Andrea Lienesch: Der schlechteste Pirat der Welt
Karl-Heinz ist der schlechteste Pirat der Welt. Er weiß nicht, wie man einen Kompass benutzt, wird leicht seekrank und rammt auch schon mal versehentlich das Schiff eines Piratenkollegen, weil er den Rückwärtsgang nicht findet. Zu allem Überfluss ist sein bester Matrose eine verrückte Ziege. Kein Wunder, dass Karl-Heinz sein Piratenschiff, den Schaukelnden Schorsch, am liebsten verkaufen und ein Leben als Landratte führen möchte. Aber wo soll er einen Käufer für den alten Kahn finden? Und was sagt wohl seine Mutter, die Grausige Gudrun, dazu? Ab 8 Jahren.
Karl-Heinz ist der schlechteste Pirat der Welt. Er weiß nicht, wie man einen Kompass benutzt, wird leicht seekrank und rammt auch schon mal versehentlich das Schiff eines Piratenkollegen, weil er den Rückwärtsgang nicht findet. Zu allem Überfluss ist sein bester Matrose eine verrückte Ziege. Kein Wunder, dass Karl-Heinz sein Piratenschiff, den Schaukelnden Schorsch, am liebsten verkaufen und ein Leben als Landratte führen möchte. Aber wo soll er einen Käufer für den alten Kahn finden? Und was sagt wohl seine Mutter, die Grausige Gudrun, dazu?
Ab 8 Jahren.
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Andrea
Lienesch
Der
derWelt
schlechteste
Pirat
EDITION PASTORPLATZ
38
Mit Illustrationen
von Mele Brink
schlechteste
Andrea Lienesch
Der
Pirat
derWelt
Mit Illustrationen von Mele Brink
Andrea Lienesch
Der
schlechteste
der
Pirat
Welt
Mit Illustrationen von Mele Brink
Inhalt
Der schlechteste Pirat der Welt..................................... 5
Die mechanische Insel................................................... 11
Zu Gast im Baumhaus.................................................. 29
Mechanikerin an Bord................................................... 37
Land in Sicht.................................................................. 51
Der Insel-Sekretär........................................................ 58
Sekretär an Bord.......................................................... 69
Die schwimmende Insel................................................ 75
Oma an Bord................................................................. 87
Hitze............................................................................... 91
Unwetter........................................................................ 99
Piratenparty................................................................ 107
Die Beamten des Königs.............................................115
Kurs auf die Schatzinsel.............................................127
Die Grausige Gudrun................................................... 143
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Der schlechteste Pirat der Welt
Karl-Heinz hatte gute Laune. Vergnügt pfiff er vor
sich hin, drehte das Steuerrad schwungvoll erst nach
rechts, dann nach links und warf einen Blick durch das
Fernrohr. Am Horizont hatte er eine vielversprechende
Insel entdeckt. Wenn alles weiterhin so gut lief, würde
er sie spätestens am Mittag erreichen. Oder am
Nachmittag. Vielleicht auch schon in zehn Minuten.
Mit Sicherheit konnte Karl-Heinz das nicht sagen.
Er war nicht besonders gut darin, solche Dinge zu
berechnen. Karl-Heinz war der schlechteste Pirat der
Welt, aber das störte ihn überhaupt nicht. Auf der
Insel würde er ganz bestimmt jemanden finden, der
ihm den Schaukelnden Schorsch, dieses dämliche
5
Piratenschiff, abkaufte. Der Schaukelnde Schorsch
hatte ihm nichts als Ärger gemacht, seit er ihn von
der Grausigen Gudrun bekommen hatte. Schaukelnder
Schorsch. Schon der Name war bescheuert. Aber
Karl-Heinz wusste, er würde eine Menge Geld für das
Schiff bekommen. Immerhin war die Grausige Gudrun
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einst eine berühmte Piratin gewesen, gefürchtet auf
allen sieben (oder waren es acht?) Weltmeeren. Mit
dem Geld, das er für den ollen Kahn bekäme, würde
Karl-Heinz sich ein Haus kaufen. Ein Haus mit einem
hübschen kleinen Garten, ganz ohne Segel, Reling
oder Steuerrad. Dann müsste er nicht mehr zur See
fahren. Er würde nie wieder einen Fuß auf ein Schiff
setzen und … Jemand zupfte an Karl-Heinz’ Latzhose.
Der Pirat fuhr herum und entdeckte die Ziege, die ihn
grimmig ansah.
„Was ist los?“, fragte Karl-Heinz.
„Quak“, antwortete die Ziege. Karl-Heinz schaute das
Tier verständnislos an. Manchmal vergaß er, dass diese
verrückte Ziege sich für eine Ente hielt, seit er ihr vor
einigen Jahren versehentlich den Enterhaken an den
Kopf geworfen hatte.
Die Ziege verdrehte die Augen und deutete mit dem
Kopf in Richtung des Achterdecks, wo die Zwillinge
damit beschäftigt waren, sich an den Haaren zu ziehen.
Widerwillig überließ Karl-Heinz dem Tier das Steuer
und stieg die Treppe zum Hauptdeck hinunter, um
nach dem Rechten zu sehen. Die Zwillinge gingen ihm
auf die Nerven. Der Pirat hatte sie am Hals, seit er
damals zufällig das Schiff vom Hinkenden Heinrich
gerammt hatte. Eigentlich hatte Karl-Heinz so schnell
wie möglich das Weite suchen wollen, denn andere
Piraten waren ihm nicht geheuer. Aber er war gerade
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erst von der Grausigen Gudrun zum Kapitän ernannt
worden und hatte leider überhaupt nicht zugehört, als
sie ihm erklärte, wie das Piratenschiff funktionierte.
Deshalb hatte er den Rückwärtsgang nicht finden
können und den Kahn vom Hinkenden Heinrich mit
voller Wucht gerammt. Versehentlich zwar, aber
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das Schiff war trotzdem gesunken, und mit ihm die
gesamte Mannschaft. Nur die Zwillinge, die damals
noch winzige Hosenscheißer waren, trieben danach
noch in einem Bastkörbchen auf den Wellen. Da hatte
Karl-Heinz sie einfach retten müssen. Die Ziege wäre
sonst schrecklich sauer gewesen.
Karl-Heinz seufzte. „Das hat man davon, wenn
man Kinder rettet“, maulte er und warf der Ziege
einen bösen Blick zu. „Die Grausige Gudrun hat nie
irgendwen gerettet. Sie hat nur Gefangene gemacht,
und die mussten dann für sie arbeiten.“ Die Ziege
schnaubte und streckte Karl-Heinz die Zunge heraus.
„Ja, ja, ich weiß“, murrte der Pirat, „ich bin der
Kapitän, ich muss dafür sorgen, dass die Mannschaft
sich benimmt. Eine tolle Mannschaft seid ihr! Zwei
Kinder und eine Ziege!“ Karl-Heinz packte Emmi (oder
war es Lenni? Er konnte die beiden einfach nicht
auseinanderhalten) am Kragen und zog sie von ihrem
Bruder weg.
„Der hat aber angefangen!“, keifte Emmi.
„Quak!“, rief die Ziege dazwischen, und dieses Mal
wusste Karl-Heinz genau, was das bedeutete. Er setzte
den zappelnden Zwilling wieder ab.
„Lasst den Anker runter“, sagte er. „Wir gehen an
Land!“
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Die mechanische Insel
Karl-Heinz kratzte sich nachdenklich am Kopf. Aus
der Nähe betrachtet schien die Insel nicht besonders
groß zu sein. Es gab auch keinen Hafen. Das war
einerseits gut, weil es dann auch keine anderen
Seeleute gab, die Karl-Heinz auslachten, wenn er
Schwierigkeiten beim Einparken (oder hieß das
Anlegen?) hatte. Andererseits bedeutete das auch,
dass sie nicht bis ans Ufer segeln konnten, weil das
Wasser dort sicher zu flach war. Sie mussten weiter
draußen vor Anker gehen und die letzten Meter bis
zum Strand mit dem Ruderboot zurücklegen. Karl-
Heinz hasste das Ruderboot. Es war winzig und es
schwankte entsetzlich. Außerdem waren letzte Woche
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die Ruder über Bord gegangen, als die Zwillinge sie
zum Tennisspielen benutzt hatten. Er würde wohl mit
den beiden großen Kochlöffeln rudern müssen. Der
Pirat seufzte, dann ließ er das Boot zu Wasser.
Der Schaukelnde Schorsch war ein gigantisches
Schiff. Das Ruderboot allerdings war kaum größer als
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eine Nussschale. Karl-Heinz hatte vergeblich versucht,
seine Mannschaft davon zu überzeugen, an Bord
des Piratenschiffs zu bleiben. Selbst die Ziege hatte
unbedingt mitkommen wollen. Karl-Heinz vermutete,
dass sie sich allein auf dem großen Schiff fürchtete.
Er hätte sich jedenfalls gefürchtet. So ein Piratenschiff
war ein unheimlicher Ort.
Jetzt saß die Ziege in der Mitte des winzigen
Bootes. Es war so eng, dass Karl-Heinz abwechselnd
ihr haariges Schwänzchen oder ihre feuchte Zunge
im Gesicht hatte, während er versuchte, mit den
Kochlöffeln zu rudern. Die Zwillinge turnten im Heck
der Nussschale herum und brachten sie beinahe zum
Kentern. Karl-Heinz kämpfte gegen die aufsteigende
Übelkeit. Er wurde immer gleich seekrank, wenn es so
schaukelte. Aber wenn er sich auf die Ziege übergeben
würde, würde sie ihm das nie verzeihen.
„Ich habe gesagt, ihr sollt still sitzen!“, schimpfte
Karl-Heinz. „Sonst werfe ich euch …“ Weiter kam
er nicht, denn er hatte plötzlich den Mund voller
Ziegenhaare.
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Es dauerte fast eine halbe Stunde, aber schließlich
gelangte das voll beladene Boot doch noch ans Ufer.
Karl-Heinz war heilfroh, dass alle die Insel unbeschadet
erreicht hatten. Die Ziege war nur zweimal über Bord
gegangen (davon einmal absichtlich) und er selbst
hatte sich nicht übergeben müssen. Leider war die
Insel eine Enttäuschung. Es gab nur feinen, weißen
Sandstrand und dahinter einen undurchdringlichen
Dschungel. Der Pirat konnte weder eine Stadt
noch ein Dorf oder wenigstens eine einzelne Hütte
entdecken. Auf diesem einsamen Eiland würde er
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wohl keinen Käufer für den Schaukelnden Schorsch
finden. Enttäuscht ließ sich Karl-Heinz in den Schatten
einer Palme plumpsen. Einen kurzen Augenblick
lang wunderte er sich darüber, dass der Sand unter
seinem Hinterteil so hart war. Dann fielen zwei dicke
Kokosnüsse direkt auf seinen Kopf. „Aua, verdammter
Mist! Was soll denn das?“, schimpfte Karl-Heinz.
Die Zwillinge kicherten und die Ziege verpasste
ihm einen Huftritt. Sie mochte es nicht, wenn er in
Gegenwart der Kinder fluchte.
Karl-Heinz versuchte herauszufinden, ob nun sein
Kopf oder sein Hinterteil mehr wehtat, da zuckte er
plötzlich zusammen. Hatte hinter ihm im Gebüsch nicht
eben etwas geraschelt? Da! Schon wieder! Der Pirat
fuhr herum. Das Rascheln wurde lauter. Jetzt hörte
man auch noch ein leises Schnaufen. Wie ein Vorhang
wurden Blätter und Lianen beiseitegeschoben. Karl-
Heinz hielt sich die Augen zu und stellte sich darauf
ein, gleich von einem Tiger gefressen zu werden.
„Einen wunderschönen guten Tag!“, sagte der Tiger
freundlich. Karl-Heinz linste vorsichtig zwischen seinen
Fingern hindurch. Der Tiger war ein Mensch. Genauer
gesagt, eine Frau.
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„Du bist ja gar kein Tiger!“, stammelte Karl-Heinz.
Die Frau runzelte die Stirn. „Ich hatte zwar schon
recht lange keinen Besuch mehr, aber ich bin mir
sicher, dass das nicht die richtige Antwort auf Guten
Tag ist“, sagte sie.
„Ich bin überhaupt kein Besuch, ich bin ein Pirat!“,
erwiderte Karl-Heinz eingeschnappt.
„Ach ja? Du hast immerhin an meiner Tür geklingelt,
also bist du auch ein Besuch!“
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„Du spinnst wohl!“ Karl-Heinz zeigte ihr einen Vogel.
„Hier gibt es überhaupt keine Klingel!“ Wer auch
immer diese Frau war, sie hatte nicht mehr alle Tassen
im Schrank. Vermutlich hatte sie nicht einmal einen
Schrank.
„Keine Klingel? Und was, bitte, ist das?“ Die Frau
deutete auf die Stelle, an der Karl-Heinz gesessen
hatte. Er erkannte ein schräg im Sand liegendes
Brett, von dem aus ein Seil über eine verwirrende
Kombination aus Rollen und Zahnrädern nach oben
zu einem Korb führte, der an der Spitze der Palme
befestigt war. Karl-Heinz verstand nicht viel von
solchen Dingen, aber ihm wurde klar, dass er die
merkwürdige Apparatur in Gang gesetzt hatte, als er
sich auf das Brett hatte plumpsen lassen.
Prüfend blickte die Frau zum Korb hinauf und zog
vorsichtig an dem Seil. „Irgendetwas scheint nicht
ganz in Ordnung zu sein“, murmelte sie. „Es klang
merkwürdig dumpf, als die Kokosnüsse auf das Brett
gefallen sind. Ich hätte es beinahe nicht gehört.“
Karl-Heinz rieb sich den Kopf und sah sich die Frau
genauer an. Sie war ziemlich dünn, aber ein gutes
Stück größer als er selbst, und sie guckte entsetzlich
grimmig. Vermutlich war es schlauer, sich nicht über
diese lebensgefährliche Klingelanlage zu beschweren.
Er rückte seinen Strohhut zurecht und streckte der
Frau seine Hand entgegen. „Ich bin Karl-Heinz“, sagte
Karl-Heinz.
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Die Frau ergriff seine Hand und schüttelte sie heftig.
„Sehr erfreut. Ich bin Melika.“ Melika musterte Karl-
Heinz nachdenklich, während sie weiter seine Hand
schüttelte. „Bist du sicher, dass du ein Pirat bist?“,
fragte sie.
„Selbstverständlich bin ich sicher!“, entgegnete Karl-
Heinz verwirrt. Er fragte sich, ob Melika vorhatte, ihm
den Arm abzureißen.
Melika runzelte die Stirn. „Aber du siehst aus wie
ein Gärtner“, stellte sie fest. „Du trägst einen Strohhut
und eine grüne Latzhose!“ Wann hörte diese Verrückte
endlich auf, seine Hand zu schütteln?
„Du trägst auch eine Latzhose“, rief einer der
Zwillinge.
„Stimmt“, gab Melika zu, „aber meine ist blau.
Und es stecken Schraubenschlüssel in den Taschen.
Daran erkennt man, dass ich eine Mechanikerin bin.“
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Mechanisch schüttelte sie weiter Karl-Heinz’ Hand.
„Quak“, sagte die Ziege.
Sofort ließ Melika die Hand los. „Entschuldigung“,
murmelte sie, „ich habe schon sehr lange niemanden
mehr begrüßt. Ich bin wohl etwas aus der Übung.“
Karl-Heinz rieb sich den schmerzenden Arm. „Schon
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gut“, sagte er.
„Du solltest mir jetzt aber auch endlich deine
Freunde vorstellen“, fand Melika. „Damit ich euch zu
einer Tasse Tee einladen kann.“ Karl-Heinz kratzte
sich an der Nase, wie immer, wenn er nicht verstand,
worum es ging. Die Mechanikerin verdrehte die Augen.
„Herrje, so macht man das eben! Erst stellt man sich
einander vor, und dann lädt man sich zum Tee ein!“
Karl-Heinz wurde rot. Das hatte er nicht gewusst.
Piraten luden nie jemanden zum Tee ein. Piraten
beschossen sich gegenseitig mit Kanonen und riefen
dazu „Ho, ho!“ oder etwas Ähnliches. Wenn er das
Schiff verkauft und sich auf dem Festland zur Ruhe
gesetzt hatte, würde er sich wohl oder übel an die
merkwürdigen Sitten der Landratten anpassen müssen.
„Also gut“, begann er, „das sind Emmi und Lenni,
zuständig für den Ausguck, das Hissen der Segel und alles
andere, auf das ich keine Lust habe, und das da ist die
Ziege. Sie kümmert sich um den Gemüsegarten an Bord.“
„Ziege ist aber ein komischer Name für eine Ente“,
fand Melika. Sie machte eine kleine Verbeugung
in Richtung der Ziege, dann gab sie den Zwillingen
nacheinander die Hand. „Hallo Emmi, hallo Lenni“,
sagte sie freundlich.
Karl-Heinz war baff. „Du kannst sie auseinanderhalten?“
„Selbstverständlich“, antwortete die Mechanikerin,
„immerhin ist Emmi ein Mädchen und Lenni ein Junge.
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Und jetzt zeige ich euch mein Haus. Kommt mit!“
Melika schob ein paar Schlingpflanzen beiseite und
verschwand im Gebüsch. Die Zwillinge (die immer noch
völlig gleich aussahen, diese Frau hatte sicher bloß
geraten!), die Ziege und schließlich auch Karl-Heinz
folgten ihr in den Dschungel.
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Melika führte die kleine Piratenmannschaft einen
schmalen, holprigen Weg entlang, vorbei an riesigen
Bäumen, die mit exotischen Schlingpflanzen bewachsen
waren. Um sie herum krabbelte und raschelte es im
Gebüsch. Karl-Heinz schwitzte, weil die Luft entsetzlich
warm und feucht war. Vielleicht schwitzte er auch, weil
er immer noch fürchtete, ein Tiger könne plötzlich aus
dem Dickicht springen. Immer wieder sah der Pirat sich
um. Weshalb lebte eine Mechanikerin wohl in dieser
Wildnis? Hatte Melika die Insel möglicherweise geerbt,
so wie er den Schaukelnden Schorsch?
„Ich hoffe, ihr seid schwindelfrei“, unterbrach
Melika seine Gedanken. Die Mechanikerin war vor
einem besonders großen Baum stehen geblieben.
Schwindelfrei? Karl-Heinz war überhaupt nicht
schwindelfrei. Er war immerhin Pirat und kein
Bergsteiger! Freiwillig kletterte er noch nicht einmal in
den Ausguck. Dafür hatte er schließlich die Zwillinge.
„Tretet bitte etwas zurück“, sagte Melika, „ich lasse
den Aufzug herunter.“ Erst jetzt entdeckte Karl-Heinz
den hölzernen Hebel an dem dicken Baumstamm.
Die Mechanikerin zog mit beiden Händen daran, ein
Knarzen ertönte und einige Blätter fielen auf den
Boden. Karl-Heinz blickte nach oben in die Baumkrone.
Ein großer Korb, ähnlich wie von einem Heißluftballon,
bewegte sich langsam an einem Seil nach unten.
Die Zwillinge klatschten vor Begeisterung in die
Hände. „Wir lieben Aufzugfahren!“, riefen sie. Die
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beiden hatten in ihrem ganzen Leben noch keinen
Aufzug gesehen und erst recht waren sie mit keinem
gefahren, aber sie mochten alles, was hoch hinausging,
schwankte und irgendwie gefährlich aussah. Das alles
traf auf den Korb, der nun am Boden angekommen
war, zweifellos zu.
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„Darf ich bitten?“, fragte Melika und machte eine
einladende Handbewegung. Emmi und Lenni ließen
sich das nicht zweimal sagen und kletterten sofort in
den Aufzug. Die Ziege folgte ihnen, ohne zu zögern.
Aufzug fahren war beinahe wie fliegen, fand sie, und
fliegen war für eine Ente das Normalste auf der Welt.
Karl-Heinz seufzte. Wenigstens wären sie in dem Korb
vor dem Tiger sicher.
In dem Korb war es recht eng. Karl-Heinz zog den
Bauch ein, weil die Ziege ihm mit ihrem linken Horn
gefährlich nahekam. Melika drehte an einer Kurbel und
schon setzte sich der Aufzug in Bewegung. Die Gondel
schwankte und schlingerte, aber Melika kurbelte
ungerührt weiter. Karl-Heinz schloss die Augen. Es gab
einen Ruck, und der Pirat war sich sicher, dass sie nun
abstürzen würden.
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„Bitte aussteigen!“, rief Melika fröhlich. „Willkommen
in meinem Baumhaus!“
Karl-Heinz öffnete die Augen. Das Baumhaus sah
überraschend gemütlich aus, wie eine kleine Blockhütte
mit einem Dach aus riesigen grünen Blättern. Etwas
unbeholfen kraxelte der Pirat aus dem Aufzugskorb.
Der Rest der Mannschaft drängte sich schon auf der
kleinen Terrasse vor Melikas Häuschen. Karl-Heinz
stützte sich auf die Ziege. Seine Beine fühlten sich
an wie Pudding. Hier oben gab es nicht einmal ein
Geländer. Diese Mechanikerin musste verrückt sein.
Wie konnte man freiwillig so weit oben wohnen? Den
Zwillingen allerdings gefiel die Höhe. Sie legten sich
bäuchlings derart weit über den Rand der Plattform,
dass die Ziege sich gezwungen sah, sie nacheinander
mit den Zähnen am Hosenbund zu packen und
zurückzuziehen.
„Die Aussicht ist toll!“, rief der eine Zwilling
begeistert, während der andere unter dem Bauch der
Ziege hindurchkrabbelte, sich an Melika vorbeizwängte
und dann mit beiden Händen einen hölzernen Hebel an
der Baumhauswand ergriff. „Wofür ist das?“, fragte der
Zwilling und zog gleichzeitig an dem Hebel. Karl-Heinz
zuckte zusammen. Ein knarzendes Geräusch ertönte,
und die Schiebetür des Baumhauses öffnete sich. „Ui,
cool!“, fand der Zwilling und huschte hinein.
Melika lachte: „Darf ich bitten?“
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Andrea Lienesch
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Foto: Privat Foto: Privat
Geboren 1978 in Siegburg, hat sie schon Geschichten
erfunden, bevor sie lesen und schreiben
konnte. Nach dem Abitur und dem Erlernen
eines „anständigen“ Berufes veröffentlichte sie
2018 ihr erstes Kinderbuch. Seitdem konzentriert sie sich ganz
auf das Schreiben und das Vorlesen. Damit die Figuren aus ihren
Büchern ihre eigene Stimme bekommen, hat sie sich von einem
Vocal Coach schulen lassen.
Sie kann weder singen noch tanzen und hat auch nichts Interessantes
studiert – aber sie schreibt Kinderbücher. Das macht sie
sehr glücklich, und ihre Leser*innen hoffentlich auch!
Mele Brink
Geboren 1968 in Ostwestfalen, lebt sie seit
Mitte der 80er-Jahre in Aachen. Nach einem
Architekturstudium (Diplom ’98) hat sie sich
dann doch lieber der Zeichnerei verschrieben und
produziert seitdem heitere Bilder für kleine und große Menschen.
Zum Glück hat sie ihrem Schutzengel noch nicht in die Augen
geschaut, sonst würde er auch dauernd in Handtaschen nach
Schlüssel, Smartphone, Schnupftuch suchen …
www.melebrink.de
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158
„Der schlechteste Pirat der Welt“ wird herausgegeben von der Edition Pastorplatz
(Mele Brink & Bernd Held GbR · Luisenstraße 52 · 52070 Aachen)
www.editionpastorplatz.de
www.facebook.com/edition.pastorplatz
www.twitter.com/ed_pastorplatz
Editionsnummer: 38 (März 2020)
ISBN 978-3-943833-38-6
1. Auflage
Idee + Text: Andrea Lienesch
Zeichnungen: Mele Brink
Layout + Umsetzung: Bernd Held
Lektorat + Korrektorat: Angelika Lenz, Steinheim an der Murr
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Druck: Jettenberger Internationale Druckagentur
Innenseiten: 120-g-Offsetpapier (FSC © -zertifiziert)
Umschlag: 135-g-Bilderdruckpapier (FSC © -zertifiziert)
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne
Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,
Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.dnb.de abrufbar.
Karl-Heinz ist der schlechteste
Pirat der Welt. Er weiß nicht,
wie man einen Kompass benutzt,
wird leicht seekrank und rammt
auch schon mal versehentlich
das Schiff eines Piratenkollegen,
weil er den Rückwärtsgang nicht
findet. Zu allem Überfluss ist sein
bester Matrose eine verrückte Ziege.
Kein Wunder, dass Karl-Heinz sein
Piratenschiff, den Schaukelnden
Schorsch, am liebsten verkaufen
und ein Leben als Landratte führen
möchte. Aber wo soll er einen Käufer
für den alten Kahn finden? Und was
sagt wohl seine Mutter, die Grausige
Gudrun, dazu?
Ab 8 Jahren.
ISBN 978-3-943833-38-6
€ 13,00 (D)
€ 13,40 (A)