />

Sie nutzte es aus, dass wir widerstandsunfähig <strong>war</strong>en, riss uns an den Haaren und<br />

am Arm vom Stuhl hoch, wodurch <strong>ich</strong> zu Boden stürzte. Weil das sehr schmerzhaft<br />

<strong>war</strong>, weinte <strong>ich</strong> jedes mal laut. Sie schleifte sie uns über den Holzfußboden in den<br />

Schlafraum , da<strong>mit</strong> die anderen Kinder n<strong>ich</strong>t verängstigt der Zwangsmaßnahme<br />

zu sehen mussten.<br />

Sie presste m<strong>ich</strong> zwischen ihre Schenkel und fütterte sehr brutal das Essen in mei-<br />

nen zwangsgeöffneten Mund. Ich erbrach es und auch das Erbrochene musste wie-<br />

der gegessen werden. Das <strong>war</strong> n<strong>ich</strong>t einmalig, das <strong>war</strong> sehr oft. Für christl<strong>ich</strong>e Ver-<br />

hältnisse <strong>war</strong> das kein Erziehungsstil.<br />

Ich erinnere m<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t mehr, <strong>war</strong>um <strong>ich</strong> während des Schulunterr<strong>ich</strong>ts häufig von<br />

Frau Weinert bestraft wurde. Sehr oft musste <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem Ges<strong>ich</strong>t zur Wand<br />

3/13


4/12<br />

vor die Tür stellen, da<strong>mit</strong> jeder Vorbeikommende das getadelte Kind noch einmal<br />

missachtend wahrnimmt. Während dieser Zeit durfte <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t einmal sitzen, ob-<br />

wohl <strong>ich</strong> grausame Gelenkschmerzen hatte. Das hatte n<strong>ich</strong>ts <strong>mit</strong> Pädagogik oder<br />

Kindererziehung zu tun, das <strong>war</strong> entgegen dem Züchtigungsrecht.<br />

Wenn man s<strong>ich</strong> als ein behindertes Heimkind durch Demütigungen ganz unten<br />

fühlte und der Leidensdruck zum Weinen überging, da<strong>mit</strong> wurde uns die Ohnmacht<br />

bewusst gemacht, wie wir der Wertschätzung unseres Daseins beraubt werden. Wie<br />

sollten wir hier erwachsen werden?<br />

In den Schulferien wurden große Mengen alter Tageszeitungen angeliefert. Mit den<br />

erwachsenen Behinderten mussten wir Kinder über Stunden und Tage auf der Ver-<br />

anda sitzend diese zum Zwecke für Toilettenpapier passgerecht schneiden. Eine<br />

andere Variante bot s<strong>ich</strong>, dass wir für das ganze Johannesstift säckeweise grüne<br />

Bohnen schnibbeln mussten.<br />

Die geschilderten Gewalt- und Machtmissbrauchserfahrungen führten u.a. dazu,<br />

dass <strong>ich</strong> fast jede Nacht von meinem eigenen Geschrei aufschreckte, weil große<br />

Panikattacken in meinem unterbewusst Sein aufbrachen. Der Ursache ist niemand<br />

nachgegangen, sie wurde sogar bagatellisiert.<br />

Auf vieles in meiner Kindheit hätte <strong>ich</strong> gern verz<strong>ich</strong>ten wollen, z.B. was <strong>mit</strong> Laufen<br />

zu tun hatte. Ich wurde aus dem Buddelkasten gezerrt, um „Gehübungen“ zum<br />

Bäcker zu machen. Bei diesem quälenden Spaziergang blieb mein lautes weinen<br />

n<strong>ich</strong>t ungehört. Oder: „wenn Du die Puppe haben willst, lauf hier her“.<br />

Ich habe sehr viel geweint in diesen 5 Jahren, aber irgendwann habe <strong>ich</strong> trainiert,<br />

meine seelischen und körperl<strong>ich</strong>en Schmerzen lautlos zum Ausdruck zu bringen.<br />

Um n<strong>ich</strong>t ständig negative Aufmerksamkeit bei den Tanten zu wecken, hatte <strong>ich</strong><br />

Trainiert, <strong>mit</strong> weit geöffneten Augen geräuschlos die Tränen kullern zu lassen, das<br />

<strong>war</strong> dann n<strong>ich</strong>t so auffällig.<br />

Jeden Sonntag wurden wir zwangsweise in die Kirche geschickt. Natürl<strong>ich</strong> wollte<br />

<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t in die Kirche, weil meine entzündeten Gelenke furchtbar schmerzten.<br />

Aber das wurde ignoriert. Obwohl der Grund offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> <strong>war</strong>, wir mussten <strong>mit</strong><br />

Schmerzen immer „fröhl<strong>ich</strong>“ sein. Ich denke, dass der Herrgott auch n<strong>ich</strong>t unbe-<br />

dingt auf m<strong>ich</strong> <strong>war</strong>tete, s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> akzeptierte ER, dass <strong>ich</strong> aus dem gen. Grund<br />

lieber auf der Station blieb.<br />

5/12


6/12<br />

Eine Form der Folter wurde angewandt, in dem streng darauf geachtet und kont-<br />

rolliert wurde, dass wir im Bett die Hände auf dem Deckbett liegen hatten, sonst<br />

gab es Stockschläge.<br />

Es gab „ geistig-schl<strong>ich</strong>te“ Mitarbeiter/innen, die selbst in einem Abhängigkeits-<br />

verhältnis standen. Sie mussten ohne Lohn für ein Taschengeld arbeiten und es<br />

wurden keine sozialvers<strong>ich</strong>erungspfl<strong>ich</strong>tigen Beitragszahlungen für sie eingezahlt.<br />

Auch sie <strong>war</strong>en der Willkür der Stiftsleitung ausgeliefert, aber ein Herzstück für<br />

uns. Sie brachten die nötige Sensibilität für uns auf, die wir so sehr vermissten.<br />

Wenn Lilo, Barbara oder Uli n<strong>ich</strong>t von den Herrscherinnen beobachtet oder bel-<br />

auscht wurden, haben sie uns über die Treppen getragen oder andere unerlaubte<br />

Hilfeleistungen zur Verfügung gestellt, um unsere Leiden zu linden.<br />

Evi Schumacher; eine Heimbewohnerin bei den „Großen Mädchen“ im EG im<br />

8-Bett-Zimmer untergebracht, wurde <strong>mit</strong> sog. Missbildung, d.h. <strong>mit</strong> Rumpf, nur<br />

<strong>mit</strong> einem Arm <strong>mit</strong> 3 Finger geboren. Evi musste sehr viel arbeiten im Quellenhof,<br />

was weit über ihre körperl<strong>ich</strong>en Mögl<strong>ich</strong>keiten hinaus ging. Tagsüber versorgte sie<br />

pflegerisch eine schwerstbehinderte Mitbewohnerin, wie z.B. Körperhygiene, be-<br />

/entkleiden, Essen geben, am Nach<strong>mit</strong>tag arbeitete sie in der Nähstube, nachts<br />

betreute sie schwerstkranke (sterbende) Kinder. Für diese „Zwangsarbeit“ hat Evi<br />

kein Geld bekommen.<br />

Natürl<strong>ich</strong> wurden auch für sie keine Rentenbeiträge eingezahlt oder ähnl<strong>ich</strong>e An-<br />

erkennungen geleistet. Als s<strong>ich</strong> Evi aus dem Johannesstift aus eigener Kraft selbst<br />

befreite, ist sie nur auf Gegenwehr gestoßen. Mit 43 Jahren bezog sie Ihre erste,<br />

eigene Wohnung und <strong>war</strong> von Sozialhilfe abhängig. Ich bin Evi diesen Nachruf<br />

schuldig. Sie hat viel geleistet um 1975 endl<strong>ich</strong> das Leben in Freiheit zu genießen.<br />

Evi Schumacher ist im Januar 2010 verstorben und <strong>ich</strong> habe ihr am Grab verspro-<br />

chen, diesen Teil ihrer Biografie öffentl<strong>ich</strong> zu machen.<br />

Da<strong>mit</strong> derartige Gewalttaten n<strong>ich</strong>t nach Außen dringen, <strong>war</strong>en Besuche von Ange-<br />

hörigen unerwünscht und wurden mögl<strong>ich</strong>st verhindert. Geschlossene Systeme<br />

haben die Macht, dass all das, was im System passiert, im System verborgen bleib-<br />

en soll. Man säte Misstrauen, in dem bewusst schlecht über unsere Familienange-<br />

hörige in unserer Gegen<strong>war</strong>t geredet wurde, um unsere Sehnsucht nach ihnen will-<br />

kürl<strong>ich</strong> zu unterdrücken. Ich wusste n<strong>ich</strong>t, was es heißt, eine Familie zu haben. Die<br />

habe <strong>ich</strong> erst nach meiner Rückkehr in Berlin 1964 erst gesucht. Das Johannes-<br />

stift <strong>war</strong> leider zu keiner Zeit ver<strong>mit</strong>telnd tätig.<br />

7/12


8/12<br />

Meine Schreckenszeit wurde durch einen 2-jährigen Aufenthalt in einer Kinderklinik<br />

in Bayern für m<strong>ich</strong> unterbrochen. Ich <strong>war</strong> sehr glückl<strong>ich</strong>, dort durch das Personal<br />

eine Daseinsfürsorge erfahren zu dürfen. In dieser Zeit habe <strong>ich</strong> nur einmal Besuch<br />

aus der Heimat bekommen. Herr Superintendent Harder hatte für seinen Urlaub<br />

den Auftrag von der Stiftsleitung erhalten.<br />

Als Jugendl<strong>ich</strong>e fing <strong>ich</strong> an, über das systematische Unrecht in konfessionellen<br />

Einr<strong>ich</strong>tungen nach zu denken und ob das vermeintl<strong>ich</strong> christl<strong>ich</strong>e Johannesstift<br />

das menschl<strong>ich</strong>e Leben ausre<strong>ich</strong>end achtet. Wir behinderten Kinder <strong>war</strong>en dem<br />

praktizierten Machtgehabe des Personals ausgeliefert. Alles geschah gegen unseren<br />

Willen und <strong>mit</strong> Gewalt. Ich stellte mir die Frage, ob hier den Verantwortl<strong>ich</strong>en die<br />

Nächstenliebe und der christl<strong>ich</strong>e Glaube an behinderten Kindern abhanden gekom-<br />

men ist.<br />

Es darf aber n<strong>ich</strong>t unerwähnt bleiben, dass man mir <strong>mit</strong> dem langen Klinikaufent-<br />

halt in Garmisch-Partenkirchen und der späteren Berufsausbildung in Volmarstein<br />

eine Chance gab, die n<strong>ich</strong>t vielen behinderten Heimbewohnern zu Teil wurde. Nur<br />

dadurch habe <strong>ich</strong> meine Eigenständigkeit und den Absprung in diese Gesellschaft<br />

geschafft.<br />

Ich habe m<strong>ich</strong> der Religion und dem Glauben im Zusammenhang <strong>mit</strong> den geschild-<br />

erten Gewalttaten nie abgeschrieben. Sie haben m<strong>ich</strong> zu keiner Zeit veranlasst, m<strong>ich</strong><br />

von der Kirche ab zu wenden. Aber <strong>ich</strong> habe m<strong>ich</strong> entschlossen, n<strong>ich</strong>t in Gottesdien-<br />

ste zu gehen, wo <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> in die Gemeinde integrieren soll. Für m<strong>ich</strong> ist Gott überall<br />

da, wo <strong>ich</strong> auch bin.<br />

1959 nahm <strong>ich</strong> endgültig Abschied vom Ev. Johannesstift. Ich <strong>war</strong> 16 Jahre alt, ab-<br />

solvierte die 2-jährige Handelsschule zzgl. eine Ausbildung zur Stenokontoristin in<br />

Volmarstein /Ruhr. Dann fing mein selbstbestimmtes Leben an. Als Erwachsene<br />

wieder in Berlin habe <strong>ich</strong> meine Freundinnen 1964 im Quellenhof besucht und<br />

musste tief betroffen feststellen, dass niemand eine Chance erhalten hatte, ein<br />

Teil dieser Gesellschaft außerhalb einer Institution zu werden.<br />

1965 habe <strong>ich</strong> ein Ehemaligentreffen im Johannesstift organisiert, was bei den Be-<br />

wohnern und dem Personal auf großes Interesse gestoßen ist. Zu diesem Zeitpunkt<br />

glaubte <strong>ich</strong>, dass alle Wunden bei mir geheilt sind. Ich musste feststellen, dass diese<br />

grausamen Erziehungsmethoden der Erniedrigung, Verhöhnung, Verachtung u.v.m.<br />

Signalwirkung hatte und auf viele Kinderheime in Deutschland übergeschwappt ist.<br />

9/12


10/12<br />

Gott wollte n<strong>ich</strong>t, dass wir Kinder so leben, denn Gott liebt die Menschen. Mit<br />

dieser Erkenntnis bin <strong>ich</strong> in der Realität angekommen. Wie tief die Narben sitzen<br />

habe <strong>ich</strong> 1975 gespürt, als <strong>ich</strong> nach Kreuzberg und Zehlendorf eine eigene Wohn-<br />

ung in Spandau angeboten bekam. M<strong>ich</strong> erwische das kalte Gefühl, meinen Peinig-<br />

erinnen dann wieder ganz nahe zu sein.<br />

Für meine Erziehung musste der Quellenhof keine Verantwortung übernehmen,<br />

denn es <strong>war</strong> keine Erziehung. Darauf bin <strong>ich</strong> sehr stolz. Ich habe viel erre<strong>ich</strong>t im<br />

Leben und das, was <strong>ich</strong> erre<strong>ich</strong>t habe, das habe <strong>ich</strong> mir eigenständig erworben.<br />

Heute lebe <strong>ich</strong> ein Leben, so wie <strong>ich</strong> es mir immer gewünscht habe:<br />

In Selbstbestimmung und Würde.<br />

Wir Opfer sind dem Johannesstift aus dem Blick geraten, aber die Substanz der<br />

Vorwürfe ist heute aktuell. Künftig wird auch endl<strong>ich</strong> ein Vertreter für die Belange<br />

behinderter Menschen in die Debatte des „Runden Tisches“ der Regierung <strong>mit</strong> ein-<br />

bezogen.<br />

Meine Gefühle bleiben in Erinnerung was <strong>ich</strong> selbst erleben und bei den Freunden<br />

sehen musste. Die Schilderungen hier sind keine überzogen Beispiele und entbehren<br />

jegl<strong>ich</strong>er Vollständigkeit. Beim Schreiben haben sie m<strong>ich</strong> sehr nachdenkl<strong>ich</strong> gemacht,<br />

ob das Erlebte ein Ausdruck der christl<strong>ich</strong>en Norm <strong>war</strong>.<br />

Sehr oft habe <strong>ich</strong> heute Angst auf einer tickenden Zeitbombe zu sitzen. Sollten s<strong>ich</strong><br />

an meinem Lebensabend alle Gräueltaten wiederholen, wer wird m<strong>ich</strong> dann hören?<br />

Ich wollte hier n<strong>ich</strong>t meine kindl<strong>ich</strong>e Vergangenheit erklären, aber wir behinderten<br />

Kinder <strong>war</strong>en Opfer von Gewalt <strong>mit</strong> körperl<strong>ich</strong>en und seelischen Misshandlungen in<br />

einer christl<strong>ich</strong>en Einr<strong>ich</strong>tung. Ich sehe das Ev. Johannesstift in der Pfl<strong>ich</strong>t, die Dinge<br />

offen beim Namen zu nennen.<br />

W<strong>ich</strong>tig ist mir Ihre Feststellung, dass damals Unrecht im evangelischen Johannes-<br />

stift geschehen ist. Ich <strong>war</strong>ne davor, zu schweigen, denn diese Vergangenheit muss<br />

raus aus der Anony<strong>mit</strong>ät. Gle<strong>ich</strong>zeitig er<strong>war</strong>te <strong>ich</strong>, dass das Johannesstift s<strong>ich</strong> der<br />

politischen Debatte stellt.<br />

Ich musste mir meine Zeit von der Seele schreiben. Jetzt er<strong>war</strong>te <strong>ich</strong> eine öffent-<br />

l<strong>ich</strong>e Stellungnahme auf die folgenden Fragen:<br />

11/12


12/12<br />

� Wann wird das Johannesstift das Archiv zur Akteneins<strong>ich</strong>t öffnen<br />

� wie/wann wird das Johannesstift geeignete Recherchen einleiten<br />

� der Runde Tisch auf Bundesebene braucht Zuarbeit.<br />

Was werden Sie dafür tun, da<strong>mit</strong> die Schicksale der behinderten<br />

Heimkinder aus dem Quellenhof/Stöckerhaus in dem vom Deut-<br />

schen Bundestag eingesetzten Runden Tisch Gehör finden werden?<br />

URSULA<br />

den 31. Mai 2010 Erhalten<br />

Adresse ist der FAG bekannt

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!