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Organspende<br />
gestorben sind, benötigen sie eine besondere<br />
Begleitung. Im Sterben wird<br />
noch intensiv gelebt, ein Leben, das<br />
den Explantierten und ihrem sozialen<br />
Umfeld zu einem großen Teil entzogen<br />
wird.» Prof. Dr. Franco Rest<br />
Heute sieht es anders aus. Durch die<br />
Vorverlegung des Todeszeitpunktes<br />
auf den Zeitpunkt des «endgültigen<br />
Komas», können «Tote» noch warm sein,<br />
atmen, einen Herzschlag haben, wachsen,<br />
Kinder bekommen. Diese Toten<br />
sind eigentlich lebende Sterbende.<br />
So ein Tod ist auch nicht mehr so<br />
einfach festzustellen. Und auch<br />
nicht mehr so objektiv. Wie häufig<br />
es zu Fehleinschätzungen kommt,<br />
ist bisher nicht untersucht – dass<br />
es jedoch in Einzelfällen bereits zu<br />
Fehleinschätzungen kam, ist gut belegt.<br />
Selbst die «American Academy of<br />
Neurology» hat 2010 zugeben müssen,<br />
dass es bisher keinen wissenschaftlichen<br />
Nachweis gibt, die Unumkehrbarkeit<br />
des Hirntodes eindeutig festzustellen.<br />
Auch die deutsche «Bundeszentrale<br />
für politische Bildung» schreibt in ihrem<br />
sehr guten Aufsatz «Wie tot sind<br />
Hirntote? Alte Frage – neue Antworten»:<br />
«Wie häufig Fehldiagnosen des Todes<br />
sind, ist unbekannt; sie werden selbstverständlich<br />
nicht in Fachzeitschriften<br />
publiziert. Allerdings wurden einige<br />
Fälle von «Hirntod-Mimikry» hochrangig<br />
publiziert. Deren Ursachen<br />
waren Pestizidvergiftung, eine<br />
Baclofen-Überdosis (Wirkstoff zur<br />
Muskelentspannung)<br />
beziehungsweise ein<br />
fulminantes Guillain-<br />
Barré-Syndrom<br />
(neurologische<br />
Erkrankung mit vollständiger<br />
Lähmung).<br />
Letzteres ist vor allem<br />
bei vorangehender<br />
Kopfverletzung<br />
mit dem Hirntod zu<br />
verwechseln, weil<br />
diese irrtümlicherweise<br />
für die Ursache<br />
der hirntodartigen<br />
Symptome gehalten<br />
werden kann. In<br />
diesen Fällen hatten<br />
die Ärzte die lebenserhaltenden<br />
Maßnahmen fortgesetzt,<br />
obwohl die klinische Diagnostik für den<br />
Hirntod sprach. Alle beschriebenen<br />
Patienten wurden wieder gesund.»<br />
«So tot wie nötig,<br />
so lebendig wie möglich.»<br />
Prof. Dr. Franco Rest<br />
Entgegen aller Verlautbarung existiert<br />
derzeit also kein Verfahren, das<br />
den Gehirntod eindeutig feststellen<br />
kann – ein medizinisch eindeutiges<br />
Gehirntodkriterium existiert damit<br />
überhaupt nicht. Polemisch könnte man<br />
sagen: Den Tod kann man nur noch vermuten.<br />
Ganz sicher ist der Hirntod keine<br />
Todesdefinition im Sinne des Wortes<br />
– sie ist eine juristische Definition, um<br />
straffrei Organe entnehmen zu können.<br />
Sind wir das Gehirn?<br />
Kein Wunder, dass angesichts dieser<br />
Umstände die Bereitschaft zur<br />
Organspende nicht eben groß ist. Kein<br />
Wunder, dass viele Ärzte die gängige<br />
Todesdefinition für unhaltbar erachten.<br />
Im Wesentlichen manifestiert die<br />
Todesdefinition «Hirntod» ein mechanisches<br />
Menschenbild, das den<br />
Menschen als einen Apparat und das<br />
Gehirn als alleiniges Zentrum des<br />
Geistes begreift – das ist selbst für manche<br />
Hirnforscher ein Gräuel:<br />
«Es widerspricht dem biologischen<br />
und physiologischen Verständnis von<br />
Leben und erst recht dem alltäglichen<br />
Empfinden, wenn ein solcher menschlicher<br />
Körper als Leiche bezeichnet wird.<br />
Er darf auch dann nicht zur Leiche erklärt<br />
werden, wenn Organe dringend<br />
benötigt werden, um andere Leben<br />
zu retten. Das Gehirn darf nicht als<br />
Obersteuerorgan und als ganzmachendes<br />
Organ mystifiziert werden, das sage<br />
ich ausdrücklich als Hirnforscher. Das<br />
Gehirn, speziell der Gehirnstamm ist im<br />
Hinblick auf die Aufrechterhaltung des<br />
Lebens ein Organ wie andere Organe<br />
auch […] Ebenso darf die Tatsache,<br />
dass der Hirntod den Gesamttod unweigerlich<br />
nach sich zieht, nicht als<br />
Besonderheit des Gehirns bewertet<br />
werden. Das Versagen der Nieren<br />
führt genauso unweigerlich zum Tod<br />
eines Menschen wie der Ausfall des<br />
Hirnstamms […] Niemand wird aber<br />
beim Ausfall der Nierenfunktion von<br />
einem toten Menschen sprechen, einer<br />
Leiche. Dass das Gehirn Empfindungen<br />
und Bewusstsein hervorbringt,<br />
die Niere aber nicht, ist in diesem<br />
Zusammenhang nicht völlig unerheblich.<br />
Die Gleichsetzung von Hirntod und<br />
Gesamttod des Menschen ist aber abzulehnen»,<br />
kommentierte etwa Prof. Dr.<br />
G. Roth vom Institut für Hirnforschung<br />
der Universität Bremen.<br />
Philosophische Fragen zur<br />
Organspende<br />
Die Todesdefinition wirft also einige<br />
tiefgehende philosophische Fragen<br />
auf. Wenn man etwa an die Existenz einer<br />
Seele glaubt: Wann verlässt diese<br />
endgültig den Körper? Und ist es vielleicht<br />
sogar eine Art «Festhalten» der<br />
Seele, einen Körper künstlich am Leben<br />
zu erhalten?<br />
Manche halten sogar das Einsetzen des<br />
Verwesungsprozesses für seelisch notwendig:<br />
Erst durch diesen Prozess erfolge<br />
die endgültige Loslösung der Seele<br />
vom Körper, das «silberne Band» werde<br />
durchtrennt. Dies wird vielfach als das<br />
eigentlich wesentliche Todeskriterium<br />
angesehen. Das aber ist wissenschaftlich<br />
nicht zu überprüfen – und für die<br />
Organspende auch uninteressant, denn<br />
die braucht lebende Organe.<br />
Auch stellt sich die Frage nach<br />
<strong>LEBE</strong> <strong>133</strong>/2017<br />
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