Enya-Windsbraut-Birte-Laemmle-Leseprobe
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<strong>Enya</strong><br />
-<strong>Windsbraut</strong><br />
von<br />
<strong>Birte</strong> LÄmmle
www.buecher-birte.de<br />
Text, Umschlaggestaltung, Illustrationen und Satz:<br />
<strong>Birte</strong> Lämmle<br />
Lektorat: Mirjam Haas<br />
Bildmaterial (Hintergund, Cover):<br />
© Sondem/Fotolia<br />
© <strong>Birte</strong> Lämmle, Bremen 2017 – Alle Rechte vorbehalten.<br />
<strong>Birte</strong> Lämmle,<br />
Kienholt 40a, 22175 Hamburg,<br />
Deutschland<br />
ISBN-Taschenbuch: 978-3-7450-5326-5<br />
ISBN-Ebook: 978-3-7427-6630-4
Inhalt<br />
Aurora 9<br />
Fremde Besucher 25<br />
Nymphen 39<br />
Logbücher 47<br />
Ataleya 57<br />
Offizielles 69<br />
Juna 83<br />
Der Ball 91<br />
Taifun 107<br />
Regattafieber 123<br />
Gefährliche Gewässer 137<br />
Exotische Fracht 149<br />
Nymphenkunde 161<br />
Sturm 171<br />
Siegerehrung 185<br />
Undine 199<br />
Offenbarungen 211<br />
Antworten 229<br />
Anemoi-Training Undines Tipp 239<br />
Astvangar für alle 249<br />
Ivan „Landratten“ 265<br />
Rettungsaktion 275<br />
Aus der Kugel 289<br />
Das Gift der Teufelsranke 309<br />
Hoch hinaus 321<br />
Der Kampf 339<br />
Glossar 353
<strong>Enya</strong>s W<br />
Noor<br />
Saba<br />
Wandada<br />
Taifa<br />
Adische See<br />
Kunao-Inseln<br />
Euronia<br />
Ataleya<br />
Tunisan<br />
Tunisches Meer<br />
Astisia<br />
San Serao<br />
Radiz<br />
Sueeland
s Welt<br />
Tunisan<br />
hes Meer<br />
z<br />
Mondavia<br />
Astvangar<br />
Husting-Bile<br />
Anuischer Ozean<br />
Okanafi<br />
Klinatien<br />
Segal<br />
Saba
Aurora<br />
Alles schwankte. Unmöglich, die Sonne mit dem Horizont<br />
auf eine Linie zu bringen. <strong>Enya</strong> stand gegen das Deckshaus<br />
gelehnt. Ihre Füße waren so verkeilt, dass sie beide Hände für<br />
den Sextanten frei hatte. Die aufgewühlte See machte es ihr<br />
schwer, eine ordentliche Mittagsbreite zu nehmen. Wenigstens<br />
war die Sonne am Himmel zu sehen und nicht hinter einer<br />
dichten Wolkendecke versteckt, wie an den beiden vergangenen<br />
Tagen.<br />
Der Sextant war das Heiligtum ihres Vaters. Er ließ selten<br />
jemanden an das empfindliche Instrument heran. Golden<br />
glitzerte es in der Sonne. <strong>Enya</strong> hatte diese filigrane Apparatur<br />
schon als kleines Kind fasziniert, doch bis vor kurzem hatte sie<br />
sie nicht einmal halten dürfen. Früher war ihr eben noch nicht<br />
klar gewesen, dass ihre sichere Ankunft allein von diesem Gerät<br />
abhing. Eine andere Möglichkeit, ihre Position zu bestimmen,<br />
gab es auf hoher See nicht.<br />
In den vergangenen Tagen hatte ihr Vater sie mehrfach gebeten,<br />
eine Breite zu nehmen. Dann sollte sie mit ihm zusammen<br />
die komplizierten Berechnungen durchführen, um ihre Position<br />
zu bestimmen. Man musste den genauen Winkel zwischen<br />
Sonne und Horizont messen, dann hatte man zusammen mit der<br />
Uhrzeit alle wichtigen Daten. Sie sollte es nun endlich lernen,<br />
hatte ihr Vater gesagt. <strong>Enya</strong> wagte nicht, an den wahren Grund<br />
dieses plötzlichen Sinneswandels zu denken.<br />
„<strong>Enya</strong>, komm schnell, Kapitän Tore ist zusammengebrochen!<br />
Wir haben ihn in seine Koje gebracht. Er will mit dir sprechen“,<br />
riss Josse sie aus ihrer Konzentration. <strong>Enya</strong> legte sofort den<br />
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Sextanten in die mit Samt ausgeschlagene Kiste zurück, notierte<br />
hastig den gemessenen Winkel und raffte eilig alles zusammen.<br />
Dann folgte sie Josse unter Deck.<br />
Sie befand sich noch auf der Treppe, als Josse schon die Tür<br />
zur Kapitänskabine für sie öffnete. Da lag er, der große Kapitän<br />
– ihr Vater. Selbst unter der dicken Decke zitterte er in seiner<br />
Koje. Das sonst sonnengebräunte Gesicht wirkte fahl und eingefallen.<br />
Er war fast so weiß wie sein üppiger Vollbart. <strong>Enya</strong> legte<br />
eilig die Kiste mit dem Sextanten weg und setzte sich zu ihm ans<br />
Kopfende. Sie nahm seine Hand. „Was machst du nur wieder für<br />
Sachen? Du solltest doch liegen bleiben.“<br />
Seine Hand fühlte sich kalt und knochig an. Kaum zu glauben,<br />
dass er noch vor wenigen Tagen mit eben diesen Händen<br />
volle Weinfässer von Bord getragen hatte. Seit der Abreise aus<br />
San Serao hatte ihr Vater täglich mehr abgebaut. Auch Doc,<br />
der Schiffsarzt, konnte ihm nicht helfen. Doc hieß eigentlich<br />
Karl und war kein richtiger Arzt, aber er kannte sich gut mit<br />
Verletzungen und Krankheiten aller Art aus. Er hatte schon<br />
klaffende Wunden genäht, Knochenbrüche gerichtet und Pépin<br />
vom Sumpffieber geheilt. Leider war auch er in diesem Fall mit<br />
seinem Latein am Ende. Niemand wusste, was Tore hatte.<br />
„Josse, kannst du uns bitte kurz allein lassen?“, murmelte<br />
Kapitän Tore in seinen weißen Bart.<br />
„Klar, kein Problem“, antwortete Josse, der immer noch im<br />
Türrahmen stand und auch sehr besorgt wirkte. Er zog die niedrige,<br />
hölzerne Tür hinter sich zu. Als seine Schritte verklungen<br />
waren, begann Kapitän Tore zu sprechen.<br />
„Ich werde sterben, meine kleine <strong>Windsbraut</strong>. Du musst wohl<br />
in Zukunft ohne mich auskommen“, sein Blick war starr an die<br />
Decke der Kajüte geheftet. Einige Sekunden war es ganz still,<br />
man hörte nur das Knarzen der Holzplanken und das Rauschen<br />
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der Wellen, durch die sich die Aurora ihren Weg bahnte. Und<br />
das eindringliche Klick, Klack, Klick, Klack, das der Bleistift<br />
machte, der mit jeder Schiffsbewegung auf dem Kartentisch<br />
hin und her rollte – sie hätte ihn besser richtig verstauen sollen,<br />
dachte <strong>Enya</strong>.<br />
Klick, klack, klick, klack, klick, klack …<br />
Was hatte ihr Vater da gerade gesagt? Er würde sterben?<br />
Klick …<br />
„Unsinn“, beeilte sie sich zu sagen, „du musst dich nur etwas<br />
ausruhen und eine Weile brav in der Koje bleiben.“ Der Kapitän<br />
lächelte schwach.<br />
„Wenn es nur so einfach wäre. Ich glaube, dass ich mich nicht<br />
mehr von dieser Krankheit erhole. Etwas zerfrisst meinen Körper<br />
von innen. Von Stunde zu Stunde wird es schlimmer.“<br />
„Was sagt denn Doc?“<br />
„Der hat auch keine Ahnung, was es sein könnte. Eine Vergiftung,<br />
vermutet er. Er glaubt, dass ich irgendwo in San Serao<br />
gammeligen Fisch gegessen habe.“<br />
„Du wirst wieder gesund, da bin ich mir sicher. So ein gammeliger<br />
Fisch haut doch meinen alten Tore nicht um.“<br />
Wieder lächelte er schwach: „Ich habe in San Serao keinen<br />
Fisch gegessen“, er sah <strong>Enya</strong> eindringlich an, „irgendetwas<br />
stimmt da nicht. Wenn ich es nicht überlebe, pass auf dich auf<br />
und sag es niemandem – hast du verstanden? Behalte es für dich<br />
und versuche, nicht aufzufallen. Versprich es mir!“<br />
„Ja, ich verspreche es dir! Auch wenn ich glaube, dass du<br />
Gespenster siehst. Vielleicht hat Doc ja recht und du hast wirklich<br />
nur etwas Schlechtes gegessen. Das ist in ein paar Tagen<br />
durchgestanden.“ Sie lächelte aufmunternd und drückte seine<br />
Hand.<br />
Klick, klack, klick, klack …<br />
11
„Ich habe mein Testament gemacht, es liegt in der Truhe.<br />
Die Aurora wird dann dir gehören. Ich wäre sehr froh, wenn du<br />
sie nicht verkaufen und das Geschäft weiterführen würdest. Ich<br />
weiß, du liebst das Leben auf See.“<br />
„Ich? Die Aurora? Vater, ich …“<br />
„Bitte Kleines, vielleicht steht es ja doch nicht so schlimm<br />
um mich. Aber es würde mich sehr beruhigen, wenn du den<br />
Schlüssel zur Truhe an dich nimmst, er liegt im Kartentisch.“<br />
Zögernd nahm <strong>Enya</strong> den rollenden Bleistift vom Kartentisch<br />
und klappte dann die Tischplatte hoch. In dem Fach darunter<br />
wurden normalerweise die Seekarten aufgehoben. Jetzt lag darin<br />
auch noch eine Kette, an der ein kleiner goldener Schlüssel hing.<br />
Er war fein gearbeitet und mit tunischen Mustern verziert. Sie<br />
legte sich die Kette um den Hals. Der kleine Schlüssel war kaum<br />
zu spüren, so leicht war er. Sie wusste, dass sich das dazu passende<br />
Schloss an der Truhe unter der Koje des Kapitäns befand.<br />
Die Kiste war fest an die Planken montiert und aus gehärtetem,<br />
tunischen Stahl gefertigt. In dieser Truhe bewahrte der Kapitän<br />
neben persönlichen Dingen auch die Heuer für die Mannschaft<br />
und die Bordkasse auf.<br />
„Ich soll die Aurora übernehmen?“<br />
„Wer denn sonst? Du bist alles, was ich an Familie habe und<br />
sie ist dein Zuhause. Ich bin mir sicher, du hast das Zeug zu<br />
einem guten Kapitän“, zwinkerte er ihr zu.<br />
„Wer schickt denn seine Fracht mit einem Schiff, das von<br />
einem kleinen Mädchen geführt wird? Ich bin erst siebzehn!<br />
Und was wird die Mannschaft dazu sagen?“ Wusste Tore überhaupt,<br />
was er da sagte? Sie wäre allein. Allein verantwortlich für<br />
das Schiff, die Ladung und die Mannschaft. Die Mannschaft.<br />
Natürlich würden sie weiterhin ihre Arbeit machen – zumindest<br />
bis zum nächsten Hafen … aber dann?<br />
12
„Albert und Doc werden dich unterstützen, ich habe schon<br />
mit ihnen gesprochen. Und Josse ist auch noch da. Ihr seid doch<br />
fast wie Geschwister, er wird dich nicht im Stich lassen“, bedeutsam<br />
hob er eine buschige Augenbraue, „außerdem hast du einen<br />
entscheidenden Vorteil, was den Wind angeht. Die Kundschaft<br />
wirst du natürlich überzeugen müssen, das ist sicher nicht leicht.“<br />
Er überlegte kurz: „Ich rate dir, dich an die Reeder-Vereinigung<br />
zu wenden. Das ist zwar ein Haufen fetter, alter, korrupter Säufer,<br />
aber sie haben die richtigen Beziehungen. Mit der alljährlichen<br />
Frachtenregatta nach Taifa kannst du beweisen, was in dir<br />
steckt – du musst natürlich gewinnen.“<br />
„Nun ist aber Schluss. Du musst dich ausruhen und den<br />
gammeligen Fisch, oder was auch immer dich so krank macht,<br />
überstehen“, sagte <strong>Enya</strong> betont zuversichtlich. Sie gab ihrem<br />
Vater einen Kuss auf die Stirn und ging wieder an Deck.<br />
~<br />
In den nächsten Tagen fiel es <strong>Enya</strong> schwer, die Hoffnung<br />
aufrecht zu erhalten. Sie konnte nichts tun als zuzusehen, wie es<br />
Tore immer schlechter ging. Doc war völlig ratlos und konnte<br />
ihm nicht mehr helfen. Sie musste sich an den Gedanken gewöhnen:<br />
Er wird sterben.<br />
Auch der Rest der Mannschaft war in gedrückter Stimmung,<br />
die Anspannung war allgegenwärtig. Jeder litt ein Stückchen mit,<br />
wenn das schmerzerfüllte Stöhnen des Kapitäns durch alle Planken<br />
der Aurora dröhnte. Niemand an Bord konnte der Situation<br />
auch nur für einen Moment entkommen – neben der Aurora war<br />
hier nur das weite Meer. Es hatte sich inzwischen beruhigt und<br />
der Wind war eingeschlafen. Jetzt herrschte eine unheimliche<br />
Stille um sie herum. Nicht einmal Vögel gab es hier, so weit<br />
draußen auf dem Meer – Totenstille. Die Aurora dümpelte blei-<br />
13
ern auf dem spiegelglatten Wasser. Kein Lüftchen rührte sich<br />
und das Schiff trieb beinahe auf der Stelle. Die Flaute machte<br />
alle verrückt, es gab zu wenig zu tun. Keine Segel waren zu setzen<br />
oder zu bergen, ein Ausguck war überflüssig. Nicht einmal<br />
Ruder gehen mussten sie, sie kamen ja nicht vom Fleck.<br />
Der Einzige, der noch etwas zu tun hatte, war Pépin, der<br />
Schiffskoch. Er kam aus der Segal-Region, aus den Tropen. Seine<br />
Haut war sehr dunkel und immer wenn <strong>Enya</strong> in die schlecht<br />
beleuchtete Kombüse kam, sah sie als erstes sein breites, weißes<br />
Grinsen hervorblitzen. Sie war froh, dass er sein Bestes gab, um<br />
wenigstens mit dem Essen alle bei Laune zu halten – doch auch<br />
er musste sparsam sein, schließlich wusste niemand, wie lange<br />
sie noch unterwegs sein würden. Sie konnten alle nur warten.<br />
Warten auf den Wind, warten auf den Tod.<br />
<strong>Enya</strong> schloss vorsichtig die Tür zur Kapitänskabine hinter<br />
sich und lehnte sich erschöpft von außen an die dicke Holztür.<br />
Er aß schon seit drei Tagen nichts mehr und konnte inzwischen<br />
noch nicht einmal mehr Wasser bei sich behalten. Es ging zu<br />
Ende mit ihm und sie konnte nichts dagegen tun. Tränen liefen<br />
ihr über das Gesicht.<br />
„Bitte, mach mir noch einmal richtig Wind“, hatte er ihr mit<br />
letzter Kraft ins Ohr geflüstert, „aber sei vorsichtig!“<br />
Sie selbst hatte auch schon daran gedacht, ihm den Wind<br />
zu rufen. Und nicht nur ihm. Auch sie selbst sehnte sich nach<br />
einer frischen Brise, die sie alle aus dieser quälenden Untätigkeit<br />
reißen würde. Die Stimmung an Bord wurde nicht nur bei der<br />
Crew immer angespannter, auch ihr Vater konnte dieses stille<br />
Warten kaum noch ertragen. Er litt entsetzliche Qualen. Etwas<br />
Bewegung im Schiff würde seiner Seele und ihnen allen guttun.<br />
Aber wie sollte sie den Wind rufen, wenn sie nie alleine an<br />
Deck war? Keiner der Männer hielt es lange unten im Schiff aus.<br />
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Dort hörte man Tores Leiden nur lauter, und ohne einen Luftzug<br />
war es auch noch furchtbar stickig. Niemand durfte sie bei<br />
ihrer „Zauberei“ entdecken. In diesen Zeiten wurde man schnell<br />
verdächtigt, eine Hexe zu sein und an den Pranger gestellt oder<br />
sogar verbrannt – sie musste vorsichtig sein. Wieder warten,<br />
warten, immer nur warten. Es war zum Verzweifeln.<br />
~<br />
Am Nachmittag hatte <strong>Enya</strong> sich in eine ruhige Ecke an Deck<br />
verzogen. Sie wollte allein sein, die Sorge um Tore fraß sie förmlich<br />
auf. Sie saß schon eine ganze Weile reglos da, als sie in der<br />
Nähe Stimmen hörte. Sie hatte keine Lust, jetzt irgendjemandem<br />
zu begegnen, deshalb duckte sie sich noch tiefer in ihre Nische<br />
am Deckshaus.<br />
Josses Stimme erkannte sie sofort. Sie waren beinahe wie<br />
Geschwister. Er hatte schon mit zwölf als Schiffsjunge auf der<br />
Aurora angeheuert. Damals war sie gerade neun geworden. Zwei<br />
Kinder unter all den Seeleuten. Seitdem waren sie beste Freunde<br />
– wie Pech und Schwefel. Sie drehte sich um und sah den vertrauten,<br />
blonden Hinterkopf. Ihm gegenüber stand Borus, der<br />
Passagier.<br />
„Mach dir nicht so viele Gedanken. Es ist für uns alle das<br />
Beste, wenn er bald stirbt, nicht zuletzt für ihn selbst.“ Borus<br />
Stimme war kratzig und heiser.<br />
„Und <strong>Enya</strong>? Hast du dabei auch mal an sie gedacht? Er ist<br />
immerhin ihr Vater! Wenn er nicht mehr ist, wird sie ganz allein<br />
sein. Die meisten der Männer halten ihre Ambition, Kapitän<br />
zu werden für einen Scherz. Marten hat schon von Meuterei<br />
gesprochen. Er will nicht in sein Unglück segeln, sagt er. Die<br />
anderen wirkten ratlos. Albert und ich konnten sie erstmal in die<br />
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Schranken weisen, aber ich bin mir ja selbst nicht sicher, ob ich<br />
<strong>Enya</strong> das zutraue“, gab Josse zu.<br />
„Sie hat doch dich“, grinste Borus. „Du magst sie sehr, oder?<br />
Wenn der Alte tot ist, hat sie auch noch ein Schiff. Vielleicht<br />
heiratet ihr ja und du bist ein gemachter Mann – die Männer<br />
akzeptieren dich viel eher als sie. So einfach kommst du nie wieder<br />
an ein eigenes Schiff.“<br />
„Borus! So etwas würde ich niemals tun.“<br />
„Ich weiß, deshalb brauchst du ja auch mich“, lachte Borus.<br />
„Sie will sowieso nichts von mir wissen, in San Serao habe<br />
ich ihr gesagt, dass ich in sie …“<br />
Die Stimmen wurden leiser, die beiden entfernten sich in<br />
Richtung Heck und <strong>Enya</strong> war wieder allein. Was für ein Mistkerl!<br />
So über den Tod ihres Vaters zu reden, als ob er schon<br />
gestorben wäre. Borus gehörte ja nicht einmal zur Mannschaft,<br />
er war nur zu Gast auf der Aurora.<br />
<strong>Enya</strong> wusste nicht viel über Borus, nur dass er eine wichtige<br />
Persönlichkeit war, weshalb ihr Vater ihm eine kostenlose Passage<br />
gewährte. Er war ihr auf Anhieb unsympathisch gewesen<br />
und sie wusste, dass ihr Vater ihn auch nicht mochte – deshalb<br />
war es ja so seltsam, dass er ihn kostenlos mitnahm. Von Josse<br />
wusste sie, dass Borus eine Art Steuereintreiber war, aber war<br />
das wirklich alles? Sie nahm sich vor, mehr über ihn in Erfahrung<br />
zu bringen.<br />
Mit dem, was sie über die Mannschaft und ihren Stand als<br />
Kapitänin sagten, hatten sie aber leider recht. In den letzten<br />
Tagen verstummten die Gespräche häufig, wenn sie dazu kam.<br />
Sie musste irgendwann ein Machtwort sprechen – aber würde<br />
ihr überhaupt jemand zuhören?<br />
Und Josse ließ sich mit diesem Borus ein. Er vertraute sich<br />
ausgerechnet diesem schleimigen Mistkerl an. Immerhin hatte<br />
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er sie vor den Männern verteidigt und auf den alten Albert war<br />
offenbar auch Verlass.<br />
<strong>Enya</strong> atmete tief durch. Jetzt ging es erstmal nicht um sie und<br />
Josse und auch nicht um Borus oder die Mannschaft. Ihr Vater<br />
lag im Sterben und sie hatte ihm Wind versprochen. Anstatt<br />
dieses Versprechen einzulösen, saß sie wie ein Häufchen Elend<br />
an Deck und belauschte die Männer. Es wurde langsam Zeit,<br />
etwas zu riskieren, sonst würde ihr Vater den Wind nicht mehr<br />
erleben. Geduckt schlich sie sich bis zum Bug der Aurora. Der<br />
Klüverbaum ragte noch einige Meter über den Bug hinaus und<br />
darunter war ein großes Netz gespannt. Es diente eigentlich<br />
dazu, die Seeleute aufzufangen, falls sie einmal beim Segelsetzen<br />
oder -bergen vom Klüverbaum abrutschten. <strong>Enya</strong> kletterte<br />
hinein. Niemand durfte sehen, was sie vorhatte!<br />
Sie hockte, nur durch das Netz gehalten, über der ölig-glatten<br />
Wasseroberfläche. Die hölzerne Gallionsfigur blickte aus leeren<br />
Augen auf sie herab. Eilig begann sie, ihren Zopf zu lösen.<br />
Zunächst passierte gar nichts. Sie schüttelte ihre hüftlangen,<br />
roten Locken hin und her, um auch die letzten Windungen des<br />
Zopfes zu entwirren. Dann atmete sie tief ein, sie konnte es spüren,<br />
ja beinahe riechen, wie sich um sie herum langsam etwas<br />
veränderte. Es war schwer zu erklären, aber es lag etwas in der<br />
Luft, als wäre sie statisch aufgeladen, kurz bevor es dann wirklich<br />
passierte.<br />
Ein leichter Windhauch glitt ihr über das Gesicht und spielte<br />
mit ihren Locken. Dann verstärkte er sich zu einer leichten Brise.<br />
Kurz darauf flog ihr das Haar auch schon wild um den Kopf und<br />
der Wind zerrte aus allen Richtungen daran – durchwirbelte es,<br />
erforschte es, spielte damit.<br />
<strong>Enya</strong> genoss es immer, wenn sie den Wind zu sich rief. Ein<br />
Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus. Ein tiefes Gefühl der<br />
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Geborgenheit umfing sie, Probleme und Ängste waren wie weggeblasen.<br />
Sie schloss die Augen und hielt die Nase in den Wind.<br />
Oft fing sie dann sogar an zu singen. Aber heute waren die Sorgen<br />
um ihren Vater zu groß, um sie einfach wegzublasen. Trotzdem<br />
war es ein Moment des Durchatmens und eine Befreiung<br />
von der stillen Ohnmacht, die sie bis eben noch umgeben hatte.<br />
Immer wenn sie ihr Haar löste, kam der Wind sofort aus allen<br />
Winkeln hervor, um damit zu spielen. Nur in engen, geschlossenen<br />
Räumen passierte nichts. Warum das so war, wusste sie<br />
nicht. Ihr Vater hatte lange versucht, es herauszubekommen<br />
und war dabei immer wieder auf Mistrauen, Furcht und Hass<br />
gestoßen. Darum hatten sie beschlossen, es niemandem mehr<br />
zu verraten.<br />
Auch in das Schiff war inzwischen Bewegung gekommen.<br />
Sie hörte aufgeregte, erleichterte Stimmen. Füße trappelten eilig<br />
übers hölzerne Deck. Die Segel blähten sich und die Masten der<br />
Aurora knarzten unter dem plötzlichen Druck. Ein Ruck ging<br />
durch das ganze Schiff, sie machten wieder Fahrt. Aus der ölig<br />
schimmernden See unter ihr war eine schäumende Bugwelle<br />
geworden. Ein paar winzige, salzige Tropfen benetzten ihre Lippen.<br />
Endlich ging es weiter, die quälende Untätigkeit war vorbei.<br />
Tore würde sich freuen.<br />
Beinahe hätte sie den Punkt verpasst, an dem der willkommene<br />
Wind zum Sturm heranwuchs und sie alle in ernsthafte<br />
Schwierigkeiten gebracht hätte. Sie riss sich aus der Verzauberung<br />
und bändigte schnell ihre Locken. Den hüftlangen Zopf<br />
hatte sie schnell wieder gebunden, wie schon hunderte, tausende<br />
Male zuvor. War der Wind einmal gerufen, blieb er eine Weile<br />
und verschwand erst dann wieder, wenn er es wollte. Manchmal<br />
dauerte es Tage, manchmal nur ein paar Stunden.<br />
Zurück an Deck herrschte geschäftiges Treiben, alle waren<br />
so mit den Segeln beschäftigt, dass niemand sie heraufklettern<br />
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sah. Alle waren in Bewegung, alle außer einem – Borus.<br />
Als sie ihn entdeckte, stand er reglos im Niedergang und<br />
beobachtete sie. Wie immer war er ganz in schwarz gekleidet.<br />
Der Wind zerrte an seiner Kleidung und an seinen spärlichen,<br />
dunklen Haaren, aber er selbst bewegte sich nicht. In seinem<br />
blassen, scharf geschnittenen Gesicht regte sich kein einziger<br />
Muskel. Stumm starrte er zu ihr herüber.<br />
Borus starrer Blick ließ sie erschaudern. Wusste er etwas? Es<br />
lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Sie musste in Zukunft noch<br />
besser aufpassen. Wenn ausgerechnet einer wie Borus hinter ihr<br />
Geheimnis kam, könnte es gefährlich für sie werden. Jetzt bloß<br />
nichts anmerken lassen.<br />
Sie machte sich auf den Weg nach hinten, in Richtung Niedergang,<br />
um schnell wieder bei ihrem Vater zu sein. Am Großmast<br />
stand der alte Albert und schaute mit ernster Miene nach<br />
oben. Als sie seinem Blick folgte, sah sie zum ersten Mal in<br />
ihrem Leben einen Klabauterich. Eiskalt lief es ihr den Rücken<br />
hinunter. Unter den Seeleuten aus Ataleya wurde er auch der<br />
Schicksalsvogel genannt. Diese Tiere zeigten sich angeblich nur,<br />
wenn ein schlimmer Schicksalsschlag direkt bevorstand. Der<br />
große, weiße Vogel saß hoch aufgerichtet auf der Gaffel und<br />
lehnte sich gegen den Wind. Seine violetten Füße krallten sich in<br />
das Holz und sein seidiges Gefieder wurde in den aufkommenden<br />
Böen ordentlich zerzaust. Aufmerksam neigte er den Kopf<br />
und beobachtete das geschäftige Treiben an Deck der Aurora.<br />
Albert seufzte und schaute <strong>Enya</strong> traurig an.<br />
„Endlich hat das Wetter ein Einsehen und lässt den guten<br />
Tore nicht ohne einen ordentlichen Abschiedsgruß gehen“,<br />
sagte er und verschwand eilig in Richtung Steuerstand.<br />
Gehen lassen? War es wirklich schon soweit? Nur wegen<br />
diesem dämlichen Vogel? Am liebsten wäre sie hinaufgeklettert<br />
19
und hätte ihm eigenhändig den Hals umgedreht, aber konnte es<br />
wirklich Tores Schicksal ändern? Albert würde so etwas nicht<br />
einfach so daher sagen. Er war schon immer auf der Aurora<br />
gewesen, solange sie denken konnte. Er war der erste Steuermann<br />
und Vertraute ihres Vaters. Für sie war er beinahe wie ein<br />
Onkel, und er kannte Tore besser als jeder andere. In den letzten<br />
Tagen war er ihm nicht von der Seite gewichen, es sei denn, sie<br />
löste ihn persönlich ab. <strong>Enya</strong> beschleunigte ihre Schritte, Tränen<br />
brannten in ihren Augen.<br />
Am Niedergang drückte sie sich wortlos an Borus vorbei, für<br />
ihn war später noch Zeit genug. Sie musste jetzt zu ihrem Vater<br />
und ihm in seinen letzten Stunden Beistand leisten.<br />
~<br />
Einige Tage später saß <strong>Enya</strong> mit Josse an Deck, sie waren<br />
allein. Die Sonne war schon vor einer ganzen Weile untergegangen<br />
und es wurde langsam ungemütlich kalt.<br />
„Ich kann dich verstehen, aber dann zieh dir wenigstens dein<br />
Ölzeug an“, sagte er verständnisvoll und legte <strong>Enya</strong> ihre Jacke<br />
über die Schultern. „Die Nacht wird kalt werden und es sieht<br />
nach Wind aus.“ Mit diesen Worten verschwand er unter Deck.<br />
<strong>Enya</strong> blieb allein am Ruder der schwankenden Aurora zurück<br />
– allein mit ihren Gedanken und der See. Es war schön zu wissen,<br />
dass sich jemand um sie sorgte, nun da es Tore nicht mehr<br />
gab. Vor allem war es schön, dass Josse anscheinend erstmal wieder<br />
der Alte war. Es hatte ihn hart getroffen, als sie ihm, nach<br />
seinem Liebesgeständnis in San Serao, sagen musste, dass sie<br />
nicht das Gleiche fühlte wie er. Für sie war und blieb er ihr bester<br />
Freund. Er hatte danach ein paar Tage überhaupt nicht mehr<br />
mit ihr gesprochen, auch später blieb ihr Verhältnis irgendwie<br />
angespannt. Doch seit Tores Tod waren diese Probleme in den<br />
20
Hintergrund getreten und Josse kümmerte sich rührend um sie.<br />
Aber im Augenblick wollte sie nur allein sein. Die Aurora<br />
zog eine hellgrün leuchtende Spur durch die Adische See – Meeresleuchten.<br />
Ihr Vater hatte es geliebt, wenn das Plankton durch<br />
die Bewegung des Schiffes aufgeschreckt wurde und zu leuchten<br />
begann. Es glitzerte wie Millionen winzig kleiner, funkelnder<br />
Sterne. Als ob das Meer ihm seine letzte Ehre erweist, dachte sie,<br />
nachdem wir ihn heute Abend seiner Obhut übergeben haben.<br />
Die Zeremonie war sehr würdevoll und ergreifend gewesen.<br />
Nachdem der Körper ihres Vaters den Wellen übergeben<br />
worden war, hatte <strong>Enya</strong> nicht aufhören können, zu weinen.<br />
Der Vollmond hatte die feierliche Szenerie an Deck der Aurora<br />
erleuchtet:<br />
Josse, Doc, Albert und Pépin hatten den Leichnam getragen,<br />
er war fest in Sackleinen eingewickelt gewesen. Die Segel hatten<br />
sie geborgen und die euronische Flagge am Heck hing auf Halbmast.<br />
Die Mannschaft war vollständig an der Reling angetreten<br />
gewesen, sie hatten Fackeln in den Händen gehabt und für Tore<br />
einen tiefen Choral gesungen – das Lied der Toten.<br />
Als dann auch der Klabauterich mit in das Klagelied eingestimmt<br />
hatte, war <strong>Enya</strong> von einer seltsamen Mischung aus<br />
Trauer und Trost erfüllt worden.<br />
Die Töne des Klabauterichs waren aus seinem violetten<br />
Schnabel direkt in ihr Herz gedrungen und hatten ihren<br />
Schmerz damit auf wunderbare Weise abgemildert. Es hatte<br />
zwar nichts an der schrecklichen Wahrheit geändert, aber <strong>Enya</strong><br />
war zum ersten Mal sehr froh über seine Anwesenheit an Bord<br />
gewesen. Sie hatten die leere Hülle ihres Vaters die Bordwand<br />
hinuntergelassen und er war in der Dunkelheit der Adischen See<br />
verschwunden.<br />
Heute Nacht würden sich alle zum traditionellen „letzten<br />
Whiskey“ im Salon versammeln und Geschichten über den<br />
21
Verstorbenen erzählen. <strong>Enya</strong> hatte sich lieber an Deck zurückgezogen<br />
und den Steuermann abgelöst. Sie wollte allein sein.<br />
<strong>Enya</strong> gönnte den Männern ihren Spaß, schließlich waren alle<br />
sehr betroffen gewesen, als ihr Kapitän starb. Sie hatten ihn<br />
respektiert und ehrlich gemocht. Ob sie sie wohl irgendwann<br />
genauso akzeptieren würden? Das klärende Gespräch mit der<br />
Mannschaft stand ihr noch bevor und immer, wenn sie daran<br />
dachte, zog sich ihr Magen krampfhaft zusammen. Was, wenn<br />
ihre Ansage wirklich eine Meuterei hervorrufen würde? Wären<br />
sie dazu fähig, Josse und Albert zu übergehen? Doc und Pépin<br />
waren immer ihre Freunde gewesen, aber würden sie sich auch<br />
hinter sie stellen, wenn es darum ging, ihr ihre Sicherheit und ihr<br />
Einkommen anzuvertrauen?<br />
Sie kuschelte sich enger in ihre Jacke und lauschte dem<br />
Rauschen der Wellen. Selbst das klang auf einmal traurig und<br />
hoffnungslos. Von unten drang dumpfes Gelächter und Gläserklirren<br />
zu ihr herauf. Die Nacht wurde wirklich kalt, genau wie<br />
Josse es vorausgesagt hatte.<br />
Gedankenverloren betastete sie den kleinen, goldenen Schlüssel,<br />
der ihr erst seit kurzem an einer Kette um den Hals hing. Sie<br />
dachte an die Truhe unter Tores Koje, die nun ihre eigene werden<br />
sollte. In der Truhe bewahrte Tore alle seine Geheimnisse<br />
auf – jedenfalls hatte er dies immer behauptet, wenn sie wissen<br />
wollte, was sich darin befand. Nicht ein einziges Mal hatte sie<br />
hineinschauen dürfen – nun besaß sie den Schlüssel dazu. Ein<br />
merkwürdiges Gefühl. Während der aufwühlenden Ereignisse<br />
der letzten Tage hatte sie die Truhe und ihren Inhalt total vergessen.<br />
Sie würde sich später mit ihr beschäftigen. Erstmal galt<br />
es, der Mannschaft klar zu machen, dass sie wirklich Kapitänin<br />
der Aurora werden wollte. Zunächst wollte sie, wie ursprünglich<br />
geplant, weiter nach Ataleya segeln. Dort könnten sie die Fracht<br />
22
abliefern, die sie noch an Bord hatten. Dann würde sie die<br />
Mannschaft für die letzte Etappe bezahlen können. Was danach<br />
geschah, stand in den Sternen. Sie würde sich wohl wirklich an<br />
die Reeder-Vereinigung wenden müssen. Die jährliche Frachtenregatta<br />
startete in einigen Wochen.<br />
23
24
Fremde Besucher<br />
Ein paar Stunden später war der Mond längst wieder untergegangen<br />
und <strong>Enya</strong>s Wache fast vorbei. Gleich sollte Albert<br />
kommen, um sie abzulösen. Die See war ruhig und der Wind<br />
schwach, aber stetig. Sie kamen gut voran. <strong>Enya</strong> fror und ihre<br />
Glieder wurden langsam steif vom langen Sitzen am Ruder.<br />
Auch ihre Augenlider wurden immer schwerer und sie freute<br />
sich schon sehr auf ihre warme Koje.<br />
Doch auf einmal, von einer Sekunde zur nächsten, war sie<br />
wieder hellwach. Irgendetwas war anders an Deck, es lag in der<br />
Luft, es fühlte sich an wie ein nahender Sturm – doch es war<br />
keine einzige dunkle Wolke in Sicht und die Aurora zog weiter<br />
unbeeindruckt ihre Spur durchs Wasser. <strong>Enya</strong> wusste nicht, was<br />
es war, aber ihre Sinne blieben geschärft und die Nerven bis zum<br />
Zerreißen gespannt. Sie kontrollierte den Kurs und die Segelstellung<br />
– der Wind kam immer noch aus derselben Richtung.<br />
Trotzdem, irgendetwas stimmte hier nicht! Sie blickte noch einmal<br />
zum Himmel hinauf. Es war eine sternenklare Nacht und<br />
keine einzige dunkle Wolke zu entdecken.<br />
Merkwürdig, dachte sie und machte es sich wieder hinter dem<br />
Steuerrad bequem. Ihr Herz schlug immer noch viel zu schnell.<br />
Die Anspannung wollte einfach nicht weichen. Da nahm sie<br />
plötzlich eine Bewegung am Bug der Aurora wahr. Direkt hinter<br />
dem Vorsegel hatte sich etwas bewegt, es war nur ein kurzes<br />
Vorbeihuschen gewesen, aber sie war sich sicher: da war jemand<br />
an Deck. Von der Mannschaft konnte es keiner sein, die feierten<br />
alle unten in der Messe und es wäre ihr aufgefallen, wenn<br />
jemand durch den Niedergang nach oben gekommen wäre. Aber<br />
25
sie waren hunderte Meilen vom Land entfernt, mitten auf hoher<br />
See. Wie konnte sich da jemand einfach so an Bord schleichen?<br />
Es hätte zumindest ein anderes Boot in der Nähe sein müssen.<br />
War es eine Sinnestäuschung?<br />
In diesem Moment sah <strong>Enya</strong> die Bewegung auf dem Vorschiff<br />
ein zweites Mal, diesmal deutlicher. Da war jemand.<br />
Leise ließ sie einen Haken am Steuerrad einschnappen, so<br />
hielt sich das Schiff eine Weile auf Kurs, auch wenn niemand<br />
am Ruder stand. Dann zog sie ihr Messer aus dem Gürtel. Normalerweise<br />
benutzte sie es zum Schneiden von Tauwerk, aber<br />
ihr Vater hatte ihr auch beigebracht, sich mit dem Messer zur<br />
Wehr zu setzten, falls unerwünschte Besucher auftauchten. Sie<br />
hatte schon so manchen Strauchdieb von Bord gejagt, allerdings<br />
traf man diese für gewöhnlich nicht mitten auf hoher See. Wo<br />
sollten sie auch herkommen?<br />
Leise machte sie sich auf den Weg zum Vorschiff. Hinter<br />
dem Deckshaus fand sie ein wenig Sichtschutz und konnte zwei<br />
verhüllte Gestalten erkennen. Die eine war groß und kräftig, die<br />
zweite eher zierlich und klein. <strong>Enya</strong> entschied sich zu handeln.<br />
Es war sowieso zu spät, um Hilfe zu holen und außerdem waren<br />
inzwischen sicher alle sturzbetrunken. So schnell und geräuschlos<br />
wie ein Schatten sprang sie der größeren Gestalt auf den<br />
Rücken und hielt ihr das Messer an die Kehle.<br />
„Keine Bewegung, sonst geht es dir schlecht! Was wollt ihr<br />
auf meinem Schiff?“, flüsterte sie eindringlich.<br />
„Wir kommen in Frieden“, sagte der Fremde, und wand ihr<br />
mit einer geschickten und irrsinnig schnellen Bewegung das<br />
Messer aus der Hand. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er ihr<br />
den Arm auf den Rücken gedreht. Die Verrenkung tat so weh,<br />
dass ihre Muskeln zu zittern begannen.<br />
„Das nennst du Frieden?“, knurrte <strong>Enya</strong> und wand sich vor<br />
26
Schmerz. Der Fremde war etwas größer und wesentlich stärker<br />
als sie. Er drückte sie mit festem Griff gegen das Vorstag. Der<br />
eiserne Draht, an dem das Vorsegel gesetzt wurde, schnitt <strong>Enya</strong><br />
in den Rücken. Obwohl der Fremde ihr sehr nahe war, konnte<br />
sie sein Gesicht nicht erkennen, es lag tief im Schatten seiner<br />
Kapuze verborgen.<br />
„Wir wollen den alten Tore treffen, möglichst unbemerkt<br />
vom Rest der Mannschaft. Wenn du dich beruhigst, lasse ich<br />
dich wieder los“, gab der Fremde beschwichtigend zurück und<br />
lockerte dabei seinen Griff ein wenig. Der Schmerz ließ nach.<br />
„Tore ist tot“, gab <strong>Enya</strong> zurück und dabei kamen ihr wieder<br />
die Tränen. Mühsam schluckte sie sie herunter, aber ihre Stimme<br />
zitterte, als sie sagte: „Er ist gestern gestorben, was wollt ihr von<br />
ihm?“<br />
Damit hatte der Fremde offensichtlich nicht gerechnet. Er<br />
zögerte, wechselte einen Blick mit der zweiten Gestalt, die <strong>Enya</strong><br />
aus ihrem Blickwinkel nicht richtig erkennen konnte und fragte<br />
dann: „Wer hat jetzt das Sagen?“<br />
<strong>Enya</strong> straffte die Schultern, soweit das in dem zwar weniger<br />
schmerzhaften, aber immer noch festen Griff des Fremden<br />
möglich war, und sagte: „Ich. Ich bin seine Tochter <strong>Enya</strong> und<br />
habe das Schiff geerbt. Ich bin jetzt die Kapitänin.“<br />
Sie hatte nicht damit gerechnet, so kurz nach seiner Beisetzung<br />
schon seine Rolle übernehmen zu müssen und dann auch<br />
noch in so einer merkwürdigen Situation. Der Fremde ließ sie<br />
los, stieß sie ein Stück weit von sich weg und musterte sie wortlos.<br />
Sein Gesicht lag immer noch im Dunkel der Kapuze verborgen,<br />
aber etwas an seiner Stimme und seiner Haltung hatte<br />
sich verändert.<br />
„Ich hab davon gehört, dass er seine Tochter dabei hätte“,<br />
sagte er zu der zweiten Gestalt, die <strong>Enya</strong> nun genauer betrach-<br />
27
ten konnte. Es war ein Junge von ungefähr 14 Jahren, der sich<br />
schüchtern an Deck umsah und dann skeptisch zu ihr herüberschaute.<br />
„Vielleicht sollte ich doch lieber wieder mit dir mitkommen?“,<br />
fragte der Junge zaghaft.<br />
„Auf keinen Fall, bei mir bist du nicht sicher!“, entgegnete<br />
der Fremde streng. An <strong>Enya</strong> gewandt sagte er etwas freundlicher:<br />
„Ich bin gekommen, um für meinen kleinen Bruder um<br />
Asyl zu bitten. Bei mir ist er in großer Gefahr. Der Rest der<br />
Familie will uns töten – es ist eine lange Geschichte, aber wir<br />
brauchen Hilfe und Tore war unsere einzige Hoffnung.“<br />
<strong>Enya</strong> war überrascht. Sie hatte mit Piraten gerechnet, die<br />
womöglich die Ladung stehlen wollten. Aber nein, sie wurde<br />
zuerst brutal überwältigt und danach um Asyl gebeten?<br />
Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, also blieb sie<br />
stumm. Die beiden warteten auf eine Antwort. Was hätte Tore<br />
wohl gemacht? Kannte er die beiden wirklich? Nach einer Weile<br />
fragte sie: „Für wie lange denn?“ – und ärgerte sich sofort darüber.<br />
Nein, hätte sie sagen sollen. Das Letzte, was sie nun noch<br />
gebrauchen konnte, war die Verantwortung für diesen Jungen.<br />
Was war nur los mit ihr? Wahrscheinlich war sie einfach<br />
etwas angeschlagen und rührselig wegen der Beerdigung. Der<br />
Junge tat ihr leid, so verloren wie er sich umblickte.<br />
„Das kann ich nicht genau sagen, ein paar Wochen würden<br />
uns schon sehr weiterhelfen.“<br />
„Wer seid ihr denn überhaupt?“, fragte <strong>Enya</strong> nun wieder<br />
misstrauisch. Eine Antwort bekam sie nicht, stattdessen verschwand<br />
der größere der beiden. Von einer Sekunde auf die<br />
nächste war er nicht mehr da.<br />
Wie ein Windhauch streifte ein Flüstern ihr Ohr: „Danke!“<br />
Sie bekam augenblicklich eine Gänsehaut. Dann waren sie allein<br />
28
an Deck. <strong>Enya</strong> schaute sich noch einmal suchend um, aber der<br />
Fremde war wie vom Erdboden verschwunden.<br />
Der kleinere Junge hatte eine drahtige Gestalt, verstrubbelte,<br />
hellbraune Haare und dunkle, große Augen, die sie erwartungsvoll<br />
anstarrten. <strong>Enya</strong> ahnte, wie er sich gerade fühlen musste:<br />
einsam und verlassen einer ungewissen Zukunft entgegensegelnd<br />
– genau wie sie.<br />
„Ich bin <strong>Enya</strong>“, sprach sie ihn freundlich an, „und du?“<br />
„Mein Name ist Nino“, sagte er, „und ich kann mich<br />
bestimmt gut nützlich machen. Ich war vorher auch schon als<br />
Schiffsjunge unterwegs. Ich kann Segel setzen, Deck schrubben,<br />
Ausguck halten und beim Kochen helfen“, plapperte er eifrig<br />
und etwas nervös drauflos. <strong>Enya</strong> musste lächeln.<br />
„In Ordnung, wir werden sehen, was wir mit dir machen.<br />
Wie erklären wir denn den anderen, dass du plötzlich an Bord<br />
bist?“ Sie überlegte: „Es soll ja keiner wissen, dass dein Bruder<br />
dich hierher gebracht hat, oder?“<br />
„Nein, lieber nicht“, sagte Nino und nickte eifrig, „vielleicht<br />
könnte ich mein Gedächtnis verloren haben?“<br />
„Gute Idee! Und ich habe dich einfach hier draußen aus dem<br />
Meer gefischt“, zwinkerte sie ihm zu. Im nächsten Moment<br />
drückte sie ihm rasch einen Rettungsring in die Hand und<br />
schubste ihn über die Bordwand.<br />
„Es muss ja echt aussehen“, rief sie ihm leise hinterher –<br />
platsch. Nino japste und paddelte verdutzt im Meer umher und<br />
verursachte dadurch ein grünliches Leuchten im Wasser um sich<br />
herum.<br />
„Mann über Bord“, rief <strong>Enya</strong> laut in Richtung Niedergang,<br />
woraufhin sofort das Trampeln schwerer Stiefel auf der Treppe<br />
nach oben zu hören war. Sie polterten herauf und im nächsten<br />
29
Moment standen zwei leicht torkelnde Männer an Deck. Josse<br />
und Doc waren zwar sturzbetrunken, trotzdem funktionierten<br />
sie in so einer Situation wie ganz von selbst und blitzschnell –<br />
„Mann über Bord“ konnte ganz schnell zu „Mann im weiten<br />
Meer nicht mehr auffindbar“ werden.<br />
Sie halfen <strong>Enya</strong> beim Einholen der Leine, die mit dem Rettungsring<br />
und dadurch auch mit Nino verbunden war. Eigentlich<br />
bestand also keine Gefahr für Nino, doch das wussten die<br />
beiden ja nicht. Ohne Probleme hievten sie den schmächtigen<br />
Jungen gemeinsam an Deck. Nino sah immer noch völlig überrumpelt<br />
aus, was das Schauspiel noch echter wirken ließ.<br />
„Wer bist du und was machst du hier auf See ganz ohne<br />
Boot?“, fragte <strong>Enya</strong> ihn mit gespieltem Erstaunen. Nino atmete<br />
langsam wieder etwas ruhiger. Doc legte ihm eine Decke um<br />
die Schultern und lallte ein bisschen, als er sagte: „Mit Unterkühlung<br />
ist nicht zu spaßen. Ausfragen können wir ihn später<br />
noch, nun braucht er erst mal trockene Kleider und ‘nen heißen<br />
Grog!“<br />
„In Ordnung Doc, bringen wir ihn rein. Albert, kannst du<br />
das Ruder übernehmen?“, wandte sich <strong>Enya</strong> an den alten Albert,<br />
der mit etwas Verspätung auch an Deck erschienen war.<br />
„Aye“, Albert begab sich etwas behäbig an seinen Posten<br />
hinter dem Steuerrad, er torkelte zwar nicht, war aber in seinem<br />
Alter schon etwas hüftsteif. Er hätte sowieso die nächste<br />
Wache übernehmen müssen, und hatte sich deshalb beim Trinken<br />
etwas zurückgehalten. Der Tumult an Deck war von den<br />
anderen natürlich nicht unbemerkt geblieben und so schauten<br />
sich alle gespannt den Neuankömmling an, als er in den Salon<br />
geführt wurde. Nino blickte verschämt zu Boden. Er ließ sich<br />
von Doc in der Mannschaftskabine ein Handtuch und neue<br />
Kleider geben. Dann kam er in viel zu großen Sachen zurück in<br />
30
den Salon, wo ihn erneut alle neugierig anstarrten. Still hockte<br />
er sich an den langen Tisch, an dem alle versammelt waren, und<br />
schaute unsicher in seinen Grog.<br />
„Ich kann mich nicht erinnern“, kam immer wieder leise<br />
zurück, wenn einer der Männer ihn etwas fragte.<br />
„Du weißt noch nicht einmal, wie du heißt?“, fragte Doc<br />
besorgt.<br />
„Doch, ich heiße Nino“, sagte der Junge.<br />
„Na immerhin etwas!“, murmelte Doc in seinen braunen<br />
Vollbart. Nino macht seine Sache gut, dachte <strong>Enya</strong>, ob er bei uns<br />
wohl sicher ist? Verstohlen blickte sie hinüber zu Borus. Der saß<br />
scheinbar unbeteiligt am anderen Ende des Tisches, doch seinen<br />
kleinen, schwarzen Augen entging nichts.<br />
Irgendwann gaben die Männer das Fragespiel auf und setzten<br />
ihre Gedenk-Whiskey-Orgie fort. Einer nach dem anderen<br />
verschwanden sie bald alle in den Kojen, um ihren Rausch auszuschlafen.<br />
Für Nino fand sich auch ein Platz bei der Mannschaft.<br />
Nur Albert, der Steuermann, blieb wach und die Aurora<br />
bahnte sich weiter ihren Weg durch die Nacht.<br />
~<br />
Beim Mittagessen am nächsten Tag wollte <strong>Enya</strong> die Mannschaft<br />
offiziell darüber aufklären, wie es mit ihnen weitergehen<br />
sollte. Sie hatte ein mulmiges Gefühl dabei. Es war ein wichtiger<br />
Tag. Vielleicht hatten Marten und Borus beim Rest der Crew<br />
inzwischen so ernsthafte Zweifel gesät, dass sie ihr nicht einmal<br />
die Chance geben würden, sich zu beweisen?<br />
Die Zeit bis zum Mittag verging schleichend, sie ging unruhig<br />
an Deck umher, legte sich immer wieder die richtigen Worte<br />
zurecht und versuchte, sich an ihre Argumente zu erinnern. Es<br />
31
durfte einfach nichts schief gehen! Kurz bevor Pépin zum Essen<br />
rief, nahm sie noch schnell die Mittagsbreite mit dem Sextanten.<br />
Dann ging sie eilig in die Kapitänskabine, verstaute den Kasten<br />
mit dem empfindlichen Messinstrument und warf beiläufig ihre<br />
Jacke auf die Koje. Dann setzte sie sich an den Kartentisch und<br />
rechnete eilig die aktuelle Position aus. Dabei wurde ihr übel, sie<br />
hatte das Gefühl, es läge ein metallischer Geruch in der Luft.<br />
Sie schaute sich in der Kabine um, aber alles war normal. Wahrscheinlich<br />
war es nur die Aufregung, sie hatte noch nie vor allen<br />
reden müssen. Und es war auch noch nie so, dass ihr jemand<br />
dabei hinterrücks schaden wollte. Vor Marten selbst hatte sie<br />
keine Angst, nicht so wie vor Borus. Borus war gefährlich, das<br />
spürte sie.<br />
Marten war nur jemand, der gerne Intrigen spann und aufhetzte.<br />
Er hätte ihr nie ins Gesicht gesagt, dass er sie nicht als<br />
Kapitänin wollte. Dazu war er zu feige. Trotzdem hatte sie dieses<br />
mulmige Gefühl im Bauch und das würde sich wohl auch erst<br />
wieder ändern, wenn sie diese Ansprache hinter sich gebracht<br />
hatte. Je eher, desto besser! Schnell trug sie ihre Position in die<br />
Seekarte ein und räumte alles zusammen. Dann versuchte sie,<br />
ihre zitternden Hände unter Kontrolle zu bringen und stand auf.<br />
Vor der Tür zur Mannschaftsmesse holte sie noch einmal tief<br />
Luft und trat ein.<br />
Sie hatte Pépin gesagt, dass er mit dem Servieren heute etwas<br />
warten sollte. So empfing sie gespannte Stille als sie eintrat, alle<br />
Blicke ruhten neugierig auf ihr. Sie fing gleich an, zu sprechen.<br />
Das Zittern ihrer Hände war verschwunden und ihre Stimme<br />
klang wider Erwarten fest.<br />
„Ich habe Pépin gebeten, heute mit dem Essen etwas zu warten,<br />
weil ich euch ein paar Dinge zu sagen habe“, fing sie an.<br />
Sie blickte allen der Reihe nach fest in die Augen und fuhr<br />
32
fort: „Ich werde die Aurora als Eignerin und Kapitänin weiter<br />
führen, genauso, wie ich es Tore an seinem Totenbett versprochen<br />
habe. Ich werde ihm seinen letzten Wunsch erfüllen.<br />
Wir segeln wie geplant weiter nach Ataleya, dort wird die Ware<br />
gelöscht und verkauft. Bis dahin gelten eure Heuerverträge weiter,<br />
die Rechte und Pflichten von Tore liegen so lange bei mir.<br />
Ist in Ataleya alles verladen und verkauft, zahle ich euch eure<br />
Heuer aus. Von da an habt ihr die Wahl. Ihr könnt gehen, oder<br />
bleiben. Ich werde niemanden zu irgendetwas zwingen. Aber bis<br />
zur Ankunft in Ataleya bin ich eure Kapitänin und werde das<br />
Kommando übernehmen. Tore hat mich gut ausgebildet und ich<br />
bin die einzige hier, die vernünftig mit einem Sextanten umgehen<br />
kann. Gibt es dazu irgendwelche Fragen?“<br />
<strong>Enya</strong> atmete tief durch, nun war alles gesagt und es kam darauf<br />
an, wie die Männer reagieren würden.<br />
Doc, Josse und Albert schauten sie beeindruckt an. Der Rest<br />
der Mannschaft blickte betreten auf die Tischplatte. Marten<br />
waren sämtliche Gesichtszüge entglitten. Sogar Borus schaute<br />
verwundert drein, obwohl er versuchte, es sich nicht anmerken<br />
zu lassen. Niemand sagte etwas, nur das knarzende Holz der<br />
Aurora vermischte sich mit dem Rauschen der Wellen des Meeres.<br />
<strong>Enya</strong> wurde ungeduldig: „Mit großartiger Begeisterung hatte<br />
ich nicht gerechnet, aber dass niemand etwas dazu zu sagen hat,<br />
wundert mich jetzt doch. Alles was ich von euch will, ist eine<br />
faire Chance, mich zu beweisen!“, sagte sie und ließ ihren Blick<br />
wieder durch die Runde wandern.<br />
Albert meldete sich zu Wort: „<strong>Enya</strong>, du weißt, du kannst dich<br />
immer auf mich verlassen und allein schon um Tores willen bin<br />
ich froh und stolz, dass du sein Andenken wahren willst. Ich<br />
unterstütze dich, wo immer ich kann und glaube, du wirst die<br />
33
Aurora sicher nach Ataleya segeln.“ <strong>Enya</strong> lächelte dankbar.<br />
Dann stand Josse auf und stellte sich hinter sie: „Meine<br />
Unterstützung hast du natürlich auch sicher.“<br />
<strong>Enya</strong> war erleichtert, auch Josse hielt zu ihr. Er war immer<br />
noch ihr bester Freund, egal was Borus ihm einflüsterte. Auch<br />
Doc und Pépin murmelten zustimmend und lächelten ihr aufmunternd<br />
zu. Der Rest blieb still und blickte auf die noch leeren<br />
Teller hinab. Es würde schwer werden, sie für sich zu gewinnen.<br />
„In Ordnung, die Wacheinteilung bleibt wie sie ist. Wer Hilfe<br />
braucht, kann Nino fragen. Er wird als Schiffsjunge bei uns mitarbeiten.<br />
Dann können wir ja jetzt endlich essen, Pépin.“<br />
Das Essen verlief ohne weitere Vorkommnisse. Die Männer<br />
waren nur etwas stiller als normal und schienen <strong>Enya</strong> immer<br />
wieder heimlich zu beobachten.<br />
Was soll‘s, dachte sie sich, immerhin hat keiner gemeckert<br />
oder widersprochen. Es blieb ihnen ja auch wenig übrig, es sei<br />
denn, <strong>Enya</strong> hätte von sich aus jemanden als Kapitän bestimmt<br />
und trotzdem mit der Positionsbestimmung und Kursberechnung<br />
geholfen.<br />
Nach dem Essen ging sie zurück in ihre Kabine. Als sie sie<br />
betrat, bemerkte sie wieder diesen seltsamen Geruch und öffnete<br />
das Fenster. Dann nahm sie ihre Jacke von der Koje und<br />
erstarrte mitten in der Bewegung.<br />
Darunter lag etwas. Der metallische Geruch von Blut stieg<br />
ihr jetzt intensiver in die Nase. Nach näherer Betrachtung<br />
erkannte sie, dass es sich um eine tote, aufgeschlitzte Ratte handelte,<br />
die an allen Vieren rücklings an einen Holzscheit genagelt<br />
war. Ihr pelziger, weißer Bauch war vom Hals bis zu den Hinterbeinen<br />
aufgeschlitzt. Die Gedärme quollen daraus hervor. Darüber<br />
hatte jemand einen Zettel an das Holzscheit genagelt. In<br />
verschmierter, Schrift mit blutigen Flecken stand dort:<br />
34
„Halt dich raus! Kleine Mädchen werden niemals Kapitän!“<br />
<strong>Enya</strong> wurde schlagartig übel und sie übergab sich direkt in<br />
den Mülleimer, der immer unter dem Kartentisch festgebunden<br />
war. Sie zitterte heftig und es dauerte einige Minuten, bis sie sich<br />
wieder einigermaßen im Griff hatte.<br />
Wer hatte der armen Ratte das bloß angetan? Marten? Borus?<br />
Sie hatten doch alle gemeinsam am Tisch gesessen.<br />
Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Die Ratte<br />
hatte schon vor dem Essen in ihrer Kabine gelegen! Deshalb<br />
auch dieser merkwürdige Geruch. Sie hatte es nur nicht bemerkt,<br />
weil sie so mit dem Sextanten und der bevorstehenden Ansage<br />
beschäftigt gewesen war. Sie hatte aus Versehen sogar ihre Jacke<br />
darüber geworfen! Deshalb auch die merkwürdigen Reaktionen<br />
während des Essens. Es hatten wohl einige davon gewusst und<br />
wollten hören, wie sie Josse oder Albert das Kommando übertrug.<br />
Nun hatte sie ihnen offen den Krieg erklärt, ohne es zu<br />
ahnen. Hätte sie dieses „Kunstwerk“ schon eher entdeckt, wäre<br />
sie sicher nicht in der Lage gewesen, überhaupt mit der Mannschaft<br />
zu sprechen.<br />
Sie zitterte immer noch, Tränen stiegen ihr in die Augen, mit<br />
so viel Hass und offener Ablehnung hatte sie nicht gerechnet.<br />
Tore hätte sich so etwas nicht gefallen lassen. Sie wurde wütend,<br />
was für ein hinterhältiges, gemeines Spiel!<br />
Nur gut, dass sie die Ratte erst jetzt entdeckt hatte. Nun war<br />
sie dazu gezwungen, das Spiel zu Ende zu spielen. Ein abfälliges<br />
Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie an den überraschten<br />
Gesichtsausdruck von Marten zurückdachte, nachdem sie<br />
so ruhig und selbstsicher als Kapitänin aufgetreten war. Damit<br />
hatte sicher niemand gerechnet! Sie war unwissentlich viel stärker<br />
aufgetreten, als sie in Wirklichkeit war.<br />
35
Die erste Runde geht an mich, dachte sie entschlossen und<br />
warf den Kadaver zu dem Erbrochenen in den Mülleimer. Ihre<br />
Jacke flog gleich hinterher. Es klopfte an der Tür. <strong>Enya</strong> wollte<br />
im Moment eigentlich niemanden sehen, aber dann erkannte sie<br />
Josses Stimme, die vorsichtig fragte: „Ist alles in Ordnung mit<br />
dir? Kann ich reinkommen?“<br />
Schnell blickte sie in den Spiegel, der über der Sitzecke hing<br />
und wischte sich die Tränen weg.<br />
„Klar, komm' rein! Hier stinkt es leider etwas“, sie öffnete<br />
die Tür, „jemand hat mir vorhin ein schönes Geschenk in die<br />
Kabine gelegt. Bis jetzt hatte ich keine Zeit, den Mülleimer zu<br />
leeren“, sagte sie bitter und hoffte, dass ihm der Geruch des<br />
Erbrochenen unter der Ratte nicht auffallen würde. Sie blickte<br />
den Gang hinunter und entdeckte dabei Hamo und Marten, wie<br />
sie sich neugierig am Niedergang herumtrieben.<br />
„Hamo, Marten, könnt ihr bitte Nino zu mir schicken, er<br />
soll sich um meinen Mülleimer kümmern!“, rief sie den Gang<br />
hinunter, dann immer noch laut genug zu Josse: „Stell dir vor,<br />
mir hat jemand eine stinkende, tote Ratte ins Bett gelegt. Was<br />
soll ich nun davon halten? Kindisch, oder?“<br />
Josse sah ihr sehr wohl an, dass es nicht so spurlos an ihr<br />
vorüber gegangen war, wie sie tat. Aber er verstand sofort und<br />
spielte mit.<br />
„Im Ernst?“, fragte er und zog dabei die Tür hinter sich zu,<br />
dann leiser: „Diese Schweine! Sie tuscheln schon die ganze Zeit,<br />
wie sie dir eins auswischen können. Aber das geht wirklich zu<br />
weit!“<br />
„Du wusstest von ihren Intrigen? Wieso hast du mir nichts<br />
gesagt?“, fragte <strong>Enya</strong> und drehte sich zum Fenster.<br />
„Ich dachte, es würde dir nur Angst machen, du hast ja auch<br />
schon so genug Probleme!“<br />
36
„Es macht mir jetzt noch viel mehr Angst“, sagte <strong>Enya</strong> beleidigt,<br />
„glaubst du, sie meinen es ernst?“<br />
„Sie wissen genau so gut wie ich, dass wir ohne dich nur<br />
nach dem Kompass Richtung Südwesten fahren können und es<br />
dann nicht sicher ist, ob wir in Ataleya ankommen, oder ohne<br />
Vorräte in den Weiten des tunischen Ozeans verschwinden.<br />
Lebensmüde sind die auch nicht! Aber ich halte meine Augen<br />
und Ohren lieber offen.“<br />
„Danke!“<br />
Wieder klopfte es an der Tür. Es war Nino.<br />
„Kannst du bitte den Mülleimer entsorgen? Wirf ihn am<br />
besten gleich ganz über Bord. Den Gestank bekommen wir da<br />
sowieso nicht mehr raus.“<br />
Nino bekam große Augen, als er die aufgeschlitzte Ratte im<br />
Mülleimer entdeckte, sagte aber nichts dazu.<br />
„Ach und schick mir doch bitte Marten herein.“<br />
„Was hast du vor?“, fragte Josse besorgt.<br />
„Wirst du schon sehen“, antwortete sie und lächelte entschlossen.<br />
„Du kannst es nicht beweisen, oder? Wenn du ihn jetzt<br />
bestrafst, hat er wieder einen Grund gegen dich zu hetzen.“<br />
Marten kam den Gang hinunter und blickte <strong>Enya</strong> ernst an.<br />
Er sah angespannt aus.<br />
„Marten, ich habe gehört, dass du nicht ganz einverstanden<br />
bist mit meiner neuen Stellung als Kapitänin? Deshalb dachte<br />
ich, du klagst mir mal dein Leid und sagst mir, was dir auf dem<br />
Herzen liegt. Vielleicht kann ich ja deine Sorgen zerstreuen?“,<br />
frage <strong>Enya</strong> ganz freundlich. „Ich kann ja verstehen, dass man<br />
sich in der Messe vor der versammelten Mannschaft nicht die<br />
Blöße geben will. Also wovor fürchtest du dich so?“<br />
Marten war reglos stehen geblieben und starrte sie jetzt fassungslos<br />
an. „Angst? Ich fürchte mich vor gar nichts! Ich finde<br />
37
nur eine Frau hat …“<br />
„…an Bord nichts zu suchen? Also bist du abergläubisch?<br />
Und hast Angst, dass ich der Aurora Unglück bringe? Da kann<br />
ich dich beruhigen, ich bin ja schon immer hier an Bord und es<br />
ist nie etwas Schlimmes mit der Aurora passiert. Also mach dir<br />
nicht so viele Sorgen!“ <strong>Enya</strong> lächelte freundlich, so langsam fing<br />
ihr der Posten als Kapitänin an, Spaß zu machen. Marten blickte<br />
sie finster an und wandte sich zum Gehen. Eilig verschwand er<br />
in der Mannschaftskabine.<br />
„Ich glaube, da haben wir dich alle ein bisschen unterschätzt“,<br />
schmunzelte Josse und schaute Marten nachdenklich hinterher.<br />
„Hoffentlich macht er jetzt keinen Unsinn“, sagte <strong>Enya</strong><br />
düster.<br />
38
Nymphen<br />
Nino machte sich schon bald nützlich auf der Aurora. Er<br />
packte hier und dort mit an, machte seine Arbeit schnell und<br />
sorgfältig, sodass er bald einen guten Ruf bei der Mannschaft<br />
hatte. Er verlor auch etwas von seiner Scheu.<br />
Eines Nachmittags saß <strong>Enya</strong> gerade am Kartentisch und<br />
schrieb einen Eintrag ins Logbuch, als Pépin hereinplatzte. Der<br />
Schiffskoch war ganz außer sich: „Das kann ja wohl nicht wahr<br />
sein, der Dummkopf drückt sich vor der Arbeit! Wir sollten<br />
ihn direkt wieder über Bord werfen, da will er ja anscheinend<br />
sowieso gerade hin …“<br />
„Nun mal langsam Pépin, was ist denn überhaupt los?“,<br />
fragte <strong>Enya</strong> überrascht.<br />
„Nino sollte das Mittagsgeschirr abwaschen, und was macht<br />
er? Ich finde ihn im Klüvernetz herumlungern und die Nymphen<br />
anschmachten.“<br />
„Oh nein! Weiß er überhaupt, was Nymphen sind? Was<br />
sie tun?“<br />
„Keine Ahnung, er lässt sich jedenfalls nicht wieder zurück<br />
an Bord zerren, Doc und Albert versuchen es gerade. Wir haben<br />
echt Besseres zu tun!“<br />
<strong>Enya</strong> ließ sofort alles stehen und liegen. Sie erinnerte sich<br />
noch genau an den Tag, als Josse das erste Mal die Nymphen mit<br />
anderen Augen gesehen hatte. Als Kinder lagen sie oft gemeinsam<br />
in dem Netz vorm Bug der Aurora. Es war ein wunderschöner<br />
Platz, um sich zu verstecken und vor der Arbeit zu drücken.<br />
Manchmal bekam man dann Besuch von Delfinen oder eben<br />
den Nymphen, die in der Bugwelle der Aurora spielten.<br />
Als Kinder hatten <strong>Enya</strong> und Josse es geliebt, ihnen zuzu-<br />
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schauen. Sie hatten den Unterkörper eines goldenen Fisches und<br />
den Oberkörper einer Frau mit schneeweißer Haut.<br />
Ihr Haar bestand aus tausenden von golden schimmernden<br />
Tentakeln und ihre Augen waren so tief blau, wie der Ozean<br />
selbst. Sie waren nicht nur wunderschön, sondern führten auch<br />
allerhand atemberaubender Kunststücke vor. Wenn Tore die beiden<br />
mit den Nymphen entdeckt hatte, war er immer sehr wütend<br />
geworden. Sie waren neben ihrer Schönheit auch sehr gefährlich<br />
und gefräßig. Sie lockten die Seeleute zu sich ins Wasser und<br />
durch ihre betörende Ausstrahlung konnte ihnen niemand lange<br />
widerstehen. Einmal im Wasser, wurden die bedauernswerten<br />
Opfer dann in Stücke gerissen und vom ganzen Schwarm<br />
gemeinsam aufgefressen.<br />
Nur Kinder waren gegen ihre Anziehungskraft immun –<br />
warum, wusste niemand so genau. Für Erwachsene aber war<br />
es lebensgefährlich, Nymphen in die Augen zu schauen. Wer<br />
gerade erst erwachsen wird, rechnet nicht mit dieser plötzlichen<br />
starken Anziehungskraft und ist den Nymphen hilflos ausgeliefert<br />
– es sei denn, jemand anderes zerrt einen mit Gewalt aus<br />
dem Blickfeld dieser Wesen.<br />
Als <strong>Enya</strong> und Pépin am Bug angekommen waren, sahen sie,<br />
wie Doc und Albert aufgehört hatten, an Nino zu ziehen und<br />
sich nun ebenfalls über die Reling beugten. Sie mussten, beim<br />
Versuch Nino zu retten, ebenfalls einer der Nymphen in die<br />
Augen geschaut haben. Nicht mehr lange, und alle drei würden<br />
freiwillig ins Wasser springen, um sich verspeisen zu lassen.<br />
„Pépin“, befahl <strong>Enya</strong> „schau ihnen um Himmelswillen nicht<br />
in die Augen!“<br />
Auch Josse hatte den Aufruhr auf dem Vordeck mitbekommen<br />
und kam zu ihnen nach vorne gerannt. Er schaute <strong>Enya</strong><br />
fragend an. Sie rief ihm entgegen: „Achtung, Nino hat gerade<br />
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die Nymphen für sich entdeckt!“<br />
Josse nickte nur und trat mit abgewandtem Blick auf Doc zu.<br />
Er zerrte ihn mit aller Gewalt von der Reling weg, konnte ihn<br />
aber nicht halten. Erst als Pépin ihm zu Hilfe kam, konnten sie<br />
Doc zu zweit an den Hauptmast drücken. Da kam er endlich<br />
wieder zu sich. Jetzt mussten sie sich aber beeilen, denn Albert<br />
und Nino waren immer noch im Bann der Nymphen.<br />
„Ich geh nach unten, ihr zieht Nino dann hoch“, sagte <strong>Enya</strong>,<br />
die sich schon daran machte, mit einem Stück Seil in der Hand<br />
zu Nino hinunter zu klettern.<br />
„Sei vorsichtig“, rief Josse, der gerade mit Albert rang. Sie<br />
schloss fest die Augen, damit sie nicht in Versuchung geriet,<br />
versehentlich beim Hinunterklettern selbst eine der Nymphen<br />
direkt anzuschauen. Als sie bei Nino angekommen war, richtete<br />
sie ihren Blick stetig nach oben. Mit geübten Handgriffen hatte<br />
sie ihm das Seil blitzschnell um den Oberkörper gebunden und<br />
das andere Ende zu den Männern an Deck geworfen.<br />
„Zieht!“, rief sie hinauf und sah, dass sich das Seil spannte.<br />
Aber nichts passierte. Nino blickte wie gebannt und voller Sehnsucht<br />
zu den Nymphen im Wasser hinunter, die ihre weißen<br />
Hände nach ihm ausstreckten.<br />
Gleich hatten sie ihn. Was sollte sie nur tun? Das Netz hing<br />
nicht gerade hoch über dem Wasser.<br />
Mit aller Kraft versuchte <strong>Enya</strong> Ninos Hände vom Netz zu<br />
lösen, aber er schien übermenschliche Kräfte entwickelt zu<br />
haben und <strong>Enya</strong>s Verzweiflung wuchs. Sie schrie ihn an, rüttelte<br />
an ihm, schlug ihm ins Gesicht, doch nichts bewegte den<br />
Jungen auch nur einen Millimeter. Wo hatte er nur diese Kraft<br />
her? Dann löste sich bei der Kletterei in dem engen Netz zu<br />
allem Unglück auch noch eine Strähne aus <strong>Enya</strong>s Zopf. Sogleich<br />
spürte sie den aufkommenden Wind. Es war Gott sei Dank nur<br />
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eine kleine Strähne, sodass es hoffentlich niemandem auffallen<br />
würde, einen Sturm würde sie damit nicht entfachen. Nino<br />
musste jetzt erstmal aus diesem Netz heraus – und zwar sofort.<br />
Sie überlegte wild hin und her, verzweifelt suchte sie nach einem<br />
Ausweg. Was konnte sie noch tun? Das Netz zerschneiden?<br />
Im nächsten Moment drehte Nino plötzlich den Kopf, starrte<br />
wie gebannt zu <strong>Enya</strong> hinüber und flog, von den Männern gezogen,<br />
nach oben über die Reling. Was war passiert?<br />
<strong>Enya</strong> war bei dem Ruck, mit dem Nino nach oben flog, halb<br />
aus dem Netz gerutscht. Gerade so weit, dass eine springende<br />
Nymphe sie erreichen konnte. Eine kalte weiße Hand umklammerte<br />
<strong>Enya</strong>s Knöchel. Eiskalt lief es ihr den Rücken hinunter,<br />
sie zog ihr Messer und stach zu. Ein gellender Schrei raubte ihr<br />
fast die Sinne, aber der Fuß kam wieder frei. Hastig kletterte sie<br />
zurück an Deck. <strong>Enya</strong> atmete tief durch. Alle waren gerettet und<br />
niemand zu Fischfutter verarbeitet worden.<br />
Josse nahm sie erleichtert in den Arm und schnauzte gleich<br />
darauf Nino an: „Wie kann man nur so blöd sein. Das war<br />
lebensgefährlich! Und nicht nur für dich. Was wäre, wenn die<br />
Nymphen <strong>Enya</strong> erwischt hätten? Am liebsten würde ich dich<br />
…“<br />
„Es reicht“, unterbrach ihn <strong>Enya</strong> „Nino komm mit in die<br />
Kapitänskabine und Josse, reg dich mal ab, mir ist nichts passiert<br />
und du solltest am allerbesten wissen, wie man in die Fänge der<br />
Nymphen geraten kann.“<br />
Die Männer blickten Josse fragend an.<br />
„Na vielen Dank, nun wissen es alle“, Josse verzog sich mit<br />
verkniffener Miene und die Männer liefen lachend hinter ihm<br />
her.<br />
„Komm mit Nino, wir haben zu reden!“ <strong>Enya</strong> war selbst<br />
überrascht, wie streng sie sich auf einmal anhörte.<br />
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In der Kapitänskabine schloss <strong>Enya</strong> hinter sich und Nino die<br />
Tür. Der Junge sah plötzlich kreidebleich aus und fing leicht an<br />
zu schwanken.<br />
„Können wir das Fenster aufmachen?“, fragte er benommen.<br />
„Klar, setz‘ dich erstmal“, sagte <strong>Enya</strong> und deutete auf die<br />
Sitzecke mit dem winzigen Tisch in der Mitte. Sie öffnete das<br />
kleine Fenster und blickte hinaus auf das Kielwasser der Aurora.<br />
Vielleicht hatte er ja einen leichten Schock von der Begegnung<br />
mit den Nymphen davongetragen. Sie war jedenfalls froh, dass<br />
alle unverletzt und sicher an Bord waren. Ninos Gesichtsfarbe<br />
normalisierte sich langsam wieder. Sie setzte sich ihm gegenüber<br />
auf die Bank.<br />
„Du hast da draußen ganz schön viel Kraft gehabt. Zu dritt<br />
haben wir an dir gezogen und konnten dich nicht frei bekommen!<br />
Sonst stöhnst du schon, wenn du nur einen Eimer Wasser<br />
tragen sollst. Was war das gerade eben? Und warum hast du dann<br />
so plötzlich doch losgelassen? Die Nymphen geben normalerweise<br />
niemanden wieder frei, wenn er schon fast im Wasser ist.“<br />
„Ich weiß nicht, ich ...“, sagte Nino und blickte unablässig zu<br />
der kleinen Strähne, die <strong>Enya</strong> aus dem Zopf gerutscht war. Ein<br />
Windhauch kam durchs Fenster und spielte damit. <strong>Enya</strong> hatte<br />
ihr Haar in dem Trubel ganz vergessen, aber als Nino sie so<br />
anstarrte, fiel es ihr wieder ein. Ein Glück, dass der Rest vom<br />
Zopf gehalten hatte, sonst wäre sie in Erklärungsnot gekommen.<br />
Sie drehte sich schnell zur Seite und verstaute die Strähne wieder<br />
in ihrem Zopf. Sofort machte sich der kleine Windhauch auf den<br />
Weg nach draußen und nun schien Nino wiederum ihm hinterher<br />
zu blicken. <strong>Enya</strong> war verwirrt. Was war da los? Sie kannte<br />
niemanden außer ihr selbst, der so einen schwachen Windhauch<br />
überhaupt bemerkt hätte. Ahnte Nino, dass etwas mit ihr nicht<br />
stimmte? Und wieso fühlte sie sich jetzt ertappt, obwohl er es<br />
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doch war, der sich so seltsam verhalten hatte?<br />
Also stellte sie ihn zur Rede: „Jetzt mal ehrlich, wir konnten<br />
dich zu dritt nicht einen Millimeter vom Fleck bewegen! Wie<br />
ist so etwas möglich?“ Nino blickte erschrocken zu ihr herüber.<br />
„Was? Ich? Besondere Kräfte?“, er lachte nervös, „vielleicht<br />
haben mich ja die Nymphen verzaubert, besonders kräftig bin<br />
ich ja nun leider gar nicht.“<br />
<strong>Enya</strong> hatte das Gefühl, dass Nino ihr etwas verheimlichte.<br />
„Es ist an der Zeit, dass ich mal etwas mehr von dir erfahre.<br />
Du bist inzwischen ein Teil der Mannschaft, ob du willst oder<br />
nicht. Da muss ich wissen, mit wem ich es zu tun habe.“ <strong>Enya</strong><br />
setzte sich Nino gegenüber an den kleinen Salontisch und schaute<br />
ihn eindringlich an: „Du kannst mir vertrauen, ich werde mit<br />
niemandem darüber reden, nur wissen muss ich es. Wer ist dein<br />
Bruder und warum will deine Familie dich umbringen und …“,<br />
in diesem Moment hörten sie ein leises Geräusch hinter der Tür.<br />
„Was war das?“<br />
Rasch erhob sich <strong>Enya</strong> und öffnete die Tür.<br />
„Borus! Was hast du vor meiner Tür zu suchen? Hast du uns<br />
etwa belauscht?“<br />
„Ich? Aber nein, ich habe von dem Vorfall mit den Nymphen<br />
gehört und wollte mich erkundigen, ob alles in Ordnung ist. Ich<br />
habe schon viele erlebt, die nach einem Blick in die Augen einer<br />
Nymphe den Verstand verloren haben. Ich kenne mich da etwas<br />
aus und würde gerne helfen.“<br />
„Uns geht es gut“, sagte <strong>Enya</strong>, „und merke dir für die<br />
Zukunft, dass ich es nicht schätze, wenn sich die Passagiere vor<br />
meiner Tür herumdrücken.“ Ohne eine Antwort abzuwarten,<br />
schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu. Einige Sekunden war es<br />
still, dann hörten sie Schritte, die sich langsam entfernten.<br />
„Glaubst du, er hat dich eben gehört?“, fragte Nino erschrocken.<br />
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„Wenn überhaupt, dann kann er nur unsere Stimmen erkannt<br />
haben, ich habe oft genug an dieser Tür gelauscht um zu wissen,<br />
dass es unmöglich ist, mehr als Wortfetzen zu verstehen.“<br />
Nino wirkte nicht ganz überzeugt. Um ganz sicher zu<br />
gehen, öffnete <strong>Enya</strong> die Tür noch einmal und blickte den Gang<br />
hinunter.<br />
„Die Luft ist rein, jetzt kannst du mir endlich mehr erzählen.“<br />
Nino schien zu überlegen, was er sagen konnte und was<br />
nicht. Dann begann er zögernd mit seinem Bericht.<br />
„Ich komme aus einem fernen Land, hoch oben im Norden<br />
aus dem Trutzengebirge. Dort ist vor fast drei Jahren unser Vater<br />
gestorben. Bei uns ist es Sitte, dass sich drei Jahre nach dem<br />
Todestag des Vaters alle seine Söhne in einem großen Kampf<br />
beweisen. Der Sieger bekommt das ganze Erbe und wird König.“<br />
„Und vorher?“, fragte <strong>Enya</strong>. „Drei Jahre sind lang.“<br />
„Bis dahin muss der Erstgeborene alles verwalten. Der weigert<br />
sich aber, sein Amt wieder abzugeben und versucht, von<br />
uns Brüdern so viele wie möglich schon vor dem Kampf verschwinden<br />
zu lassen. Soviel wir wissen, stecken zwei von ihnen<br />
mit ihm unter einer Decke und helfen ihm dabei.“<br />
„Deshalb seid ihr untergetaucht.“<br />
„Ja, genau. Ich bin zwar der Jüngste von allen und hätte<br />
sowieso kaum eine Chance, aber sogar mich wollen sie ausschalten.<br />
Wir waren insgesamt 13, bis einer nach dem anderen verschwand“,<br />
berichtete Nino jetzt schon freimütiger.<br />
„Das ist ja furchtbar.“<br />
Nino nickte, „Ta…, mein Bruder, der, der mich hier versteckt<br />
hat, ist selbst in Gefahr. Ich weiß auch nicht, wo er sich inzwischen<br />
versteckt hält.“<br />
„Wie lange müsst ihr Euch denn verstecken? Und wieso seid<br />
ihr nicht zusammen geblieben?“<br />
„Mein Bruder muss den Kampf in zwei Monaten gewinnen<br />
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und alle anderen Brüder besiegen. Das ist unsere einzige Chance.<br />
Und er kann es schaffen, er ist nämlich stark. Sehr stark!“, sagte<br />
Nino stolz. „Bis dahin soll ich ganz unauffällig bleiben und<br />
mich versteckt halten.“ Ninos Gesicht verfinsterte sich.<br />
„Du wärest auch gerne dabei, oder?“<br />
„Natürlich!“<br />
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