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Leseprobe_Willkommen_in_Monsterville

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Adam Monster<br />

<strong>Willkommen</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>Monsterville</strong><br />

Hardcover • 14,8 x 21,0 cm<br />

ca. 256 Seiten<br />

ISBN 978-3-7488-0005-7<br />

12 Euro (D) / 12,40 Euro (A)<br />

Ab 9 Jahren<br />

Illustriert von Thomas Hussung<br />

Aus dem Englischen von Ulrich Thiele<br />

Ersche<strong>in</strong>t: September 2019


Achtung, die Monstermeute kommt!<br />

De<strong>in</strong> Lehrer ist e<strong>in</strong>e Mumie? Eure Bibliothekar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Schlange? Und ke<strong>in</strong>en außer dir sche<strong>in</strong>t das irgendwie<br />

nervös zu machen? <strong>Willkommen</strong> <strong>in</strong> Ost-Emerson!<br />

Als Ben nach Ost-Emerson zieht, wird ihm schnell klar,<br />

dass diese Kle<strong>in</strong>stadt anders ist. Sie wird von e<strong>in</strong>em Haufen<br />

Monstern bewohnt. Mumien, Meerhexen, Zombies,<br />

Werwölfe, Maulswurfsmenschen … Ben muss hier weg!<br />

Doch dann verschw<strong>in</strong>det se<strong>in</strong> geliebter Hund Fred. Auf<br />

der Suche nach e<strong>in</strong>em Lebenszeichen von ihm taucht<br />

Ben mit se<strong>in</strong>en Freunden Lucy und L<strong>in</strong>us immer tiefer <strong>in</strong><br />

die Geheimnisse von Ost-Emerson und der »Verlorenen<br />

Kolonie« e<strong>in</strong>. Dabei machen die drei Bekanntschaft mit<br />

Monstern, die ziemlich ungemütlich s<strong>in</strong>d …<br />

• Für Fans der verrückten Monster-Vielfalt aus<br />

»Hotel Transsilvanien«<br />

• Mit vielen kniffligen Codes und Geheimsprachen<br />

für (zukünftige) Cracks<br />

• Durchgängig schwarz-weiß illustriert von<br />

Thomas Hussung (Das kle<strong>in</strong>e Böse Buch)


e<strong>in</strong>e todernste warnung<br />

an Den k<strong>in</strong>ds-mensch, der dIeses buch <strong>in</strong> händEn hält:<br />

ich flehe dich an – lies eS nicht.<br />

nun mach schon. lEg es weg. ich werde auch nicht beleidigt<br />

Se<strong>in</strong>. schließlich haBe ich e<strong>in</strong> fUrchtbar enttäusChendes<br />

leben H<strong>in</strong>ter mir, also wieSo solltesT du irgend-<br />

E<strong>in</strong> <strong>in</strong>teresse daran haben, diese gesChichte zu lesen, deren<br />

niederschrift mich so viel mühe geKostet hat? was ich zu<br />

erzählen habe, dürfTte noch grauenVoller und grässlicher<br />

se<strong>in</strong> als me<strong>in</strong> grOteskes gesicht – und etwas so abstoßendes<br />

kannst du dir nicht e<strong>in</strong>maL vorstelLEn.<br />

du glaubst miR nicht? dann hör Gut zu: als ich zur wElt<br />

kam, scHrie die hEbamme auf und der arzt fIel <strong>in</strong> ohn-<br />

Macht. me<strong>in</strong>e mutter warf e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen bliCk auf mich,<br />

verzOg Das gesicht, als hätte siE <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Sehr saure zit-<br />

Rrone gebissen, und rief: »du me<strong>in</strong>e güte! offenbar haben<br />

wir e<strong>in</strong>e ausgeburt der hölle geschaffen!« Bald darauf<br />

ließ mich me<strong>in</strong> vater am rand e<strong>in</strong>es dunklen waldes zurück<br />


aber genug davon. wir wollen über e<strong>in</strong>e andere geschichte<br />

sprechen, nÄmlich über die, die du gerade <strong>in</strong><br />

händen hälTSt und die du, wenn du auf mE<strong>in</strong>en dr<strong>in</strong>genden<br />

rat hören wiLlst, aUf ke<strong>in</strong>eN Fall lesen wirst.<br />

Du musst dieses buch schleunigst loswerden. wirf es <strong>in</strong><br />

den PapierKorb. oder ne<strong>in</strong>, zerstöR es lieber ganz. überfahr<br />

es mit de<strong>in</strong>em fahrrad, stopf es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en gullY, wirf es<br />

von e<strong>in</strong>em BerggiPfel, schmeiß es <strong>in</strong>s nächsTbeste feuer –<br />

aber natürlich unter elterlicher aufsicht.<br />

ja, tu’s jetzt gleich. ich warte sOlange.<br />

…<br />

was machst du noch hier? jetzt hör schon auf zu lesen!<br />

(bitte?)<br />

du liest immer noch, oder? herrGott nochmal! miR<br />

sche<strong>in</strong>t, du bist zäher, Als Man es gewohnt ist. na schön.<br />

wenn du schon de<strong>in</strong> herz vor Mir vErschließt, kann ich<br />

vielleicht wenigstens de<strong>in</strong>em kOpf vernunft e<strong>in</strong>Bläuen.<br />

drei gründe, wieso du Dieses bUch auf der Stelle vergessen<br />

solltest:<br />

1. weil Ich e<strong>in</strong> monstEr b<strong>in</strong>. und weil monster, wie nun<br />

wirklich jeder weiß, ke<strong>in</strong>e schriftsteller s<strong>in</strong>d. jedenfalls<br />

ke<strong>in</strong>e guten.


2. weil es sich bei dieser geschichte um e<strong>in</strong>e Wahre geschichte<br />

handelt und wahre geschichten langweilig s<strong>in</strong>d.<br />

unwahre geschichten, also rOmane, s<strong>in</strong>d viel <strong>in</strong>teressanter.<br />

3. weil sich die folgenden kapitel um monster, mytHen<br />

und magie drehen, um monstrositäten der wissenschaft<br />

und um das mysteriöse schicksaL der ersten amerikAnischen<br />

kolonie. solltest du dich also überraschenderweise<br />

nicht langweiLen, wirst du vor angst, grauen und entsetzen<br />

bibbern.<br />

willst du das wirkLich?<br />

du willst Es wirklich!? wie kann man nur so verrückt, so<br />

hirnverbrannt … aber gut, es ist de<strong>in</strong>e entscheidung, und<br />

die respektiere ich. selbst wenn ich dir aus tieFster <strong>in</strong>nerer<br />

überzeugung abraten würde.<br />

es hat wohl keINen s<strong>in</strong>n, noch weiter mit dir zu diskutieren.<br />

deshalb will ich es mit betteln versuchen. bitte bitte<br />

bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte bitte (ist<br />

Das nicht das todeszauberwort?) liEs diese geschichte<br />

Nicht. sie würde dich bloß zu tränen langweilen oder <strong>in</strong><br />

kranKhaftes gelächter Ausbrechen lassen oder aber … zu<br />

tode erschreckeN.<br />

wie ich sehe, liest du immer Noch. dir ist wirklich nicht<br />

mehr zu helfen.<br />

111


also gut. ich habe getan, was ich konnte. du wurdeSt<br />

gewarnT.<br />

mit besten und übelsten grüßen<br />

verachtungsvoll<br />

Adam Monster<br />

ps: das solltest du noch wissen:<br />

Im Jahr 1587 g<strong>in</strong>gen 115 Männer, Frauen und K<strong>in</strong>der am<br />

Ufer von Roanoke Island vor der Küste Amerikas von<br />

Bord e<strong>in</strong>es englischen Schiffs.<br />

Im Auftrag von König<strong>in</strong> Elisabeth I. und des Entdeckers<br />

Sir Walter Raleigh sollten die britischen Siedler e<strong>in</strong>e englische<br />

Kolonie <strong>in</strong> der Neuen Welt errichten. Doch bereits<br />

kurz nach der Ankunft wurde die Gruppe von unerwarteten<br />

Schwierigkeiten heimgesucht. Um von ihrer verzweifelten<br />

Lage zu berichten und Hilfe zu holen, machte sich<br />

der Gouverneur John White nach England auf. Dabei ließ<br />

er 115 Kolonisten zurück, also die 114 Personen, die ursprünglich<br />

mit ihm den Atlantischen Ozean überquert<br />

hatten, und e<strong>in</strong>e weitere: Whites neugeborene Enkeltochter<br />

Virg<strong>in</strong>ia Dare, das erste englische K<strong>in</strong>d, das auf amerikanischem<br />

Boden zur Welt kam.<br />

Eigentlich wollte White sofort mit e<strong>in</strong>er Versorgungs-<br />

112


flotte zur Kolonie zurückkehren, doch der Englisch-Spanische<br />

Krieg machte ihm e<strong>in</strong>en Strich durch die Rechnung.<br />

Da jedes kriegstaugliche Schiff Englands <strong>in</strong> die<br />

Schlacht geschickt wurde, war es ihm unmöglich, rasch zu<br />

se<strong>in</strong>er Familie nach Roanoke aufzubrechen. Erst nach drei<br />

langen Jahren konnte er sich e<strong>in</strong>er Kaperfahrt nach Amerika<br />

anschließen. Am 18. August 1590, dem dritten Geburtstag<br />

se<strong>in</strong>er Enkel<strong>in</strong>, landete White am selben Strand<br />

wie vor so langer Zeit. Die Siedlung war verlassen. White<br />

und se<strong>in</strong>e Männer suchten und suchten, aber die 115 Kolonisten<br />

waren verschwunden.<br />

Die ganze Kolonie schien sich <strong>in</strong> Luft aufgelöst zu haben,<br />

ohne e<strong>in</strong>e Spur zu h<strong>in</strong>terlassen. Bis auf e<strong>in</strong>e – e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges,<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Baum geritztes Wort:<br />

CROATOAN<br />

Knapp 450 Jahre lang blieb das Schicksal der »Verlorenen<br />

Kolonie« e<strong>in</strong> ungelöstes Rätsel. Bis heute …<br />

113


pps: das wirst du auch noch brauchen:<br />

gern geschehen.<br />

Adam Monster<br />

114


((H<strong>in</strong>weis aus dem Lektorat an die Leser<strong>in</strong>nen und Leser<br />

dieser <strong>Leseprobe</strong>: In »<strong>Willkommen</strong> <strong>in</strong> <strong>Monsterville</strong>« s<strong>in</strong>d<br />

zahlreiche Geheimcodes zu f<strong>in</strong>den. Es beg<strong>in</strong>nt mit den<br />

e<strong>in</strong>facheren. Falls Sie beim Lesen der Warnung noch nicht<br />

darauf gekommen se<strong>in</strong> sollten: Achten Sie auf die besondere<br />

Schreibweise! Der Atbasch-Dekodierer auf der gegenüberliegenden<br />

Seite kommt erst weiter h<strong>in</strong>ten im Buch<br />

zum E<strong>in</strong>satz. ))<br />

115


E<strong>in</strong>s – Der Neuanfang<br />

Bens Leben war vorbei.<br />

Ne<strong>in</strong>, tot war er nicht – noch nicht. Aber es kam ihm<br />

vor, als würde alles zu Ende gehen, und dieses Gefühl<br />

drohte ihn zu ersticken.<br />

In der zweiten Oktoberwoche musste Ben Hunter se<strong>in</strong><br />

ganzes Leben <strong>in</strong> Pappkartons packen. Se<strong>in</strong>e Videospiele,<br />

se<strong>in</strong>e Comichefte, se<strong>in</strong>en Fußball, Fotos von Freunden,<br />

die er womöglich nie wiedersehen würde, e<strong>in</strong>fach alles<br />

wanderte <strong>in</strong> Kisten. Und jedes Mal, wenn Ben e<strong>in</strong>e davon<br />

zuklebte, zog sich se<strong>in</strong> Inneres zusammen. Mit jedem Mal<br />

wurde wieder e<strong>in</strong> Nagel <strong>in</strong> den Deckel se<strong>in</strong>es Sargs geschlagen.<br />

Als er an dem verhängnisvollen Freitag aufwachte,<br />

musste Ben feststellen, dass se<strong>in</strong>e Mutter schon das Auto<br />

samt Anhänger beladen hatte. »Wir müssen los«, sagte sie.<br />

»Ich will aber nicht«, jammerte er.<br />

»Es tut mir leid, Ben. Uns bleibt nichts anderes übrig.«<br />

Werte Leser<strong>in</strong>, werter Leser, du kannst dir sicherlich<br />

vorstellen, wie es Ben g<strong>in</strong>g. Ihm war elend zumute.<br />

116


Ben saß neben se<strong>in</strong>er Mutter auf dem Beifahrersitz und<br />

starrte mit Tränen <strong>in</strong> den Augen aus dem Fenster. Die<br />

Arme hatte er fest vor der Brust verschränkt, und zwar<br />

seit sie den Bundesstaat New York verlassen hatten. Er<br />

wollte nicht weg von zu Hause. Er wollte nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere<br />

Stadt ziehen. Und von dem »Neuanfang«, von dem<br />

se<strong>in</strong>e Mutter ständig sprach, wollte er erst recht nichts<br />

wissen.<br />

Sie fuhren an der Ostküste entlang <strong>in</strong> Richtung Süden.<br />

In e<strong>in</strong>er Pause zwischen zwei Liedern im Radio fragte<br />

se<strong>in</strong>e Mutter: »Und du willst wirklich nie wieder mit mir<br />

sprechen?«<br />

»Ne<strong>in</strong>«, antwortete Ben knapp.<br />

Die Straße führte sie durch kle<strong>in</strong>e Orte und große<br />

Städte, vorbei an Tankstellen und Raststätten und unzähligen<br />

Bäumen, und Ben dachte die ganze Zeit nur: »Das ist<br />

doch Scheiße.« Tatsächlich me<strong>in</strong>te er: »Ich werde nie wieder<br />

Freunde f<strong>in</strong>den und nie wieder Spaß haben. Wie denn,<br />

wenn wir <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong> superödes Kaff im Nirgendwo<br />

ziehen?«<br />

Werte Leser<strong>in</strong>, werter Leser, e<strong>in</strong>es wusste Ben nicht –<br />

ich aber, de<strong>in</strong> bescheidener Erzähler, weiß Bescheid: Er lag<br />

sehr falsch. Über die Stadt, die ihn erwartete, lässt sich vieles<br />

sagen, aber nicht, dass sie langweilig ist.<br />

117


WILLKOMMEN<br />

IN OST-EMERSON!<br />

Das stand auf e<strong>in</strong>em Holzschild e<strong>in</strong> Stück h<strong>in</strong>ter der Brücke,<br />

die sie h<strong>in</strong>über auf e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Insel führte. Neben<br />

dem Schild erhob sich e<strong>in</strong> riesiger abgestorbener Baum<br />

mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>geritzten Wort <strong>in</strong> der R<strong>in</strong>de:<br />

CROATOAN<br />

»Croatoan?«, wunderte Ben sich. »Was soll das denn heißen?«<br />

Se<strong>in</strong>e Mutter zuckte mit den Schultern. »Ke<strong>in</strong>e Ahnung.<br />

Vielleicht: ›Wenn Sie e<strong>in</strong>en Neuanfang brauchen,<br />

s<strong>in</strong>d Sie hier genau richtig!‹«<br />

»Oder das genaue Gegenteil«, murmelte Ben.<br />

Als sie <strong>in</strong> die Hauptstraße e<strong>in</strong>bogen, zeigte Bens Mutter<br />

lächelnd aus dem Fenster. »Guck mal, das ist der Hauptplatz.<br />

Da gibt es e<strong>in</strong>e Bücherei, die Post, e<strong>in</strong> Café, e<strong>in</strong>en<br />

Antiquitätenladen und sogar e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>o. Ist das<br />

nicht aufregend?«<br />

»Wieso? In New York City gibt’s e<strong>in</strong>e Million K<strong>in</strong>os«,<br />

flüsterte Ben. Die Geschäfte wirkten genauso alt wie die<br />

Stadt selbst, ihre Schilder verblasst. Nichts Modernes,<br />

Glitzerndes weit und breit. Und nichts Vertrautes. Auf<br />

118


e<strong>in</strong>em fernen Planeten hätte Ben sich kaum fremder gefühlt.<br />

»Und guck dir mal den Second-Hand-Laden an«,<br />

me<strong>in</strong>te se<strong>in</strong>e Mutter. »Was für witzige Masken die da haben.«<br />

Witzig waren die Masken im Schaufenster des merkwürdigen<br />

Geschäfts ganz bestimmt nicht – sie waren e<strong>in</strong><br />

schrecklicher Anblick. Gruselige Tierfratzen, grauenvolle<br />

Menschenfratzen, etliche teuflische Teufelsfratzen. Im<br />

Vorbeifahren fühlte Ben sich von ihren Blicken verfolgt.<br />

In se<strong>in</strong>em Nacken stellten sich die Härchen auf.<br />

»Ist das e<strong>in</strong>e hübsche Gegend«, bemerkte se<strong>in</strong>e Mutter.<br />

»Wie viel Platz hier überall ist! Riechst du die frische Luft?«<br />

»Riecht eklig.«<br />

»Ich weiß«, f<strong>in</strong>g sie an, »das ist schwer f-«<br />

»Schwer?«, fiel Ben ihr <strong>in</strong>s Wort. »Schwer!? Matheaufgaben<br />

s<strong>in</strong>d schwer. Fast ans andere Ende vom Land zu ziehen,<br />

das ist schwerer als schwer, das ist die … die bescheuertste<br />

Aktion <strong>in</strong> der Geschichte der Bescheuertheit!«<br />

Auf der Rückbank bellte Bens Hund. Dann steckte Fred<br />

se<strong>in</strong>en Riesenkopf wieder aus dem Fenster.<br />

»Siehst du? Sogar Fred ist me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung«, stöhnte<br />

Ben und tätschelte se<strong>in</strong>en vierbe<strong>in</strong>igen Freund. »Hätten<br />

wir nicht wenigstens noch bis nach Halloween warten<br />

können?«<br />

119


120<br />

»Du weißt doch, dass das nicht …« Se<strong>in</strong>e Mutter verstummte.<br />

»Ja, schon klar«, sagte Ben und schwieg e<strong>in</strong> paar Sekunden.<br />

»Marcellus und ich s<strong>in</strong>d ja auch nur seit der ersten<br />

Klasse beste Freunde«, murmelte er dann. »Und er<br />

schmeißt ja auch nur die fetteste Gruselparty aller Zeiten.<br />

Und wir beide haben ja auch bloß unsere Verkleidungen<br />

mite<strong>in</strong>ander abgesprochen, damit wir den besten Auftritt<br />

überhaupt h<strong>in</strong>legen können. Tja, jetzt werde ich an Halloween<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich alle<strong>in</strong> zu Hause hocken und irgendwelchen<br />

Leuten Süßkram <strong>in</strong> die Hand drücken.«<br />

Insgeheim machte Ben sich aber über etwas anderes<br />

Gedanken: dass Marcellus sich e<strong>in</strong>en neuen besten Freund<br />

suchen könnte. Die Vorstellung, er könnte e<strong>in</strong>fach weitermachen<br />

und se<strong>in</strong>en alten Kumpel und ihre geme<strong>in</strong>same<br />

Vergangenheit vergessen, war unerträglich. Alles änderte<br />

sich – Ben hätte se<strong>in</strong>e Verzweiflung am liebsten laut herausgeschrien.<br />

Und er hätte es auch getan, wäre ihm nicht<br />

plötzlich e<strong>in</strong> seltsamer Mann auf der Straße aufgefallen. Er<br />

trug e<strong>in</strong>en Trenchcoat und war von Kopf bis Fuß <strong>in</strong> Bandagen<br />

gehüllt – sogar se<strong>in</strong> Gesicht. »Guck dir den armen<br />

Typen da an«, sagte Ben. »Glaubst du, er hat e<strong>in</strong>e Krankheit?<br />

Könnte doch se<strong>in</strong>, dass die ganze Stadt irgendwie<br />

verseucht ist.«<br />

»Ist sie nicht, Ben«, erwiderte se<strong>in</strong>e Mutter.


»Vorsicht ist besser als Nachsicht. Ich würde vorschlagen,<br />

wir kehren e<strong>in</strong>fach um und fahren wieder nach<br />

Hause. Am besten sofort.«<br />

»Jetzt gib der Stadt doch erst mal e<strong>in</strong>e Chance, Ben!«<br />

»Du hast Dad doch auch ke<strong>in</strong>e Chance gegeben!«, stieß<br />

er hervor.<br />

Frau Hunter – oder neuerd<strong>in</strong>gs Fräule<strong>in</strong> Hunter, der<br />

Trennung von ihrem Ehemann wegen – verzog das Gesicht<br />

und atmete tief e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e Träne rann ihr über die<br />

Wange, sie wischte sie weg. Als Ben das sah, verkrampfte<br />

sich se<strong>in</strong> Bauch. Jetzt tat es ihm wieder leid.<br />

»Benjam<strong>in</strong> Hunter«, flüsterte Bens Mutter mit fester<br />

Stimme, »das ist jetzt unser Zuhause. Diese Stadt ist unser<br />

Neuanfang. Wir müssen das Beste daraus machen, wir<br />

müssen positiv denken und respektvoll mite<strong>in</strong>ander umgehen.<br />

Haben wir uns verstanden?«<br />

»Na gut«, antwortete Ben, aber ob er es wirklich ernst<br />

me<strong>in</strong>te? Er wusste es selbst nicht.<br />

Werte Leser<strong>in</strong>, werter Leser, ich muss um etwas Geduld<br />

mit dem jungen Herrn Hunter bitten. Er wird noch e<strong>in</strong>e<br />

ganze Weile jammern und meckern und sich über se<strong>in</strong>e<br />

Mutter aufregen. Me<strong>in</strong>er Ansicht nach benimmt er sich<br />

wie e<strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>d. Ich, der ich von me<strong>in</strong>en Eltern am Rand<br />

e<strong>in</strong>es dunklen Waldes ausgesetzt wurde, worauf sie auf<br />

Nimmerwiedersehen verschwanden, f<strong>in</strong>de es ausgespro-<br />

121


122<br />

chen anständig von Bens Mutter, dass sie ihn überhaupt<br />

bei sich behalten hat. Sie hätte ihn doch ebenso gut zurücklassen<br />

können wie überflüssigen Ballast … aber me<strong>in</strong>e<br />

Me<strong>in</strong>ung ist hier nicht gefragt. Me<strong>in</strong>e Aufgabe ist es, Bens<br />

Geschichte zu erzählen.<br />

Als sie um e<strong>in</strong>e Ecke bogen, sah Ben e<strong>in</strong>en Roboter die<br />

Straße entlanglaufen. Der Roboter blieb stehen, um sich<br />

mit e<strong>in</strong>er Frau zu unterhalten, die nicht sehr lebendig<br />

wirkte. Es war e<strong>in</strong>e Tote, genauer gesagt e<strong>in</strong>e Untote, die<br />

e<strong>in</strong> Kleid und e<strong>in</strong>en Blumenhut trug, beides über und<br />

über verdreckt – war sie gerade ihrem Grab entstiegen? Da<br />

w<strong>in</strong>kte sie e<strong>in</strong>em Nachbarn, und ihr Arm brach am Ellenbogen<br />

ab.<br />

Ben rieb sich die Augen und schaute noch e<strong>in</strong>mal genauer<br />

h<strong>in</strong>. Aber es war zu spät, sie waren schon wieder<br />

abgebogen. Die seltsamen Gestalten waren außer Sicht.<br />

Weiter vorn entdeckte Ben e<strong>in</strong> altes Haus, dessen Dach<br />

von Geistern umschwärmt wurde. Auf der Terrasse stach<br />

e<strong>in</strong>e Schar von Kobolden mit Messern auf Kürbisse e<strong>in</strong>,<br />

und nebenan schleifte e<strong>in</strong> hagerer Greis mit Kettensäge <strong>in</strong><br />

der Hand e<strong>in</strong> verschnürtes E<strong>in</strong>horn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Garage. Plötzlich<br />

hallte e<strong>in</strong> schrilles Kreischen durch die Luft. Ben<br />

spähte <strong>in</strong> die Höhe. Zwei Flugsaurier durchkreuzten den<br />

Himmel.<br />

Er traute se<strong>in</strong>en Augen nicht. »Was zur Hölle …?«


Dann fiel ihm wieder e<strong>in</strong>, welchen Monat sie hatten.<br />

Oktober! Sofort zog Ben den logischen Schluss. »In Ost-<br />

Emerson ist Halloween ansche<strong>in</strong>end e<strong>in</strong>e echt große<br />

Nummer«, sagte er zu se<strong>in</strong>er Mutter. »Die laufen jetzt<br />

schon alle <strong>in</strong> Verkleidung rum und dekorieren ihr Haus,<br />

und wie’s aussieht, geben sie e<strong>in</strong>en Haufen Geld für Requisiten<br />

und Riesenflugdrachen und so weiter aus.«<br />

»Echt? Ist mir gar nicht aufgefallen«, me<strong>in</strong>te Bens Mutter.<br />

Sie überprüfte noch e<strong>in</strong>mal, an welchen Hausnummern<br />

sie gerade vorbeirollten, und lenkte den Wagen <strong>in</strong><br />

die E<strong>in</strong>fahrt e<strong>in</strong>es urigen zweistöckigen Hauses. »Egal – da<br />

wären wir! Das ist unser neues Zuhause!«<br />

Frau Hunter – bitte um Verzeihung, ich me<strong>in</strong>e natürlich<br />

Fräule<strong>in</strong> Hunter – sprang aus dem Auto, umrundete<br />

es und öffnete die Beifahrertür. »Kommst du?«<br />

Ben schüttelte den Kopf.<br />

»Oder soll ich die ganze Nacht hier draußen herumstehen<br />

und warten? Wie du willst!«<br />

»Was ich will?«, murmelte Ben. »Ich will nach Hause.«<br />

»Das ist jetzt unser Zuhause. Bitte, Ben.«<br />

»Ach, Mann! … Na gut …« Nachdem er ächzend ausgestiegen<br />

war, stieß Ben e<strong>in</strong>en Pfiff aus. »Komm schon,<br />

Fred.«<br />

Fred, e<strong>in</strong> großer Anatolischer Hirtenhund, der jetzt<br />

Bens e<strong>in</strong>ziger Freund im ganzen Bundesstaat war, sprang<br />

123


124<br />

aus dem Auto. Erst machte er sich ganz lang, um dann<br />

e<strong>in</strong>mal kräftig Körper und Fell auszuschütteln. Dabei entdeckte<br />

er e<strong>in</strong> Eichhörnchen. Doch statt es zu jagen, versteckte<br />

er sich wimmernd h<strong>in</strong>ter Bens Be<strong>in</strong>.<br />

Als Ben sich genauer umsah, wurde ihm speiübel. Der<br />

Vorgarten war von Löchern und kahlen Stellen übersät.<br />

Der Briefkasten sah aus wie e<strong>in</strong> sterbender Vogel an se<strong>in</strong>er<br />

Stange. Und das Haus selbst? Der Schornste<strong>in</strong> schien aus<br />

Totenschädeln gemauert worden zu se<strong>in</strong>, und darunter<br />

blätterte die erbsengrüne Farbe von der Fassade ab, als<br />

hätte das ganze Gebäude e<strong>in</strong>en üblen Sonnenbrand. Übrigens<br />

konnte Ben Erbsen nicht leiden.<br />

»Sieht das nicht wundervoll aus?«, me<strong>in</strong>te Fräu- …<br />

Ach, das sagt doch ke<strong>in</strong> Mensch mehr! Frau Hunter<br />

me<strong>in</strong>te also: »E<strong>in</strong> frischer Anstrich, und alles ist so gut wie<br />

neu.«<br />

Ben beschloss, mal etwas Nettes zu sagen. Das kam dabei<br />

heraus: »Ja, es g<strong>in</strong>ge wahrsche<strong>in</strong>lich noch abgerissener.«<br />

»Und wie groß es ist!« Bens Mutter sperrte die Haustür<br />

auf. »Da dr<strong>in</strong> werden wir beide leben wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Palast.<br />

Es ist fast dreimal so groß wie unsere alte Wohnung <strong>in</strong><br />

Brooklyn.«<br />

»Die mir trotzdem besser gefallen hat«, flüsterte Ben.<br />

Besonders geräumig war die Wohnung wirklich nicht ge-


wesen, aber sie war se<strong>in</strong> Zuhause. In Brooklyn kannte er<br />

den Weg zu se<strong>in</strong>en Freunden genauso gut wie den Weg<br />

zur Schule, er kannte sogar die Katzen, die immer vor den<br />

M<strong>in</strong>imärkten herumlungerten. Hier kannte er nichts und<br />

niemanden. Alles war neu. Aber nicht aufregend neu.<br />

Beim erstem Schritt <strong>in</strong>s Haus schlug Ben kalte, abgestandene<br />

Luft entgegen. »Riecht nach Riesenfurz.« (Hier,<br />

werte Leser<strong>in</strong>, werter Leser, muss man fairerweise festhalten:<br />

Es roch tatsächlich nach Riesenfurz.)<br />

»Ich bitte dich, Ben!«, rief Frau Hunter. »Ich habe mir<br />

das alles doch auch nicht ausgesucht, aber nach der Sache<br />

mit de<strong>in</strong>em Vater …« Sie kämpfte gegen die Tränen an,<br />

wollte nicht schon wieder losheulen. »So e<strong>in</strong>e Veränderung<br />

ist schwierig, ich weiß. Aber wir müssen das jetzt<br />

durchziehen. Und es wird schon werden. Das ist jetzt unser<br />

–«<br />

»Unser Neuanfang«, sprach Ben für sie weiter. Er<br />

konnte es nicht mitansehen, wenn se<strong>in</strong>e Mutter we<strong>in</strong>te. Er<br />

konnte ihren Schmerz nicht mitansehen – ihr tat das alles<br />

genauso weh wie ihm. Also schluckte er se<strong>in</strong>e Gefühle h<strong>in</strong>unter<br />

und umarmte sie. Sie wischte sich schniefend über<br />

die Augen. »Es tut mir leid, Mom. Ich werde mir Mühe<br />

geben, okay? Du hast ja recht. Das wird schon.«<br />

Frau Hunter zwang sich zu e<strong>in</strong>em Lächeln. »Das ist die<br />

richtige E<strong>in</strong>stellung. So, jetzt gehst du mit Fred hoch, und<br />

125


ihr schaut euch die Zimmer an. Ihr dürft euch zuerst e<strong>in</strong>s<br />

aussuchen.«<br />

Von Fred gejagt, stieg Ben die knarrende Treppe h<strong>in</strong>auf.<br />

Er entschied sich für das Zimmer an der Vorderseite.<br />

Damit sich der Furzgeruch wenigstens e<strong>in</strong> bisschen verziehen<br />

konnte, öffnete er das große Fenster zum Vorgarten.<br />

Auf der anderen Straßenseite entdeckte er zwei K<strong>in</strong>der<br />

ungefähr <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Alter. E<strong>in</strong> Junge saß lesend auf e<strong>in</strong>er<br />

Veranda. E<strong>in</strong> Mädchen spielte <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>fahrt Basketball.<br />

Ben w<strong>in</strong>kte ihnen.<br />

Der Junge bekam nichts davon mit, so tief steckte se<strong>in</strong>e<br />

Nase <strong>in</strong> dem dicken Buch. Das Mädchen mit der Baseballkappe<br />

bemerkte Ben schon. Sie streckte ihm die Zunge<br />

raus.<br />

»Nett«, sagte Ben zu sich selbst.<br />

H<strong>in</strong>ter ihm quietschte die Zimmertür und fiel von<br />

selbst <strong>in</strong>s Schloss. Ben zuckte zusammen. »Das war bestimmt<br />

nur der W<strong>in</strong>d«, überlegte er. Da fiel ihm e<strong>in</strong> Zettel<br />

am geschlossenen Schrank auf. Zuerst dachte er, der Text<br />

wäre <strong>in</strong> Geheimschrift verfasst – aber er stand nur auf dem<br />

Kopf.<br />

Diese Tür nicht öffnen!<br />

Flieh aus Ost-Emerson, solange du noch kannst!<br />

126


Irgendetwas kratzte von <strong>in</strong>nen an der Schranktür. Ben lief<br />

es kalt den Rücken h<strong>in</strong>unter. Aber sicherlich war das wieder<br />

nur der W<strong>in</strong>d … Er streckte die Hand nach dem Türknauf<br />

aus. Was sich dah<strong>in</strong>ter wohl verbarg? Vermutlich<br />

nur e<strong>in</strong> paar muffige Klamotten. Oder e<strong>in</strong> st<strong>in</strong>kendes Katzenklo.<br />

Bestimmt nichts allzu Gruseliges. Oder doch?<br />

127

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